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Püh!« sagte der alte Diener Peter, in die Gesindestube tretend, »das gibt ein Unglück so sicher wie Amen im Gebet.«
Die Tür ging wieder auf, und der junge Diener Hubert trat herein. »Schwül ist das im Haus, als ob der Blitz einschlagen wollte«, sagte er.
»Das ist ewig schade,« sagte die Köchin Barbara, ihre dicken roten Arme auf die weißgescheuerte Tischplatte legend, »daß die Herren Grafen sich nicht vertragen.«
»An meinem Grafen liegt das nicht,« sagte Peter, »der tut sein Bestes. Wenn er auch augenblicklich etwas kränklich ist, der Arme! Bei seinen 25 Jahren ist das schade genug.«
»Aber mein Graf, der ist ein Jüngling bei seinen 65!« prahlte Hubert; »der ist noch die reine Gerte, trotz seinem weißen Barte. Der hat noch Kraft in den Ärmeln.« – »Jawohl, der haut dir noch eine hinter die Löffel, wenn's nottut!« sagte Peter. »Das tut nun mein Graf nicht. Der ist taktvoll und läßt unsereins wirtschaften . . .« – »Jawohl, er fragt dich: Peter, was für ein Hemd zieh' ich heute an? Oder: meinst du die blaue oder die gesprenkelte 312 Binde? Oder: Peter, gib mir ein Taschentuch. Oder: Peter, putz' mir mal die Nas'.« – »Bei uns oben«. setzte Peter unbeirrt fort, »ist es vornehm und still . . .« – »Das ist wahr!« ließ sich Barbara vernehmen, »da wird nicht spektakelt und rumort wie unten. Das ist wahr!«
»Das ist wahr!« bestätigte auch Hubert, »der obere Stock ist wie eine Totenkammer, ich sag' es wie es ist. Da passen ich und mein Graf nicht hin. Wir lieben das Leben und die Fröhlichkeit . . .« – »Der Lümmel tut ja gerade,« sagte Peter, »als ob sein Graf jeden Mittag mit ihm anstößt! Hat sich was! Ja, er stößt ihn gelegentlich an, daß er sich, er weiß nicht wie, in der Kammerecke findet.« – »Hihi«, kicherten die Mädchen. – »Wenn wir oben essen . . .« fuhr Peter fort. – »Wir?« höhnte Hubert, »du alter Speichellecker tust so, als ob dein Graf zu dir sagte: Aber bitte, Herr Peter! Greifen Sie doch zu, Herr Peter! Noch ein Glas Madeira gefällig? Und dabei läßt er ihn hinter seinem Stuhl stehen, daß ihm sein altes Gestelle wackelt, wenn er langsam seine schwachen Süppchen löffelt, ich sag' es wie es ist.« – »Oho, die Süppchen sind nicht schwach, die Süppchen mach' ich!« mischte sich die Köchin ein. – »Oder seine Milch trinkt!« redete Hubert unerschrocken weiter, »bei euch riecht es schon rein wie zuhause in der Milchkammer . . .« – »Oho, sag' das nicht!« rief Christine, »da lüfte und fege ich!« – »Ach nein, mit der leckeren Christine werd' ich's doch nicht verderben,« meinte eifrig Hubert, »nur von wegen der Milch, mein' ich. Und überhaupt, ein Mädchen mit solchen Milchwecken!« schmeichelte er im Hinblick auf ihre Büste. – »Halt dir die Ohren zu, Christine,« 313 befahl die Köchin (Christine tat es, errötete und sah Hubert dankbar an) »so was darfst du nicht hören«, kam's noch hinterdrein, denn die Dicke brauchte Zeit. – »Ja freilich, mit der Barbara kann sich Christine nicht messen . . .« fuhr Hubert fort. – »Nun halt dir auch die Ohren zu, Mutter Bärb!« rief das andere Mädchen. – »Ich weiß, was ich zu tun habe, Marie«, entgegnete Barbara, errötete und sah Hubert strahlend an; »aber ich würde dir Hungerleider Hubert nicht erlauben, davon zu kosten, weißt du!« – »Oh, das braucht der auch nicht! Der findet andere Läden mit frischeren Wecken!« prahlte Hubert. – »Oho! Oho!« riefen Christine und Marie zu gleicher Zeit. – »Ich habe doch nichts gesagt,« tat Hubert unschuldig, »aber auch rein gar nichts gesagt, ich sag' es wie es ist! Was meint ihr Mädchen denn nur?«
»Hubert ist kein feiner Mann«, erklärte Peter. – »Ach, Peter,« mischte sich Christine ein, »schweig du nur; immer hast du an Hubert herumzudoktern.« – »Sieh mal einer die Christine an!« flötete Peter. »Das ist mir ja ganz neu! Die beiden stecken unter einer Decke!«
»Ich wollt', es wär' so«, seufzte Hubert. – »Daß du mir aber jetzt deine Klappe hältst, Hubert«, fuhr Christine diesen an.
»Da ist alles in Ordnung, da kannst du ruhig schlafen,« wandte sich Marie an Peter, »ich schlafe mit Christine zusammen.« – »Als ob das was beweisen tät',« warf Hubert dazwischen, »da würde ich auch nicht gleich verlegen dastehen; wenn ihr nur die Tür aufmachen wolltet!« – »Nun ist's aber genug mit dem gotteslästerlichen Zeug!« rief Barbara. 314 »Wenn uns ein Fremder hörte, sollte er glauben, wir hätten Streit, Kinder. Wir vertragen uns doch gut! Wir leben doch rein wie im Paradiese! Guter Lohn und gutes Essen, und die Behandlung ist auch gut, denn der Hubert kriegt die Ohrfeigen für uns alle zusammen . . .«
»Pst! Hört ihr was? Hört! Habt ihr was gehört?« unterbrach Peter, der an der Tür stand. – »Nein, nichts«, versicherten sie leise. – »Mein Graf kommt die Treppe herunter«, flüsterte er. – »Was? Wie?« frugen sie. – »Das hat was zu bedeuten!« sagte halblaut Hubert.
