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Ein braunes Reisehütchen auf dem Kopf, das Gesicht gegen den schmutzenden Lokomotivrauch durch einen dichten, blauen Schleier geschützt, die nicht sehr große, hochbusige Gestalt mit einem grauen Reisemantel bedeckt, so saß Kitty Brettschneider in einem Damencoupé zweiter Klasse und ließ sich in langwieriger Fahrt von Wien nach Siebenburgen bringen. Zuweilen stand sie einer der in wechselnder Folge mitreisenden Damen zu kurzem Gespräche Rede, meist aber sah sie auf die Landschaft hinaus, die der Schnellzug durchraste. Auch diesmal konnte sie dem Reize einer solchen Fahrt in die weite Welt nicht widerstehen und fand sich von einer schönen gebirgigen Gegend, von dem Anblick einer Stadt, in die der Zug einfuhr, von dem lärmenden, bunt bewegten Treiben auf den großen Bahnhöfen unterhalten; sie war sogar kindisch genug, sich dessen zu freuen, daß sie bei längerem Aufenthalt im Strome der Mitreisenden das Restaurant betreten und ganz nach Laune, Herrin ihrer selbst, sich Speise und Trank bestellen durfte. Vor der Weiterreise wurden dann Näschereien gekauft, an denen sie, den Schleier gerade bis an die Nasenspitze lüftend, während des Fahrens knabbern konnte.
Sie war so jung, erst neunzehn, und hatte noch so wenig Freude im Leben gehabt! Auch jetzt mischten sich in das kindliche Reisevergnügen die Schatten banger Sorge störend ein. Voriges Jahr war sie gleich nach ihrem Abgang vom Konservatorium auch so in die Welt gefahren, nach dem Rhein, in ihr erstes Engagement als Sängerin. Vierzehn Tage später hatte sie den Weg zurück machen müssen, denn ihr war gekündigt worden, nachdem sie bei ihrem ersten Auftreten dem Publikum mißfallen hatte. Ein anderes Engagement fand sich nicht mehr. Was hatte sie infolgedessen dulden müssen! Und jetzt konnte es ebenso, ja noch schlimmer gehen. Das wäre aber nicht noch einmal zu ertragen gewesen. Nur nicht wieder nach Hause!
Was nannte sie »zu Hause?« Seit ihrem zehnten Lebensjahre hatte sie in der Familie des Onkels, eines städtischen Subalternbeamten in Wien, gelebt. Der Onkel war nicht so schlimm, wenn er nicht von der Tante aufgereizt wurde. Diese aber war von Anfang an böse gegen sie gewesen, weil sie nicht hatte leiden mögen, daß er das Kind seiner Schwester nach deren Tod zu sich nehme.
Die Mutter! – Recht deutlich und wie verklärt in einer sonnigen Erinnerung, sah sie die Tote vor sich. Mama war eine an Provinztheatern sehr beliebte Sängerin gewesen, und eine schöne, heitere Dame. Sie hatte viel gespielt, viel gelacht mit ihr und sie immer so innig geküßt! In Breslau, – die Stadt, diese und jene Schulgenossinnen und Lehrerinnen, die Wohnung, die sie innegehabt, Freundinnen, die bei Mama Kaffee tranken, das stand alles klar vor ihrem Gedächtnis – war es, wo die Mama innerhalb weniger Tage an einer Blutvergiftung starb.
Der Onkel war herbeigereist und hatte sie nach dem Begräbnis mitgenommen. Die unwirsche und überstrenge Tante, die bei dem geringsten Vergehen gleich züchtigte, wo Mama nie ernstlich, höchstens mit einem kleinen Klaps gerügt hatte, wurde desto böser, je hübscher, wie die Leute sagten, sie, und je unansehnlicher Cousine Resi wurde. Resi nicht nur, sondern auch Vetter Franz durften sich alles gegen sie erlauben, ohne gestraft zu werden, und sie wurde gezankt oder gar geschlagen, wenn sie sich zur Wehr setzte.
Da war es kein Wunder, daß sie unlustig zu allem, faul in der Schule und, wie die Tante sagte, eine Heimtückerin wurde. Sie fürchtete sich ja vor jedem Menschen, der sie laut ansprach. Sie wagte nicht zu lachen, jedem unwillkürlichen Ausbruch kindlichen Mutwillens drohte harte Strafe, sie hörte kein freundliches Wort, und wenn einmal Fremde sagten, daß sie hübsch sei, hatte sie hinterher boshafte Neckereien oder Stichelreden anzuhören. Nichts blieb ihr, als in heimlicher Stille an die vergangene Kindheit, an die tote Mutter zu denken. Das war ihr Einziges, und das that sie auch den ganzen Tag. Darüber vergaß sie alles andere.
Als sie herangewachsen war, schickte man sie auf das Konservatorium. Sie hatte eigentlich keine besondere Lust, Sängerin zu werden, wie ihr eben alles gleichgültig war, und sah darin nur ein Mittel aus dem Hause der verhaßten Verwandten zu kommen. Der Onkel betonte, welche Opfer man für sie bringe und wie dankbar sie dafür sein müsse. Die Tante kam aber im Laufe der Zeit mit einer ganz anderen Sprache heraus. Da war die Rede von der künftigen Komödiantin, von der »Theatergretl«, und eines Tages geschah das Schreckliche.
Ohne ihr Verschulden hatte sie wieder einmal mit Resi Zank bekommen, und diese rief ihre Mutter zu Hilfe. Die Tante wurde sehr zornig, als sie sich gegen Resis Entstellung der Wahrheit verteidigte, und sprach davon, daß ihr ja die Nichtsnutzigkeit im Blute stecke, daß sie es eben auch einmal machen werde, wie ihre Mutter. Resi aber sei ehrbarer Leute Kind. Auf ihre entrüstete Widerrede, Mama sei auch eine ehrbare Dame gewesen, traf sie, wie ein Blitzstrahl die mit Hohngelächter vermischte Eröffnung, daß sie das lebende Zeugnis der mütterlichen Sünde sei. Wohl kam es infolgedessen zu einer lebhaften häuslichen Scene zwischen Onkel und Tante, aber das verschlimmerte die Sache nur. Die Bitte des mit einem Schlage aufgeklärten Mädchens, ihr doch den Namen des Vaters zu nennen, wurde nur damit beantwortet, daß dies irgend ein Offizier gewesen sei, dessen Namen man ihr aber aus triftigen Gründen vorenthalte.
»Ich bin Dein Vormund und vertrete Vaterstelle an Dir!« sagte der Onkel. »Oder bist Du vielleicht nicht zufrieden mit dem, was wir für Dich thun und möchtest Dich an diesen Vater wenden? Da könntest Du sehr üble Erfahrungen machen, denn, wisse, es hat keiner eine sonderliche Freude an einem solchen Kinde.«
Das war hart, furchtbar hart. Die Tante aber, ärgerlich über den Verweis, den sie vom Onkel erhalten, warf ihr jetzt erst recht hinterrücks auf alle Weise und bei jeder Gelegenheit den Makel ihrer Herkunft vor, und Resi, das junge Ding, war schamlos genug, der Mutter Beispiel nachzuahmen. Die beiden behandelten sie, als ob sie schon eine Gefallene, ja eine Verworfene sei.
