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Im Jahre 1896 stellte sich in Wien ein Schulentlassener den Arbeitgebern vor: »Sie suchen einen Jungen, Meister! Ich heiße Alfons Petzold, will ein Arbeiter werden. Aber ich muß gleich verdienen!« »So, was wiegst du denn, wie groß bist du? He, Gesellen, meßt das Bürschel!« Die Männer ergriffen den kleinen Frager, legten ihn auf den Boden, maßen ihn nach Schuh und Faust, dann stellten sie ihn wieder auf die Beine: »Können wir nicht brauchen! Ist zu schwach, husten tut er auch!« »Aber tapfer ist er, schreit nicht und lacht dabei!« urteilte der Meister. »Wir füttern ihn mal ran, vielleicht wird er ein Herkules und schafft für zwei!«
Der kleine Petzold wußte, wie roh die starken Gesellen waren, und hatte erfahren, daß doch ein gutes Herz unter den häßlichen Reden mitklang. So begann er voll Vertrauen seine erste Arbeit. Doch er leistete nicht, was er sollte. Der Meister hatte Mitleid mit ihm, als er hörte, daß sein Vater in einem Spital für Unheilbare auf den Tod wartete und die Mutter infolge einer Blutvergiftung linksarmig gelähmt war. »Schau! Du mußt für drei schaffen, nicht nur den Willen, auch die Knochen anstrengen! Schaff! Schaff!« so spornte ihn der Meister an. Die Kollegen, selbst überlastet mit Arbeit, trieben ihn mit roher Gewalt zur Hingabe der letzten Kräfte. »Du krank, Vater krank, Mutter krank, am besten, ihr verreckt alle drei! Die Welt wird nicht ärmer ohne euch!« sagte der Meister und schickte ihn weg.
Noch manch ein Arbeitgeber nahm sich des Jungen an: Er diente als Abwaschbursch in Hotelküchen, Glasspüler in Schenken, Botengänger und Fensterputzer. Wer dem Jungen in die blitzblauen Augen gesehen, der konnte ihn nicht abweisen. Sein Hänselgesicht leuchtete von unbesiegbarer Hoffnung. In zwei Jahren hatte er ein Dutzend Stellen und Berufe hinter sich, als er sechzehn Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Die Mutter bricht den gesunden Arm, und als sie aus dem Spital kommt, sind beide Arme steif. Die Arbeitsunfähige, ganz allein auf den Verdienst des Jungen angewiesen, grämt sich krank, sucht hinter ihrer verlorenen Gesundheit her, verliert die sonst so starken Nerven, wird von einem Wagen überfahren und stirbt dabei. Gewiß war mit den kranken Eltern die Last von den Schultern des Siebzehnjährigen abgenommen; jedoch mit der Sorge verließ ihn auch die Spannkraft; er glaubte nicht mehr an seine Vaterstadt; er wanderte nach langer Arbeits- und Obdachlosigkeit nach Polen und fand in der Textilstadt Lodz Spinnereiarbeit. Der hustende Jüngling wußte, was die Staubluft für seine Lunge bedeutete, er mußte weiterwandern und kam endlich nach Wien zurück. Handwagenzieher, Straßenkehrer, Flaschenspüler und Lumpensortierer: sobald sich ein Stärkerer für den Schwächling meldete, wurde er entlassen. Zwölf Jahre mühte er sich als Aushilfs- und Gelegenheitsarbeiter. Niemand sah es den mutigen Augen an, daß sie in Krankheitsglanz so unwahrscheinlich blau leuchteten. Niemand ahnte bei seinen lustigen Scherzworten, daß er dabei das Stöhnen seines zarten Leibes überschrie. Es wußte auch niemand, daß dieser gebrechliche Mensch jeden Sonntag über Schreibheften saß und dichtete, daß er die Nächte, in Büchern lesend, verkürzte. Nur ein paar Arbeitskameraden wußten von seinen Gedichten; sie erzählten von dem tapferen Mann und unterstützten ihn mit Fürsprache bei dem Brotherrn. »Ein Arbeiter, der dichten kann, darf in Wien nicht untergehen!« Es sprach sich rund, die Arbeiter wurden stolz auf ihn, sie ließen ihn in ihren Versammlungen Gedichte rezitieren, wilde, gläubige Gedichte an die nahende Revolution. Im August 1908 brachte man den Sechsundzwanzigjährigen ins Spital; hinter einer kaum ausgeheilten Rippenfellentzündung zeigte ein Blutsturz, welcher Art die Krankheit war. Als er diese Attacke hinter sich hatte, mußte er auf die Straße: »Wir sind ein Krankenhaus und keine Versorgungsanstalt!