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In der Familie des Majors außer Diensten von Lüdekind wurde Geburtstag gefeiert. Arthur, das älteste Kind, vollendete heut sein achtzehntes Lebensjahr. Am frühen Morgen, ehe Arthur zum Gymnasium ging, hatte er auf dem Frühstückstisch eine Torte mit siebzehn brennenden Lichtern darum und in der Mitte das Lebenslicht gefunden. Das war aber nur die Einleitung gewesen. Als er des Mittags aus der Klasse zurückkam, fand er erst den eigentlichen Geburtstagstisch gedeckt, mit allerhand Geschenken praktischer Natur, die schon auf sein zukünftiges selbständiges Leben hindeuteten – Arthur sollte zu Ostern die Universität beziehen. – Daneben aber auch die rührenden kleinen Gaben seiner Schwestern: Thekla hatte ihm einen Waschzeugschoner genäht und Agnes, das Nesthäkchen, stiftete einen gestickten Bewahrer für Streichholzkästchen.
Arthur legte gebührende Freude an den Tag. Doch fehlte ihm immer noch die Hauptsache, auf die er stark rechnete; ja er hatte daraufhin bereits einige Schulden gemacht beim Konditor und im Cigarettenladen. Würden es zwei Zwanzigmarkstücke sein diesmal, oder nur, wie das letzte Mal, zehn blanke Thaler im Kranz um den Teller gelegt? – Die so im voraus belastete Überraschung kam 4 zu ihm in Gestalt eines Portemonnaies aus rotem Juchtenleder, das gut gespickt war mit allerhand Münzsorten, unter denen Arthur bei flüchtigem Überblick auch den willkommenen Glanz einiger Goldstücke feststellte. Das Kleinod war geschickt in seiner Serviette versteckt gewesen, so daß ihm der Segen, an dessen Kommen er fast schon verzweifelt, buchstäblich in den Schoß fiel.
So kamen die Überraschungen tropfenweise. Erdacht, besorgt und eigenhändig aufgestellt war alles das, nicht etwa von der Mutter, sondern von dem Hausherrn selbst.
Seitdem Major von Lüdekind den bunten Rock vor einer Reihe von Jahren ausgezogen hatte, bildete die Fürsorge für seine drei Kinder die Hauptbeschäftigung des Pensionierten, die sein ganzes Tageleben ausfüllte. Er stand trotz seiner Fünfzig früh beim Morgengrauen auf, um am Platze zu sein, wenn Arthur ins Gymnasium und Thekla in die Tochterschule ging. Das zweite Frühstück zum mitnehmen, mußte die Köchin unter seinen Augen zurechtmachen und in Pergamentpapier packen. Dann, wenn die beiden älteren Kinder mit allerhand weisem Rat bezüglich ihrer Gesundheit und ihres Verhaltens, entlassen waren, kam die Sorge um die kleine Agnes an die Reihe. Herr von Lüdekind brachte sie jeden Tag bis zum Thor des Schulgebäudes und holte sie dort, die Uhr in der Hand, nach Schluß des Unterrichts wieder ab. Ein »rührender Vater«, das war das allgemeine Urteil, wenn man den stattlichen, bereits etwas angegrauten Herrn mit den großen, blauen, freundlichen Augen einherschreiten sah, sein blondes Töchterchen an der Hand, die mit dem Schulranzen auf dem Rücken im kurzen Kleidchen neben ihm hertrippelte.
Herr von Lüdekind ließ es sich wirklich Mühe und Kopfzerbrechen kosten, seinen Kindern etwas zu sein. Noch einmal versenkte er sich in die Probleme der Mathematik, 5 Physik, Geschichte, Litteratur und in die neueren Sprachen, um die Arbeiten seiner Kinder überwachen, ja um sie mitmachen zu kännen. Im Latein freilich und Griechisch mußte er das Rennen bald aufgeben, da er nur über Kadettenausbildung verfügte. Aber er erreichte, daß Arthur, der von Natur durchaus nicht mit Lerntrieb ausgestattet war, durch das stete Überwachen und Anspornen des Vaters sich wenigstens hielt. Als einer der Letzten in der Klasse wurde er immer noch versetzt. Thekla hingegen machte durch ihren Eifer und durch die guten Zensuren, die sie mit nach Haus brachte, das einigermaßen wieder gut, was der Bruder schuldig blieb.
Lüdekind war auch schon derselbe besorgte Familienvater gewesen für seine Kompagnie und später für sein Bataillon. Er kannte jeden einzelnen Mann und sorgte für sein Wohlergehen. Die Leute schwärmten für ihn, aber die Vorgesetzten fanden mit der Zeit heraus, daß Lüdekind die Mannschaft zu sehr »in Watte packe«, wodurch Disziplin und Schneid angeblich leiden sollten. Eine Besichtigung, bei der er das Unglück hatte, nicht glänzend abzuschneiden, brach ihm dann den Hals.
Er empfand den Abschied schwer. Denn wenn er auch nicht gerade im militärischen Drill aufgegangen war, so hatte er doch den Stand geliebt, für den er nun mal erzogen worden war. Es bedurfte der Jahre, um ihm die unfreundliche Art vergessen zu machen, in der er den Abschied erhalten hatte.
Major von Lüdekind blieb in der Garnisonsstadt, wo er sich durch sein menschenfreundliches Wesen manchen Freund erworben hatte. Dort bewohnte er mit seiner Familie ein schon in der Vorstadt gelegenes Haus, das in ein Gartengrundstück eingebettet, die Annehmlichkeiten eines bescheidenen Landsitzes mit städtischer Lage vereinigte.
6 Auch heute, an einem sonnigen Herbstnachmittag, wurde die Geburtstagsfeier im Garten begangen. Verschiedene Freunde des Hauses waren gekommen und wieder gegangen. In der Gartenlaube saß das Elternpaar und nahm Glückwünsche entgegen.
Frau von Lüdekind sah man es nicht an, daß ihr Sohn heute achtzehn Jahre alt wurde. Ihr freundliches Gesicht gehörte zu denen, die sich gerade darum so gut erhalten, weil ihnen ausgesprochener Charakter nicht eigen ist. Auch schien sie von seelischer Erregung sowohl wie von schwererem körperlichen Leid verschont geblieben zu sein; die Haut war glatt und faltenrein und die Gestalt elastisch, wie bei einer Zwanzigjährigen. Sie saß zufrieden lächelnd hinter dem weißen Kaffeegeschirr und dem großen Geburtstagskuchen. Auf einem besonderen Tischchen hatte der Major die Pfirsichbowle stehen, die man bereits bei Tisch gehabt, deren Ende aber völlig unabsehbar war, da Lüdekind, nach alter Gewohnheit vom Kasino her, nach jedem halben Dutzend Gläsern, die ausgeschenkt waren, eine neue Flasche ausgoß. Die Geste, mit der er dem Neugekommenen bedeutungsvoll mit den Augen zwinkernd das Glas entgegenhielt, war so verführerisch, daß ihm so leicht niemand einen Korb gab.
