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Ich unterschreibe nicht! Eher soll mir die rechte Hand verdorren!« rief Hermann Großjohann. – »Unterschreib doch, Hermann, es ist zu deinem Besten!« bat Franziska.
»Ich unterschreibe nicht! Eher könnt ihr mich verhungern lassen, was ihr ja ohnedies gern tätet!« erklärte Großjohann, mit großen Schritten im Zimmer auf- und abgehend. – »Unterschreib doch, Hermann«, flehte Franziska, mit dem Schriftstück und der nassen Feder hinter ihm herlaufend. – »Ich unterschreibe nicht!«
Die Tür öffnete sich, und Philipp Emanuel – Emanuel aber heißt: Gott mit uns! – Philipp Emanuel flog herein. Die langen Schöße seines schwarzen Priesterrockes wehten hinter ihm her. »Was ist denn hier los?« rief er, ohne sich Zeit zum Gruße zu nehmen, denn er hatte es sehr eilig. – »Gut, daß du kommst, Philipp!« rief Frau Franziska.
Philipp stand in der Mitte des Zimmers, sein Barett mit den vier Bügeln darauf wie eine schwarze Krone auf dem Kopfe tragend. Er schaute von einem 298 zum andern und ließ den Deckel seiner goldenen Uhr ungeduldig einschnappen.
»Der Vater will nämlich nicht unterschreiben«, sagte die Mutter. »Wir haben, Gabriel und ich, einen Käufer gefunden für das Haus in der Römerstraße, ein guter Preis, ein annehmbarer Preis, und es ist nötig, sehr nötig. Wir leben nur noch von Verkäufen. Alles ist soweit fertig, der Vater braucht nur die Erklärung zu unterschreiben, daß er einverstanden ist. Aber er will nicht, der eigensinnige Bock!« rief sie, eine Faust machend.
»Eigensinnig wie der arme Sünder, der an den Galgen soll und will nicht!« rief höhnisch der Vater.
»Warum wollen Sie denn nicht unterschreiben, Vater?« frug Philipp Emanuel, ein Auge nach der Tür werfend, denn noch viele unglückliche und streiterfüllte Familien warteten auf ihn. Großjohann erwiderte nichts.
»Ganz verbissen sehen Sie aus, Vater, und verstockt sind Sie. Wie heißt es in der Heiligen Schrift: Wehe die verstockten Herzens . . .« – »Bleib mir mit deinem Gefasel vom Leibe!« knurrte ihn Großjohann zornig an. – »Gefasel? Die Heilige Schrift und Gefasel? Da rühren wir an die Wurzel des Unglücks!« rief der Sohn, und seine Augen flammten. Seine Nüstern waren gebläht vor Eifer. »Wie kann in einem Hause Friede und Wohlstand sein, wo man sagt, Gottes Wort sei Gefasel?« rief er entrüstet.
»Nein, deine Worte sind Gefasel, nicht Gottes Worte, deine, Flippens Worte sind Gefasel!« schrie zornig Großjohann, »das sage ich, und dabei bleibe ich, sonst marsch mit dir zum Tempel hinaus, man sieht dich ja sowieso selten genug.«
299 Als Philipp wieder den Mund öffnete, schrie Großjohann außer sich: »Schweig! Ich habe genug von dir! Schweig! Ich befehl's dir, ich, der Vater!«
Um Philipps Lippen zuckte es, und er sagte langsam: »Ich weiß nicht, ob ein Diener Gottes schweigen muß, wenn . . .« – »Wenn der Vater es ihm befiehlt?« rief Großjohann; »wenn der Vater es ihm befiehlt, meinst du, braucht der Sohn, der es durch Fleiß und Schweiß des Vaters zum schwarzen Rock gebracht hat, daß das Volk ihn einen Herrn nennt, nicht zu schweigen, meinst du? Meinst du das wirklich? O mein Söhnchen, wenn aus deinem schwarzen Kaplansrocke der violette eines Prälaten und aus deinem schwarzen Barettchen der rote Hut eines Kardinals geworden sein wird, und ich sage dir: schweig! so schweigst du, oder ich schlage dich mit meiner Faust nieder! Ah, Flipp! Du täuschest dich doch nicht über deinen Vater? Und wenn du glaubst, dein Vater kennte die Bibel nicht, indem sein Vater ihn nicht lernen ließ wie ich dich und ihn nicht einen