»Freilich hat das was zu bedeuten,« versicherte volltönig Peter, »wenn mein Graf die Treppe hinuntergeht. Der verläßt nicht mir nichts dir nichts unser Reich da oben.« Hubert legte das Ohr an die Tür: »Wahrhaftig, dein Graf geht zu meinem Grafen . . . ! Er steht an der Tür . . . ! Er wartet . . . ! – – Jetzt kehrt er um . . . er hat Angst!« lächelte Hubert.
»Komisch mit dem Herrn Grafen und mit dem Sohne,« sagte die Köchin und drehte die Kugel ihres Kopfes auf dem Ei ihres Leibes langsam hin und her, »komisch! Wie Katze und Hund! Sie können sich nicht riechen!«
»Was haben sie denn nur?« frugen neugierig über den Tisch sich vorneigend die Mädchen. – »Was geht das euch an!« schnarrte Peter mit fast heiserer Stimme. »Wie lange seid ihr hier? Ein halbes Jahr! Ein Jahr! Was ist denn das? Ihr werdet entlassen und sucht was Neues. Ihr fliegt durch alle Küchen und Schlafzimmer der Herrschaftshäuser herum. Wo habt ihr nicht schon überall gedient? Daß ihr die 315 Ehre unseres Hauses, wenn ihr hier entlassen werdet, auf die nächste Stelle schleift . . .«
»Die Mädchen werden nicht entlassen,« unterbrach ruhig die Köchin, »ich bin mit ihnen zufrieden. Da könnt ihr ruhig reden. Und daß ihr mir den Mund haltet, Mädchen!« rief sie. – »Aber sicher! Aber sicher! Wir reden überhaupt niemals!«
»Die Herren Grafen vertragen sich nicht«, begann Peter vorsichtig. – »Als ob wir das nicht schon wüßten!« riefen überlegen die Mädchen. – »Na, und so . . . Das ist es!« schloß bereits Peter.
»Das ist es! Und noch viel mehr ist es!« fielen die Mädchen ein. »Der eine wohnt oben und der andere unten, jeder wie ein Tier in seiner Höhle. Jeder ißt für sich, wie die Hunde ihre Knochen in eine Ecke tragen.« – »Das schickt sich nicht, die Herren Grafen mit Hunden zu vergleichen, Christine!« tadelte Peter.
»Hä, da gibt es sicher noch ganz was anderes!« rief Marie aus. »Wißt ihr nicht, ob der alte Herr Graf . . . er ist nicht so! Er ist eigentlich noch ein ganz junger Mann! Gelegentlich kommen junge Damen zu ihm . . .«
»Jesses mein!« entrüstete sich langsam Barbara, »was so ein unschuldiges Ding nicht alles weiß und sich denkt! So jung und schon so verdorben, Marie?« – »Hä, man hat doch zwei Augen und denkt sich was«, rief diese naseweis. »Da war doch neulich ein Fräulein da . . . elegant, schick, alles was recht ist. Ein Kleiderstöffchen, sag' ich euch! Ich war gerade unten. Der Herr Graf war riesig nett zu ihr.« – »Das war Fräulein Merlin,« sagte Hubert, »ich öffnete die Türe, und da war sicher nichts dabei.«
316 Barbara legte in einer Weise, die etwas bedeutete, ihre roten Arme gekreuzt auf den Tisch und drückte die Finger in das Fleisch, daß die Nägel rot und die Gruben im Fleische weiß wurden. Sie sagte bedächtig und sah dabei wie im Einverständnis Peter an: »Wie nun, wenn das unsere Schwiegertochter wäre?« – »Schwiegertochter? Ha!« riefen die drei jungen. Peter sagte nichts.
»Nein, so was!« machte sich Hubert aus dem Chor der Mädchen los, »auf den Gedanken wär' ich nicht gekommen.« – »Schwiegertochter! Schwiegertochter!« riefen entrüstet die Mädchen, »das ist ja unerhört! Er müßte sich doch schämen!«
»Wieso schämen?« frug Peter. – »Wieso schämen?« frug auch Barbara. – »Versteht ihr das denn nicht?« lachten die Mädchen und kicherten miteinander.
»Ich versteh' das nicht«, gab Peter fast beschämt zu. »Das Fräulein ist ja ganz nett, und sie hat auch letzthin, als sie da war, den Tag geboten, aber schließlich – für eine Frau Gräfin müssen wir doch größere Ansprüche machen.« – »Und die Schande: Sie will ihn gar nicht mal!« rief Marie. – »Was, meinen Grafen?« sagte Peter zornig.– »Ja, deinen Grafen. Sie will ihn nicht. Sie sprechen doch alle davon, daß da mit dem jungen Großjohann was ist«, erzählte Christine.