Die Kinder waren inzwischen im Garten und unterhielten sich mit ihrem Besuche. Gespielt wurde nicht, das hatte sich Arthur als Geburtstagskind verbeten. Er fühlte sich in seiner Oberprimanerwürde über Gesellschaftsspiele, die man wohl sonst bei solcher Gelegenheit getrieben hatte, hoch erhaben. Vielmehr ging er mit anderen Gymnasiasten. gleich ihm Offizierssöhnen, auf einem der Gartenwege langsam mit gewichtiger Miene auf und ab. Man rauchte Cigaretten, wozu die Erlaubnis erst kürzlich offiziell erteilt worden war. Arthurs Schwestern, Thekla und Agnes, 7 standen von fern, in Bewunderung und Scheu vor dem Wesen und Treiben dieser jungen Leute.
Eben war zu den beiden Mädchen noch ein anderes Geschwisterpaar gestoßen: Gabriel und Ella Bartusch. Der Vater, von Beruf Geometer, war der Erbauer und Besitzer des Hauses, dessen zweite Etage er mit seiner Familie inne hatte, während die Lüdekinds im Parterre und ersten Stockwerk wohnten. Zwischen den Kindern der beiden Familien bestand ein auffälliger Unterschied. Die Lüdekinds blond, mit einer Haut wie Milch und Blut, von offenen, kindlich unentwickelten Zügen. Daneben die Kinder Bartusch, ein kleiner Menschenschlag, hager und beweglich, die Züge bereits in jungen Jahren fertig; Mädchen wie Knabe von dunkler Hautfarbe, mit lebhaften Augen, die besonders bei dem Jungen etwas unruhig Spähendes hatten.
Arthur Lüdekind und Gabriel Bartusch, die ungefähr im gleichen Lebensalter standen, waren Spielgefährten und Rivalen. Arthur schien auf den ersten Blick manches vor Gabriel vorauszuhaben; einmal die Stellung seines Vaters und seinen adligen Namen. Sodann war er Gymnasiast, der Sohn des Geometers aber nur Oberrealschüler. Schließlich – und das steht bei Knaben nicht an letzter Stelle – war Arthur der stärkere. Daß Gabriel der gewandtere und schnellere, genügte nicht, das völlig auszugleichen.
Mit kaum verhehltem Mißbehagen betrachtete Gabriel die Gymnasiasten, wie sie breitspurig, ihre Stöcke zwischen zwei Fingern pendelnd, mit funkelnagelneuen Kravatten und eleganten Hüten dort einherstolzierten. Er wollte eigentlich zu Arthur hingehen, denn seine Mutter, die auf guten Ton hielt, hatte es ihm noch besonders anempfohlen nichts zu versäumen, was sich schickte. Aber die Gymnasiasten mit ihrem hochmütigen Gebaren waren ihm ärgerlich. Er wäre überhaupt nicht zu dieser Geburtstagsfeier 8 gekommen, denn er haßte nichts mehr als Demütigungen, aber es gab in der Lüdekindschen Familie für Gabriel einen starken Magneten: Thekla.
Sie galt eigentlich für eine Freundin Ellas, die ihr im Alter nahe stand; in Wahrheit war es Gabriel, der, ganz im Geheimen natürlich, eine Neigung für die blonde Vierzehnjährige nährte. Jetzt stand er dort bei den Mädchen, ärgerte sich über die Anwesenheit der anderen jungen Leute, war eifersüchtig auf jeden Blick, den Thekla jenen gönnte, und mit sich selbst unzufrieden, daß ihm keine Einfälle kamen, die Aufmerksamkeit der Mädchen von den Gymnasiasten ab und sich zuzulenken.
Arthur hatte ihn natürlich längst bemerkt, aber es machte ihm gerade Spaß, sich zu stellen, als sehe er Gabriel nicht. Zwar war er nicht hämisch von Natur, aber die Jugend hat nun mal Freude an Grausamkeiten.
Auch noch jemand anderes wartete sehnsuchtsvoll auf Arthurs Gruß; das war die dunkeläugige Ella. Sie hatte diesem Geburtstagsfeste klopfenden Herzens entgegengeharrt. Würden die Lüdekinds sie dazu auffordern, oder nicht? – Davon hing nämlich ein Plan ab, der ganz im stillen in ihrem Kopfe entstanden war; sie wollte Arthur, den sie früher nur einfach gern gehabt, vor dem sie aber neuerdings, seit ihm ein heller Flaum über der Oberlippe sproßte, eine Art von scheuer Bewunderung hegte, sie wollte ihn beschenken mit einer selbstgehäkelten grünseidenen Geldbörse. Wenn sie aber nicht eingeladen würde, konnte sie ihm das Geschenk doch unmöglich überreichen. Was hingen an diesem kleinen, unscheinbaren, sorgfältig in Seidenpapier gewickelten Gegenstande für Sorgen, Bedenken und Hoffnungen! Der Entschluß zum Ankauf der Seide, die Wahl des Musters. Der Gedanke, wie er es auffassen, ob er die Börse auch in Gebrauch nehmen werde. Und schließlich 9 immer wieder die Furcht, daß man überhaupt nicht eingeladen werden möchte.
Zuguterletzt erfolgte die Einladung doch. Der Major hatte sie selbst Ella zugerufen, als sie einander am Tage vorher auf der Treppe begegneten. Nun war sie also glücklich hier, ihr Geschenk fertig zum Überreichen in der Tasche; und dort ging Arthur auf und ab und würdigte sie nicht eines Blickes. Es war zum Weinen! Ella fühlte, daß sie diesen Zustand nicht mehr lange werde ertragen können.
Glücklicherweise machten jetzt die Gymnasiasten Anstalt, sich zu verabschieden. Selbstbewußt und steif, als ob höchste Würdenträger auseinandergehen, entfernten sie sich mit Verbeugung und Hutlüften. Nun kam Arthur über den Rasen herübergeschlendert und begrüßte auch die fremden Kinder.
