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»Die Tragödie ist niemals aufgeführt, oder wenn es geschah, nicht mehr als einmal; denn ich erinnere mich, das Stück gefiel dem großen Haufen nicht; es war Kaviar für das Volk. Aber es war, wie ich es nahm und andere, deren Urteil in solchen Dingen den Rang über dem meinigen behauptete, ein vortreffliches Stück.«
Das Stück, auf das Hamlet hier anspielt, hatte die Ermordung des Priamus und die Verzweiflung der Hekuba zum Inhalt. Und die Stelle, die Hamlet vor allen zu hören wünscht, lautet:
»Doch wer, o Jammer,
Die schlotterichte Königin gesehn,
Wie barfuß sie umherlief, und den Flammen
Mit Tränengüssen drohte; einen Lappen
Auf diesem Haupte, wo das Diadem
Vor kurzem stand, und an Gewandes Statt
Um die von Wehn erschöpften magern Weichen
Ein Laken, in des Schreckens Hast ergriffen,
Wer das gesehn, mit giftigem Schelten hätte
Der an Fortunen Hochverrat verübt.
Doch wenn die Götter selbst sie da gesehn,
Als sie den Pyrrhus argen Hohn sah treiben,
Zerfetzend mit dem Schwert des Gatten Leib:
Der erste Ausbruch ihres Schreies hätte –
Ist ihnen Sterbliches nicht gänzlich fremd –
Des Himmels glüh'nde Augen tau'n gemacht,
Und Götter Mitleid fühlen.«
Und in dem kurz darauf folgenden Monolog sagt Hamlet:
»O welch ein Schurk und niedrer Sklav bin ich!
Ist's nicht erstaunlich, daß der Spieler hier
Bei einer bloßen Dichtung, einem Traum
Der Leidenschaft vermochte seine Seele
Nach eignen Vorstellungen so zu zwingen,
Daß sein Gesicht von ihrer Regung blaßte,
Sein Auge naß, Bestürzung in den Mienen,
Gebrochne Stimme und seine ganze Haltung
Gefügt nach seinem Sinn. Und alles das um nichts!
Um Hekuba!
Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr,
Daß er um sie soll weinen?«
Ich gestehe, mich in dieser Szene noch niemals so mit fortgerissen gefühlt zu haben, daß mir – wie dem Schauspieler – das Weinen nahe gewesen wäre. Was mich in dieser Szene weit mehr fesselte, war das, was Hamlet zur Psychologie des Schauspielers sagt.
Hat mich dieses von Shakespeare aufgeworfene Problem der Schauspielerseele stets zum Nachdenken gereizt, so verhielt ich mich dem Vortrag seines Schauspielers gegenüber, der den Jammer der Hekuba schildert, immer passiv. Wie Hamlet fragte auch ich: »Was ist mir Hekuba?« Ich konnte mich nie für diese Angelegenheit erwärmen.
Diese Gleichgültigkeit der Hekuba gegenüber verliert sich, sobald man die Troerinnen des Euripides in der Nachdichtung von Franz Werfel liest.
Diesen Troerinnen strömte während des Weltkrieges mehr denn je unser ganzes Gefühl zu, denn sie sind eine der erhabensten Kriegsdichtungen aller Zeiten; erhaben durch den reinen Glockenton der Menschlichkeit und durch das reiche Wissen um tiefstes Herzeleid. Unter mehr als hundert Stücken, die den Weltkrieg darstellten, gab es kaum eines, das auch nur annähernd den Anforderungen genügt hätte, die man an ein Bühnenwerk stellen muß. Die Bühne kann sich niemals zum nüchternen Berichterstatter des Tages machen; was aber die meisten zeitgenössischen Schriftsteller in ihren Kriegsstücken boten, war dialogisierte Kriegsepisode, aufgeputzt mit allerlei unwahrem Gefühlsschnickschnack und künstlichem Rankenwerk; aber zuletzt doch nur dieselbe Episode, die man gestern in der Zeitung gelesen hatte. Diese Kriegsschriftsteller erwiesen sich mit geringen Ausnahmen als tüchtige Spekulanten. Sie rechneten damit, daß unser Mitgefühl leicht in Schwingung gebracht werden konnte, wenn sie uns die Greuel des Krieges möglichst nahe auf den Leib rückten. Sie rechneten damit, daß unser Patriotismus selbst durch die verbrauchtesten Phrasen gar leicht zu entflammen sein würde; sie rechneten damit, daß wir alle Väter, Söhne, Gatten und Brüder im Felde stehen hatten, um deren Leben und Gesundheit wir fortwährend zitterten, so daß die Dichter in ihren Stücken nur Not und Pein, Hunger und Durst, Gefahr und Tod, kurz, die entfesselten Furien des Krieges zu beschwören brauchten, um unsere Herzen im Fluge zu gewinnen. Und sie rechneten vor allem damit, durch solche Stücke große Tantiemen zu gewinnen. Aber sie hatten sich verrechnet; denn selbst der naivste Dramaturg durchschaute bald die Absicht: uns Tränen zu erpressen und sich dafür bezahlen zu lassen. Die Troerinnen des Euripides in der Nachdichtung Werfels überragen turmhoch alle übrigen Kriegsdichtungen.