Herrn werden ließ, sondern zu ihm sagte: ich habe mit meinen Händen gearbeitet, arbeite auch du mit deinen Händen – wenn du glaubst, dein Vater kennte die Bibel nicht, so irrst du gewaltig, mein Söhnchen! Du wirst ja Schriftgelehrter sein, aber in eine Prüfung, wer den Geist am besten erfaßt hat, will ich mit dir alle Tage eintreten. Ich kann dir auch mit Stellen dienen von der Zunge, die widerspricht und ausgerissen werden, und von der Hand, die sich erhebt und verdorren soll! Nein, Philipp, mein Sohn, es taugt nicht, andere Menschen unterschätzen, selbst seinen Vater nicht! Du hast uns nun von deiner kostbaren Zeit wieder eine Viertelstunde geopfert, und so will ich dich auch 300 dafür belohnen, denn Großjohann hat sich noch niemals lumpen lassen, auch nicht vor seinen Söhnen, und dir etwas mitgeben, aus dem selbst du Schriftstarker noch lernen kannst: Halte niemals andere Leute für dümmer als du selbst bist, dann wirst du sehr klug sein.«
Großjohann schritt im Zimmer auf und ab. Gabriel, der stumm im Winkel saß, blickte voll heimlichen Stolzes auf den Vater. Frau Franziska raschelte mit dem Papier und tunkte die Feder zum wievieltenmale in die Tinte. Philipp stand noch immer an seiner Stelle, ein feines Lächeln um die dünnen Lippen, und schwieg. Er nahm auch sein Barett in die eine Hand, während die Finger der andern in der Westentasche immerfort leise den goldenen Uhrdeckel einschnappen machten.
»Also unterschreib jetzt!« sagte Franziska, da niemand sprach.
»Und nun will ich dir auch sagen, Philipp, warum ich nicht unterschreibe. Damit du nicht deinen Vater für einen Verrückten hältst. Hinter meinem Rücken haben deine Mutter und Gabriel verhandelt. Haben einen Käufer gesucht. Bin ich noch der Herr im Hause? Der Inhaber der Firma? Was heißt denn das in der Geschäftswelt? Das heißt: der Alte kann nicht mehr. Das heißt, einen Geschäftsmann lebendig begraben. Ich weiß, was du sagen willst, Franziska. Wenn auch mal augenblicklich kein Geld da ist, der alte Gott hat uns bisheran nicht verlassen. Du bist eine Frömmlerin, aber mein Gottvertrauen willst du mir nehmen.« – »Deinen Mangel an Entschluß, dein Gehenlassen, deine Träumereien und vor der Gefahr den Kopf in den Sand stecken nennst du 301 Gottvertrauen!« sagte hart Franziska. – »Rede du nicht von Männersachen!« rief Hermann Großjohann, »nun erst recht nicht! Und wenn alles drunter und drüber geht! Ich will doch Herr im Hause sein und wenn auch nur, um den ganzen Bettel zusammenzustoßen! Nun erst recht nicht, sag' ich!«
»Wollen Sie Herkules um Geld bitten, Vater? Befehlen Sie, und ich drahte ihm sofort. Er wird es geben«, sagte Gabriel. – »Ah, der Zirkusreiter«, flüsterte Philipp, und ein verächtliches Lächeln spielte um seine Lippen.
»Ich will auch kein Geld von Herkules nehmen,« sagte Großjohann, »die Eltern sollen nie Geld von ihren Kindern nehmen, das gedeiht nicht.«
»Was also dann?« frug Gabriel. – »Ich unterschreibe nicht!« – »Das nennt man eigensinnig, das nennt man verstockt sein«, sagte gelassen Gabriel.
Das biblische Wort Verstocktsein schien Philipp als einem geistlichen Herrn Stichwort zur Rede zu sein, aber Gabriel schob ihn sanft wider die Türe und sagte leise: »Laß mir das. Du wirst sicher noch viel zu tun haben. Es gibt noch soviele Seelen zu retten.«
Philipp Emanuel setzte sein Barett auf und ging eilig hinaus, denn noch manche streitsüchtige Familie wartete auf seine Vermittlung, und es waren noch viele Seelen zu retten. Die Schöße seines langen Klerikerrockes flügelten hinter ihm her. Emanuel aber heißt: Gott sei mit uns!