War jetzt der Augenblick, die Börse zu überreichen? Ella war wieder ganz unschlüssig geworden durch sein kühles Wesen. Dann aber sagte sie sich, daß sie den Mut dazu überhaupt niemals finden werde, wenn nicht jetzt. Sie gab sich einen Ruck, und über und über errötend, hielt sie dem jungen Manne das in Seidenpapier verborgene Ding hin, halblaut stammelnd, daß sie hier auch etwas mitgebracht habe.
Arthur musterte den grünen Gegenstand erstaunt, seinen Zweck nicht erratend. Ella erklärte ihm schüchtern, daß es eine Börse sei. »Ach Gott!« rief er, »mein Vater hat mir heute schon ein Portemonnaie geschenkt von echtem Juchten. Seht mal das!« Damit zog er die neue wohlgefüllte Geldtasche hervor, garnicht ahnend, was er in Ellas Gefühlen für Verwüstung anrichte.
Ihre Augen füllten sich. Am liebsten hätte sie ihn gebeten, ihr die Börse zurückzugeben, die er so gering zu achten schien, aber sie fürchtete das Hervorbrechen der Thränen und schwieg, vor Kummer blaß.
10 Thekla war die einzige, welche die Bedeutung des Vorganges sofort verstanden hatte. Sie begriff, was es der Freundin für Überwindung gekostet haben müsse, Arthur das Geschenk vor ihnen allen zu überreichen. Und nun diese Aufnahme! Sie machte Arthur darauf aufmerksam, daß Ella die Börse selbst gehäkelt habe für ihn; wie mühsam das sei und wie schön es ausgefallen. Dann ließ sie sich etwas Geld aus dem Portemonnaie geben, steckte es in die Börse und zeigte ihm, wie bequem sich das handhabe. Er war ganz erstaunt und fing an, das Geschenk besser zu würdigen. Er werde das große Geld in der großen Geldtasche lassen und die kleine Münze zum täglichen Gebrauch in der seidenen Börse bei sich führen, schlug er schließlich selbst vor und dankte Ella, indem er das Mädchen kameradschaftlich in die Wange kniff, was sie sich errötend von ihm gefallen ließ.
Jemand schlug ein Spiel vor; Arthur als das Geburtstagskind solle entscheiden, was man spielen wolle. Tennis, Reifen oder Croquet kamen in Frage. Arthur entschied sich für Croquet, weil ihm in Tennis und Reifen Gabriel stark überlegen war.
Eben machte man sich daran, die Croquet-Bügel aufzustellen, als von der Gartenlaube her Frau von Lüdekind zu den jungen Leuten herübergeeilt kam. Sie sagte, Tante Wanda sei da und die Kinder möchten kommen, sie zu begrüßen. Arthur bezeugte dazu sehr wenig Lust. Warum man sie immerfort störe, brummte er mürrisch. Tante Wanda sei langweilig und außerdem wäre es zeitig genug, wenn man sich beim Abendessen sähe. Aber die Mutter ließ nicht locker. Sie streichelte den großen Jungen, der ihr Liebling war, und redete ihm begütigend zu. Die Tante habe ihm am Morgen doch auch das schöne Buch geschickt, sie werde es übel nehmen, wenn er sich nicht 11 bedanke. Arthur warf den Hammer mit einer halblauten Verwünschung weg und ging mit der Mutter. Die anderen folgten langsam, auch nicht besonders erbaut über die Störung.
Tante Wanda, ein älteres Fräulein, deren weißes Haar die rosige Farbe ihrer Wangen Lügen strafte, saß bei Herrn von Lüdekind, ihrem Vetter. Sie war das Bild der Sauberkeit und Zierlichkeit, mit ihren durchsichtig weißen Händchen, der zarten Gestalt und den fein ausgemeißelten Zügen. Wanda Lüdekind mußte einstmals sehr hübsch gewesen sein, und war selbst jetzt noch bei Sechzig eine Erscheinung auf der das Auge gern ruhte.
Arthur, halb von seiner Mutter dazu gedrängt, näherte sich der Tante, küßte ihr die Hand und murmelte etwas von Dank. Der Vater schenkte ein frisches Glas Bowle aus, das er seinem Sohne reichte, auch Gabriel bekam eines. Die Mädchen wurden mit Kuchen abgefunden. Nachdem diese Genüsse aufgezehrt, fragte Frau von Lüdekind, ob die Kinder zu ihrem Croquet zurück könnten.
»Um Himmelswillen« rief Tante Wanda, »nichts Schrecklicheres, als junge Menschen herumstehen zu sehen, die sich und andere langweilen.«
Die jungen Menschen faßten das richtig als eine Aufforderung auf, sich zu entfernen, und beeilten sich, das Weite zu gewinnen. Der Major rief ihnen jedoch nach: »Bringt euer Croquet hier vorn auf den Rasenplatz! Wir wollen euch spielen sehen.«
»Immer noch so vernarrt in deine Kinder?« fragte Tante Wanda mit spöttischer Miene den Vetter betrachtend.
»Es ist das einzige, was man hat. Das einzige, was einem immer fester an's Herz wächst auf der Welt, Wanda!« erwiderte er und rührte dabei in Gedanken mit der silbernen Kelle in seiner Bowle.
12 Wanda zuckte mit den Achseln und betrachtete ihn, wie eine Frau nur einen Mann ansieht, den sie sehr genau kennt. – Die beiden waren allein; Frau von Lüdekind hatte sich in's Haus begeben, wohl um nach dem Abendbrot zu sehen.
»Du verwöhnst den Jungen!« sagte Wanda nach einer Weile, »du weißt, ich mische mich nicht in fremde Angelegenheiten, zu allerletzt aber in die Erziehung eurer Kinder. Aber ich sehe es kommen, daß euch der Bengel da über den Kopf wächst. Wundert euch dann nur bitte nicht zu sehr!«
»Nein, Wanda, das ist nicht wahr! Das scheint dir nur so. Du bist immer so fürchterlich strenge gewesen!«
»Man kann nicht strenge genug sein!« rief Wanda Lüdekind mit einem gewissen grimmigen Eifer, den man hinter ihrer Zartheit garnicht gesucht hätte. »Sieh blos, wie sich der junge Mann dort von den Mädels bedienen läßt! Der Herr der Schöpfung ist bereits fertig!«
Arthur stand in der Mitte des Rasenplatzes und teilte Befehle aus, während Thekla und Ella dienstfertig sprangen und seiner Anweisungen gemäß die Bügel aufstellten und die Stäbe einhämmerten.