»Ja, das sagt man,« nahm Barbara das Gespräch an sich, »diese Großjohanns! Wieviel Dienstpersonal haben die eigentlich? Habt ihr davon was gehört? Und da bildet sich einer von denen ein, das reiche und vornehme Fräulein Merlin zu kriegen, und da sticht er noch unsern Grafen aus!«
317 »Ich verstehe das alles nicht«, sagte Peter wieder, das greise Haupt schüttelnd. – »Nicht? Noch immer nicht?« kicherten die Mädchen und stießen sich gegenseitig mit dem Ellenbogen an. – »Also, so sprecht denn auch einmal, was ihr versteht,« befahl Barbara, »laßt eure grüne Weisheit hören.«
»Nun,« sagte Marie, »das ist doch sehr einfach. Unser alter Herr Graf will die Schwiegertochter einfach für sich.« – »Was?« entrüsteten sich die drei Gesetzten, und Barbara frug: »Verstehst du das, Peter?« – Peter erwiderte: »Ich versteh' das nicht.« – »Ja, was denn? Was tut ihr denn groß? Was ist denn dabei?« nahm Marie auf. »So mein' ich das nicht, wie ihr das meint. Der Junge soll sie heiraten, damit der Alte sie hat. Der Alte hat einfach seinen Johannistrieb. Es ist kein Hund so alt, er geht noch immer gern auf die Jagd. Mein Gott, er ist doch auch schon so lange Witwer. Und wenn er sie nicht als Frau haben kann, dann ist es doch besser, sie wenigstens als Schwiegertochter zu haben. So 'ne feste junge Person haben die Alten gern, nicht wahr, Christine, das haben wir zwei oft genug erfahren. Auch der unsere! Die Stimme der Jungen geht einem durch und durch, sagen sie, nicht wahr, Christine? Und so 'ne Junge schleicht wie'n Kätzchen durchs Haus, sagen sie, nicht wahr, Christine? Und fühlt sich so geschmeidig an, 'ne Schwiegertochter darf man als Papa doch mal anfassen, nicht wahr? Darf sie mal um die Hüfte kriegen, nicht wahr? Jesses nein, was die Alten nicht alles sagen! Und so 'ne junge Frau riecht so gut, sagen sie . . .«
Peter und Barbara sperrten stumm und blaß vor Staunen den Mund auf. Barbara war sogar 318 aufgesprungen. Hubert lachte: »Jaja, die Marie, die hat den Verstand mit Löffeln gegessen. Ich sag' es wie es ist.« – »Nun aber genug!« rief Barbara. »So ein grünes Ding! Und schon so überfaul! Diese Jugend von heute! Begreifst du das, Peter?« – »Nein, so was versteh' ich nicht«, entschied Peter. – »Pst, da kommt er wieder herunter, der Junge . . . !« rief Hubert, an der Tür horchend.
Oben hatte sich eine Tür geöffnet, Alexander stand hoch und schmal darin. »Wie dumpf ist es hier!« dachte er und ging eilig durch den Flur, in dem es nach Wachs, Blumen und den unbestimmten Gerüchen eines alten Hauses roch. Er trat an die Balkontür und öffnete sie, schlug sie aber gleich wieder zu. Draußen lag die Vormittagssonne auf dem Hause und der Straße. »Wie eine Mauer steht das Licht da,« dachte er zusammenfahrend, »eine Mauer mit Schwerterspitzen.« Verhängt mit Teppichwerk waren die Fenster. Er griff mit gekrümmten Fingern an die Schläfen, die weiß, blaugeädert und leicht eingefallen waren, wie es bleigefaßte Kirchenfenster sind. Seine Schläfen schienen durchsichtig, man meinte fast, durch sie in sein Gehirn zu schauen und die Gedanken arbeiten zu sehen. Graf Alexanders Auge fiel auf eine gemalte Ahnentafel, auf der die Familie durch einen Baum versinnbildet war. Ein Schildchen gleich einer Blüte hoch oben am Baum in der Ecke der Tafel berichtete auch von ihm, denn der Vater hatte die Malerei bis auf den Sohn fortsetzen lassen. Für seine Fortpflanzung aber war kein Raum mehr – »Es soll mir ein Sinnbild sein,« dachte Alexander, »daß die Tafel unserer Familie vollgeschrieben 319 ist. Es ist gut so. Warum das Leben fortpflanzen, wenn es sich nur in Kraft und Roheit fortpflanzen läßt. Sie sagen, es sei gesund. Ich danke für diese Gesundheit! Es ist besser, einmal ein Ende zu machen und wenigstens in sich dieses häßliche Leben durch das Denken zu ersticken. Nur das Denken ist schön. Nur die Werke des Gedachten erlösen uns vom Leiden.«
Er raffte sich zusammen – und schon wieder hielt er an. Dunkle Ahnenbilder hingen da an der Wand, verstorbene Herren und Damen Wetter. Da waren Ritter in Perücken und Zierrüstungen, auf denen die spiegelnden Lichter keck aufgesetzt waren. »Die Unzulänglichkeit sucht die Wirkung immer nur im Äußerlichen«, dachte Alexander. Da waren Herren mit spitzen Bärten und in spanischen Halskrausen, die schlau und fröhlich ihren späten Nachfahren anblickten. »Als wenn die Schlauheit nicht im Grunde Dummheit wäre«, dachte Alexander; »die Schlauen auf der Welt können fröhlich sein, die Klugen sind immer traurig.« Da waren geistliche Damen mit Büchern in der Hand und Äbtissinnenstäben, die rund und gesund ihren kranken Namensletzten verständnislos anschauten, und geistliche Herren mit Haarbeuteln und weißen Beffchen. »Auch solche Beruhigungen der armen Seele hat es gegeben«, dachte Alexander. Da waren Damen, tief ausgeschnitten, mit weißer Brust in rotem Scharlach und Samt, die aus gesättigten Augen ihren Blutsenkel anlachten – aber es wurde Alexander übel vom Anschauen, und er führte wieder die langen gekrümmten Finger an die Schläfen. Da war auch ein Bild in der Malweise der Mitte des Jahrhunderts, eine junge Frau 320 darstellend, von der nur Gesicht und Hände erkennbar waren, alles übrige war eingeschlagen und schien im dunkeln Bildgrunde ertrunken. Ein bitteres Lächeln spielte um die Lippen der Dame, die Hände schienen leise zu zittern, und die Augen waren warm und dunkel. Es war, als ob viel hinter ihnen läge, was sich nicht malen noch sagen noch deuten ließe.