»Unterschreib doch, Hermann!« Frau Franziska tauchte wieder die Feder ein.
»Ich unterschreibe nicht!« rief Hermann Großjohann und hob die rechte Hand auf, »ich schwöre, daß ich nicht unterschreibe!«
302 »Lassen Sie, Mutter,« flüsterte danach Gabriel, »es hat keinen Zweck. Lassen Sie.« Die Mutter ging hinaus. In der Tür wandte sie sich um. »Das Unglück, das du über mich und meine Kinder bringst, du verruchter Mann, sei über dir!« – »Ich werde es zu tragen wissen.«
»Vater,« sagte Gabriel, als die Mutter fort war, »wollen wir heute abend noch mal ausgehen?« Der Vater schaute ihn aus der Ferne und wie von oben herab an. »Wohin ausgehen?« frug er. – »Sie wissen schon«, meinte der Sohn. – »Nichts weiß ich«, behauptete eigensinnig der Vater.
»Aber natürlich wissen Sie. Ins ›Himmelreich‹. Der Wirt Peerenboom ist auch aus seinem Weinberg wieder da.« – »So, Peerenboom ist wieder da?« sagte Großjohann mit plötzlich veränderter Stimme, die wie ein neues Kapitel klang, »das freut mich. Der Mann ist eine Gottesgabe. Zu seinem guten Wein seine guten Sprüche, die gehören zusammen! Ja, da geh ich gerne hin.« – »Also heute abend!« – »Gut!«
Das »Himmelreich« war das uralte Weinhaus in der engen steilen Straße an der Pfalz, die als »Wasserstraße« am Flusse unten begann und als »Pfalzstraße« den alten Stadthügel erklomm. Die Frauen der Stadt nannten das Himmelreich des unbeweibten Wirtes Peerenboom wegen »den dürren Birnbaum« und fügten hinzu: »Am Birnbaum wachsen keine Trauben!« worauf die Männer begeistert von den »Sieben Himmeln« sprachen. »Nun habe ich dir zugeredet und bin so liebreich zu dir gewesen,« sagte die Frau, in Tränen ausbrechend, »aber es ist wie Mutter selig sagte: Setz' den Frosch auf einen goldenen Stuhl, er springt immer wieder in seinen 303 Pfuhl.« – »Nichts verschwenden,« sagte der Mann, indem er den Hut aufsetzte und einen letzten Blick in den Spiegel warf, »sparsam auch mit Tränen sein, es ist Salz drin.« – »Saufaus!« rief jetzt zornig die Frau. Aber der Mann entgegnete ruhig: »Es ist nicht alles Butter, was die Kuh gibt, sagte die Magd, als sie in einen Fladen trat«, öffnete die Türe und schloß sie leise hinter sich zu.
Solche ehelichen Gespräche waren häufig abends zwischen acht und neun Uhr in der Stadt. Nur Frau Franziska sagte nichts, sie duldete und schwieg, denn sie verachtete ihren verkommenen Mann.
Vater und Sohn Großjohann traten in die Schenkstube und hängten Hut und Überkleider an den Krampen auf. Dann suchten sie, die Hände reibend, bedächtig nach einem behaglichen Orte. Die Dielenbretter waren von den Schuhen ganzer Männergeschlechter ausgetreten, die Augen im Holze standen hervor, und in den Mulden lag weißer Sand. Hier und da saß ein stiller Zecher an einem blankgescheuerten Tische. Nur selten war eine Gesellschaft von zweien, und auch dann war ihr Gespräch nur Gemurmel. Alte Bilder und Stiche aus der Geschichte der Stadt und des Landes hingen an der Wand, von Heiligtumsfahrten und Kaiserkrönungen erzählend. In einem Winkel setzten Großjohanns sich nieder.
Als sie nun eine Weile gesessen, sich sozusagen eingeschaukelt hatten, kam ein freundliches Mädchen und brachte fürs erste zum Durstlöschen einen kleinen Wein.
