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Zu den Seltsamkeiten der forensisch-psychiatrischen Beurteilung, die geeignet erscheinen, die Kritik der Laienwelt herauszufordern, gehören die mögliche Gegensätzlichkeit der Beurteilung bei einer und derselben Person hinsichtlich ihrer Zurechnungs- und Geschäftsfähigkeit. Sie trat kraß zutage im Falle der Frau v. Schönebeck und kann hier an diesem Fall um so klarer veranschaulicht werden, als es sich um schwere Hysterie handelt, bei der das Geschlechtsleben im Vordergrunde steht, und weiter – ich aus eigenster Erfahrung mit urteilen kann. Marx hat die gleiche Sachlage in einer kritischen Studie »Zurechnungsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit« als einen Beitrag zu der Frage des Dualismus in der forensischen Psychiatrie behandelt Berliner klin. Wochenschr. 25. März 1912.. Indem ich hinsichtlich des Falls der Frau v. Schönebeck auf die frühere Darstellung verweise, wiederhole ich hier nur, daß Major v. Schönebeck am 26. XII. 1907 ermordet wurde, Frau v. Schönebeck am 22. I. 1908 in die Irrenanstalt zu Kortau kam. Hier wurde sie als zur Zeit geisteskrank beurteilt, die Zurechnungsunfähigkeit für den Moment der Tat war nicht zu erweisen. Im Gegensatz dazu nahm das Medizinalkollegium der Provinz Ostpreußen ( Meyer-Puppe) Hysterie an, die zur Zeit der Begehung der Frau v. Schönebeck zur Last gelegten Straftat einen solchen Grad erreicht hätte, daß die Voraussetzungen des § 51 StrGB. wahrscheinlich gegeben wären. Demgegenüber entschied die wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in ihrem Gutachten vom 26. V. 1909, daß die Voraussetzungen des § 51 StrGB. nicht vorlägen. Es wird aber nicht verkannt, daß die Symptome der hysterischen psychopathischen Konstitution, welche bei der Angeschuldigten vorgelegen hätten und noch vorlägen, doch bei den Strafhandlungen mitgewirkt hätten.
Am 6. VI. 1910 begann die Hauptverhandlung wegen Anstiftung zum Morde vor dem Schwurgericht zu Allenstein. Am 17. VI. 1910 kam es während der Verhandlung zu einem hysterischen Krampfanfall, am 30. VI. zu einem schweren Verwirrtheitszustand, am 1. VII. zu einem Selbstmordversuch mit nachfolgendem Tobsuchtsanfall und zum vorläufigen Abbruch des Verfahrens. Nunmehr wurde das Entmündigungsverfahren eingeleitet, und zwei unserer bekanntesten Gutachter kamen zur Annahme einer Geistesschwäche, die in der Hysterie der zu Entmündigenden wurzle und die zu Entmündigende unfähig mache, ihre Angelegenheiten zu besorgen.
So seltsam diese Gegensätzlichkeit auf den ersten Blick erscheint, daß ein Mensch geistig zurechnungsfähig und doch beschränkt geschäftsfähig ist, es wird verständlich, sobald man sich die verschiedenen Vorbedingungen für Zurechnungs- und Geschäftsfähigkeit vor Augen hält. Laut § 51 setzt die Verantwortlichkeit eine gewisse Summe geistiger Fähigkeiten voraus, verlangt aber nur, daß diese geistigen Energien für einen kürzeren Zeitraum und für ein einmaliges Ereignis aufgebracht werden. Die mit Strafe bedrohten Handlungen sind auch derart, daß ihr rechtsverletzender Charakter unschwer erkennbar ist.
Anders ist es bei der Geschäftsfähigkeit, denn diese fordert die Fähigkeit zur Besorgung aller derjenigen Angelegenheiten, zu denen man nach Art und Bestimmung als soziales Wesen berufen ist, und dieser Kreis von Angelegenheiten ist unendlich groß. Persönliche und wirtschaftliche Interessen, Rechtsgeschäfte, wie die soziale Einfügung, das Verständnis für die politischen Rechte und Pflichten, das Verständnis für den Eid, alles, alles muß klar erfaßt werden. Deshalb sagt Marx auch mit Recht, daß die Zurechnungsfähigkeit ein Minimum, die Geschäftsfähigkeit ein Maximum geistiger Energien erfordert, da die Zurechnungsfähigkeit diese Energien nur für einen bestimmten Augenblick beansprucht, nur ein einmaliges intellektuelles und moralisches Werturteil verlangt, die Geschäftsfähigkeit die Energien für die ganze Lebensdauer, ein dauerndes intellektuelles und moralisches Urteil erfordert.
Im Fall v. Schönebeck handelte es sich bei Beurteilung der Geschäftsfähigkeit nicht um die Frage, ob das einmalige Ereignis der begangenen Straftat unter dem Einfluß krankhafter Seelenveränderung gestanden hatte, und ob diese Veränderung so erheblich war, um die Willensfreiheit gänzlich aufzuheben oder nur wesentlich zu beeinträchtigen, sondern um die Frage: Sind die seelischen Qualitäten der Frau v. Schönebeck ausreichend, um dauernd die Führung eines im bürgerlichen Sinne geordneten Lebens zu garantieren?
Die anscheinend seltsame Tatsache, daß ein und dieselbe Person zurechnungsfähig für eine Straftat und doch geschäftsunfähig erachtet wird, erklärt sich hiernach als wohlverständlich, ebenso wie der umgekehrte Fall von Zurechnungsunfähigkeit bei voller Geschäftsfähigkeit verständlich wäre, was bei vorübergehender Bewußtseinstrübung im Sinne des § 51 eintreten kann. Es sind eben die Forderungen für den Nachweis der Zurechnungsfähigkeit durchaus andere wie die für die Geschäftsfähigkeit, und daraus erklärt sich der auf den ersten Blick befremdende Dualismus.