Nicht, daß es bisher an guten Übersetzungen des Werkes gefehlt hätte! Es fehlte nur die Übersetzung, die in der Sprache unserer Tage redete; denn wie die Sitten und Bräuche, so ändert sich auch der Wesensinhalt der Worte und dessen, was sie ausdrücken wollen, fast von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Wir haben Euripides neu erkannt in Ulrich von Wilamowitz-Moellendorfs Übersetzungen, und er ist jetzt ganz unser geworden in der Bearbeitung von Franz Werfel, der uns wieder zu diesem Begnadeten hingeleitet hat. Wir fühlen den von seinen kleineren Zeitgenossen oft Verkannten, den die ganz Großen immer verstanden haben, uns sehr nahe, und noch heute brennt auf A. W. Schlegels Wange die Ohrfeige, die Goethe ihm gab, als er ihn einen »armen Hering« und »unverschämten Scharlatan« genannt hat, weil er dem Euripides zu nahe getreten war.
Liest man Werfels Übersetzung, so bleibt das reine Gefühl, daß hier ein edles kunstdienendes Werk vollbracht wurde. Seine Troerinnen sind eine rückwärts und vorwärts schauende Ballade. Mit einer gewaltigen Sprachkraft hat Werfel das Fieber der euripideischen Diktion noch gesteigert. Sein Atem jagt und fliegt. Hier und da lyrisch verweilend, weiß er auch die feurigsten Rosse vor seinen Wagen zu spannen. Seine Bearbeitung, mit früheren verglichen, drängt nach rücksichtsloser Wahrheit. »Ich sollte meinen,« schrieb Wilamowitz, »daß die Dichtung eine gewaltige Wirkung tun müßte; nicht als archäologische Rarität, sondern auf alle leidlich ehrlichen und empfänglichen Menschen.«
Im vorigen Jahrhundert hatte Wilhelm von Humboldt liebevolles Bemühen auf die Verdeutschung des Euripides verwandt; aber das fertige Werk trug nicht den Stempel des Genies, sondern den des schwitzenden Pedanten. Wilamowitz, der mit höchster Verehrung zu Humboldt aufsah, mußte von dieser Übersetzung sagen: »Wenn ich das lese, so weiß ich erstens: Das ist kein Deutsch; zweitens: Das sind keine Verse; drittens kann ich es ohne den griechischen Text nicht verstehen und viertens sehe ich, wenn ich das Griechische hinzunehme, daß Humboldt dieses nicht verstanden hat.« (Obgleich Humboldt es so gut verstanden hat, wie es damals in Deutschland überhaupt verstanden wurde.) Über die späteren, viel gefeierten Übersetzungen von Donner, Droysen, Minkwitz, Wolzogen, Marbach u. a. urteilt Wilamowitz nicht günstiger, und von seiner eigenen Übersetzung sagt er mit der sachgetreuen Uneigennützigkeit des echten Gelehrten: »Die Irrtümer, die meiner Übersetzung anhaften, sind nur z. T. meine persönliche Schuld; die Wissenschaft weiß es noch nicht besser. Aber über kurz oder lang wird sie mein Verständnis überwunden haben – wie jetzt das von Humboldt. Dann hat auch meine Übersetzung ausgedient, dann verfallen wir der Vergessenheit, und mit Recht.«
Was Werfels Arbeit uns so nahebringt, das ist Knappheit, Festigkeit und männliche Härte. Diese Konzentrationsfähigkeit hat im leidenschaftlich bewegten Dialog Verse von ungeheurer Schlagkraft hervorgebracht.
Obwohl uns von der klassischen Periode Athens ein Zeitraum von mehr als 2300 Jahren trennt, ist es nur ganz wenig, das uns an den Troerinnen des Euripides veraltet erscheint oder fremd geworden ist: ein paar mythologische Dinge, die uns gleichgültig geworden sind; einige zeitbezügliche Verse des Chors, für die uns der innere Zusammenhang fehlt; aber sonst haben die alten Dichter so oft bewiesen, daß sie gerade den Zuschauer unserer Tage zu spannen, zu rühren, zu erheben und bis ins tiefste Herz zu erschüttern vermögen. Denn unser Einfühlungsvermögen ist ein weit verfeinerteres, als die Griechen es je besaßen, die in erster Linie nur auf Schönheit sahen. Wir unterlegen einem Werk, das einige Jahrtausende alt ist, unsere moderne Seele und geben ihm die Glut, die es verlangt. Wir beschleunigen das Tempo, weil unsere Nerven sich auf den feierlichen Schritt der Griechen nicht mehr restlos einstellen können. Um eine Ewigkeitsdichtung zu verstehen, ist es weder notwendig zu archäologisieren, noch sich mit historischer Treue einzustellen. Äußerlich und innerlich fehlen uns auch alle Voraussetzungen dazu: in Athen spielte man unter freiem Himmel. Und gegen den Zuschauerraum des Dionysostheaters gehalten, ist jedes moderne Theater ein Puppenhaus. In Athen wurden alle Frauenrollen von Männern dargestellt. Die Schauspieler trugen charakterisierende Wachs- und Holzmasken vor ihrem Antlitz. Und in Athen bildete die Vorstellung einen Teil des Gottesdienstes. Die Chöre wurden gesungen und getanzt, und ein großes Orchester spielte dazu eine getragene Musik. Man sieht, daß eine große Reihe von Voraussetzungen bei uns nicht zutreffen. Wir spielen nicht griechische Tragödie, sondern die Tragödie eines der größten Griechen, wie wir Nervenmenschen des XX. Jahrhunderts sie empfinden.