Der Wirt, Herr Peerenboom, sorgfältig gekleidet in schwarzem Gehrock und grauen Beinkleidern, ging zu dem Gaste, auf dessen Gesichte er las, daß er eine 304 Ansprache gern hätte oder einen Zuspruch brauchte. Besonders gern ging er zu denen, auf deren Gesichtern er noch die Wolken des Streites mit der Ehefrau bemerkte. Sah er aber, daß ein Gast lieber für sich blieb, allein mit sich und seinem Gotte im Glase, so nickte er ihm nur zum Gruße von ferne zu.
Die Dielen knarrten unter dem Gewichte seines großen Körpers, als er zu Großjohanns trat, nachdem er gesehen, daß sie sich sozusagen eingeschaukelt, wirklich Platz genommen hatten und schweigend saßen.
»Wo bist du denn die ewige Zeit gewesen, Großjohann?« frug Peerenboom sich setzend, »ich hätte dich fast ausschellen lassen.« – »Ich bin eine gewohnte Taube. Ich komme von selbst zurück«, erwiderte Großjohann. »Und wo waren Sie denn, Herr Peerenboom?« – »Ich war den Sommer über in meinem Weinberg. Nun, wie steht denn das Leben? Du scheinst mir trübselig, Großjohann? Kummer daheim? Ach, was ich mit diesem Jammer kämpfen muß! Was ist, Großjohann?« – »Das Weib!« sagte dieser dumpf. – »Jaja, das Weib! Ich weiß! Aber nicht krummnehmen! Es gibt nur eine böse Frau auf der Welt, doch jeder glaubt, er hat sie.« – »Wer den Teufel zum Freund hat, hat die Hölle umsonst«, sagte Großjohann der Ältere. – »Was, auch die Kinder? Auch die Kinder nicht über den Kopf wachsen lassen, Großjohann!«
»Meinen die Herren auch etwa mich?« frug der Jüngere gutmütig. – »Wenn man sagt husch husch, meint man die Hühner alle«, sagte Herr Peerenboom kühl. – »Jung bei jung und Alt bei Alt, sagt das Sprüchwort,« entgegnete Gabriel, »denn was jung 305 ist spielt gern und was alt ist brummt gern.« – »Willst du es aufnehmen, junger Mann? Vögel, die früh singen, kriegt die Katz'.« Denn es war dem Wirte nicht um neue Gäste zu tun.
»Laßt es gut sein, Peerenboom, Gabriel ist der Schlimmste nicht. Er ist nur der Sohn seiner Mutter.« – »Lassen Sie die Mutter aus dem Spiele, Vater«, sagte Gabriel ernst und leise. Das gefiel Herrn Peerenboom, da erhielt auch er seinen Teil. »Greift nicht in anderer Leute Topf, Herr Peerenboom, es könnte ihr Nachttopf sein«, sagte Gabriel.
»Gut gesagt, junger Mann, ein bißchen kräftig, aber das hast du gut gesagt,« lachte Herr Peerenboom, »Kinder, laßt uns einen auf die Lampe schütten, sie geht aus.« Er winkte dem Mädchen, das ihm Wein brachte. Sie tranken sich zu.
»Was hast du eigentlich für einen Beruf, junger Großjohann? Keinen? Junger Mann, das gefällt mir. Wißt ihr Großjohanns auch, was für einen Beruf ich habe?« – »Nun, Wirt«, meinten sie. – »Ja schon,« sagte der Wirt, »aber ich hatte doch auch einen andern. Der Vater war vermögend, er hatte vom Großvater her das gute Weingeschäft, und er meinte nun wie alle Väter, er müsse seinen Sohn etwas Besseres werden lassen, als er selbst war. Und ich habe es denn bis zum Referendar gebracht.