Als sie nun von dem verunglückten Engagement zurückkehrte, steigerte sich ihr Jammer noch, denn jetzt sah auch der Onkel in ihr nur eine ärgerliche Familienlast, Vetter Franz erlaubte sich grausamen Spott, die Tante und Resi aber, an die sie angekettet war, mißhandelten sie nahezu vom Morgen bis zum Abend mit den verletzendsten Redensarten. Ja, sie, das erwachsene Mädchen, wurde bei verschiedenen Gelegenheiten von der Tante noch geohrfeigt!
Als der Agent ihr den Antrag nach Siebenburgen übermittelt hatte, schien der Onkel seltsamerweise keinen Gefallen daran zu finden, obwohl es sich doch um ein Hoftheater ersten Ranges und um die Aussicht einer dauernden Stellung handelte. Er sprach sich zwar nicht deutlich darüber aus, war aber ärgerlich, daß es gerade dieser Ort sein müsse und meinte, das sei noch wohl zu überlegen, und er könne nicht sofort seine Zustimmung geben. Es kam zu einer Unterredung zwischen Onkel und Tante, von deren Inhalt sie nichts erfuhr, und dann ging der Onkel nochmals selber zum Agenten. Nach einer zweiten Unterredung zwischen Onkel und Tante erhielt sie endlich die bang erwartete Zustimmung.
Ein recht kühler, mit dem Hinweis auf alles das, was man ihr an Wohlthaten erwiesen habe und mit allerlei, wie an eine bösartige Sünderin gerichteten Ermahnungen verbundener Abschied war es gewesen, den man ihr auf den Weg gegeben hatte. Schlecht wollte sie nicht werden, schon aus Trotz gegen diese Verwandten nicht, die dies in den letzten zwei Jahren ihr so oft als rein selbstverständliche Zukunft in den kränkendsten Redensarten prophezeit hatten; dann aber auch aus einem noch viel gewichtigeren Grunde nicht.
Die verstorbene Mama konnte nicht schlecht gewesen sein. Jener böse Offizier, von dem der Onkel meinte, sie würde ihm als Tochter nur lästig sein, hatte sie eben verführt. Sie aber war durch ihr eigenes Dasein gewarnt. Dagegen war es so ein Traum, an den sie selber nicht ernstlich glaubte, mit dem es sich aber angenehm tändelte, daß sie hübsch, wie sie einmal war, wohl auch, wie so manche Künstlerin, Gräfin oder Baronin werden könnte.
Zur Nachtzeit traf sie in dem ihr vom Agenten bezeichneten Hotel in Siebenburgen ein. Am anderen Vormittag stellte sie sich dem Intendanten vor, der sehr höflich mit ihr war. Er ließ den Kapellmeister rufen, und sie mußte zum Klavier einige Arien singen. Es wurde ihr zwar weiter nichts über den Eindruck dieser Leistung auf die beiden Herren gesagt, aber diese konnten doch nicht unzufrieden gewesen sein, da sie sogleich für den nächsten Tag auf die Bühnenprobe bestellt wurde, um die Rolle des Ännchen im Freischütz zu übernehmen.
Es war ein sonniger Septembertag, und sie nahm nach dem Mittagessen gern die Einladung der Hotelwirtin, einer recht liebenswürdigen jungen Frau an, sich von ihr auf einer Spazierfahrt die Stadt zeigen zu lassen.
Das Hotel Viktoria, in dem sie wohnte, lag auf dem großen Chlodwigsplatz, in dessen Mitte auf figurenreichem Sockel die Reiterstatue des vorigen Königs, Chlodwig III., hoch aufragte. Im Rücken der Statue stand das Hoftheater mit seiner Säulenhalle, die einen antiken Giebel mit gemeißelten Reliefs und eine goldene Apollofigur auf dessen Spitze trug. Über dem Bühnenraum wölbte sich, den Vordergiebel überragend, eine weite Kuppel, die in einer goldenen Krone ausmündete. Das mächtige Gebäude schimmerte schneeweiß. Auf der dem Hotel gegenüberliegenden Seite des Platzes standen drei große Paläste von reicher Bauart. Das waren, wie die Wirtin ihr erklärt hatte, rechts die russische Botschaft, links das Palais des Fürsten Treviso und in der Mitte der Palast, in dem Prinzessin Klara, die Witwe des vor zwei Jahren gestorbenen Prinzen Siegmund, des Bruders des regierenden Königs, mit ihren drei kleinen Kindern wohnte. Das Hotel Viktoria war auf der einen Seite dicht an den langgestreckten, vier Stockwerke hohen Chlodwigshof angebaut, auf der anderen bildete es die Ecke einer ziemlich schmalen Seitenstraße, an deren jenseitiger Ecke sich das Café Siegmund befand. Gegen das Theater zu reihten sich daran noch einige elegante Cafés, eine Konditorei und eine große Bierhalle. Diese Häuser waren alle sehr reich in ihren Fronten ausgestattet und die vier Stockwerke hoch mit schmiedeeisernen Balkonen geschmückt. Auf dem Platze herrschte ein reger großstädtischer Verkehr. Pferdebahn- und Omnibuslinien hatten hier einen Hauptkreuzungspunkt, die Droschken standen in langen Reihen auf zwei Haltestellen, und es bot sich unausgesetzt das bunt bewegte Bild hin und her jagender Fuhrwerke aller Art und dazwischen sich gewandt hindurchwindender Fußgänger, die dann in die raschen Schrittes auf und nieder wogende Menge auf den Bürgersteigen untertauchten.