Wie über Zweck und Sinn des alten Dramas selbst, herrschen auch über Wesen und Aufgabe des antiken Chors auf der Bühne nur unklare Vorstellungen. Es ist besonders die der »Braut von Messina« vorausgeschickte Abhandlung Schillers »Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie«, die leider sehr viel Verwirrung gestiftet hat. Indem Schiller den Chor als eine Art »lyrisches Prachtgewebe« auffaßt, das die Handlung erklärt, indem er sich den Chor technisch als eine Gesamtperson denkt, hat er gerade das Gegenteil von dem angestrebt, was die griechischen Dichter beabsichtigten. Schiller meint, der Chor »trete mit seiner beruhigenden Betrachtung zwischen die Passionen«. Nach den neueren wissenschaftlichen Forschungen besteht jedoch kein Zweifel darüber, daß überall dort, wo innerhalb der Chorstellen ein »Ich« steht, tatsächlich auch immer ein Einzelner gesprochen hat, und daß gerade jene Stellen zusammen gesprochen wurden, an denen keine »beruhigende Betrachtung« angestellt, sondern ein leidenschaftlicher oder erregter Ausbruch und ein gemeinsames Gefühl zum Ausdruck kommen sollte. Der Chor stellt außerdem immer die Umwelt dar, innerhalb deren eine Handlung vor sich geht, und deshalb wurden die Stücke oft gerade nach dem Chor benannt; z B. Die Trachinierinnen, Die Vögel, Die Frösche, Die Phönikerinnen, Die Grabesspenderinnen, Die Troerinnen usw. Und in der Individualisierung des Chors ging keiner so psychologisch vor wie Euripides. –
Euripides, der jüngere Zeitgenosse des Sophokles, wurde etwa 480 v. Chr. geboren. Die Legende will, daß das Geburtsjahr gerade mit der Schlacht von Salamis zusammenfällt. Seine Eltern: Mnesarchides und Kleito, die eine Zeitlang in böotischer Verbannung leben mußten, ließen sich nach ihrer Rückkehr völlig verarmt in dem Dorfe Phlya nieder, wo sie einen Kleinkram betrieben. Sie gönnten sich selber nichts; was sie ersparen und zusammenraffen konnten, verwendeten sie für ihren Sohn Euripides. Er erhielt eine sorgfältige Erziehung, so daß er an den Götterfesten der Heimat als Tänzer und Fackelträger des Apoll mitwirken durfte. Im Ring- und Faustkampf – sehr wichtigen Erziehungsgegenständen des alten Griechenland – zeichnete er sich besonders aus; er gab die Turnkunst aber bald wieder auf. Die athletische Entwicklung des Biceps war nicht sein Fall; er suchte seine geistigen Kräfte zu entwickeln. Eine auserlesene Bibliothek wurde sein eigen, die er reichlich nützte; außerdem war er Hörer der Philosophen Anaxagoras, Protagoras und Prodikas. Es war geistige Höhenluft, in der er aufwuchs. Sein wohlwollendster Freund war Sokrates, der sonst fast nie ins Theater ging, der aber immer dann kam, wenn ein neues Stück von Euripides zur Aufführung gelangte. Im freien Verkehr mit diesen Philosophen suchte er von ihnen über die höchsten Probleme, die damals die Geister bewegten, Aufschluß zu erhalten. Selber ein Freigeist und eifriger Verächter des alten Götterglaubens, trug er durch seine Tragödien mehr als jene Philosophen zur Verbreitung der philosophischen Aufklärung bei. Darum war es nicht unverdient, wenn ihn die Zeitgenossen einen Philosophen der Bühne nannten.
In der Beurteilung des Euripides spielen seine häuslichen Verhältnisse eine große Rolle. Er war zweimal verheiratet und scheint beidemal mit den Frauen sehr schlechte Erfahrungen gemacht zu haben. Die Skandalgeschichte seiner Zeit hat sich viel mit den Frauen des Euripides beschäftigt. Und da es ihm gegeben war, zu sagen, was er litt, faßte er sein Leid in den Goldreifen der Poesie. Frauenhasser ist er deswegen nicht geworden; dazu stand er allzu hoch über der Situation. Er hatte drei Söhne, von denen der jüngste die hinterlassenen Stücke seines Vaters nach dessen Tod zur Aufführung brachte. Die letzte Zeit seines Lebens war er Gast des musenliebenden Königs Archelaos von Makedonien, der damals die erwähltesten Geister Griechenlands an seine neue Residenz in Pella zu ziehen suchte. In Arethusa bei Amphipolis starb Euripides im Frühjahr 406 v. Chr., 74 Jahre alt.