Und wer es zum Referendar erst hat gebracht,
der steht auf der Leiter zur höchsten Macht,
kann Richter oder Minister werden,
denn Streben ist jetzt die Losung auf Erden,
besonders in Deutschland. Denn Beruf, das heißt bei den meisten Leuten doch Titel oder Macht oder 306 Geld. Und am liebsten alle drei zusammen. Bildung erwirbt sich doch gemeinhin einer nur, um damit zu glänzen oder dadurch eine Würde zu erlangen. So strebt und schafft denn alles, und der Reichtum des Volkes mehrt sich und die Macht des Reiches. So etwas hat man nie gesehen in der Welt. Der Engländer ist uns darum auch mächtig gram. Doch das täte nichts, dem zum Trotze erst recht, wenn es nicht auf Kosten unseres besten Wesens ginge. Zeit, ein schönes Buch zu lesen, hat kaum ein Mann von heute, jeder ist eilig und hastig. Die ganze Zeit ist außer Atem gekommen. Das nimmt kein gutes Ende. Sich zu bilden lediglich aus Freude an der Bildung, weil es den Geist bereichert und das Herz veredelt, wer kennt das noch? Den Beruf haben, aus sich einen schönen klugen gütigen Menschen zu machen, das, sagen sie, ist kein Beruf. Da sagte ich zu meinem Vater – Gott hab' ihn selig, er verdient es –: Vater, was soll ich einem Amte nachlaufen und mich an einen goldenen Galgen hängen? Laß mich deine Weinwirtschaft übernehmen. Das ist keine Kleinigkeit. Da habe ich Zeit, über mich selbst nachzudenken und mal ein gutes Buch zu lesen. Und ich faß das so auf, Vater, sagte ich, daß ein guter Wirt sozusagen der Seelsorger der Männer sein muß, mit Anspruch und Zuspruch, die Frauen haben die Pfaffen. Der Vater sah mich an und schwankte, denn er war auch von der Zeit angesteckt – es war in den achtziger Jahren, als das gewaltige Arbeiten anfing und das viele Geld in Deutschland war. Am nächsten Tage trat ich beim Gericht aus, und als ich es dem Vater sagte, meinte er: es ist geschehen, sagte das Mädchen, man kann nicht noch mehr dran verderben. Der gute 307 Vater! Er wußte immer so rechte Sprüche. Das freut mich, Großjohann, daß du deinem Sohne ein Vater bist wie meiner mir war. Und ich lobe dich besonders deshalb, weil du's in dieser Stadt und weit ins Land hinaus zu Ehre und Macht in der Welt gebracht hast. Sollst leben, Großjohann!«
»Ich danke Euch, Peerenboom. Ja, Ehre und Macht – aber schließlich, was ist das? Das letzte Haus, das auch der größte Städtebauer bezieht, hat der Zimmermann aus sechs Brettern zusammengeschlagen.« – »Hast recht, Großjohann, in einem gewissen Sinne muß man die Welt verlassen, um in ihr heimisch und an ihr froh zu werden. Das ist eine Art Mönchsein. He, Berta, hör' mal!« Er winkte das Schankmädchen heran und flüsterte ihr zu: »Da drüben im Winkel der Herr – nicht hingucken! – der hat genug. Schenk' ihm nichts mehr ein, sag', der Rote ist alle. Ich setz' mich gleich zu ihm und zieh' ihn von der Flasche. – Zuviel ist zuviel«, wandte sich Peerenboom wieder an die Großjohanns. »Ich habe in meinem Leben nur einen einzigen Katzenjammer als Student gehabt, aber der hätte mir fast den Wein für ewig verleidet. Trinken ist eine männliche Kunst und erfordert einen ganzen Charakter. Ich mag die Schwächlinge nicht, die sich betrinken und den Wein in Verruf bringen. Der Aschermittwoch ist der beste Tag für die Pfaffen. Und eh ich einen windschief nachhause gehen lasse, eher halte ich ihn da und laß ihn hinten im Kämmerchen sich ausschlafen.«
Herr Peerenboom ging. Großjohanns waren nicht mehr bei ihrem ersten kleinen Weine. Der grobe leibliche Durst war gelöscht, jetzt galt es, den feinen 308 geistigen zu stillen, den göttlichen leichten Rausch zu gewinnen, in dem schwarz nicht mehr schwarz, schwer nicht mehr schwer ist und der Augenblick bei der Ewigkeit vom Zauber leiht. In dem unmöglich schon vielleicht und vielleicht bereits sicher heißt. In dem die Welt überall weit ist wie am Meerstrande und die Luft leicht wie auf Alpengipfeln, daß die lustbeschwingte Seele sie spielend durchflügelt.