»Mutter,« flehte Alexander und rang die geflochtenen Hände, »Mutter, kannst du es mir nicht verraten? Bin ich sein Sohn? Wie oft frug ich dich das! Er ist mir in allem zuwider. Bin ich sein Sohn? Oh, daß ich's nicht wäre! Wie würde ich dich segnen! Warum starbst du so früh? Warum schweigt dein Bild? Und es scheint doch soviel zu sagen! Warum verstehe ich es nicht? Sprich! Sprich! Sieh, ich leide an ihm! Sieh, es ist nicht möglich, daß er mein Vater ist! Sieh, es empört sich alles in mir gegen ihn! Auch du hast an ihm gelitten, das sehe ich dir an. Wieviele Söhne leiden an ihren Vätern, und es muß wohl so sein!« Er lief schnell die Treppe hinunter, seinen Kopf zwischen den Händen, und stürzte in das Zimmer seines Vaters hinein, wie es die Unschlüssigen tun: einmal entschlossen springt ein Selbstmörder mit beiden Füßen ins Wasser. Die große, mit Leder gepolsterte Tür sog sich leise zu.
Die Tür der Bedientenkammer öffnete sich, und die beiden Diener kamen heraus. Nicht um zu lauschen, aber es war möglich, daß einer der beiden Herren seinen Diener brauchte. Da drinnen spielte sich etwas ab, das war »sonnenklar«, flüsterte Hubert, »und man kann nicht wissen . . . ich sag' es wie es ist.«
321 Sie schritten in ihren Filzschuhen auf dem Teppich hin und her, der eine von hüben, der andere von drüben. »Ich sag' es wie es ist,« flüsterte Hubert, als sie sich trafen, »es ist so schwül, daß die Krähen jappen, was, Peter?« Peter runzelte die Stirn, was hieß: »Schweig!« Und es hieß weiter: »Ich lausche nicht, bewahre! Aber vielleicht kann man etwas hören.« Sie nahmen wieder jeder seinen Weg auf. Peter blieb wohl einmal stehen, denn das Alter darf ja seinen Weg mit Pausen machen. Aber hinter der Ledertür war es still wie im Grabe.
Jetzt trafen sie sich wieder. »Ein Kind, Peinkind! sagte meine Mutter,« flüsterte Hubert, »als sie mich mit einem Zwilling zur Welt brachte; aber der andere starb, ich sag' es wie es ist.« Peter runzelte wieder die Stirn und schritt nach einer Pause weiter.
In diesem Augenblick ging die Tür auf und wurde sofort wieder zugezogen, als hätte der Dahinterstehende nur prüfen wollen, ob sie auch wirklich fest im Schlosse stand. Aber gerade fiel der Ruf des Alten heraus: »Verfluchter!«
Peter fuhr zusammen. Hubert aber lachte halblaut: »Liebes Kind hat viele Namen.«
Die Ledertür hatte sich angesogen, und Graf Alexander war ins Zimmer gefallen. »Ich habe mit dir zu reden, Vater!« – »Oho!« fuhr dieser aus seinem Sessel auf, »welch eine Sprache!« Gleich einem Turme stand sein hoher breiter Körper da, er strich wollüstig den weißen Bart und wiederholte fragend und mit Behagen die dreisten Worte: »Was hat der Sohn mit dem Vater zu reden?«
Schon fühlte sich dieser schwach werden und stürzte 322 darum wieder, wie ein Selbstmörder ins Wasser springt, mit wilder Unüberlegtheit in die trotzigen Worte: »Du hast mir nichts zu befehlen! Ich bin erwachsen und weiß, was ich will! Ich lasse nicht mehr mit mir handeln!« Der Vater schwieg, schwankend zwischen einem Gefühle des Unmutes und der Freude über die Entschlossenheit seines Sohnes. Das Schweigen fürchtete Alexander am meisten. Er fühlte, wie seine Knie zu zittern begannen. Er schaffte nun schnell etwas, hinter dem es kein Zurück mehr gab, indem er seine Worte zur Frechheit steigerte.
»Du hast die Mutter mißhandelt!« schrie der Sohn mit verzerrtem Gesichte, denn sein Gesicht war in der Einsamkeit steif geworden. – »Donner und Doria!« brüllte der Alte. »Was zum Teufel ist in dich gefahren? Welcher Satan reitet dich denn?«
Plötzlich, nach diesen beiden Schreien, war es totenstill im Zimmer. Jeder von beiden hielt den Atem an. Eine Mücke summte klingend. Der alte Graf hatte seine Zigarre in die Aschenschale geworfen. Ein Rauchfaden stieg senkrecht von ihr auf, der sich in der Höhe des Mundes der beiden Männer zu winden und zu drehen und gleich einem Kranken sich hin und her zu werfen begann.
Graf Alexander fühlte, wie ihm die Führung der Rede verloren ging. Darum schrie er jetzt drein wie ein Verzweifelter: »Du hast die Mutter gemordet! An deiner Roheit ist sie gestorben! Ich habe es nie gewußt, wie roh du bist, aber ich habe es gefühlt, und darum hab' ich dich immer gehaßt. Ich wollte, ich wär' dein Sohn nicht!«
Schnell griff er hinter sich, denn er meinte, die Tür nicht fest geschlossen zu haben, er öffnete sie und 323 schloß sie wieder; in diesem Augenblick war es, wo der Alte rief: »Verfluchter!«
Aber der alte Graf Wolfgang hatte schwierigere Wortkämpfe in Volksversammlungen ausgefochten gegen gefährlichere Gegner als sein hysterisches Söhnchen da war. »Ruhig Blut!« dachte er, zähmte sich und frug: »Wenn das wahr wäre, was du da tobst, woher hast du diese Ungereimtheiten? Woher dieser wilde Blödsinn?« grollte er auf. »Ruhig Blut!« dachte er. »Setz' dich, mein Sohn«, sagte er in alltäglicher Weise.