».Du siehst, Wanda, die Mädels thun es ihm zu Liebe.«
»Natürlich! der Kopf kann ihm ja gar nicht zeitig genug verdreht werden!«
»Außerdem ist es gut für ihn in anderer Beziehung. Er übt sich früh im Disponieren. Ein Mann muß das verstehen. Wenigstens muß es ein Offizier verstehen. – Ich habe es nie recht gekonnt!« fügte er seufzend hinzu.
»Du bist ein Narr, Eberhardt!« sagte sie halblaut.
Er fuhr in demselben ruhigen, beinahe ergebenen Tone fort, ohne sich von ihrem scheinbar schroffen Wesen beirren zu lassen; wußte er doch, was sich dahinter verbarg.
13 »Glaube mir, Wanda, das einzige was man hat, sind die Kinder. Wenn ich sie auch vielleicht ein bissel verziehe, es ist so schlimm nicht. Wer weiß denn, wie lange man noch zusammen ist! – Es geht einem so manches durch den Kopf an einem Tage wie heute. Wie lange ist's denn her, da war ich auch so einer, wie der da! Und was bin ich jetzt? Was hätte ich überhaupt noch für Wert, wenn ich nicht versuchte, ein guter Vater zu sein! Man hat eben sein Teil gehabt. Mit der Thatsache muß man sich nachgerade abzufinden suchen, wenn's auch wehmütig erscheint. Heute früh, als ich die Lichter dem Jungen um die Torte stellte, fiel mir ein, daß ich meinen achtzehnten Geburtstag mit dir verlebt habe, Wanda, im Hause deiner Eltern. Ich mußte eben Fähnrich geworden sein. Du warst zweiundzwanzig, meine große Cousine, vor der ich sogar ein wenig Angst hatte. Vier Jahr, das macht in dem Alter einen großen Unterschied; und inzwischen habe ich dich längst eingeholt, ja, jetzt kommst du mir um soviel jünger vor. Man ist auch darin einander näher gekommen. Wunderlich ist dieses Leben! Es ist doch als ginge man wie ein Blinder durch die Welt. Und wenn man noch blind bliebe bis zum Schluß; aber eines Tages gehen einem die Augen doch auf, wenn's zu spät ist. – Achtzehn Jahr! Wie thöricht war man und hoffnungsvoll! Wenn mir damals einer mein Leben voraus gesagt hätte, ich würde ihm in's Gesicht gelacht haben. Wie gut war es, daß man nicht alles voraussah, damals.« –
Wanda sagte nichts hierauf. Ihre Züge hatten einen merkwürdig weichen, nachdenklichen Ausdruck angenommen. Innigstes Verstehen sprach aus dem Blick, den sie jetzt auf ihrem Vetter ruhen ließ.
Die Frau des Hauses kehrte zurück und setzte sich zu 14 den beiden. Vor ihnen auf dem Rasenplatze nahm das Croquet seinen Verlauf. Arthur und Ella spielten auf der einen Seite, Gabriel und Thekla auf der anderen. Agnes war, weil noch zu klein, vom Spiel ausgeschlossen. Die Partie stand ziemlich gleich. Es wurde wütend croquettiert.
Auffällig war die verschiedene Art und Weise, in der die beiden Knaben ihre Partnerinnen behandelten. Während Arthur in einem fort ermahnte, belehrte und wenn Ella nicht nach Wunsch spielte, unsanft tadelte, schien Gabriel nur darauf bedacht, Thekla zu bedienen und ihren Ball stets in die beste Lage zu bringen. Sie spielte von den vieren am schlechtesten; aber er wußte das mit Geschick auszugleichen.
Die Erwachsenen beobachteten das Spiel der jungen Leute und machten ihre Glossen dazu. »Was für eine gute Figur Arthur bekommt, er wird groß,« sagte Frau von Lüdekind mit dem wohlwollenden Blicke der Mutter, Arthurs etwas ungelenken Bewegungen folgend. »Ich finde, er wird jetzt seinem Vater sehr ähnlich. Doch das mußt du eigentlich am besten beurteilen können, Wanda.«
Wanda schien diese Frage überhört zu haben; wenigstens gab sie keine Antwort darauf.
»Die Größe stammt nicht aus unserer Familie,« bemerkte der Major. »Die Lüdekinds hatten eigentlich alle nur Mittelmaß, wenn sie nicht geradezu klein waren, wie unser Großvater.«
Damit war man auf einmal mitten drin im Gespräch über Familienähnlichkeiten. Der Major wollte, daß Arthur Friemarsch aussehe – seine Frau war eine Friemar – Thekla hingegen vertrete den echten Lüdekindschen Typus, während Agnes einen Rückschlag darstelle auf seine Großmutter mütterlicherseits.
Ganz anderer Ansicht war Tante Wanda, die ihren 15 Standpunkt mit Eifer, ja mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit vertrat. Frau von Lüdekind mischte sich nicht tiefer in dieses Gespräch ein; sie war gewohnt, ihren Mann und Tante Wanda auf verschiedenem Standpunkte zu sehen.
* * *
Nach dem Abendbrot, das im großen Familien-Eßzimmer des Parterres eingenommen worden war, hieß es: die verschiedenen Sachen, die im Gartenhause und auf dem Spielplatze liegen geblieben waren, hereinholen. Die jungen Leute eilten diensteifrig hinaus. Als man jedoch im Freien war, verlockte der milde Abend zum Verweilen. Der eigentliche Auftrag war gar bald vergessen. Arthur wußte, daß am Spalier die Pfirsiche anfingen reif zu werden. Er raunte der brünetten Ella etwas in's Ohr; worauf diese beiden plötzlich verschwanden.
Gabriel war nicht ungehalten darüber, daß er sich auf diese Weise mit Thekla allein gelassen sah. Er hatte lange auf den Augenblick gelauert. Schon seit Wochen trug er sich mit dem Plane, dem Mädchen ein Geschenk zu überreichen. Doch ganz im geheimen nur durfte das vor sich gehen; jede Mitwissenschaft anderer wäre ihm als Entweihung erschienen. Das Wertvollste, was er besaß, sein Skizzenbuch, wollte er ihr schenken.