« Nun war sein Arbeitsmut dahin, seine Kraft zu Ende; er trug die Tuberkulose als Todgeweihter in ein unbekanntes Armutsquartier, legte sich zum Sterben hin. Die Zimmervermieterin, eine Arbeiterfrau, pflegte ihn, entdeckte in seinen Sachen die Gedichte und erzählte es weiter. Die Arbeiter riefen einen Schauspieler von der Hofburg an. Ferdinand Gregori nahm die Gedichte dieses sterbenden Poeten, er und seine Kollegin, Frieda von Meinhard, sprachen seine Verse in einem großen Vortragsabend und erzählten über ihn. Staunend über die Schönheit der Verse dieses kranken Mannes opferten die Zuhörer. Mit diesem Geld konnte der Dichter in der Lungenheilstätte Alland untergebracht werden. Von nun an wurde er als Dichter bekannt. Er kehrte nur noch zu Besuch nach Wien zurück, lebte weiter in Heilstätten und Kurorten, 1910 erschien sein erstes Gedichtbuch. Nicht in Wien, der kunstreichen und sangliebenden Stadt, sondern in Philadelphia. In wenigen Wochen war die Sammlung vergriffen, ein Jahr später erschien das Buch in Wien. »Seltsame Musik« hieß der Titel. Seltsam war nur, daß dieser kranke, proletarische Sozialist inmitten der marxistischen Umwelt keine Klassenkampfgedichte schrieb. Deswegen mußte das Buch erst in Amerika gedruckt werden, es war zuviel deutsches Volkslied in den Klängen dieses Poeten. In der Zeit lebte Adolf Hitler als Bauarbeiter in Wien. In seinem Buch schildert er die fürchterliche Verhetzung und Zersetzungsarbeit des Marxismus in dieser Stadt. Es ist selbstverständlich, daß dieser Dichter, der aus tiefem Elend heraus von seinen Leiden und Freuden singt, keine Gnade in den Augen der Parteiliteraten findet.
Petzold singt von »des Werdens Gottesgröße« und findet selbst im Jammer der Vorstadt noch Kraft und Schönheit:
»Meerzwiebeln auf dem Fenster
in einem alten Topf,
dazwischen jung und selig
ein blonder Kinderkopf.
Zwei blaue Spitzbubaugen,
die Locken wirr im Wind;
in all der Not zufrieden
ein Proletarierkind!«
Das ganze Buch klingt von der Sehnsucht und Freiheit in der Natur:
»Gib mir dein Frühlingslaub,
dein jauchzendes Geklinge
von Wäldern, Feldern, Flur und Au
und singe, Herz, und singe!«
Nein, solche Verse waren nicht für den Klassenkampf rentabel verwertbar. Eine Anklage gegen den Atheismus klingt in seinem Schrei auf:
»O Gott, meine Seele
braucht ein führend Licht,
sie wandert so viele Wege,
aber den richtigen nicht!
Um meine suchende Seele
bauen sich Nebel so dicht,
O Gott! Meine Seele
bittet um Licht!«
Durch zwölf Jahre bitterster Arbeits- und Armutsnot ist Alfons Petzold hindurchgegangen. In allen Liedern klingt des Todes Ton, in vielen Versen ächzt die kranke Stimme des Tuberkulosen. Doch er klagt das Leben nicht an. Er hat Kraft in seiner Seele, daß er den Starken und Gesunden noch soviel zurufen kann:
Ȇber dem Leben zu stehen,
ist stolz und dumm.
Mitten im Leben stehen,
aufrecht und gerad,
seinen Teil dazu geben,
das nur ist eine Tat!«
Und so singt er das Lied vom Bauernkrieg, er spürt den Aufruhr im Blut:
»Jetzt geht der schwarze Teufel um,
Herrgott, jetzt hilft kein Beten,
jetzt heißts, die Sichel, die da krumm,
zu graden Spießen treten!«
Alfons Petzold war nicht weltfremd und abgewandt seiner Zeit. Er war ehrlich bis in die Knochen, darum hütete er sich vor jeder, auch der klassenkämpferischen Phrase. Wenn er den Gesang der Revolution dichtete, dann sah er sein geknechtetes Volk, das aufbricht und zur Vergeltung schreitet:
»Tausende Tage und Nächte
verrannen still und stumm,
nach dem, der die Freiheit brächte,
schauten die Armen sich um,
wartete lange Jahre
friedlich der Knecht
von der Wiege zur Bahre
auf sein Recht!«
Um 1912 habe ich Petzold kennengelernt. Ich arbeitete schon ein halbes Jahr in Wien. Da hörte ich ihn zum erstenmal Gedichte vorlesen. Mir war es unbegreiflich, daß ein Arbeiter in solche Höhen steigen konnte, daß Proleten und Bürger, Künstler und Gelehrte gleicherweise von ihm ergriffen waren. Als ich ihn kennenlernte, hatte er sich gerade mir einer Gefährtin aus der Heilanstalt verheiratet.