Die Droschke, die Kitty mit der eleganten Hotelbesitzerin bestieg, wandte sich auf deren Geheiß einer Brücke zu, die da, wo der Chlodwigsplatz von steiler steinerner Schutzwehr gegen den Strom abgeschlossen wurde, nach dem jenseitigen Stadtteile führte. Wie Frau Kern, Kittys Begleiterin, erklärte, hieß jener Stadtteil seit alter Zeit die Herrenseite, im Gegensatze zur diesseitigen Bürgerseite. Ein gar prächtiges Bild bot sich auf der langsamen Fahrt über die langgestreckte Brücke, auf deren breitem Fahrdamm elegante Equipagen aller Art, Reiter, Droschken, Omnibusse in vierfacher Reihe einherzogen, während auf den durch eiserne Schranken gesonderten Fußpfaden zu beiden Seiten sich die Menschenmenge nur langsam vorwärts bewegen konnte. Von ihrem Wagen aus sah Kitty über die hohe Brüstung und zwischen den dreifache Kandelaber haltenden, nackten, oder nur leicht drapierten, ehernen Frauengestalten hindurch den Strom, auf dem große und kleine Dampfer und Ruderboote neben Lastkähnen bald feierlich langsam, bald pfeilgeschwind fuhren und mit ihren Schiffskörpern, Schloten, Segeln, Masten und Wimpeln den grünblauen Wasserspiegel buntfleckig belebten. Der Rauch eines Schlotes bildete da und dort zwischen dem Wasser und dem blauen Himmel einen langen schwarzgrauen Streifen. An das Ohr klang neben dem gellenden Ruf der Sirenen, Glockengeläute durch das Gerassel der Fuhrwerke hindurch. Als ihr Blick von dem Flußbild sich dem grade vor ihr liegenden jenseitigen Ufer zuwandte, sah sie auf breitem Höhenkamm ein in der Mitte dichteres, zu beiden Seiten immer mehr von grünen Anlagen durchbrochenes, hellschimmerndes Häusermeer, aus dem einige größere Paläste neben mannigfach geformten Kuppeln und Türmen besonders hervortraten. Hoch oben aber breitete sich der Königspalast, die ganze Stadt beherrschend, aus. Das »hohe Schloß« nannte man, wie Frau Kern sagte, den Königssitz, der weißleuchtend aus zwei mit hohen Säulen geschmückten Hauptteilen bestand, die wie antike Tempel aussahen, und einem im Halbrund sich vorbauenden Mittelstück mit einer goldenen Kuppel, auf deren Höhe die Königsstandarte flatterte. Eine tief leuchtende Nachmittagssonne tauchte den ganzen Höhenzug mit seinen Häusern und Gärten in rötliches Licht, daß die Fenster da und dort, wie Feuer funkelten und blinkten und die Kuppel des Schlosses heiß erglühte. An Palästen und prunkenden Verkaufsmagazinen vorbei ging die Fahrt in elegante Villenstraßen mit Vorgärten und palmengeschmückten Glashallen an den bald reizend zierlichen, bald vornehm großartigen Häusern.
Auch in diesen Straßen herrschte jetzt reiches Leben, das namentlich von Equipagen und Reitern gekennzeichnet wurde. Der Weg führte hier nach der »Königsau«, der großen Parkanlage, in der um diese Stunde die vornehme Welt ihre Spazierfahrten zu machen Pflegte.
Frau Kern sprach, an den Anblick des Schlosses anknüpfend, von König Lothar, seiner Beliebtheit im Volke, seiner schönen Erscheinung und, auf eine Zwischenfrage Kittys, von der Königin, die zwar schön, aber ihres Stolzes wegen unbeliebt sei. Daran fügte sich leicht die Erzählung von der früheren Schauspielerin Waldeyer, die mehrere Jahre lang des Königs einflußreiche Geliebte gewesen, schließlich aber durch Eifersucht ihren Sturz selber herbeigeführt habe. Sie habe sich auf der Bühne, im Zwischenakt einer Vorstellung, zu einer leidenschaftlichen Scene mit einer Tänzerin, die sie beargwöhnte, hinreißen lassen. Grundlos sei der Argwohn allerdings nicht gewesen, denn König Lothar sei für weiblichen Reiz gar sehr empfänglich. Zwei Jahre waren seit dem Sturz der Waldeyer verstrichen. Der König hatte inzwischen manche Dame, namentlich des Hoftheaters, mit seiner Gunst ausgezeichnet, keine aber hatte ihn dauernd zu fesseln vermocht.
Kitty hörte der Begleiterin, die sich in diesem Gespräch sehr zu gefallen schien und von den galanten Abenteuern des Königs auch auf andere pikante Coulissengeschichten überging, schweigend und mehrmals unter Unbehagen errötend zu. Sie suchte abzulenken, indem sie bald dieser Equipage, bald jener besonders eleganten Insassin einer solchen ihre Aufmerksamkeit zuwandte, aber Frau Kern nahm daraus nur den Anlaß ihre Skandallust nach allen Richtungen schweifen zu lassen und allen möglichen Stadtklatsch auszukramen.
Man kam endlich auf einen großen freien Platz, auf dem sich ein Riesendenkmal aus Erz erhob. Ein germanischer Reiter mit langem Lockenhaar unter dem Flügelhelm, schwang die Streitaxt auf wild sich bäumendem Roß, das eine schräge Felsplatte hinanzusprengen schien. Vier Walküren ritten jauchzend und die Speere in die Lust hebend an den vier Sockelkanten. Das war, so erklärte kurz Frau Kern, das Denkmal Grimoalds, des Ahnherrn der Dynastie. Durch einen hohen steinernen Thorbogen, mit Trophäen und dem Königswappen geschmückt ging es in eine lange Allee, die von Equipagen und Reitern dicht belebt war. Als ein eleganter Herr mit großem blonden Schnurrbart, ein Tandemgespann lenkend, an ihnen vorüberfuhr, machte Frau Kern Kitty darauf aufmerksam, daß dies der Hofmarschall, Graf Lanzendorf, sei. Bald daraus überholte sie ein Spitzreiter in grün-goldener Livree, und gleich darauf kam der Viererzug der Königin. Kitty machte es viel Spaß, daß die noch junge und sehr schöne Königin, die nach rechts und links winkend, ganz dicht an ihnen vorbeikam, ihre tiefe Verneigung mit einem, wenn auch flüchtigen, doch besonders aufmerksamen Blick erwiderte.
Von der Allee bog man schließlich ab und durchfuhr verschiedene Parkpfade an einem Wasserfall, einem größeren Schwanenteiche, dann an einem Tempelchen mit einer Amorstatue inmitten der runden Säulenhalle vorüber. Einen großen Platz, auf dem zwei Springbrunnen hohe Wassersäulen emporschleuderten, im Halbrund umfahrend, kam man aus der Königsau wieder an den Strom, den man jetzt auf einer eisernen Brücke überfuhr, die etwas weniger belebt war, als die große steinerne Chlodwigsbrücke, die in ziemlicher Entfernung zur Linken sichtbar war. Durch die Altstadt und ihre mit Firmenschildern dicht bedeckten, in jedem Erdgeschosse Läden oder Gastwirtschaften enthaltenden Geschäftsstraßen, über den altertümlichen Markt und am schwarzgrauen Dom vorüber, ging es nach dem neuen Viertel und dem großen Platze mit den prachtvollen Neubauten der Universität, der Gemäldegalerie, der Bibliothek und den im Entstehen begriffenen, von einem Gewirr sich kreuzender und schneidender Gerüstbalken umgebenen Bauwerken der Kunstakademie und des vaterländischen Museums. Durch einige Straßen mit schön gebauten Mietshäusern lenkte der Kutscher das Gefährt nach der Lotharstraße, der großen, in der Mitte von einer Parkanlage, zu beiden Seiten von Geschäften mit reichen Auslagen und eleganten Cafés geschmückten Avenue, die kerzengrade nach dem Hoftheater und dem Chlodwigsplatz führte.
Frau Kern entließ den Kutscher vor einer Konditorei am Beginn der Avenue. Nach einem Imbiß, der längere Zeit in Anspruch nahm, ging man zu Fuß durch das fesselnde Abendgetriebe der Lotharstraße, die in reicher elektrischer Beleuchtung strahlte und besah sich die prächtigen Auslagen der Juweliere und der Modewarengeschäfte.