Obgleich er das Heft zu diesem Zwecke schon ungezählte Male bei sich gehabt, so hatte er doch noch niemals Gelegenheit gefunden, es ihr zu überreichen. Auch heute wieder steckte es in seiner Brusttasche, und sein siebzehnjähriges Herz pochte mächtig dagegen. Endlich war ihm das Glück günstig! Konnte man sich eine bessere Gelegenheit wünschen? Das heimliche Dunkel unter den Baumgruppen; er allein mit Thekla! Sie war ihm heute 16 tagsüber im festlichen Kleide mit dem Halsausschnitt lieblicher vorgekommen denn je. Und nun jetzt erst, wo ihr Haar in der Dämmerung leuchtete wie Gold, wo sie ihm in ihrem lichten Gewande vorkam wie eine Fee – es war überwältigend! Wie oft hatte er sich Wort für Wort vorgesprochen, was er zu ihr sagen wolle in dem großen Augenblicke. Und nun blieb er stumm, zermarterte sich den Kopf nach einem Anfang; das was er sich vorgenommen, paßte ihm alles nicht mehr.
Schließlich nahm er sich ein Herz, griff in seine Brusttasche, riß mit einiger Anstrengung das Skizzenbuch, welches sich im unrechten Augenblicke widerhaarig erwies, heraus, und überreichte es ihr. Dieses Buch, dem er sein Eigenstes und Bestes anvertraut habe, solle ein Andenken sein für sie, an ihn, für alle Zeiten. –
Thekla war ein wenig verblüfft. Sie stand da, den Gegenstand in der Hand, den sie in der Dunkelheit nicht mal recht erkennen konnte. Aber sie merkte doch, daß die Angelegenheit für Gabriel von Bedeutung sei. Da sie ihn gern hatte, wollte sie ihn um keinen Preis kränken. Sie reichte ihm die Hand und dankte. Dann fragte sie, ob man nicht in's Haus zurückgehen wolle, zur Lampe; hier sei es ja viel zu dunkel, um etwas zu erkennen.
Das war nun das letzte, was Gabriel erwünscht erschien. Er beschwor Thekla zu bleiben. Dabei drückte und preßte er ihre Hand. In seinem Eifer merkte er gar nicht, daß er ihr weh that. Sie schrie auf und entzog ihm die Hand mit einem Ruck. Dann wandte sie sich, auf einmal von Scheu erfaßt, und lief dem Hause zu. Er eilte ihr nach, an dem letzten Boskett holte er sie ein und brachte sie zum Stehen. Niemandem möge sie das Heft zeigen, bat er atemlos voll großer Eindringlichkeit. Keines Menschen Auge, außer dem ihren, dürfe das jemals sehen. 17 Sie müsse es jetzt verstecken und erst wieder hervorholen, wenn sie allein sei. Thekla konnte den Zweck solcher Geheimniskrämerei zwar nicht einsehen, aber da er so sehr bat, that sie ihm den Gefallen, versprach, niemandem davon etwas zu sagen, und verbarg das Heft, so gut sie konnte, in ihrem Kleide.
Gabriel war nur halb befriedigt; die Art, wie Thekla seine Gabe aufgenommen, freundlich zwar, aber doch ohne irgendwelche tiefere Bewegung, hatte ihm wieder gezeigt, daß sie nicht verstand, um was es sich eigentlich handle. Wie konnte sie in einem solchen Augenblicke »au!« schreien und weglaufen? –
Fast reute es ihn, daß er ihr das Geschenk gemacht hatte. War sie überhaupt reif dafür? Und nun gar, wenn er an die Zeilen dachte, die er ihr als Widmung hineingeschrieben hatte! – Wie würde sie seine Verse aufnehmen? Er war außer sich, bei dem Gedanken, daß sie lachen könne. Am liebsten hätte er das Heft gleich wieder von ihr zurückgefordert. Aber das ging nun nicht mehr.
Thekla fing von etwas anderem zu sprechen an, nicht ahnend, welche Gefühle den neben ihr Schreitenden bewegten. Sie sprach von ihrer Schule, und daß man zu Michaelis einen neuen französischen Lehrer bekomme. Gabriel bemerkte nichts dazu, so daß sich Thekla schon über seine Einsilbigkeit zu wundern anfing und ihn fragen wollte, was er habe. Da erklang die mütterliche Stimme von der Veranda her. Die Kinder sollten hereinkommen, sonst würden sie sich erkälten.
Thekla machte an diesem Abende besonders schnell beim Entkleiden. Sie wollte bald im Bett sein, um dann das Buch, das ihr Gabriel geschenkt hatte, in aller Ruhe sich ansehen zu können; denn sie war doch neugierig, was es enthalte.
18 Als sie endlich in ihr langes Nachthemd geschlüpft war, das ihr bis zu den Füßen reichte, kniete sie vor dem Bett nieder, das Gesicht dem einfachen Christusbild darüber zugewandt und sprach das Gebet, welches sie seit Jahren jeden Abend gebetet hatte, halblaut. Es war eigentlich ein Kindergebet, und Thekla sollte demnächst den Konfirmationsunterricht besuchen; aber noch nie war ihr der Gedanke gekommen, daß diese traulichen Reime nicht mehr für sie paßten. Es war ihr so natürlich, wie das Ordnen und Aufstecken des Haares vor dem Schlafengehen.
Und als sie sich nun in ihr Mädchenbett eingehuschelt hatte, löschte sie nicht wie sonst das Licht aus, sondern griff nach dem in grauer Sackleinewand gebundenen steifen Heft, das in zierlicher Schnörkelschrift den Namen »Gabriel Bartusch« auf dem Umschlage zeigte.
Sie war doch sehr gespannt! Warum hatte er so geheimnisvoll gethan? Gewissermaßen machte es ihr ja Spaß dieses Bedeutungsvolle: wie er es ihr überreicht hatte im Dunkeln, mit rätselhafter Rede. Es lag etwas Aufregendes und für sie gänzlich Neues in dem Bewußtsein, eines anderen Menschen Geheimnis wahren zu müssen. Gabriel schien ihr dadurch auf einmal um soviel näher gerückt.
Sie begann zu blättern. Sie fand Landschaftsskizzen, Köpfe, Studien nach Gyps, auch manches Selbsterfundene. Thekla bewunderte alles. Gabriel hatte sie ja hie und da etwas von seinen Arbeiten blicken lassen, wenn sie seine Eltern, die über ihr wohnten, besucht; aber daß er es in der Kunst so weit gebracht, ahnte sie doch nicht. Vielleicht war sie die erste, die das hier betrachten durfte. Wie begabt er doch sein mußte, um dergleichen machen zu können! Jetzt glaubte sie zu verstehen, was er damit meinte, wenn er sagte: »Laßt mich nur erst mal groß 19 und berühmt sein!« – Früher war ihr solche Rede anmaßend erschienen. Aber jetzt glaubte sie auf einmal an seine Zukunft.