Aber Alexander hatte sich schon gesetzt. Er hatte sich im Reden, auf eine Stuhllehne gestützt, unwillkürlich auf die Zehen gehoben, und seine Waden und Fersen waren in ein solches Beben geraten, daß er nicht mehr stehen konnte. Er preßte die zitternden Hände wider die hämmernden Schläfe und hatte die Augen geschlossen.
Graf Wolfgang zündete eine neue Zigarre am »Also,« sagte er jetzt ruhig, »woher diese Einbildungen?« – Alexander stieß ohne aufzusehen hervor: »Das Bild der Mutter . . .«
Sofort ließ Graf Wolfgang die Zigarre sinken. 28 Jahre sind vergangen. Er ist ein junger, auf die Schönheit seiner Frau eitler Mann und läßt sie von einem berühmten Maler malen. Er ist eifersüchtig und wohnt allen Sitzungen bei. Nicht ein Wort können der Maler und seine Frau gesprochen haben, das er nicht gehört hätte. Und doch fühlt er, daß da zwischen dem fremden Manne und seiner Frau eine Beziehung sich knüpft, ein Verhältnis sich webt aus so feinen Fäden, daß er sie nicht greifen kann. Er ist unhöflich gegen den Maler. Aber der Künstler ist 324 unempfindlich gegen die Kränkungen eines Junkers und malt schweigend und emsig weiter. Das ist dem Grafen auffällig. Da muß etwas sein, denkt er, sonst läßt ein Mann sich das nicht antun! Der Maler malt emsig weiter. Er sieht sein Modell an, und das Modell sieht ihn an, denn der Graf ist stolz auf die schönen Augen der Gräfin und will sie in vollem Angesichte gemalt haben . . . Der Graf meint, das Bild sei fertig, aber der Maler sagt: noch lange nicht. Und malt und malt. Und malt eine Ähnlichkeit in das Bild hinein, die sozusagen weit hinter dem Bilde liegt. Obgleich der Graf nichts von Kunst versteht, meint er zugeben zu müssen, daß das Bild immer ähnlicher werde, obgleich durch das lange Malen vielleicht etwas von der äußeren Ähnlichkeit verloren geht. Endlich wird der Maler doch fertig, wird barsch entlohnt, geht und kommt nie wieder. Wetters Freund Hagelstange, damals ein junger Mann, der sich mehr in Museen als im Bankgeschäft seines Vaters sehen läßt, kommt eines Tages, lobt das Bild außerordentlich, sodaß die Gräfin errötet, und sagt, als sie hinausgegangen ist: »Du, Wetter, das ist ein großartiges Bild! Da steckt was dahinter! Nimm dich in acht vor dem Bilde!« Der Graf fragt warum und wieso, aber Hagelstange sagt: »Das verstehst du nicht? Du hast eben kein Kunstgefühl.« Falsche Scham, noch größeren Mangel an künstlerischer Bildung zu verraten, verschließt dem Grafen den Mund. Er fragt nicht und drängt nicht. Doch in der Folge steht er oft vor dem Bilde, aber das Geheimnis will sich ihm nicht enthüllen. Doch war ihm bisher die Kunst gleichgültig, so beginnt er sie jetzt zu hassen, und das Bild bekommt seinen Platz da oben im dunkeln 325 Oberflur als letztes in der Ahnenreihe. Die Gräfin wird bald darauf Mutter und stirbt. Der Graf betrauert sie aufrichtig, er hat sie geliebt, wie er es verstand und wie es seiner Natur gemäß war, einfach und derb, doch die Freude über den Stammhalter macht ihn die Trauer bald vergessen. Nur den Haß auf das Bild hat er behalten und das Mißtrauen gegen die Kunst. Aber er entfernt und vernichtet das Bild nicht, denn er ist tapfer und lacht der Gefahr. Nur der Kunst geht er als einer feindlichen Macht aus dem Wege. Bald darauf stirbt auch der berühmte Maler, und die Stadt will ihrem großen Sohne ein Denkmal setzen. Doch der im Stadtrat mächtige Graf hintertreibt es, und das Mal wird nicht errichtet. Viele Jahre sind seitdem vergangen, und alles ist vergessen: Gräfin, Maler, Bild und Kunst.
Heute aber ist all das Tote wieder da! Mächtig tritt es vor ihn hin. Er ist nicht so lächerlich eifersüchtig, auch nur einen Augenblick zu denken, er könne nicht der Vater sein. Davon ist er fest überzeugt. Er kannte doch seine Frau! Sie war jung, unwissend in die Ehe gegangen, ihre Sinne schliefen, und ehe sie erwachen konnten, war sie tot. Er ist ganz sicher der Vater! Er würde ja diesen Farbenklexer zu Brei geschlagen haben! Er ist ganz sicher der Vater! Aber es beginnt ihm dämmernd aufzugehen, daß es noch eine andere Vaterschaft geben könne als die des Blutes, und »das muß dann wohl in dieser verfluchten Kunst liegen. Der Teufel soll sie holen! Ob daher diese Flatternerven meines Sohnes stammen – ich weiß nicht recht wieso? Und sollte der fremde Farbenschmierer Isabella geistig beschattet haben – ich weiß nicht eigentlich wie?« Eine späte Eifersucht gegen den toten 326 Künstler flammte in dem alten Manne auf, er wurde zornrot und doch verlegen.