Kitty war sehr vergnügt. Das Unbehagen, das sie zu Beginn der Spazierfahrt über Frau Kerns Gesprächsstoffe empfunden hatte, war längst verschwunden. Es war eine liebenswürdige Frau, die es gut mit ihr meinte und sich als wohlmeinende Freundin aufbot, wenn, was nicht ausbleiben werde, ihre unerfahrene Jugend des besseren Rates bedürfe. Siebenburgen sei eine gar leichtfertige Stadt, in der ein alleinstehendes, so hübsches Mädchen leicht zu Schaden kommen könne. Daß Siebenburgen, obwohl es nicht so groß war als Wien, wirklich eine leichtfertige Stadt sein müsse, schloß Kitty aus den zahlreichen, auffallend geputzten, langsam daherschlendernden Damen, denen sie in der Lotharstraße begegneten und deren Art sie, die junge Wienerin, auch ohne Frau Kerns Andeutungen erraten hätte. Die Frau schien einmal heikle Gesprächsgegenstände zu lieben. Das war aber noch nichts Schlimmes. Es war ihr nur neu und brachte sie in Verlegenheit.
Das erste Auftreten Kittys als Ännchen im Freischütz, war von keinem sonderlichen Erfolge begleitet. Das Publikum hatte ihr zwar nicht unfreundlich geschienen, und auch Frau Kern, die der Vorstellung beiwohnte, meinte, es sei ja alles ganz gut gegangen und sie habe »wirklich entzückend« ausgesehen. Aber der Intendant und der Kapellmeister waren sehr kühl in ihrem Verhalten gegen sie und auch verschiedene Mienen der Mitglieder erweckten ihr banges Mißtrauen. Am anderen Tage nahm sie angstvoll die Zeitungen zur Hand und über das, was sie da las, brachte sie die Meinung der Frau Kern, daraus sei nichts zu geben, doch nicht hinweg. Es war die Rede von einer völlig unreifen Anfängerin, von unbedeutender, wenn auch nicht übler Stimme, ungelenkem Spiel und die mildeste Beurteilung sprach nur von möglicher: Entwicklung. Freilich erwähnten sie alle ihr Äußeres in auffälliger Weise. »Allerliebstes Krausköpfchen«, »pikante Erscheinung«, »anmutende Jugendlichkeit«, hieß es. Die abfälligste Besprechung meinte, das Publikum habe sich anscheinend durch die hübsche Erscheinung bestechen lassen und daran war die Bemerkung geknüpft: »Handelte es sich nur darum, für unsere Hofbühne einen sogenannten »netten Käfer« als Augenweide gewisser Kunstkenner zu gewinnen, dann wäre das Engagement dieser Dame vielleicht zu empfehlen.«
Als zweite Rolle sang Kitty den Pagen in den Hugenotten. Von der Garderobe war ihr ein Kostüm, das sie nach Meinung der Ankleidefrau ganz reizend kleidete, geliefert worden. Ihre Befangenheit wurde aber nur gesteigert durch das bange Unbehagen, das sie darüber empfand, so in kurzen spanischen Höschen und seidenen Tricots vor das Publikum treten zu müssen. Dazu hörte sie unmittelbar vor ihrem Austreten, der König wohne der Vorstellung in der Parterreloge des Prosceniums Bei. Sie erntete sehr lebhaften Beifall, obwohl sie ihre große Arie nur mechanisch gesungen hatte. Alles drehte sich vor ihr im Kreise; sie fühlte sich wie gelähmt, weil sie die peinliche Empfindung hatte, das Publikum besehe immerwährend ihre Beine, die ihr wie nackt blinkten, so daß sie daran fror und leise zitterte. Da, als sie wieder glücklich hinter der Scene war und durch das Gewirr der Balleteusen hindurch nach ihrer Garderobe zu kommen suchte, hieß es: »Majestät ist auf der Bühne!«
Der Regisseur kam eilig heran und, sie am Arme fassend, raunte er ihr barsch zu: »Stehen bleiben! Nicht in die Garderobe!« Sie sah auch, daß alles erwartungsvoll herumstand. Alsbald kam, vom Intendanten und einem Offizier geleitet, ein großer, starker Herr in dunkler Civilkleidung mit pechschwarzem Vollbart und großen, schwarzen Augen heran. Er nickte den scheu zurückweichenden, knixenden oder sich tief verneigenden Leuten leicht mit dem Kopf zu, der ersten Tänzerin reichte er lächelnd die Hand und sagte ihr etwas, was Kitty nicht hören konnte, worauf diese auch lächelte und wieder einen tiefen Knix machte. Dann unterhielt er sich eine Weile mit der Koloratursängerin. Der Intendant nahm an den Gesprächen teil, während der Offizier weiter zurück mit einigen Tänzerinnen zu scherzen schien.
Jetzt kam der König zu ihr heran. Der Intendant stellte sie vor. Sie sah nur einen riesig großen Mann, dem sie nicht einmal an die Schulter reichte, ein funkelndes Augenpaar, das über ihre Gestalt herabglitt und einen lächelnden Mund zwischen dem dunklen Barte und berührte ganz leise die Hand, die sich ihr entgegenstreckte. Sie verspürte ein kräftiges Schütteln und hörte: »Allerliebst, wirklich allerliebst, Fräulein!« Der König fragte nach ihrer Heimat, nach ihrem Alter, wie es ihr in Siebenburgen gefalle, wie lange sie schon in der Stadt sei, und während sie der gepreßten Kehle knappe Antworten entrang, glitten diese Augen, die nicht böse waren, aber doch in der Glut, mit der sie unter der hohen Stirne ans tiefen Höhlen hervorleuchteten, sie beängstigten, immer an ihrer Gestalt auf und nieder.
»Auf Wiedersehen, Fräulein Rita!« sagte der König endlich, drückte nochmals ihre Hand und nickte ihr lächelnd zu. Den Namen Rita hatte Kitty für die Bühne angenommen. Dann verließ er wieder unter allseitigem Knixen und Verbeugen die Bühne. Noch am selben Abend teilte ihr der Intendant mit, der König habe sich sehr anerkennend über sie ausgesprochen und zugleich verabredete er mit ihr, daß ihre nächste Rolle statt einer bisher bestimmt gewesenen anderen, der Cherubim in Figaros Hochzeit sein solle.
Am folgenden Tage lauteten die Zeitungsurteile ungünstiger als das erste Mal. Man warf ihr völligen Mangel an Bühnenroutine und Detonieren vor, Mängel, die doch durch äußere Reize der Jugend nicht ersetzt werden könnten, und jener böse Kritiker, der das erste Mal den häßlichen Ausdruck von »nettem Käfer« gebraucht hatte, schrieb jetzt:
»Fräulein Rita hat uns gestern zwar gezeigt, daß sie schöne Beine hat, aber damit noch immer nicht bewiesen, daß sie eine brauchbare Sängerin ist. Vielmehr diente ihr zweites Auftreten eher dazu, erkennbar zu machen, daß die Natur sie zwar sonst sehr reich ausgestattet hat, mit den Stimmitteln aber allzu sparsam gewesen ist. Von Kunst ist bei dieser Leistung überhaupt nicht die Rede.«
Trotzdem stillte Frau Kern ihre Thränen mit der Behauptung, das Publikum sei entzückt von ihr gewesen und verstärkte in den nächsten Tagen ihre Behauptung noch dahin, in der ganzen Stadt rede man von ihr. Das war auch der Fall.