Sie blätterte noch einmal zurück, denn sie wußte, sie werde ihm sagen müssen, welches Blatt ihr am besten gefallen habe. Da stieß sie vorn auf der ersten Seite des Buches auf etwas Geschriebenes. Verse! Wahrhaftig, da standen Verse! War das aufregend! Ein richtiges Gedicht!
Sie las:
»Schon seit meinen frühen Jahren
Hab ich dich gesehen.
Niemals hat das Herz gesprochen,
Doch nun ist's geschehen!
Auf ging mir ein neuer Sinn,
Blind war ich so lang,
Bis das Wort: ich liebe dich!
Mir im Herzen klang.
Deiner Schönheit lieblich Bild
Schwebt um mich bei Nacht,
Und wie oft, wenn alles schweigt,
Hab' ich dein gedacht.
Tief verschwiegen trag ich's nun,
Schmerz und höchste Lust.
Bis der Tod sein Veto spricht,
Schlägt für dich die Brust.«
Thekla las es atemlos. Es kam ihr wunderschön vor. Wie sich das reimte! Welcher Rhythmus darin lag! Sie hatte garnicht gedacht, daß Gabriel auch dichten könne. Dichten! Das war doch etwas ganz Außergewöhnliches. Sie hatte es nur einmal versucht, als sie Schillers 20 Gedichte in der Klasse hatten, aber es war nichts daraus geworden.
Sie las es wieder und wieder, sagte sich die einzelnen Verse halblaut vor. Es that so wohl zu denken, daß dieses Gedicht an sie gerichtet sei, an sie allein. Kühn war es ja allerdings von ihm, sehr kühn! Niemals hätte er ihr so etwas sagen dürfen! Aber in Gedichtform konnte man das wohl nicht so streng nehmen.
Am besten gefiel ihr der letzte Vers, daß er es »tief verschwiegen« tragen wolle, bis zum Tode. Sie fand das edel von ihm. Nun verstand sie erst, warum er ihr das Buch mit solcher Heimlichkeit zugesteckt und sie hatte schwören lassen, es niemanden zu zeigen. Keines Menschen Auge würde es jemals zu sehen bekommen; Gabriel konnte ganz ruhig sein. Selbst ihrer Freundin, Lilly von Ziegrist, mit der sie jetzt am intimsten war in der ganzen Klasse, selbst ihr wollte sie es nicht zu lesen geben.
Ob Lilly jemals schon ein Gedicht bekommen hatte, das an sie gerichtet war? Thekla glaubte es nicht, denn Lilly würde sich sicher dicke damit gethan haben, so wie sie nun einmal war.
Im Augenblick freilich war die Versuchung groß, der Freundin das Skizzenbuch zu zeigen. Was würde die für Augen machen! Sie erzählte ja immer von allerhand Abenteuern, die sie hatte; aber die glaubte man ihr nicht recht, denn Lilly war bekannt in der Klasse für ihr Aufschneiden. Aber von einem Gedichte hatte sie noch niemals zu erzählen gewußt.
Der verführerische Gedanke ging jedoch ebenso schnell, wie er gekommen. Nein, das durfte sie Gabriel nicht anthun! So konnte sie seine edle Gesinnung nicht lohnen. Lilly würde sicherlich den Mund nicht halten; dann wurde es bald in der ganzen Klasse herum kommen. Und das 21 hätte sie nicht ertragen. Nein, solche Dinge behielt man für sich! –
Thekla las noch einmal das Gedicht durch. Dann schloß sie die Augen und wiederholte es. Sie konnte es schon auswendig. Nun stand sie auf, öffnete das Fach ihrer Kommode, wo sie ihre Schätze aufzuheben pflegte: die Geburtstags- und Weihnachtsarbeiten für die Eltern, ihr Taschengeld, Photographieen ihrer Freundinnen, Lieblingsbücher, und legte es dort zu unterst.
Darauf schlich sie in's Bett zurück, löschte das Licht und wandte das Gesicht der Wand zu. Sie wollte nun schlafen, denn morgen war Dicté, wo man als Klassenerste auf dem Platze sein mußte.
»Tief verschwiegen trage ich's, Schmerz und höchste Lust!« – flüsterte sie, schon halb im Traume.
* * *
Wie lange Zeit seitdem vergangen sei, hätte Thekla selbst am wenigsten angeben können, als sie jählings erwachte. Im Stockwerk unter ihr war ungewöhnliches Geräusch zu hören. Stimmen ertönten, Thüren wurden geschlagen, dann vernahm sie deutlich, wie sich die Hausthür öffnete, und jemand eiligen Schrittes auf dem steingepflasterten Gange nach dem Gartenthore lief. Das waren Laute, die man sonst in dem ruhigen Hause des Nachts niemals zu hören bekam.
Thekla horchte gespannten Ohres. Sie und Arthur wohnten allein hier oben, sonst gab es in diesem Stockwerk nur noch Fremdenzimmer. Darüber wohnte die Familie Bartusch. Herr und Frau von Lüdekind mit Agnes hatten das Parterre inne. Die Dienstboten waren im Kellergeschoß untergebracht.
22 Was konnte es nur geben? Dem jungen Mädchen wurde sehr bange zu Mut. Irgend etwas Schreckliches war da unten vorgefallen. Und sie war allein hier, fern von den Erwachsenen! Sollte sie rufen? Sollte sie ihren Bruder aufsuchen, der zwei Thüren von ihr schlief?
Sie entschied sich für das Letztere. Hastig warf sie ein paar Kleidungsstücke über und lief zu Arthur. Der Junge lag in seinem Bette und schnarchte aus vollem Halse. Thekla berührte ihn am Arm, er merkte es nicht; sie mußte ihn rütteln. Als Arthur endlich aufgeweckt war, und zu begreifen anfing, was von ihm verlangt werde, zeigte er sich sehr unwillig. Was? Jetzt aufstehen und hinuntergehen! Sie war wohl verrückt? Deshalb weil sie unten laut gesprochen und mit den Thüren geschlagen hatten! – Vielleicht hätte Agnes wiedermal Zahnschmerz und plärre, wie neulich erst. Sie solle sich wegscheren! – Damit wandte er knurrend der Schwester den Rücken zu.