Auch sein erbittertster Feind, Aristophanes, erkannte bereitwillig an, daß der Tod des Tragikers eine große Lücke in das Geistesleben Athens gerissen hatte. Vor allem war es die hohe sprachliche Kunst des Euripides, die Aristophanes unumwundene Bewunderung abrang. Die Athener ehrten den Toten durch ein Kenotaph, ein Scheingrab, für das Thukydides die Aufschrift gedichtet hatte. Die Porträts des Dichters, die auf uns gekommen sind, zeigen uns einen älteren Mann mit spärlichem Haarwuchs und hageren Wangen; eine grübelnde Physiognomie voll herben Ernstes.
Euripides hat zweiundneunzig Dramen verfaßt; neunzehn davon sind uns noch erhalten. Bei dem athenischen Publikum stand er nicht so in Schätzung wie Aeschylus und Sophokles; erst im neununddreißigsten Jahre errang er seinen ersten Dichtersieg, und der erste Dichterpreis ward ihm im ganzen nur fünfmal zuteil. Er hatte es ja auch nicht leicht. Er trat unmittelbar nach dem Tode des vergötterten Aeschylus auf und stand fünfzig Jahre lang neben dem rüstigtätigen, beliebten Sophokles und zahlreichen anderen Dichtern, die um die Gunst des beweglichen, neugierigen, launischen und kritisiersüchtigen athenischen Publikums buhlten. Neben Aeschylus und Sophokles als der Dritte im Bunde genannt zu werden, das war kein geringer Ehrgeiz. Die dankbarsten Stoffe des Götter- und Heroenmythus waren aber bereits behandelt und erschöpft. Die Vorratskammern der Homer, Hesiod u. a. Dichter waren bis in alle Winkel geplündert. Im Interesse der Neuheit konnte er die vorhandenen Mythen in ihrer einfachsten und darum poesievollsten Gestalt nicht mehr wiederbringen. Er mußte sie umformen, neue Charaktere schaffen, Lokalsagen ausdeuten, vieles neu ersinnen, Widerstrebendes verschmelzen und Andeutungen frei erweitern. Das Publikum, durch die voraufgegangenen Leistungen verwöhnt, lebte auch nicht mehr in dem Schwung und in der Begeisterung der Perserkriege; der sonnige Friedensglanz der perikleischen Zeit war vorüber. Es herrschten die politischen Wirren und Stürme des peloponnesischen Krieges, die den Dichter nicht unberührt lassen konnten.
Erst als Sophokles älter und schwatzhafter wurde, schwang sich Euripides zum bewunderten Liebling der jüngeren Generation auf. Aristoteles nannte ihn den tragischsten von allen tragischen Dichtern.
Spätere Dichter, wie Menander und Philemon, hegten geradezu eine abgöttische Bewunderung für Euripides. Von den Griechen der Folgezeit ging diese Bewunderung auf die Römer über, auf Emius, Seneca u. a., so daß sie alle hauptsächlich Euripides zum Vorbild nahmen. Auch bei den zeitgenössischen Philosophen stand er in höchsten Ehren, und auf die Kunst hat er wie kein zweiter Dichter des Altertums befruchtend eingewirkt. Auch die neuere Zeit hat von den alten Tragikern zuerst Euripides kennengelernt, so daß er vor Sophokles und Aeschylus Eingang in die moderne Literatur fand. Vor allem waren es die Monologe, die stets Meisterstücke der Diktion sind, so daß alle alten Redner diese Monologe zum Studium wählten, wenn sie lernen wollten, wie man mit einfachen rhetorischen Mitteln große Steigerungen erreichen kann. Aus diesen Monologen tönt zuweilen ein Brausen wie von einer unsichtbaren Orgel.
Im Frühjahr 415 v. Chr., etwa ein Vierteljahr bevor die athenische Flotte nach Sizilien aufbrach, um nie wieder zurückzukehren, hat Euripides die Trilogie: »Alexandros«, »Palades« und »Die Troerinnen« aufgeführt. Die drei Tragödien behandeln Stoffe der trojanischen Sage nach der Zeitfolge. Aber diese Heldenwelt, die uns von den Gesängen der Homerischen Ilias oder doch von Schillers schwungvollen Dichtungen oder von Gustav Schwabs »Sagen des klassischen Altertums« bekannt ist, erscheint bei Euripides in entgegengesetzter Beleuchtung. In den »Troerinnen« erleben wir die Vollendung des Unheils, das über das Haus und das Reich des Priamos hereingebrochen ist. Nirgends auch nur ein Lichtschimmer oder ein kleiner Trost oder eine flüchtige Hoffnung. Weder auf Erden noch im Himmel gibt es Gerechtigkeit; selbst die Götter handeln nach persönlichen Motiven. Das ist die pessimistische Lehre der Trilogie.