Herr Peerenboom kam zurück, brachte eine staubige Flasche und setzte sie vor Großjohanns hin, wobei er ein Auge zudrückte, was hieß: Nur für Kenner! Nur für euch! Und er sagte leise: »Aus meinem eigenen Berg! Kein König und kein Kaiser bekommt davon! Ich trinke ihn allein. Der Fürst von Oldenburg war da, er wollte von meinem berühmten Weine trinken, aber er bekam nur einen kleineren Jahrgang. Aber ihr sollt meinen Jahrgang haben, weil ihr Großjohanns seid.« Dann ging er zu dem Herrn im Winkel.
Alle Tische waren besetzt. Besetzt mit einem oder höchstens zwei Trinkern. Feierabendstimmung erfüllte den alten Raum. Selbst einige Studenten des Baufaches, die da saßen, verhielten sich ruhig. Fast alle die Herren, die da hinter ihren Gläsern träumten, waren, wie ihre Halsbindennadeln durch Lot und Winkel verrieten, aus dem Baugewerbe, und die meisten waren Lastträger des Lebens. Da saß Schröder mit seiner dicken Brille, da saß auch der Makler Silberzahn mit seiner weißen Weste und den schmutzigen Fingernägeln. Auch Bekannte hockten nicht beieinander, sie begnügten sich, von Tisch zu Tische sich zuzunicken, und im übrigen vermählte sich jeder für sich mit dem blonden sorgenlösenden Gotte.
309 Der Gott in dem verstaubten Glashause vor den Großjohanns kämpfte siegreich gegen ihre Schwermut. »Schließlich ist alles eins,« sagte der Vater, »jedes Haar, das vor der Zeit weiß wird, ist eine Sünde wider die Jahreszeiten des Lebens.« – »Schließlich lebt man,« meinte Gabriel, »und Kaiser Karl ist schon lange tot. Ihnen zur Gesundheit, Vater! Im Himmel soll es zwar keine Wechsel und Zinsen, aber auch keinen Wein geben.« – »Zum Wohlsein, Junge! Die Wechsel hat der Teufel erfunden, aber der Teufel ist auch nur für den schwarz, der an ihn glaubt.« – »Ganz recht, Vater. Nicht kleinkriegen lassen! Spielen mit uns kann am Ende doch nur einer, das ist der Bub des Totengräbers, der im Jahre 2000 mit unseren Schädeln Ball spielt.« – »Ha, kleinkriegen lassen!« meinte der Vater. »Da halt' ich es mit dem Edelmann, der sagte: Verhungern? Ne, eher eß ich Brot mit Käse.« Gabriel lachte laut auf.
So philosophierten sie – und der Gott half wacker mit – Vater und Sohn, doch nicht so heftig hintereinander. Dazwischen lag manch innige Kommunion mit dem Gotte am Glasrande, mancher wohltuende Seufzer und manche gewichtige Pause, verklingen zu lassen und zu sammeln. »Man soll nicht alles zu schwer nehmen«, sagte der Jüngere, vom Wein ermutigt, zu sich selbst; »schwer ist doch schließlich nur die Erde über dem Lebendigbegrabenen.«
»Schwer muß auch sein,« meinte der Vater, »auf dem Seile tanzen, und in dieser Stadt kann es doch nur einer, und das ist wieder ein Großjohann. Berta, bringen Sie mir mal eine Ansichtskarte, bitte, mit dem Pfalzbrunnen und dem grünspanenen 310 Kaiser, wir wollen an Herkules in Amerika einen Gruß schreiben«, vollendete er gegen Gabriel. – »Das ist recht, Vater. Das wird ihm zeigen, daß Sie ihm nicht mehr böse sind. So, nun auch meinen Namen darunter. Sie haben einen schönen Namenszug, Vater, ich hab' ihn immer bewundert.« – »Wenn wir nicht selbst etwas aus uns machen, die anderen tun es sowieso nicht«, sagte der Vater im Schreiben. – »Und da Sie nun einmal beim Schreiben sind, Vater – da ist auch das Schriftstück des Notars, das noch unterschrieben werden muß.« – »Also heran damit!« rief Großjohann. Gabriel zog das gefaltete Schriftstück aus seiner Brusttasche, und der Vater setzte mit sichtlichem Wohlbehagen seinen langen schönen Namenszug darunter. Gabriel nahm es wieder an sich und versenkte es in die Tasche.
»So, und nun fort die Schreiberei!« rief Gabriel. »Berta, noch einen Liter!« 311