Thekla mußte sich also allein auf den Weg machen. Ängstlich nach allen Seiten lauschend, tastete sie sich in der Dunkelheit die Stufen hinab, und klingelte. Sofort erschien Licht hinter den Scheiben der Vorzimmerthür. Ihre Mutter selbst machte ihr auf. »Ach du bist es! Was willst du?«
Die Mutter war ungehalten; sie hatte den Hausarzt erwartet. Thekla fragte, ob jemand krank sei. Natürlich sei jemand krank, war die Antwort, und sie solle nur machen, daß sie wieder in's Bett komme, nützen könne sie hier ja doch nichts.
Thekla wagte nicht hiergegen etwas zu sagen; sie sah, die Mutter befand sich in großer Erregung. Zu ihrem Glück kam jetzt Tante Wanda aus dem elterlichen Schlafzimmer herbei, Tante Wanda, die immer so besonders gütig gegen sie war. Thekla eilte auf das alte Fräulein zu, warf sich 23 ihr in die Arme und sagte ihr leise in's Ohr, sie bitte, bleiben zu dürfen.
»Du bleibst, mein gutes Kind, du bleibst hier!« rief Tante Wanda und küßte die Nichte wiederholt auf Stirn und Augen. Thekla fühlte, wie die Tante zitterte, und begriff nun, daß es der Vater sein müsse, der krank sei. Denn sie wußte, daß Tante Wanda den Vater sehr lieb habe. Sie begann zu weinen.
Tante Wanda wurde jetzt in's Schlafzimmer gerufen, wo der Kranke lag. Thekla wagte nicht, ihr dorthin zu folgen, sie drückte sich in eine Ecke des Vorzimmers neben einen großen Schrank, und blickte mit weitgeöffneten, starren Augen auf das, was sich nun entwickelte.
Die Dienstboten liefen hin und her, dann erschien wieder die Mutter, befahl etwas, widerrief es gleich darauf und jammerte, daß der Arzt noch immer nicht da sei.
Die einzige Ruhige und Besonnene in diesem Treiben war Tante Wanda. Thekla sah sie durch die offene Thür, wie sie am Lager des Vaters stand, ein Becken neben sich, ihm mit Hilfe von Tüchern Umschläge machend. Gelegentlich beugte sie sich über ihn, ob sie zu ihm spreche, konnte Thekla nicht erkennen.
Endlich kam der Arzt; Thekla erkannte ihn schon von weitem an der Stimme. Er sprach laut, entschuldigte sich damit, daß er in dieser Nacht bereits zum zweiten Patienten gerufen werde. In der Thür packte er in fliegender Hast seine Instrumente aus, fragte nach verschiedenem und versicherte, es werde schon nicht so schlimm sein. Der Herr Major habe ja eine »Riesennatur!« Thekla sah seine Glatze, den grauen Bart, die leuchtenden Brillengläser im Krankenzimmer verschwinden.
Dann war es lange Zeit still. Thekla befand sich noch immer in ihrer Ecke. Vor Ermattung war sie 24 zusammengesunken und kauerte am Boden. Sie ahnte nun, daß es sich da drinnen um Tod und Leben handle. Obgleich sie noch nie einen Menschen hatte sterben sehen, wußte sie doch, was in diesem Augenblicke über dem Hause schwebe. Es war ihr offenbar geworden in dem Augenblicke, wo sie an Tante Wandas Brust gelegen und ihr Erbeben gefühlt hatte.
Sie hatte versucht zu beten zum lieben Gott, daß er ihren guten Vater wieder gesund werden lassen möge; aber die Gebetsworte waren auf ihren Lippen geblieben. Nun saß sie hier und spannte; aber nichts war zu vernehmen als hie und da ein halblaut geflüstertes Wort.
So also war es, wenn jemand starb! Ganz anders hatte sie sich das vorgestellt. Aus der Biblischen Geschichte wußte sie von Menschen, die gestorben waren: Henoch hatte Gott der Herr zu sich genommen, ohne daß er den Tod gesehen, Abraham und Isaak starben alt und lebenssatt. Andere wieder, wie Absalom, waren eines gottlosen Todes gestorben. Der Tod war ihr überhaupt bisher meist als etwas Schreckliches dargestellt worden, als eine Strafe. Der Herr schlug die Erstgeburt der Ägypter. »Der Tod ist der Sünde Sold!« – erst neulich war das im Religionsunterrichte dargelegt worden. Alle Menschen waren sündig von Geburt an und alle Menschen mußten darum sterben. Und auch ihr Vater, der so gut war, mußte sterben. Hatte auch er Sünde gethan? –
Und da durchzuckte es sie auf einmal blitzartig: Wie wenn sie selbst die Schuldige wäre? Wenn der Vater vielleicht ihr Unrecht büßen mußte? – War sie denn nicht eine große Sünderin? Täglich, ja stündlich beging sie Sünde. Wie oft hatte sie nicht im Laufe des vergangenen Tages gefrevelt gegen Gottes Gebote?
War es nicht ein großes Unrecht von ihr, daß sie das 25 Heft von Gabriel angenommen hatte, daß sie es bei sich verborgen gehalten und dann heimlich im Bette sich angesehen hatte? War das nicht Ungehorsam gegen die Eltern, ein schweres Unrecht!
Gewiß gewiß, es war so! Sie wurde gestraft vom lieben Gott. Ihr Vater hatte sicher keine Sünde begangen. Wie war es denkbar, daß er sich versündigen konnte!
Sie schlug die Hände vor die Augen, und begann zu beten. Jetzt fand sie die rechten Worte. Sie trug Gott ihren Kummer vor, und bat ihn, er möge es nicht ihren armen Vater entgelten lassen, daß sie so schlecht sei. Und schnell kam die lindernde Wirkung des Gebetes über ihre Seele. Nun würde ihr Vater gesund werden; der liebe Gott würde sie erhören. –
Bald darauf that sich die Thür auf vom Krankenzimmer. Der Arzt erschien. Er holte ein Instrument aus seinem Überzieher. Bei dieser Gelegenheit sah er das Kind in der Ecke. »Ist das nicht Thekla?« fragte er, hob die Lampe hoch und betrachtete das Mädchen durch seine blitzenden Brillengläser, wie es ängstlich zu ihm emporblickte. »Wenn du deinen Vater noch einmal sehen willst, dann komm herein, mein Kind!« sagte Doktor Beermann in freundlichem Tone, reichte ihr die Hand und führte sie in das Krankenzimmer.