Der Prolog, der unserem Stück vorausgeht, gehört den Göttern. Es ist eine Art Vorrede, ein naiv aufklärendes Zwiegespräch zwischen Poseidon und Athene, das den ganzen Gang der Tragödie vorauskündet, was die Spannung der Zuhörer unbedingt schwächen muß. Das haben die Alten schon gefühlt, und Aristophanes hat deshalb nicht mit Unrecht Euripides verspottet; auch die Grammatiker haben diese Prologe bitter getadelt. – Hekuba kauert vor ihrer zum Tode verurteilten Stadt, und sie wird die Stufen, auf denen sie liegt, nicht eher verlassen, als bis ihr die Stadt gleichsam über dem Haupte zusammenstürzt. Denn von dieser Stadt kann sie sich nicht trennen; sie scheint mit ihr verwachsen, wie die Wurzel mit dem Erdreich. Sie ist wahrlich nicht die schlotterichte Königin, von der Hamlet spricht. Sie ist immer noch Königin, aber gerade darum wirken ihre Klagen über das steinige Lager, von dem sie sich kaum erheben kann, doppelt eindringlich. Schaudernd zieht sie das grauenhafte Fazit ihres Lebens. Und da liegt die Katharsis für uns: was ist all dein Leid, du Zuschauer, gegenüber dem Riesenleid, dessen Zeuge du sein wirst! – Wir müssen erfahren, wie sehr diese Hekuba ihren Mann, ihre fünfzig heldischen Söhne und Töchter geliebt hat, um die Schönheit ihres gewaltigen Hasses zu verstehen, der sich gegen die launischen, wetterwendischen Götter richtet, die sie so tief gedemütigt, so schwer getroffen, sie zur Sklavin des Odysseus gemacht haben, die ihr alle Kinder weggerissen haben, so daß sie nun dasteht wie ein einsamer, völlig entblätterter Baum, der seine kahlen Äste gleich flehenden Armen zum schweigenden Himmel emporreckt. – Wir werden nur zum Miterleben der Endkatastrophe geladen. Hekubas Tragödie ist längst abgeschlossen. Es ist nur, als ob sie sich noch einmal sammelte, um noch einmal ihr grausenvolles Wehe zum stummen Himmel hinaufzuschreien. Welch ein reiches Übermaß bitteren Leids hat die Gramgebeugte bereits hinter sich, wenn sie dumpf und drohend ihre Klage anhebt. Denn daß sie der eigenen Leiden mitgedenkt, das macht sie nur menschlicher und bringt sie uns näher. Dann ruft sie die troischen Frauen herbei, all die gefangenen Mütter und Jungfrauen, die sich wie die Küchlein um Hekuba scharen, um von ihr zu erfahren, wohin man sie verschleppen und welche Zukunft ihnen bevorstehen wird. Und jede – je nach Temperament und Art – hat andere Fragen, andere Sorgen, die sie alle Hekuba aufbürden. Sie ist der Becher, in den alles Leid geschüttet wird.
Die nächste große Szene gehört der Seherin Kassandra, der Tochter Hekubas, die Apollo mit prophetischen Gaben begnadet hat. Sie stimmt keine Klage an über das verlorene Vaterland; sie empfindet vielmehr eine wilde Freude darüber, daß sie ihr Vaterland an seinen Zerstörern schwer rächen wird. Es verletzt unser Gefühl, daß diese Kassandra erklärt, die Troer hätten trotz ihres Unterganges ein besseres Los gezogen als ihre Überwinder. Das sind Paradoxa, die uns mahnen, daran zu denken, daß Euripides ein Schüler des Sophisten Protagoras war. Seine Zeit erfreute sich an solch spitzfindigen Trugschlüssen. Neben Hekuba und Kassandra tritt der Herold Thaltybios, der sich durchaus als guter Mensch, aber als gehorsamer Diener seines Herrn darstellt, der also getreulich ausführt, was ihm aufgetragen ist, wie sehr er es auch mißbilligt. Nichtsdestoweniger erfährt er von Kassandra die bitterste Abfertigung. Für Euripides waren die Herolde gemeine Bedientenseelen, die er mit einem seltsamen aristokratischen Hasse verfolgt hat, weil diese unfreien Beamten tatsächlich die Geschäfte der athenischen Demokratie führten. Im Stück hat Thaltybios jetzt die Aufgabe, das Schicksal der jüngsten Tochter Hekubas, Polyxenes, doppeldeutig vorzubereiten und den Troerinnen ihr Los zu verkünden. Er läßt Kassandra sich austoben und führt sie dann aufs Schiff seines Herrn. Und mit dem mächtigen anschwellenden Klagelied der Hekuba schließt diese Szene.
