Rudolf Presber
Der Rubin der Herzogin
Rudolf Presber

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Drittes Kapitel.

Es war sehr wahrscheinlich, daß Mister Hobsen das für Spanisch einschätzte, was er mit dem Polizisten am Aufgang zur Arena de Toros von Barcelona sprach. Kloppenbusch hielt sich dicht bei ihm und bewunderte ihn sehr.

Der Polizist aber blickte unter seinem dunklen Filzhelm mit fragenden, stechenden Augen auf den lebhaften Sprecher, während seine rechte Hand wie beschwörend in die Höhe fuhr, der nachdrängenden Menge auf der dunklen Treppe einen Aufenthalt gebietend. Sein knallroter Ärmelaufschlag leuchtete wie ein Feuerzeichen über die dunklen Köpfe, die Hüte und Kappen der unwirsch Verweilenden. Murren und Flüche drangen aus der Tiefe zu den Herrschaften der Schiffsgesellschaft empor, die, auf Hobsens Gewandtheit und Sprachkenntnis vertrauend, halb freiwillig, halb geschoben, den Dialog des Amerikaners mit dem Spanier umdrängten.

»Es riecht hier gräßlich nach Kühen«, seufzte Elisabeth Hunneberg, wurde aber von Kreuzwendedich von Reubke, der ihren Mantel und ihren Pompadour trug, dahin belehrt, daß der üble Duft jedenfalls aus den Ställen der Stiere käme.

»Also das ischt eine Gemeinheit!« protestierte Otto Häfele. den ein kräftiger Schub der nachdrängenden Menge von Anna getrennt hatte. Ein Arrangement, das auf der Reise bis hierher noch nie beobachtet worden war.

»Wir werden Ihnen die Frau Gemahlin gut aufheben«, tröstete Bergemann lachend, der mit Erich, in den er sich vorsorglich eingehakt halte, von der rücksichtslos schiebenden und auf die Fremden schimpfenden Menge zwischen das Paar gedrückt worden, und, eingekeilt, wie ihm vorkam, in eine Wolke von Knoblauch, Zigarettendunst, Knochen und alten Kleidern, kein Glied rühren konnte. Auch nicht den Kopf wenden. Er hörte nur an der Stimme, daß es Herr von Öltzendorff sein mußte, der ihm immerzu auf die Hacken trat; denn seine Stimme beklagte jetzt zum soundso vielten Male den Verlust seines Spazierstocks mit goldener Krücke, den er sich deutlich erinnere, aufs Schiff mitgebracht zu haben, und der vorhin beim Aufbruch in der Kabine nicht zu finden war.

Viktoria von Öltzendorff aber sang ein Loblied auf die preußische Polizei, die denn doch einen Menschenandrang wie diesen ganz anders bewältigte. Und sie kam in einem nicht recht verständlichen Übergang auf Friedrich Wilhelm I., den Soldatenkönig, zu sprechen, unter dem ein Öltzendorff Oberst in Spandau und eine Zeitlang sogar Mitglied des Tabakkollegiums gewesen sei. Mitteilungen, die auf einer Treppe zum großen Fronleichnamsstierkampf in Barcelona weder die Eingeborenen noch die Fremden besonders interessierten.

»Also der Wurstelprater am Pfingstsonntag ist eine menschenleere Wüste gegen so eine Hetz«, äußerte Schwammerl zu Herrn und Frau Bankdirektor Tiegs, auf die er von hinten heftig aufgeschoben worden war, ohne auch nur seine Hände im Gedränge freizubekommen, um das ihm tief in die Augen gerutschte Steirerhütel zurechtzuschieben, nach dessen neckischer Spielhahnfeder ein übel aussehender kragenloser Jüngling aus einiger Entfernung in kunstlosem Übermut Orangenkerne spuckte.

»Du hast hoffentlich die Brieftasche mit unsrem Kreditbrief auf der ›Astarte‹ gelassen?« Frau Tiegs sah bei diesen wohlbedachten Worten den Gatten mit einem Blick an, der diese Anfrage für jeden Physiognomiker dahin deutete: Wir hätten überhaupt dieser Proletenansammlung fernbleiben sollen!

Arthur Mücke, der sich, seit sie die Droschken verlassen, dicht hinter Tilly Schuch gehalten und bei diesem wilden Geschiebe die Molligkeit ihrer früher aus der Ferne gewürdigten Körperformen nachzuprüfen Gelegenheit hatte, litt unter dem peinlichen Gefühl, daß sich hinter ihm ein alter Spanier am Rückenteil seines neuen Sommerüberziehers emsig die Nase rieb.