Kitty wußte, daß sie hübsch war, hatte aber keine Ahnung von der Eigenart ihres Reizes, die auch außerhalb der Bühne die Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Mund, Nase, Ohren, die weichgeschwungene Umrißlinie der vollen Bäckchen, das war alles von puppenhafter Zierlichkeit. Das in einem dichten Walde natürlicher Ringelchen sich über den ganzen Kopf kräuselnde, strohfarbene Blondhaar vermehrte noch den Puppen-Charakter, der endlich die höchste Steigerung durch die vergißmeinnichtblauen Augen erfuhr, die ganz starr und immer weitgeöffnet in die Welt sahen. Da nun zugleich der Körper gar nicht dem kinderhaften Kopfe entsprechend zart war, sondern die Reize des reifen Weibes sehr kräftig betonte, entstand eine in dem Pagenkostüm der Bühne noch verschärfte Wirkung, die nicht nur auf Männer, sondern auch auf Frauen einen prickelnden sensuellen Reiz übte. Das war allerliebst und hatte einen seltsamen Stich ins Unheimliche. War das eine Kinderseele in einem Weibeskörper oder war es eine jener fabelhaften Wassernixen, die wundersam gebildeten Leibes keine Seele haben? Man wurde von dem Anblick gefesselt, man hatte eine Bezeichnung auf den Lippen und wußte nicht welche, man ahnte und wußte nicht was. Die Frauen sprachen lächelnd von dem reizenden Geschöpfe und sahen sich scheu fragend an. So war sehr viel von ihr in der Stadt die Rede, und zwar hatten die ernsten Kunstkenner oft große Mühe ihre »pedantische« Kritik der mangelhaften Leistungen gegen diese eigenartige Wirkung ihres Äußeren zu verteidigen. Kitty selbst konnte im Theater bemerken, daß nicht nur die Herren sie eifrig umringten, so daß sie aus dem Erröten nicht mehr herauskam, sondern daß auch die Damen ihr mit lächelndem Wohlwollen begegneten.
Ihr Auftreten als Cherubim fiel, wie sie selber nur zu deutlich empfand, kläglich aus. Zwar wurde wieder applaudiert, aber auch gründlich dagegen gezischt. Der König kam wieder auf die Bühne, sprach wieder mit ihr und sah sie wieder mit seinen dunklen Augen von Kopf bis zu Fuß an. Am Schlusse der Vorstellung sagte ihr der Intendant überraschend höflich, eigentlich sei mit ihrem dreimaligen Auftreten die Probe abgeschlossen und sollte nun üblicherweise über ihr etwaiges Verbleiben entschieden werden, die Majestät habe aber befohlen, die Entscheidung bis nach einem vierten Auftreten, zu verschieben. Über die zu wählende Rolle werde er sich noch weiter mit ihr benehmen.
»Für den Cherubim war's doch noch ein bißchen zu früh!« sagte er lächelnd, streichelte ihr das Kinn und fuhr fort: »Deßhalb wollen wir den Mut noch nicht verlieren. Nicht wahr? Und jetzt gönnen wir Ihnen ein paar Tage Ruhe.«
Dann sah er sie scharf, wie nachdenklich prüfend, an, während er zugleich weiterging.
Die Kritiken des folgenden Tages sprachen ihr einstimmig das künstlerische Todesurteil. Es hieß u. a., ein solches verbrecherisches Attentat auf Mozart sei auf einer Hofbühne wohl noch nicht dagewesen, sie habe eine Unfähigkeit gezeigt, die jeden Gedanken an Anstellung völlig ausschließe und jener abscheulich witzelnde Kritiker schrieb: »Fräulein Rita suchte uns zwar noch durch eine weitere Höschenrolle zu ködern, aber die Sache fiel noch schlimmer aus als in den Hugenotten. Wir sind keine Asceten, aber was in der »Alhambra« oder in den »Marmorsälen« uns sehr dankbar fände, kann doch im Hoftheater und in einer Mozartschen Oper nicht für eine geradezu hervorragende künstlerische Unfähigkeit Ersatz bieten.«
Nach solchen Kritiken war ja ein weiteres Auftreten ganz unmöglich! Sie durfte sich gar nicht mehr vor das Publikum wagen. Und jetzt wieder zurück zu den Verwandten, in das alte, nein, in ein vermehrtes Elend! Der Gedanke daran trieb ihr schier den Angstschweiß aus die Stirne. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie es fertig brächte, die Wohnung zu betreten. Je mehr sie den peinvollen Gedanken erwog, desto deutlicher wurde ihr, daß davon nie und nimmer die Rede sein konnte. Einen Augenblick kam ihr aus der abscheulichen Bemerkung jenes Kritikers von »Alhambra« und »Marmorsälen«, worunter sicherlich Singspielhallen zu verstehen waren, etwas wie ein Rettungswink. Alles, alles war ja besser als die Rückkehr zu den Verwandten. Aber dann faßte sie doch wieder ein Grauen vor etwas so Gemeinem, vor dem Zukunftsbilde von Stufe zu Stufe sinkender Verkommenheit, wie sie sich eine solche Laufbahn in den Singspielhallen vorstellte. Sie sollten nicht recht behalten mit ihren abscheulichen Prophezeiungen, die herzlosen Quäler, und der Mutter schönes Bild trat ihr vor die Seele. Ihre Tochter eine solche Person, die vor rauchenden und zechenden Männern in einer Kleidung, wie sie es schon auf ausgestellten Photographieen gesehen hatte, unanständige Lieder sang! Das durfte sie der Toten nicht anthun. Aber was, was dann? Zu Mittag hatte sie keinen Bissen genießen können. Frau Kern, die sonst jeden Tag zu ihr auf das Zimmer gekommen war, ließ sich jetzt nicht mehr sehen.
So lag sie des Nachmittags auf dem Sofa und weinte, weinte immerzu, bis es einmal klopfte. Sie trocknete die benäßten, hochgeröteten Wangen, die aufgeschwollenen Augenränder, so gut es eben ging und aus ihren Anruf betrat ein hochgewachsener Herr, mit einem glatt rasierten, bräunlichen Gesicht, in eleganter dunkler Kleidung das Zimmer. Der noch nicht alte Mann, der tote ein Schauspieler aussah und ein in weißes Seidenpapier eingeschlagenes Paket trug, stellte sich unter tiefer, sehr elastischer Verbeugung der mit scheuer Frage ihn anblickenden Kitty vor:
»Mein Name ist Bachmann, Leibkammerdiener Seiner Majestät des Königs. Ich habe den allerhöchsten Befehl, dies dem gnädigen Fräulein zu überreichen.«
Damit entfernte er das Seidenpapier von seinem Paket und reichte ihr ein Schmucketui aus rotem Leder entgegen. Sie nahm es mit unsicherer Hand, und als sie es öffnete, blitzte ihr auf hellblauem Sammet ein mit Edelsteinen reich geschmückter Armreif entgegen, der ihr überaus kostbar schien.
»Dies mir – der König?« stammelte sie, den königlichen Boten groß anstarrend.