Die folgende gehört der Andromache. Schon Homers Ilias hat der Gattin Hektors die Züge der Frau verliehen, die in dem Manne ihrer Liebe und in seinem Sohn Astyanax ihre ganze Welt sieht. Euripides hat an diesen Motiven nichts geändert; er hat sie nur klug und höchst dramatisch ausgenützt. Von Andromache, die mit ihrem Söhnchen auf dem Beutewagen herbeigefahren wird, erfährt Hekuba den Tod ihrer jüngsten Tochter Polyxene, erfährt, daß man Andromache mit Peitschen in die neue Ehe zwingen will. Und da nur ihre maßlose Liebe zu Hektor diesen Haß des Feindes entfesselt hat, beneidet sie die Toten. Aber Hekuba hat die Kraft, die Tochter auf den Weg der Hoffnung und des Lebens hinzuweisen und sie zur Fügsamkeit zu mahnen. Euripides erreicht dadurch den Anschluß an das, was für die Zuschauer der tatsächliche Fortgang der Geschichte war. Daß in Hekuba zuletzt die Hoffnung aufflammt, es könnte vielleicht doch noch zu einer Herstellung des Königshauses der Priamiden kommen, wenn nur ihr Enkelsohn Astyanax von Andromache erzogen würde, geschieht nur um des dramatischen Kontrastes willen und um eine tragische Steigerung zu erreichen. Denn kaum ist diese Hoffnung ausgesprochen, so erscheint der Herold und fordert den Knaben, dessen Tod die Griechen verlangen, eben weil die Hoffnung Hekubas eine beständige Furcht für die Griechen sein muß. Die nun folgende Szene, in welcher der Zorn über die Ermordung des Knaben Astyanax zum Ausdruck kommt, gehört mit zu den stärksten in der Weltliteratur. Hier sprechen nur scheinbar die Troerinnen; hier ist die eigenste Empörung des Dichters, der in schreckensvoll anklagenden Worten den hohen hellenischen Ahnen nachschreit, daß sie ihr Siegergefühl und auch ihr Angstgefühl vor der Zukunft im Blute eines Kindes ertränkt haben: »Die Griechen töten Kinder, die sie fürchten!« Es ist die bitterste Beschuldigung, wie denn überhaupt die Szenen um den todgeweihten und toten Sohn des Hektor von äußerster Stärke sind.
Menelaos ist gekommen, um Helena nach Hause zu holen, wo er sie hinrichten lassen will. Er behauptet es wenigstens; vollkommen darf man jedoch diesem Menelas nicht trauen, selbst wenn der feindliche Ausgang dieses Ehezwistes nicht bekannt wäre. Die Helena des Euripides ist auch nicht wie die Goethesche ein mythologisches Symbol; sie ist vielmehr von Fleisch und Blut, und eben deshalb glauben wir nicht, daß dieser Menelas Helena wirklich töten wird. Er bramarbasiert ein bißchen, rasselt mit seinem Schwert, und als betrogener Ehemann macht er ein entsprechend finsteres Gesicht; du lieber Gott, das gehört sich ja auch so und ist der Situation durchaus angepaßt. Aber man fühlt, wie überlegen ihm diese Helena ist. Hier lernen wir Euripides als Realisten kennen. Seine Helena ist eine schlaue Kokette, die die Künste des Männerfanges gut versteht. Eine ihrer Künste ist die sophistische Beredsamkeit. Sogar im Gefangenenzelt hat sie eine Toilette angelegt, die ihre Reize gehörig zur Geltung bringt. Wenn sie vor dem Menelas des Euripides steht, weiß sie, daß es um ihr Leben geht, oder sie tut doch so, als glaube sie das. Sie wird sich hüten, ihn mit Treuschwüren oder ähnlichen Sentimentalitäten zu bombardieren; das zieht nicht mehr bei ihm, der schon ein paarmal darauf hereingefallen ist. Dafür hat sie die Frechheit, sich als verkannte Unschuld hinzustellen. Sie sei ein Opfer der Götter, sagt sie. Was kann ich dafür, meint sie, daß Aphrodite mich dem Paris versprochen hat? Götter müssen doch wohl anstandshalber ihr Versprechen halten! Und ferner: Was kann ich dafür, daß Hekuba diesen Paris zur Welt gebracht hat? Hätte sie ihn gleich nach seiner Geburt umgebracht, dann wäre er nicht groß geworden, ich wäre dann nicht mit ihm durchgegangen und du wärst mein geliebter süßer Mann. Drum sei wieder gut! Und weiter: Wenn du deine junge hübsche Frau mit einem jungen hübschen Mann allein läßt und wegreisest, so bist du für die Dummheiten verantwortlich, die ich begehe. Daß sie so reden kann, zeigt, wie sie ihren Gatten einschätzt. Und erst als sie merkt, daß auch diese Frauenlogik nicht zieht, wird sie frech und behauptet, wenn er, Menelas, jetzt als Sieger hier stehe, so sei das ihr Werk; denn ihr allein danke man den Untergang Trojas. Sie tut ein übriges, die Schmeichelkatze, und fällt dem Sieger zu Füßen. Menelas fühlt sich; er brüllt ihr zu, daß sie sterben müsse. Ha! Du mußt sterben! Sie tut ihm den Gefallen und glaubt es, läßt ihn den Helden spielen und geht ruhig aufs Schiff. Sie weiß, wenn sie mit ihrem Helden erst allein ist, wird er den starren Panzer ablegen, und dann wird sie ihn um den Finger wickeln. Und die Troerinnen wissen das auch; darum schicken sie ihr den Fluch nach, daß der Blitz in das Schiff einschlagen möge, das Helena davonträgt.