In dem Augenblick, als es schon niemand mehr erwartet hatte, gab der Polizist vorn den Weg frei. Grölend, kreischend, drohend, lachend wälzte sich der mißduftende Menschenstrom in die Höhe und riß das Päcklein gut gekleideter Fremder, die den Stierkampf sehen wollten, mit herauf.

Wie ein Triumphator stand Hobsen oben und wies mit einer weit ausholenden Armbewegung stolz, als ob er diese Arena für fünfzehntausend Menschen persönlich geplant und eigenhändig gebaut habe, auf den imposanten Rundblick. Aber ehe noch irgendeiner diesem Genuß sich hingegeben, hatte die Vehemenz eines kräftigen Nachschubs, der aus dem Treppenaufgang quoll, die ganze Gesellschaft, wie wacklige Bleisoldaten, durch- und gegeneinander geworfen. Instinktiv herdenartig drängten sie nun alle hinter dem Leittier Hobsen her, der mit der schönen Sicherheit eines hier Bescheid Wissenden, die bunten Einlaßkärtchen krampfhaft in der Hand, im Zickzack über die als Sitze dienenden riesigen Steinstufen kletterte, zwischen würdig thronenden Frauen in Mantillen, ernst mit verschränkten Armen stehenden Hidalgos, hingeflegelten üblen Mützenträgern, zwischen Kindern und Greisen hindurch einer hochgelegenen Reihe zustrebte.

In der Erregung dieser ungeahnten Kletterei durch eine teils friedlich, teils ironisch gestaute Masse hatte sich der Zug seltsam genug zusammengesetzt. Kloppenbusch, der überzeugt war, daß die Hälfte aller hier Anwesenden gefährliche, einen Mord nicht scheuende Anarchisten seien, entfernte sich nur ungern von den bewaffneten Polizisten. Er hielt sich jetzt beim Aufstieg an Mücke in der dunklen Ahnung, daß dieser Jüngling sicher einen seiner scharf geladenen Revolver zur Verteidigung bei sich trage. Grabusch hatte Elisabeth Hunnebergs Hand gefaßt und zog sie in etwas gewaltsamer Galanterie hinter sich her, während Otto Häfele, in der beglückenden Überzeugung, sein geliebtes Annale zu einem sichern Sitze zu retten, der sehr empört dreinschauenden Frau Tiegs Handgelenk gefaßt hatte und sie zu Schritten und Sprüngen nötigte, die dem Stil dieser Weltdame durchaus nicht entsprachen. Anna Häfele aber folgte, bange Blicke den Enteilenden nachsendend, mit Reubke, der mit Elisabeth Hunnebergs nachschleifendem, hermelinbesetztem Mantel viel Schererei hatte. Hinter Bergemann und Erich beschloß Schwammerl den seltsamen Zug und versicherte, während ihm der Schweiß unterm Steirerhütel hervorbrach, seiner spanischen Umgebung immer wieder kläglich, daß er kein Steinbock sei und an solchem Gespringe über meterhohe Stufen nicht das bescheidenste Vergnügen habe. »Und das alles nur,« schloß er seine empörten Monologe, »damit wir einen Ochsen abstechen sehen. Nit zu glauben!«

Endlich waren alle oben und saßen. Erich, zwischen Tilly und Bergemann, hörte nicht auf das erregte Geplauder Reubkes und Schwammerls hinter ihm, die sich der etwas erhitzten, aber in ihrem mattblauen Sommerkleid mit den wehenden weißen Federn auf dem kokett gekniffenen Strohhut sehr hübschen Tilly Schuch um die Wette angenehm zu machen suchten. Er sah auch nicht, wie Frau Tiegs in ihrer gemessenen Art den vom Aufstieg sehr blassen Gatten tadelte, daß er sie ohne Widerrede von dem Schwaben habe entführen lassen; sah nicht, daß Otto Häfele, zerknirscht über seinen Irrtum, Anna Häfele innig die Hand drückte und ihr mit allen Zeichen der tiefsten Reue an Eides Statt versicherte, daß nur die Aufregung eines Stierkampfes in Barcelona solche unerhörte Verwechslung entschuldige und daß ihm ähnliches daheim in Cannstatt das ganze, hoffentlich recht lange Leben hindurch niemals passieren werde.