Eines Tages nahm er mich mit in sein Häuschen einer Gartenvorstadt. Er war dreißig Jahre, der etwas verwachsene Leib fiel gar nicht auf, wenn man sein Gesicht sah: unter blondem Haar türmte die Stirn eines Philosophen. Er hatte die Augen eines kühnen Soldaten und Eroberers. Sie leuchteten jetzt von jungem Glück und Erobererfreude; eine starke und hagere Nase mit beweglichen Nüstern herrschte über seinem wohlgeformten Mund. Ich mußte immer in dies Gesicht sehen, das mit seinen heiter blauen Augen mich an einen niederrheinischen Schiffer oder an einen Lüneburger Heidebauern erinnerte. »Ja, schau nur zu! Die Natur hats nicht gut mit mir vorgehabt. Ein Wiener Krüppel ist aus dem Sohn eines Sachsenbauern geworden. Die Mütter stammen aus dem Thüringerland!« Er sagte dies ohne Bitterkeit. Nie hatte ich einen Menschen von so wahrhaftiger Seelenruhe kennengelernt. Mit jedem Wort, das er sprach, fühlte ich, daß dieser Mann, der so viel gelitten, schon in einem unsichtbaren Reiche lebte, in das ich, der dreiundzwanzigjährige, nie hineinblicken würde. Ein gütiger Priester konnte nicht beruhigender wirken als er. »Schau«, sagte er, »ich bin glücklich, weil mich das Leben nicht stumpf gemacht hat. Jetzt muß ich immerzu dichten: Glück und Gram, Trauer und Klage, Jubel und Fluch, Qual der gegenwärtigen Umwelt und die Anbetung der Geliebten, Eingebung und Empörung. So ein verbitterter Mensch, wie ich als Junge war, mußte körperlich zusammenbrechen. Soll ich nun traurig sein, weil sich die Kraft zu Kunst und Dichten überreich in meinem Leben sammelt, anstatt daß sie den kranken Leib wieder aufbaut?« So sprach der Mann, der Armutshöhle entflohen, der Krankheitsfolter entronnen, aufgestiegen aus dem Bann anonymer Großstadtmasse in die Freiheit geistigen Schaffens. Einmal legte er seine Hände auf meine Schultern und sagte: »Komm, damit du den Menschen siehst, der mich so überglücklich macht. Komm zu meiner Frau.« Ich sah in dieses unwahrscheinliche, seltsamste aller Dichterhäuser und Dichterleben hinein. In einer Veranda, vom wilden Wein herbstleuchtend umsponnen, lag im Liegestuhl eine junge, zarte Frau, rührend schön in ihrer Hilflosigkeit, strahlend von Fieber und Liebesglück. Ich sah den Dichter zwischen Schreibtisch und der Geliebten gehen, wie ein Verzauberter, unirdisch, wie in einer Traumwelt. Immer wieder erzählte er von der Hölle seiner Jugendjahre, von Arbeitskampf und Arbeitsnot. Ich lauschte, es lauschte die junge Frau, stolz und lächelnd. »Bist du wenigstens gesund, Heinrich Lersch?« fragte er mich und wandte sich wieder zu seiner Frau. »Ach, Kesselschmied sein zu dürfen, Brücken bauen, Gasometer, Schiffe, stark mitten zwischen Starken, das muß schön sein!« Seine Sehnsucht ging nach allem Starken und Gewaltigen. Er las mir aus seinem neuem Gedichtbuch: »Der Ewige und die Stunde« vor. Eben, mit der Nachmittagspost kam es in Korrekturbogen an. Spät in der Nacht ging ich, betäubt und verwirrt. Solch eine Fülle von Liebe und Glück, Reichtum der Seele und freundlicher Güte hatte ich nie gesehen. Am nächsten Tag tippelte ich den Alpen zu. In vielen Briefen hat er mir, der damals nichts als Kesselschmied und Tippelbruder war, die Freundschaft bewiesen: er hat mich immer wieder vor der Phrase gewarnt, immer zu den ewigen Dingen geführt. So wunderte ich mich nicht, als ich 1914, zu Beginn des großen Krieges, aus tiefster Erschütterung und seelischer Teilnahme sein Bekenntnis vernahm:
»Ich bin ein Span von deinem Stamme,
von deinem Feuer eine Flamme,
ein Korn, das deine Erde reift,
ein Blatt, das deine Liebe streift.