»Von Seiner Majestät!« antwortete der Kammerdiener mit einer erneuten Verneigung und setzte hinzu:
»Seine Majestät wünschen außerdem mit dem gnädigen Fräulein heute abend neun Uhr eine Tasse Thee zu trinken.«
Die Vergißmeinnichtaugen erweiterten sich noch mehr. Der frohe Gedanke dämmerte in ihr auf, daß, wenn der König ihr so wohlgesinnt sei, sie nichts mehr zu fürchten habe. Er wurde aber alsbald wieder von einem dunklen Bangen verdrängt, das die Mundwinkel in leisen Zuckungen bewegte, ehe sie die Worte fand:
»Mein Gott, da muß ich also singen und ich bin nicht wohl, wirklich nicht wohl ...«
Der Leibkammerdiener lächelte kaum merkliche ganz diskret, als er das angsterfüllte Gesicht sah und antwortete:
»Majestät würden mit Bedauern hören, daß das gnädige Fräulein sich nicht wohl befindet. Aber ich erlaube mir zu bemerken, daß Gesang kaum verlangt werden dürfte.«
»Fräulein werden ganz allein mit Seiner Majestät den Thee nehmen!« setzte er dann etwas gedämpfter und langsam betont hinzu.
Dabei senkte er die Augenlider.
»Nicht singen? Allein ... Ja, was habe ich denn da zu thun? Was will der König denn von mir?« fragte Kitty mit stockender, immer leiserer Stimme.
»Majestät geben Ihnen Gelegenheit, sich für das Geschenk zu bedanken«, lautete die sanft feierliche Antwort.
»Ach so!«
Eine kurze Pause entstand. Dann nahm der Leibkammerdiener das Wort:
»Gnädiges Fräulein haben das allerhöchste Interesse erregt. Das Engagement des Fräuleins dürfte unter diesen Umständen wohl sicher sein. Aber unser allergnädigster Herr ändert in solchen Fällen auch sehr oft seine Entschließungen plötzlich, wenn sich andere Einflüsse geltend machen oder wenn sich die günstige Stimmung des Augenblickes wieder verflüchtigt. Sollte also das Unwohlsein sich nicht allzu beschwerlich fühlbar machen, dann möchte ich mir den ergebensten Rat erlauben, ein solches Zeichen allerhöchster Gnade nicht zu unterschätzen.«
»Nein, nein! Das thue ich gewiß nicht!« sagte Kitty in einem ängstlichen Ton. »Ich meinte nur ... Gewiß, ich werde kommen!«
»Meine Frau wird das gnädige Fräulein mit der Equipage abholen und gegen acht Uhr hier sein, um noch etwas bei der Toilette zu helfen«, sagte jetzt der Leibkammerdiener.
Ehe Kitty, der es wirblig im Kopfe wurde, etwas erwidern konnte, war er schon unter einem tiefen Bückling verschwunden. Noch hatte sich das bängliche Gewirr in ihrem Gehirn, das beklemmende Gefühl, als werde sie wider ihren Willen und ohne sich befreien zu können nach irgend einem unheimlichen Unbekannten gestoßen, nicht geklärt, als Frau Kern kam. Der Portier, der den Leibkammerdiener von Ansehen kannte, hatte die Kunde von dessen Anwesenheit bei Fräulein Rita sofort verbreitet. Frau Kern bewunderte das Armband mit lautem Entzücken.
»Aber was machen Sie für ein sonderbares Gesicht, Fräulein?« sagte sie dann. »Gerade, als ob Sie sich gar nicht sonderlich über ein so kostbares Geschenk freuten!«
Kitty ließ das Mündchen ein wenig spielen und sagte dann stockend: »Ach, liebe Frau Kern! Sie wissen ja diese Hofsachen, Sie haben mir auf der Spazierfahrt letzthin so viel davon erzählt. Denken Sie sich, ich bin sogar heute abend beim König eingeladen, ganz allein. Dieser Herr Kammerdiener hat das so gesagt, daß ich mich gar nicht zu weigern wagte, und ich habe jetzt solche Angst. Um acht Uhr holt mich die Frau Kammerdiener ab. Ich weiß mir nicht zu helfen. Was bedeutet das? Wie kommt der König dazu? Geschieht denn das öfter und ist es so Sitte?«
Frau Kern bekam einen sehr roten Kopf und unterbrach, den auf sie gerichteten starren Blauaugen ausweichend, die Sängerin mit den unsicher tastenden Worten:
»Ja, liebes Fräulein! Bei uns Bürgersleuten kommt so etwas natürlich nicht vor. Künstlerinnen, das ist etwas ganz anderes! Ich kann da gar nichts sagen. Ist jedenfalls eine große Auszeichnung; die Frau Leibkammerdiener, die wird schon Bescheid wissen. Ich kann wirklich mit dem besten Willen keinen Aufschluß geben, wie so etwas ist. Da haben Sie wohl noch viel herzurichten, und ich will nicht weiter stören!«
Eilig entfernte sie sich. Unten im kleinen Comptoir sagte sie zu dem Gatten:
»S' ist natürlich so! Um achte kommt die Frau Leibkammerdiener und führt ihm das Lämmchen zu.«
Herr Kern gehörte in seiner politischen Überzeugung der radikalen Oppositionspartei an. Er schlug geräuschvoll mit der flachen Hand auf das Kassenbuch und polterte:
»S' ist doch stark! Dieses Hofgeschmeiß!«
»Na, hab' Dich nicht so!« meinte seine schöne Frau. »Eine gottlose Wirtschaft ist's freilich, und ich möchte die Sünde nicht auf dem Gewissen haben. Wir haben mit dem Handel nichts zu schaffen. Aber aufpassen sollen wir, was vorgeht. Ehe sie das Geld anderswo los wird, können wir das Geschäft machen.«
»Wie meinst Du das?« fragte der Gatte mit einiger Spannung.
»Na, wenn sie hier wohnen bliebe ...«
»Die wird bald eine Stadtwohnung haben.«
»Das fragt sich eben, ob wir's nicht machen könnten.«
Herr Kern sann nach und – murmelte dann überlegend vor sich hin:
»Das Appartement in der ersten Etage wäre so was; hat freilich nur ein Fenster auf den Platz.«
»Das Logis findet sich schon!« meinte die Frau. »Das meiste stecke darin, was an den täglichen Bedürfnissen einer solchen Dame verdient wird.«
Indessen war sich Kitty durch das Verhalten der Frau Kern über die Sachlage ziemlich klar geworden. Ihr dunkles Angstgefühl hatte aus deren scheu ausweichendem Verhalten eine entsetzliche Gewißheit entnommen.