Was nun noch folgt, ist ein gewaltig gesteigerter Epilog. Hekuba darf ihren Enkel Astyanax im Schilde Hektors bestatten – das ist eine Erfindung des Euripides, die nichts mit der Sage zu tun hat, die aber den Zeitgenossen sehr gefallen hat – und zugleich findet Hekuba noch einmal Gelegenheit, die ausgesponnenen Gedanken wieder aufzunehmen, die Götter anzuklagen, die siegreichen Achäer – die Griechen – zu verhöhnen und sich in dem Stolze zu trösten, daß der Untergang Ilions der Stadt die Unsterblichkeit sichere.
»Wir aber werden durch Gezeiten wachsen
Und rächen uns an den Unsterblichen
Durch Unsterblichkeit.«
Und tatsächlich ist ja die Prophezeiung im Munde Hekubas wahr geworden; die Götter Griechenlands sind längst tot, aber die Troerinnen leben.
Aber der Dichter entläßt uns nicht, ohne uns über die Jahrtausende hinweg eine sehr ernste Mahnung zuzurufen, die die höchste Auffassung bekundet, die man vom Leben haben kann und die wir nicht eindringlich genug hervorheben können. Der pessimistische Euripides verlangt nämlich von seiner Hekuba, daß sie nach all den unerhörten und grausamen Leiden, die sie erduldet, weiterlebe. »Hier ist nicht mehr ein Recht zum Tod! Seht her, so nehme ich mein Leben an die Brust und trag's zu Ende.«
Das kann nur heißen, daß wir, wenn wir zuweilen glauben, die Qual nicht länger mehr tragen zu können, sie dennoch ergeben auf uns nehmen und zu Ende tragen müssen.
Die Dichtung ist zu Ende, aber nicht das Theaterstück. Euripides braucht ein Finale, das auch dem Auge des Zuschauers gerecht wird; als Dramatiker brauchte er einen effektvollen Schluß. Und der ist durch die Situation selber gegeben. Ilion, das während des ganzen Dramas gleichsam in bedrohlichem Dämmerlicht dalag, Ilion muß jetzt in Rauch und Flammen aufgehen, und in einem bestimmten Augenblick muß die Väterburg zusammenstürzen. Die Welt geht unter in Sünde und Schande. So hat es der Dichter gewollt; aber das Warum bleibt ein psychologisches Problem.
Der Pessimismus, die Resignation und die Trostlosigkeit, die aus dem Werke sprechen, zeigen uns nur, wie es in der Seele des Dichters ausgesehen hat. Rein als Dichter schuf er. Und die Wirkung ist gerade darum so zermalmend, weil er kein Tendenzstück wollte. Er warnt nicht, daß das unterbleibe, was nach aller Voraussicht doch kommen muß. Er weiß nur was kommen wird und muß es künden, wie seine Kassandra; das zerreißt seine Seele. Aber man hat ihm so wenig geglaubt, wie ihr. Und wenn alle Welt nach dem Gewitter, das am Himmel stand, einen neuen, herrlicheren Tag zu erleben hoffte, fühlte Euripides das Kommen des Jüngsten Tages.
Dennoch fragt man sich, wie durfte Euripides es wagen, seinem Volke ein Stück vorzuführen, worin er Sympathie für die Feinde fordert? Er fordert sie einfach, weil sie die Leidenden sind. Des Siegers Ruhm wird von selbst weitertönen, aber derer in Ehren zu gedenken, die heldenhaft fielen, und der Frauen, die schuldlos von den Höhen der Throne in die Tiefe der Sklaverei sanken, das ist das Amt des Sängers. Mitzuleiden ist das höchste Ehrenamt des Dichters, und es bleibt durch alle Sprachen und Jahrhunderte bestehen. Aber Euripides hat noch mehr gewagt. Er hat die Götter und Helden ihres Nimbus entkleidet. Er prüft diese Götter auf ihr Gewissen, und sie scheinen ihm eitle, rachsüchtige, neidische, heimtückische, feige Menschen; mit allen kleinen und großen Lastern der gemeinen Sterblichen behaftet; als Menschen, die vor keiner Moral bestehen könnten und am wenigsten vor dem einzigen Gott, den er erkannte: vor dem in der Menschenbrust. Aristophanes hat ihn dafür denn auch als Erzieher zur Gottlosigkeit und Unsittlichkeit oft genug denunziert. Vor dem Strafrichter mochte Euripides sich noch sicher fühlen, die Unpopularität hat er nie gefürchtet, und jetzt trieb ihn das edelste Gefühl in den Dienst der Wahrheit und der Freiheit, ja, man darf sagen: der höheren und reineren Auffassung der göttlichen Dinge.