Wenn auch viele Einzelheiten dieser Nacht im späteren Leben Theklas Gedächtnis entschwunden sind, dieser Augenblick, wie sie mit dem alten Familienarzt in's Schlafzimmer trat, und der Anblick, der sich ihr da bot, sind ihr immerdar unauslöschlich geblieben. Auf seinem Bette, den Kopf durch Kissen hoch aufgerichtet, lag ihr Vater, die Hände vor sich auf der Bettdecke, die Augen weit geöffnet, mit einem Gesicht, das um ein Jahrzehnt gealtert schien. Tante Wanda stand ihm zu Häupten, sehr bleich und sehr ernst, 26 aber ohne Thränen. Wenn seine starren, nach oben gewandten Augen überhaupt noch etwas zu erfassen vermochten, so schienen sie nach ihrem Gesichte gerichtet. In einer Ecke des Zimmers, vor einem Stuhle zusammengebrochen in fassungslosem Schluchzen lag die Mutter, die Hände ringend.
Doktor Beermann beugte sich über den Sterbenden und sagte:
»Hier ist Ihr Kind, Herr Major, Ihre Tochter!« Da der Kranke kein Zeichen des Verständnisses gab, wiederholte er dasselbe noch einmal lauter. Die Augen blieben leer und die Mienen ungerührt. Der Arzt schüttelte trübe den Kopf und sagte halblaut etwas zu Wanda Lüdekind. Dann nahm er Thekla wieder an der Hand, geleitete sie zur Thür und befahl ihr, sich zu Bette zu begeben.
Aber Thekla kam dem Befehl des Alten nicht nach. Zu Bette gehen, schlafen, wo sie das erlebt hatte! – Nein, jetzt wollte sie erst recht aufbleiben!
Eine Zeit lang stand sie unschlüssig im Vorzimmer, dann überlegte sie, daß sich neben dem Schlafzimmer der Eltern das Badezimmer befinde; niemand würde sie dort suchen, dort würde sie ungestört lauschen können.
Sie fand in dem kleinen Raume die Dienstboten des Hauses: die Köchin, die Jungfer, das Stubenmädchen und die alte Kinderfrau, eng zusammengeschmiegt. Die Mädchen fuhren erschreckt auf, als sich die Thür so unerwartet aufthat. Hanka die wendische Kinderfrau, die bereits bejahrt gewesen, als sie in's Haus gekommen, hatte der Reihe nach Arthur, Thekla und Agnes aufgezogen, und war noch immer da. Der Major hatte sich nicht entschließen können, den alten verdienten Dienstboten zu entlassen. obgleich sie zu nichts mehr recht nütze war, als zum Klatschen. Hanka im weißen Haar, über dem sie die weiße wendische 27 Witwenhaube trug, saß auf der Ofenbank und äußerte mit jener eigenartig gebrochenen Blechstimme ganz alter Menschen ihre Ansicht zu dem Falle. Um sie herum waren schon soviele Menschen verdorben und gestorben, daß das Unglück für sie etwas Alltägliches bekommen hatte. Sie sprach vom Sterben wie andere vom Wetter sprechen, dessen steter Wechsel etwas Unabänderliches ist. Theklas Anwesenheit störte sie nicht.
»Kommt meine Thekla zu mir? Hat meine Thekla Furcht?« sagte sie nach Wendenart langsam jede einzelne Silbe betonend. »Setz dich hier, meine Thekla ruh dich aus!« –
Thekla fühlte keine Angst vor dem alten, verwitterten Rabengesicht, und diesen knochigen Händen, die sie jetzt streichelten; hatten diese Hände sie doch durch Jahre gewartet, und dieses Gesicht hatte ihr erstes Lächeln gesehen. Sie schmiegte sich an die Alte an, und lehnte, neben ihr sitzend, den Kopf an die weiße Schürze, ohne welche Hanka zu keiner Tageszeit zu sehen war. Die Alte fuhr fort zu erzählen. Sie hatte jeden Todesfall in ihrer Umgebung bisher vorausgewußt, so auch diesen. Wie ihr »Vater selig« verstorben – was jetzt an die fünfzig Jahre her war – hatte sie ihn im Leichenhemde die Nacht vorher erblickt. Bei verschiedenen kleinen Kindern, die sie verloren, war plötzlich das Totenlicht erschienen, das nahe Ende anmeldend. Und hier beim gnädigen Herrn war es das Fallen des Leichenbrettes gewesen, welches das drohende Ereignis prophezeite. Sie rief die Mädchen zu Zeugen auf, daß auch sie den dröhnenden Schlag vernommen hätten, von dem das ganze Haus gezittert. Und da sie nun mal im Zuge war, erzählte die Alte einen Fall nach dem andern. Bei einer Familie, in deren Dienst sie gewesen, waren kurz nach einander Großmutter, Tochter und ein 28 Enkelkind gestorben. Die Ärzte hatten es auf Ansteckung zurückgeführt, aber da sei von Ansteckung keine Spur gewesen. Die hatten einander vielmehr eines nach dem andern »nachgezogen«. Denn das könnten die Toten. Wenn der Verstorbene mit seinen weißen Lippen einen Gegenstand berühre, den man ihm mitgegeben, dann müsse auch der Geber von dannen. Das ist das »Leichenschmatzen«. Auch hierfür hatte sie mehr als ein Beispiel anzuführen.
Thekla hörte dem unheimlichen Berichte der Alten mit Grauen zu. Sie glaubte alles wörtlich. Wie konnte sie an dem zweifeln, was Hanka sagte! –
»Hört ihr's!« flüsterte die Wendin und hielt plötzlich im Erzählen inne, ihr weißes Haupt mit der großen Hakennase nach der Thür des Sterbezimmers wendend. Von dort kam jetzt deutliches Schluchzen. »Gestern früh um diese Stunde ist Leichenbrett gefallen. Jetzt ist er heimgegangen.« Dabei machte sie mit drei Fingern der rechten Hand das Zeichen des Kreuzes über Stirn und über Brust. »Macht die Fenster auf!« befahl sie den Mädchen. »Macht in ganzem Haus Fenster auf!« und als die jungen Dinger noch zögerten, nicht verstehend, was sie meinte: »Seele will Weg haben zu ewiger Seligkeit.«
Hanka ging in das Sterbezimmer; als alter Dienstbote durfte sie sich solche Freiheit nehmen. Thekla schlich ihr nach. Dort lag der Hausherr auf dem Bette, ausgestreckt, mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen. Neben ihm knieten zwei weinende Frauen.
Die alte Hanka aber ging mit unhörbarem Schritte zum Fenster, ohne ein Wort zu sagen und öffnete es weit, daß der helle Morgen hereinstrahlte. 29