Sie wußte jetzt ganz klar, um was es sich handelte, und die Frau Kammerdiener konnte wieder allein zurückfahren. Das Armband mochte sie dann mitnehmen. Ein König konnte nie und nimmer ihre Anstellung von derartigem abhängig machen. Wenn es aber doch so war? ... Dann – die Singspielhalle? Das war nichts Besseres, viel abscheulicher noch. Das Wasser! Ja, das blieb noch! In der Singspielhalle verkommen, von den Verwandten sich quälen lassen, ins Wasser gehen oder – zum König, zwischen vier Dingen hatte sie die Wahl, die alle vier schrecklich waren. Sie wollte um Hilfe rufen, den sausenden, wirbelnden Kopf sich an der Wand einstoßen, sie wand sich unter dem Zwange unsichtbar sie schnürender Fesseln. »Mama, liebe Mama, hilf mir!« stöhnte sie unter Händeringen, nach der Zimmerdecke aufschauend. Sie war so jung, hatte noch so gar nichts vom Leben gehabt! Freiwilligen Tod konnte man doch nicht von ihr verlangen? Das war ja das Allergreulichste, vor dem Sterben hatte sie eine zu entsetzliche Angst! Sie kauerte sich, das Gesicht gegen die Wand, auf dem Sofa zusammen, wie ein furchtsames Kind, das die Mutter allein in der Wohnung gelassen hat. Wie ein schwarzer Schatten erschien auf ihr »Herein!« eine Dame im Rahmen der sich öffnenden Thür.
»Bachmann ist mein Name!« hauchte sie mit sanfter Freundlichkeit ins dunkle Zimmer hinein. »Mein Mann schickt mich.«
»Jawohl, jawohl! Ich weiß! Entschuldigen Sie, ich will nur Licht machen!« sagte Kitty mit hastender Stimme.
Bei Licht zeigte sich Frau Bachmann als eine geschmackvoll einfach gekleidete, schlanke junge Frau von sehr einnehmendem Äußern.
»Fräulein waren unwohl?« begann sie ein Gespräch. »Es geht doch hoffentlich besser?«
»Ich danke, es geht!« erwiderte Kitty gepreßt. Dann stürzte sie plötzlich auf Frau Bachmann zu und sagte, deren Schulter fassend:
»Mir ist so bange! Liebe Frau! Sagen Sie mir, ich bitte schön, was will der König? Muß ich wirklich zu ihm hin?«
»Aber, liebes Fräulein!« entgegnete Frau Bachmann lächelnd und mit sanfter Stimme, während sie Kittys Hände langsam zurückschob. »Kein Mensch zwingt sie. Die Majestät wird aber sehr gnädig mit Ihnen sein, wenn Sie kommen.«
»Ihr Mann – der Herr Leibkammerdiener sagte aber doch ...«
»Mein Mann hat Ihnen nur gesagt, es dürfte, wenn Sie hier angestellt sein wollen, klug sein, die allerhöchste Gnade nicht abzuweisen. Er hat es gut mit Ihnen gemeint, Ihnen einen Rat gegeben.«
»Ja, wenn es nur ...! Ich muß ja ins Wasser springen, wenn ich nicht engagiert werde!«
»Na, na! Das wäre das Richtige, eine so wunderschöne Dame ins Wasser springen! Sie haben andere Aussichten, mein Fräulein! Aber jetzt, bitte, wollen wir an die Toilette denken, wenn es Ihnen genehm ist. Es ist Zeit.«
Wie unter einem unwiderstehlichen Zwange ging Kitty an den Reisekorb, in dem das einzige Konzert- und Gesellschaftskleid, das sie besaß, noch verpackt war. Es war weiß mit Ausputz von roten Schleifen.
Frau Bachmann fand es ganz hübsch.
Während der völligen Umkleidung ließ sie allerlei Bemerkungen fallen, die, an sich harmlose Schmeicheleien, doch Kitty bedrückten. Sie ging dann dazu über, von Fräulein Waldeyer, der ehemaligen Maitresse des Königs, und deren Toilettenpracht allerlei zu erzählen, dann vom König selber, der herzensgut sei, wenn man ihn nur zu behandeln wisse. Die Waldeyer habe ihn schließlich förmlich tyrannisiert. Er brauche aber ein sanftes, gutartiges Wesen neben sich und könne vor allem keine Intriguen leiden. Die Königin wisse ihn gar nicht zu behandeln. Es sei ernstlich zu wünschen, daß der arme König wieder einmal eine dauernde Herzensneigung finde, deren ein so schöner und liebebedürftiger Herr nicht ohne Schaden für sein Gemüt entbehren könne. Dann richtete sie wieder einige Schmeicheleien an Kitty und ohne ersichtlichen Zusammenhang sprang sie plötzlich zu der Erörterung über:
»Der Herr ist eben der Herr für uns bei Hof. Da wird nicht viel bedacht und gefragt; was er befiehlt, geschieht und auch, wenn er nur etwas wünscht, wird es angesehen, als sei's befohlen. Das gewöhnt man so, daß man's gar nicht mehr anders weiß und nicht daran denkt, auch nur den leisesten Wink, eine bloße Andeutung der Majestät anders denn als Befehl aufzufassen, sich zu bedenken oder Kritik daran zu üben. Er hat die Macht, seine Gnade oder Ungnade ist für uns eine Lebensfrage, thun wir's nicht, so sind, hundert Andere froh an unsere Stelle zu treten. Ich bin aufgewachsen bei Hof, mein Vater ist noch aktiv als Obersilberbewahrer. Man kann keinem von unserer Familie etwas nachsagen, auch das Geringste nicht. Aber es liegt uns allen im Blut, daß, wenn heute die Majestät dies oder das wünscht, mag's nun in anderer Leute Augen gelten, als was immer, es gethan wird. Läßt er uns was Unrechtes thun, dann ist's seine Sache, sein Gewissen hat's zu verantworten. Denn er hat die Macht über uns. Und gar so schlimm ist es heutigentages nicht mehr. Mord und Todschlag wird von Einem nicht verlangt. Es ist aber auch ganz was anderes, ob man dem Wunsch eines Königs oder dem irgend eines anderen Menschen gehorcht. Zum Beispiel beim Theater! Na, Sie werden es schon noch kennen lernen, wie es da zugeht! Die Waldeyer war eine seine Dame. Da war niemand so dumm, weil sie die Geliebte des Königs war, sie nun mit jedem leichtfertigen Balletmädel auf eine Linie zu stellen ... Na, jetzt wären wir ja so weit! Allerliebst sehen Sie aus, ganz wunderschön, wie eine Frühlingsblume.«
Kitty ließ die Schwatzhaftigkeit der Frau Bachmann an ihr Ohr klingen, ohne zunächst mehr daraus zu hören, als daß eben diese Frau mit den sympathisch hübschen Gesichtszügen und der sanften Rede etwas war, wie die bösen Zauberinnen in den Kindermärchen, etwas wie eine Schlange, die, lebhaft züngelnd, ihre Ringe um sie wand. Sie haßte das Weib und fürchtete es, nur mit einer anderen Empfindung als die böse Tante in Wien, mit einer unheimlichen Bangigkeit und der Gedanke stieg in ihr auf, ob's nicht doch noch besser sein möchte nach Wien zurückzukehren als sich einer so tückisch geheimnisvollen Macht anheimzugeben. Aber es war etwas in dem Gezüngel der Schlange, was eine allmähliche Lethargie herbeiführte, eine stumpfe Widerstandslosigkeit, die den Dingen ihren Lauf ließ und nur an dem Gedanken: »Ich werde engagiert!« sich träge anklammerte.