In diesem Augenblicke fühlte Alexander, daß ihm die Zügel des Streites wieder zuglitten, und er griff sofort danach. »Ich möchte eigentlich wissen, warum du mich drängst, Fräulein Merlin zu heiraten?« frug er. Der Vater wollte eben auseinandersetzen, daß es an der Zeit sei, und warum nicht, und so fort . . . aber der Sohn unterbrach ihn streng und sagte: »Sag' doch nicht, was ich weiß! Sag', was ich nicht weiß! Für mich willst du es doch nicht, denn du mußt sehen, daß es für mich nicht richtig wäre, eine arme Frau mit meinem verfehlten Dasein zu quälen. Nur deshalb, weil ich der Sohn des vornehmen und reichen Wetter bin? Ist das für eine Frau Grund genug, sich zu opfern? Für dich willst du es, das ist mir klar geworden.«
»Für mich?« frug der Alte verwirrt.
»Es ist dir vielleicht selbst nicht klar, denn ihr gesunden Menschen habt eine Art von Selbstsucht, die schrecklich wäre, wenn sie nicht naiv wäre. Also sag' mir: was willst du von Fräulein Merlin?«
»Ich?«
Alexander fühlte, daß er die Herrschaft ganz in der Hand hatte und ließ sie fühlen in jener rücksichtslosen Selbstsucht, wie sie den Kranken eigentümlich ist. »So will ich es dir sagen, ich habe darüber nachgedacht. Wenn ich aus mir darauf gekommen wäre, Fräulein Merlin zu lieben, und dich um die Erlaubnis bäte, sie zu heiraten, so würdest du wahrscheinlich mit Kaufmannstochter und ähnlichem kommen und tausend Bedenken des Standes geltend machen. Da du selbst sie aber liebst – . . .«
327 Der alte Graf stand langsam auf, die Röte schlug ihm ins Gesicht, er sagte aber nichts. »Du sollst sitzen bleiben,« rief Alexander, »es regt mich auf, wenn du stehst, und ich kann nicht mehr stehen. Setz' dich!« Gehorsam setzte sich der Alte.
»Du liebst sie, wie alte Männer lieben, mit den Augen oder vielleicht mit den Fingerspitzen. Du staunst, denn du hast mich bisher für einen Dummen verschlissen, aber wenn ein Kranker auch fast außerhalb der Lebenden steht und selbst nichts erlebt, so hat er doch Augen zu sehen und Zeit zu denken. Ihr Gesunden seid gewohnt, vor den Kranken zu reden und zu handeln wie ihr in Gegenwart der Kinder redet und handelt, von denen ihr denkt: sie verstehen doch nichts. In eurer Einfalt denkt ihr: das versteht der Kranke nicht. So hast du auch von mir gedacht: mein Tropf von Sohn wird es nicht merken, wenn ich mich an meiner Schwiegertochter mit den Augen ein wenig erhitze und meine alten Nerven kitzele, um zu sehen, ob sie noch reizbar sind . . .«
Der alte Graf seufzte schwer auf, daß es wie ein Schnauben des Zornes aus seiner Nase kam, aber der junge ließ sich nicht beirren und sprach weiter mit einem flammenden verzerrten Gesichte: »Vielleicht, vielleicht gar . . . doch dazu gehören zwei! Vielleicht gar würdest du dich entschließen, sie zu heiraten . . . laß mir ein Glas Wasser geben, ich kann nicht mehr.«
Der Graf drückte auf den Knopf am Tische, die Tür öffnete sich leise, und Hubert trat herein. »Herr Graf befehlen?« frug er leise. – »Ein Glas Wasser!« – »Zu Befehl, Herr Graf!« Er ging und schloß die Tür hinter sich, damit in seiner Abwesenheit Peter 328 nicht etwas hören könnte . . . (aber das Gespräch war verstummt), kam zurück, brachte auf einem silbernen Teller das Glas klaren Wassers, stellte es auf den Tisch, als ob er nicht wüßte, daß es für den schwachen jungen Herrn sei, und frug leise: »Befehlen der Herr Graf noch etwas?« – »Nein!« – Die Tür schloß sich fest, damit die Herren drinnen merken mochten,. daß Hubert wirklich geschlossen habe. Die Ledertür sog an.
Der alte Graf sagte jetzt ganz ruhig: »Ich geh auf alles das, was du gesagt hast, auch auf das Maßlose und Unehrerbietige, mit keinem Worte ein. Du magst recht haben oder nicht, wie's beliebt. Es hätte ja doch keinen Zweck, denn Leute von deiner Art sind starrköpfig und kurzsichtig und jeder vernünftigen Auseinandersetzung unzugänglich. Sie spritzen nur das Gift von sich, womit sie sich in langem Brüten angefüllt haben, dann ducken sie sich und lassen alles stumm über sich ergehen. Zu einem ehrlichen Gefechte sind sie unfähig, mit Worten wie mit dem Säbel, du bist auch nie auf einen Fechtboden gegangen. Aus deinen Worten aber höre ich etwas heraus, was ich bisher nicht wußte, was aber erklärt und entschuldigt: du bist eifersüchtig! Ganz einfach eifersüchtig! Die Eifersucht ehrt einen Menschen, denn sie beweist, daß er Ehrgefühl im Leibe hat, daß er etwas auf sich hält und sich nicht nehmen läßt, was ihm gehört. Du liebst Fräulein Merlin.«
»Ja.«
Wie das Ja entschwunden war, wunderte Alexander sich über das einfache Ja. Niemals sonst würde er es über sich gebracht haben, einem Blutsverwandten ein menschliches Gefühl zu bekennen. Nur in der 329 erhebenden Aufregung des Streites war es möglich gewesen.