Einige Monate nach der Aufführung der Troerinnen trieben die Eiferer und Demokraten Alkibiades durch einen Gotteslästerungsprozeß auf den Weg des Vaterlandsverrats. Euripides hatte auch mit ansehen müssen, daß sein Freund und Lehrer, der Philosoph Protagoras, der in höchsten Ehren siebzig Jahre alt geworden war, plötzlich in Athen wegen Gotteslästerung angeklagt und, da er klug genug war, zu fliehen, geächtet wurde. Geächtet ward der greise Dichter Diogoras. Die souveräne Demokratie bedrohte das freie Wort; selbst das Denken war nicht zollfrei. Man fühlt es Euripides nach, daß er es unter diesem Volke nicht aushalten konnte; man begreift, daß er sich, wenn auch mit Schmerzen, von seiner Heimat loslösen mußte und daß er, der der religiösen und politischen Heuchelei nicht das Wort reden mochte, zuletzt es vorzieht, Athen und Griechenland zu verlassen, um bald darauf in Makedonien zu sterben.
Er war zweifellos einer der unruhigsten Köpfe des alten Griechenlands. Seine Gedanken sind immer zu Pferde. Er scheint von einer fieberhaften Hast gejagt; eine trostlose, friedlose, Götter und Menschen, Güter und Genüsse verachtende Stimmung beherrscht ihn. Zugleich ist er von einer erstaunlichen Schaffenskraft beseelt und voll Kühnheit. Ein unermüdliches Gieren nach neuen Aufgaben und neuen Lösungen treibt ihn von Werk zu Werk. Eine immer junge Empfänglichkeit und Frische für alles Neue, das um ihn her aufkommt, macht ihn unter allen seinen Zeitgenossen zu dem jüngsten der Schaffenden. Man kann sich kaum genug tun, um diese Menschenseele zu schildern, der es möglich war, eine lange Reihe so widerspruchsvoller Werke zu gestalten. Er hat Szenen geschrieben, die sich in ihrer vollendeten klassischen Schönheit in dramatischer Wirkung und poetischer Formvollendung oft weit über Sophokles und Aeschylus erheben. In der Feinheit der Charakteristik, besonders in der Ausmalung des Seelenlebens und der Leidenschaften ragt er über alle seine Zeitgenossen hinaus. Auch im Aufbau seiner Dramen zeigt sich oft ein wahrhaft genialer Blick. Als vielbelesener Mann konnte er seine Personen über alle Dinge geistreich sprechen lassen; in treffenden Sentenzen wie in feierlichen Prunkreden, in lebhaftem Dialog wie in wohlüberlegtem Selbstgespräch; in allen Tonarten der Ruhe und der Leidenschaft, der Freude und des Schmerzes. Er verstand es, Schuld und Leiden nach ihren rein menschlichen Beziehungen klarzulegen, mit erschütternder Wahrheit zu malen und Schauder und Grausen, Mitleid und Trauer mit hinreißender Gewalt auszulösen. Und besonders gut weiß er um die Frauenseele Bescheid. Hierin hat er zahlreiche Berührungspunkte mit den Modernen. Diese Richtung seines Talents führte Euripides von selbst darauf, das weibliche Gefühlsleben, weit mehr als es bisher geschehen war, dramatisch auszubeuten, Frauenrollen in den Vordergrund zu rücken und gelegentlich auch ein ausschließlich erotisches Problem zum Hauptmoment des tragischen Konflikts zu machen. Auffällig vor allem ist der Kampf, den der Dichter für die sittliche und gesellschaftliche Emanzipation der Frauen kämpft. Und diesen Dichter nannte man einen Frauenhasser! Ich spreche nicht von Medea, Alkestis, Andromache, Hekabe, Hippolytos und anderen Werken, die laut dagegen zeugen. Wer diese Hekuba in den Troerinnen geschaffen, das hinreißende Denkmal ins Herz getroffener Mutterliebe, hat in der Frau auch das Ehrwürdige entdeckt. Doppeltes Zeugnis, daß er ein alles verstehender Dichter war, indem er neben die Hekuba die Helena stellt; neben die Würde die Unwürde; neben den rettungslosen Schmerz die freche Geschmeidigkeit. Wie denn Euripides überhaupt den Geist der Tragödie ins allgemein und endgültig Menschliche emporhebt. Und hätte er ein volles Maß des endgültig Menschlichen nicht im Herzen getragen, dann wäre er längst ein sehr toter Dichter und unwert des mehr als zweitausendjährigen Ruhms.
Die Legende berichtet, daß der Blitz dreimal in sein Grab eingeschlagen hätte. Die Pharisäer von dazumal sagten, der Himmel hätte den Gottlosen gezeichnet; die anderen erwiderten, das heilige Feuer hätte erst die irdische Ruhestätte geweiht. Der Mann, dessen Leib dort in Staub zerfiel oder von himmlischen Flammen verzehrt ward, das war jedenfalls nicht mehr Euripides. Euripides ist der Geist, der in seinen Dramen unsterblich lebt und wirkt. Diese Dramen lassen die Jahrhunderte über sich hingehen, und jedes Geschlecht setzt sich in Liebe oder Haß mit ihnen auseinander. Alle aber spüren die lebendige Kraft der Menschenseele, die diese Werke in sich trug.