Zu jeder Stunde eins mit dir und tiefverwandt
bist du in mir und ich in dir,
mein deutsches Volk und Land!«
Sein nächstes Gedichtbuch: »Volk, mein Volk!« ist mit einemmal aus der Sphäre des Einsamen herausgehoben: das große, gemeinsame Erlebnis ließ ihn Gedichte schreiben, die jeden Menschen angehen. Natürlich brachte dieser Gefühlssturm die marxistischen Gönner auf: sie beschimpften ihn und rückten wieder von ihm ab, nachdem sein Erfolg sie bezwungen hatte. Ebenso natürlich erschütterte die Blutwelle seine Widerstandskraft: allzuviel Leid brach in Mitleid und namenloser Trauer aus. Der Kranke hat zu viel an Schmerzen gelitten, als daß er in Nächten der langen Schlachten sich in Siegesfeiern ergötzen kann. Er gedenkt der verlassenen Sterbenden und ist niedergeschmettert von dem Meer von Qual, das über die Erde fließt:
»Ich träume, die Seele des Mondes zu sein,
und trinke die Qual dieser Stunde
wie giftigen Wein.«
In diesen Tagen der schwersten Kriegsnot Österreichs stirbt seine geliebte Frau an der Schwindsucht. Und dennoch bekennt er im nächsten Buch (das in der Widmung auch den Namen Heinrich Lersch trägt) »Der stählerne Schrei!«:
»Ich habe es lange nicht gewußt,
was Heimat sei und Vaterland.
Sprachs einer mit durchglühter Brust,
winkt ich nur spöttisch mit der Hand.
Von meiner Tage Not gewürgt,
sprach ich mit haßverzerrtem Mund:
nicht einmal hat für mich gebürgt
der Heimat hochgepriesner Grund.
Da kam des Krieges rote Flut –
ich hörte, wie die Erde schrie:
›Du bist mein Fleisch, du bist mein Blut!
Steh auf, steht auf und banne sie!‹
Ein Rauschen sprang in meiner Brust
empor und wurde wilder Brand –
auf einmal ward es mir bewußt,
was Heimat heißt und Vaterland!«
Der Dichter, nun ganz vom kämpfenden Leben gepackt, wehrt sich gegen allen Tod, schreibt sich in glücklicher Schaffensfreude gesund. Er verheiratet sich von neuem mit einer tapferen Frau. Sie kämpft für seine Unabhängigkeit, sie gebiert ihm drei Kinder, unentwegt befeuert ihr starker Geist sein Leben. Alfons Petzold ist nun auf der Höhe seines Schaffens, reist zu Vorlesungen, hat das Glück, im ganzen Reich Begeisterte für sein Werk zu finden. Nach seiner Rückkehr, im Jahre 1921, genau vierzig Jahr alt, befällt ihn die Grippe, im einundvierzigsten Lebensjahr, übergrellt vom Schrei der Inflation und des Betriebstaumels, stirbt er. Sein Werk besteht aus dreiundzwanzig Büchern. Heute, viele Jahre nach seinem Tode, sehen wir des Dichters Zeit und seine Werke anders als seine Zeitgenossen.
Wir hören, daß der zutiefst Leidende, daß der Mensch, der die schwerste Last trägt, nicht von Haß und Rache, sondern von Liebe und Güte singt. Wir sehen, daß der Mensch, der wirklich ausgestoßen aus dem Bund der Mitlebenden, sich einen neuen Himmel, neue Gedanken und Ideen und schließlich eine neue Welt schafft. In diesem Kraftbewußtsein fühlt er die Schöpferkraft, die aus dem Ewigen, aus Gott kommt. So wird auch am Ende des Dichters Werk ein Singen zu Gott und mit Gott; Alfons Petzold, der Dichter der Armut, schrieb sein Testament im Augenblick des Todes. Der Tod, der sonst den Menschen die dunkle Pforte der Auflösung ist, ist ihm nicht Abschluß und Ausklang; in seinem letzten Gedicht lebt er schon die letzte Stunde, sein letztes Lied ist die Schau auf die neue, die ewige Heimat:
»Wenn ein Dichter stirbt, was wird da geschehen?
Vögel, die nie sangen, werden plötzlich singen.
Die den Boden liebten, sich zur Höhe schwingen,
um ihn einmal, einmal noch zu sehen.
Alle Blumen werden Duft und Leuchten senden
auf zum Himmel, wo er Gott zuschwebt,
daß er einmal noch den Tag erlebt,
wo ihr Rausch ihm segnete die Lenden.
Und die Winde werden jubeln mit Gebrause,
jubeln, daß er endlich kam nach Hause!«