Von Frau Kern durch ein Fenster des Erdgeschosses belauert, stieg Kitty mit ihrer Begleiterin in die zweispännige Kutsche, die, wie eine sehr feine Mietskutsche aussehend, vor dem Hotel harrte. Frau Bachmann sagte während des Einsteigens dem den Wagenschlag haltenden Kutscher:
»Sie haben also verstanden? Durch das alte Kammerthor und gerade über den Hof da hinein, wo der Posten steht!«
Während der Fahrt gab sie Kitty noch allerlei Anweisungen über die Art, wie sie beim Erscheinen des Königs zu knixen habe, in welchen Worten der Dank für das Armband zu fassen sei, daß sie mehr als bloß »ja« und »nein«, aber nicht zu viel und vor Allem nicht ohne vorhergehende Frage reden solle. Dann kamen mit einer längeren Zwischenpause beiderseitigen tiefen Schweigens abwechselnd allerlei Redensarten, daß unter Umständen viel, mehr als sie sich jetzt denken könne, vom heutigen Abend abhänge, daß man das Glück beim Schopfe fassen müsse und Ähnliches mehr. »Ich sehe schon die Brillanten auf dem schönen Hälschen glänzen!« sagte sie schließlich mit schmeichlerischer Heiterkeit.
Mit dumpfem Gepolter, in schneidigem Trab, fuhr der Wagen, der kurz zuvor eine lange Strecke steil bergan im Schritt gefahren war, durch ein dunkles Thor; die Hufe der Pferde klapperten laut auf Asphaltboden; dann hielt er unter einer zweiten spärlich beleuchteten Thoreinfahrt.
Sie stiegen aus. Lang ging es über einen kühlen, von großen Laternen hier und da erhellten Korridor, auf dessen Pflaster die Schuhabsätze einen hellen Klang verursachten. Jetzt blitzte der blanke Metallhelm und der Pallasch eines Königstrabanten im Halbdunkel auf. Kitty tastete an den ihr Gesicht ganz verhüllenden Schleier. Der Trabant stand vor einer schmalen, teppichbedeckten Treppe, die von oben her in volles Licht getaucht war; hinter dem Soldaten, der, als die beiden Damen herantraten, nur die großen schwarzen Stiefel etwas bewegte, daß Kitty die Sporen leise klirren und die Säbelscheide ein wenig klappern hörte, wurde die Gestalt des auf einer der unteren Treppenstufen stehenden Leibkammerdieners sichtbar. Er verbeugte sich vor Kitty und raunte zugleich seiner Frau in ungeduldigem Ton zu: »Rasch, rasch! Majestät warten schon!« Dann eilte er die Treppe hinauf. Frau Bachmann beschleunigte auch ihre Schritte, und Kitty mußte dem Beispiel folgen.
Geräuschlos rasch ging es über die Teppiche, in schwül warmer Luft an elektrischen Lampen vorbei, die aus geschliffenen Blumenkelchen ihre glutdurchzuckten Birnen wie drohende Geschosse streckten. Die Treppe und der dann folgende Korridor waren beklemmend eng, die lautlose Stille machte furchtbar bang, und Kitty wurden mit jedem Schritte die Beine schwerer. Jetzt hatten sie Herrn Bachmann wieder eingeholt. Er stieß eine Flügelthür auf.
Sie trat in einen großen, matt erleuchteten Saal, von dessen Decke Gold flimmerte. Frau Bachmann fing sie rechtzeitig auf. Sie hatte nicht beachtet, daß an Stelle der Teppiche spiegelglattes Parkett getreten war und glitt schon an der Thürschwelle mit den neuen Schühchen aus. Ein junger Lakai in reichem Tressenrock und weißen Strümpfen nahm ihr die Überkleider ab. Frau Bachmann murmelte: »Nur Courage! Ich hole Sie nachher wieder ab.«
Der Leibkammerdiener öffnete eine zweite Thüre. »Bitte, bleiben Sie stehen, Fräulein!« sagte er ganz leise, als Kitty das schmale Gemach betreten hatte, in dem es von seidenen Vorhängen, großen Ölgemälden, Spiegeln in riesigen Goldrahmen, hohen bunten Vasen und Goldzierwerk ringsum leuchtete und glänzte. »Majestät werden in einer Sekunde hier sein!« setzte er feierlich hinzu und verschwand durch die gegenüberliegende Thüre.
Kitty fühlte nun, daß sie weit, weit weg von anderen Menschen, mutterseelenallein und wehrlos allem preisgegeben war, was jetzt auch mit ihr geschehen mochte. Sie konnte nicht weinen und hätte auch nicht schreien können, selbst, wenn sie es gewagt hätte. Die Beine waren so schwer, als wollten sie den Körper langsam, ganz langsam in eine Tiefe hinabziehen, die Handschuhe umklammerten die Hände so fest, daß es weh that. Jetzt sprangen die beiden Flügelthüren, die sie angestarrt hatte, auf. Ein wilder Schlag des Herzens, die Beine zitterten, in das Gesicht schoß siedendheißes Blut. »Steh' fest! Mach' Dein Kompliment!« sagte es in ihr.
Im schwarzen Gehrock und heller Krawatte, wie sie ihn im Theater gesehen hatte, kam König Lothar raschen Schrittes mit vorgestreckter Hand auf sie zu. Viel größer, riesenhaft erschien er, mit ungeheuer breiter Brust, der Bart viel dichter, das aus tiefen Höhlen leuchtende Auge so unheimlich. Er aber sagte munter, in rascher, halblauter Sprechweise: »Guten Abend, liebe Rita.« Sie knixte erst zum zweitenmale, als er schon ihre Hand gefaßt hatte. Zum dritten Knix, von dem Frau Bachmann gesprochen hatte, fand sie keine Zeit mehr. Ein undeutliches Stammeln von »untertänigsten Dank«, »Geschenk« kam von ihren Lippen.
»Ach, das Armband!« sagte der König. »Gefällt es Ihnen?« dabei streichelte er ihr die Hand, das Geschmeide scheinbar betrachtend. »Jetzt wollen wir bei einer Tasse Thee ein bißchen plaudern, mein Kind!« fuhr er dann, ihren Arm in den seinen legend, fort. Es fiel ihr schrecklich schwer, so schnellen Schrittes mit dem König in das nächste Gelaß zu gehen, wo der Leibkammerdiener in einer halbdunklen Ecke stand. Sie nahm ängstlich dem König gegenüber, durch ein kleines Tischchen von ihm getrennt, auf einem hellseidenen Fauteuil Platz, nachdem er sie mit einer Handbewegung und einem lächelnden Kopfnicken dazu angewiesen hatte. Eine andere, ganz leise Handbewegung galt dem Leibkammerdiener. Als nun dieser, in seinem Fracke und den schwarzen Seidenstrümpfen, die hagere Gestalt etwas vorgebeugt, mit zwei Tassen auf einem goldenen Präsentierteller vorsichtig trippelnden Schrittes herantrat und Kitty sein blasses, glattrasiertes Gesicht so herankommen sah, da schoß es ihr durch den Sinn: »Das ist der Teufel! Ich bin im höllischen Reich!«