»Sieh, das freut mich, Alexander. Ich habe eine Zeitlang geglaubt, du seist dieses Gefühles nicht fähig. Du fühltest so, wie du es mir, wie du es den Alten vorwirfst. Das freut mich, denn nun habe ich die Hoffnung, daß du im natürlichen Leben einer Ehe das finden wirst, was dir zu fehlen scheint. Denn es fehlt nicht, es schläft nur bei dir wie bei einem Mädchen. So ist Hoffnung, daß du einst noch zu dieser verpönten Gesellschaft der Gesunden gehörst, und ich will dir darum vieles vergessen, was Unerhörtes in deinen Worten war. Aber dann begreife ich erst recht nicht den Widerstand gegen diesen Plan. Du liebst sie, sie wird dich lieben, das kann nicht anders sein, die Mädchen aus den guten Familien schlafen meist noch, mußt du wissen, du bist der Graf Wetter . . .«
»Das ist nicht ein Mädchen, wie du es dir denkst. Sie schläft, meinst du, und sie wird aufwachen, wenn der Graf Wetter erscheint und sie mit all seinem Glanze blendet. Du scheinst es so bei vielen Weibern gewohnt zu sein. Nun, die Weiber werden danach gewesen sein. Und übrigens,« brach er kurz ab, »ich habe bei ihr angehalten.«
Nun fuhr der Alte aber auf, und auch Alexander erhob sich, denn das Gespräch neigte sich seinem Ende zu. »Du hast . . . du hast . . .?« rief der Alte freudig. »Nun, und . . . und sie? Was sagte sie?« – »Sie hat mich abgewiesen.«
»Abgewiesen? Nicht möglich!« – »Du hörst es. Vielleicht, wenn's der unwiderstehliche alte Wetter gewesen wäre . . .« höhnte Alexander.
330 »Abgewiesen? Und warum?« – »Ich denke, du solltest den Grund wissen. Du verkehrst genug in der Gesellschaft. Du hast es sicher gewußt. In meine Einsamkeit ist das Gerücht nicht gedrungen. Du hättest mich nicht drängen sollen, weil du es wußtest.«
»Aber ich weiß noch immer nicht, wovon du redest?« – »Das was sich alle erzählen, daß Fräulein Merlin . . . und der junge Herr Großjohann . . .«
»Großjohann? Ist das der Grund?« brüllte der Alte auf. »Aber das ist ja nicht wahr, das ist ja nur ein Gerede, auf das nichts zu geben ist! Diese Schwindler! Diese Hungerleider!« – »Siehst du,« sagte Alexander, »da hast du es, da hat mir dein gräflicher Hochmut eine Niederlage bereitet. Übrigens war es keine Niederlage. Ich will dir davon nur sagen, daß ich mich heute freue. Denn sie hat mir eine Freundschaft eingebracht, die des Fräuleins Merlin und des Herrn Gabriel Großjohann.« – »Wie? Du denkst noch mit ihr zu verkehren? Nach der Abweisung? Und gar mit dem Nebenbuhler? Das ist wider die Ehre!«
»Wenn es übrigens deine gekränkte Eitelkeit beruhigt, so will ich dir noch sagen, daß ich glaube, daß Fräulein Merlin auch nicht den Herrn Großjohann heiraten wird.« – »Nicht?« frug kopfschüttelnd der Alte. »Du sagtest doch, sie sei mit ihm verlobt!« – »Verlobt ist das Wort,« warf Alexander leichthin, »das die Bürger in solchen Fällen brauchen. Ich brauchte es nicht.« – »Verlobt, und nicht heiraten?« rief der Graf. »Also will er das Mädchen ewig hinhalten und verblühen lassen, der Sohn dieses Schwindlers? Das ist nochmals wider die Ehre! 331 Verlobt, und nicht heiraten! Diese Jugend verstehe ich nicht«, schloß er langsam.
Alexander ging hinaus. Sobald die Tür hinter ihm zugefallen war, fing der Alte an zu toben und zu brüllen: »Diese Großjohanns! Diese Prahlhänse! Diese Hungerleider! Ich werde sie zermalmen!«
Graf Alexander wankte durch die Halle. Peter fing ihn auf, und auf die Schulter des alten Dieners gestützt ging der junge Herr langsam hinauf, nahm ein Bad und lag, von der Auseinandersetzung erschöpft, eine Woche, nur seinem Diener sichtbar, zu Bette.
In dieser Zeit stellte der alte Graf sich immer wieder vor, wie die stolze Merlin seinem Sohne den Korb gegeben habe. In seiner fantasielosen Seele verlief die Szene nüchtern und platt und nach allen Regeln. Er fährt hin, er kommt an, er gibt seine Karte ab, streicht während des Wartens mit dem Ellenbogen über seinen Zylinderhut und rückt vor dem Spiegel die Binde zurecht. Da geht auch schon die Tür auf, und das Fräulein tritt herein. Sie würde etwas ahnen und eine leichte Röte der Freude zeigen, aber doch sehr erstaunt tun – oh, er kennt die Weiber! Und der Herr Graf würde sagen: Mein Gnädiges Fräulein! Schon lange brennt mir ein Wunsch in der Seele, dessen Widerschein mir auch auf Ihrem Gesichte geleuchtet zu haben scheint . . . Und so weiter. Was man in solchen Fällen sagt. Sie würde einen Augenblick stutzen, natürlich würde das nur ein künstliches Stutzen sein – lehr' mich nicht die Weiber 332 kennen! Dann würde sie noch mehr erröten und würde sich ihm – – doch nun versagte ihm die Einbildungskraft. Sie würde sich ihm nicht an den Hals werfen und sagen: das ist recht von dir, Schatz. So pflegten die Weiber zu sagen, mit denen er, der alte Graf, Erfahrung hatte. Aber Fräulein Merlin war doch eine Dame der Gesellschaft! Wie gesagt, er wußte da nicht recht Bescheid. Überdies war das ja nicht ihm geschehen, sondern seinem Sohne. Aber nein! Sie hatte ja nein gesagt! Donner und Doria, das Frauenzimmer! Die Kaufmannstochter! Sie hatte nein gesagt! Wie hatte sie das wohl gesagt? Doch nicht so plump: nein, sondern etwa: ich danke sehr für die Ehre, Herr Graf, aber leider bin ich nicht in der Lage . . . ich bin leider schon verlobt . . . »mit diesem Schwindlersohne!« unterbrach der Graf seine magere Dichtung. »Ich werde die ganze Brut zermalmen!« rief er. »Hubert, Hund, wo steckst du? Bring' eine Flasche Rotwein!«
Der junge Graf erlebte zu derselben Zeit auf seinem Ruhebette liegend im Geiste, wie die Szene wirklich verlaufen war. Pfingsten war's, grüne Maien und Birkenreiser standen an der Straße. Blumen lagen auf dem Fahrdamm, freilich zertreten von tausend Füßen, denn die Frühjahrsprozession war umgegangen. Auf diesem bunten duftenden Pfade fuhr er am weißen Hause bei der Frau vor, die er über alles liebte, der ersten Frau, die er auf jenem Feste, wenn auch fast nur von ferne, gesehen und die in seiner vereinsamten Seele einen lichterlohen Brand entzündet hatte. Graf Alexander nickte dem Türhüter 333 zu, obgleich es ihm Mühe kostete, denn es erschien ihm peinlich, daß ein Adliggeborener dem Adligen das Tor öffnete.
»Der junge Graf Wetter!« rief Fräulein Merlin leicht erstaunt aus, als sie ihn den Hof heraufkommen sah. Sie trug ein großblumiges blaugrünes japanisierendes Kleid mit einem gestickten Drachen aus Goldfäden auf der Brust, eine silberne Kette mit Filigrankugeln um den Hals, die bis in ihren Schoß herabhing und mit der sie beim Reden spielte. Der Graf, zu ihr hereingeführt, saß, drehte seinen Zylinderhut in der Hand, schaute zu Boden, schwieg, denn er arbeitete mächtig in sich, sich zu beruhigen, sich aller notwendigen vorbereiteten Worte zu erinnern und seinen Spruch aufzusagen – – da sagte sie mit gewinnendem Lächeln: »Ich freue mich, Sie zu sehen, Herr Graf. Denn ich denke mir wohl, wenn Sie so feierlich kommen, Sie kommen, um –« – »Ja«, sagte einfach Graf Wetter und fühlte, daß es genug war.
Sie schwieg. Leise klirrte die Kette, mit der ihre Hände spielten. Dann sagte sie: »Ich danke Ihnen für Ihr Zutrauen, Herr Graf, und daß Sie es mit mir wagen wollen. Und Sie sind ein Mann, der, so flüchtig ich ihn kenne, unter den wenigen Männern, mit denen ich es vielleicht wagen würde, in Frage käme. Aber – ich habe die Energie nicht mehr, zu heiraten! Die Unternehmungslust nicht. Den Mut nicht. Ich würde es nicht ertragen können, wie das Volk sagt, ›in den langen Rosenkranz gereiht zu werden‹. Ich habe zuviel vom Leben erfahren. Und dann: warum soll man überhaupt heiraten? Ich will nicht mehr tätig mittun, ich will nur zuschauen, was 334 die anderen tun. Sehen Sie, es muß auch Zuschauer geben heutzutage, wo alle in der Welt Mitspieler geworden sind. Aber ich glaube, auch Sie wollen gar nicht heiraten. Sie wollen der Einsamkeit entfliehen. Habe ich recht? Sie denken an die Heirat, weil Sie meinen, es gäbe kein anderes Mittel. Aber gibt es nicht die Freundschaft?« sagte sie sich vorneigend, und ihre langen Hände faßten die langen Hände des Grafen. »Ich bin innig befreundet mit Gabriel Großjohann. Ich würde mich freuen, wenn Sie versuchen wollten, ob Sie zu uns passen, und unsern Kreis erweiterten. Ich glaube, daß Sie zu uns passen.«
Graf Alexander neigte sich auf die beiden Hände nieder und küßte sie. »Sie wissen nicht, Fräulein Merlin, wie Sie mir aus der Seele geredet haben. Meine Seele ist dumpf und einsam, aber manchmal bin ich mir vorgekommen, als sei ich der einzige Mensch! Der einzige, der all das Gleißende und Blöde verachtet, nach dem die Menge rennt. Ich freue mich ehrlich, daß ich nicht bin wie die übrigen Menschen – aber es ist so fürchterlich, Pharisäer sein zu müssen. Es ist so schlimm, von sich selbst allein das Gute zu wissen, man kommt sich sozusagen in Reinheit verworfen vor. Darum empfindet man oft das Bedürfnis, sich in die Menge, in Schweiß und Schmutz zu werfen, nur um nicht so auf der kalten Höhe ausgestoßen zu erscheinen. Darum vielleicht auch wollte ich der Gesellschaft das Opfer einer Heirat bringen, dieser brutalen Besitzergreifung und vielleicht . . . überhaupt . . . nicht ganz sauberen Geschichte. Sie haben das noch viel besser und tiefer empfunden als ich. Ich will Ihr Schüler sein, Ihr Bruder, und – vielleicht, wenn ich es erringe – Ihr Freund! 335 Haben Sie tausendmal Dank! Sie haben mir über mich selbst die Augen geöffnet.«
»Kennen Sie mein Gut, die ›Luft‹? Es liegt draußen auf dem Berge. Dort lebe ich meist. Kommen Sie dahin. Sie werden sehen, wie schön es da oben ist.« – »Haben Sie Dank, holde Frau,« sagte Graf Alexander sich erhebend, »ich komme! Ich komme oft!« 336