Erich sah nur das Gesamtbild. Sah die Arena, das Volk, das Fremdartige, Spanien. Kopf an Kopf in der weiten Runde eine unruhige, leidenschaftliche, von der Erwartung bewegte Menschheit. Nur hoch oben die große, in grünen Girlanden prangende Mittelloge war noch leer. Die Reklamen da unten leuchteten grell von der die untersten Sitzreihen vom Kampfplatz abtrennenden schokoladenfarbenen, schützenden Bretterwand. Im gelben Sand in der Tiefe bunte Punkte, blitzendes Metall der Pauken und Trompeten. Eine Musikkapelle spielt da unten: aber was sie spielt, ist kaum zu hören bei dem Lärm, der einem gigantischen Bienenschwarm zu entsummen scheint. Blitzende, hüpfende Farbenflecke im Grau der Zuschauermassen: Fächer, blau, orange, rotgelb, in den bewegten Händen der Frauen. Ein paar grellrote Schirme über schwarzen Köpfen. Und ganz oben schlaff im Mittag hängende Fahnen.

Voll ist's zum Erdrücken: und durch das dominierende Spanisch schwirren die Laute anderer Kultursprachen. Ein paar Engländer in ihren hellen Sportanzügen photographieren kaltblütig. Ein Trüppchen Marokkaner in weißen Burnussen hockt ernst und schweigend beisammen. Jetzt stemmen sich dort am Eingang auf halber Höhe die Polizisten mit breiten Rücken der anbrandenden Menge entgegen, die noch in die überfüllte Arena nachdrängen will.

Über allem liegt hell und grell die Nachmittagssonne. Sie läßt die Reklameplakate aufdringlicher schreien: »Annis« – »Annis del tampi!« Sie badet die blutroten und grasgrünen Zettel in Licht, die von oben her, Anpreisungen tragend, über die tausend, tausend Köpfe wie trunkene Schmetterlinge flattern. Sie blitzt aus dem echten und falschen Schmuck der Damen. Sie läßt das Gold der Orangen leuchten, die, von fabelhaft sicheren Bubenhänden unten aus dem Sande geschleudert, hoch oben in einer Reihe den brüllenden Käufer erreichen, der seine Kupferstücke dafür den nacktfüßigen Bengeln herunterwirft.

Bergemann sprach stehend über Tilly Schuch hinweg mit Mücke. Einen Augenblick streifte Erichs Auge die Gruppe. Ihm fiel wieder der Kontrast auf zwischen der ungemachten natürlichen Vornehmheit des alten Herrn und dem forcierten Dandytum des Jungen, der sein glattrasiertes, absichtlich auf interesselose Blödigkeit eingestelltes Gentgesicht über den hohen Kragen vorfallen ließ, als ob diese Rübe mit der Dreimillimeterfrisur dem langen, dünnen Hals zu schwer wäre. Was Bergemann, den schlichten und klugen Mann, von Zeit zu Zeit immer wieder zu diesem leeren, bummelnden Gecken hinzog, war Erich unerfindlich.

Kloppenbusch glaubte sich der Gesellschaft angenehm zu machen, indem er ein abscheulich blaues Programm hervorzog, das er unten mit einem Silberstück königlich bezahlt hatte. Es befanden sich darauf neben sehr vielem Gedruckten die kleinen und großen Porträte der heute in der Arena zu erwartenden Matadores de Toros, die in ihrem überladenen Zunftkostüm mit Dreispitz und Zöpfchen operettenhaft, aber ganz passabel aussahen, während man sie auf den beigegebenen Medaillons im Zivil einfach für Schlächtergesellen am Sonntag hielt. Womit man ja von der Wahrheit nicht eben weit entfernt war.

Kloppenbusch las nun, da er aufgeregt war und sich irgendwie nach Betätigung sehnte, aus dem Programm das ihm wichtig Scheinende vor: »Saldrán a pedir la llave, montando preciosas jacas andaluzas, las gentiles y popularisimas coupletistas La Goyita y la Tirana tomarán parte en dicha extraordinaria becerrada actundo de auxiliares banderilleros, rejoneadores, puntilleres, monosabioso ó mulilleros siguientes diestros: Matadores de Novillos . . .« Er verstand natürlich kein Sterbenswort von dem, was er ohne jedes Talent für die Aussprache herunterlas; und die umsitzenden Spanier hatten mehr Vergnügen davon als die Damen und Herren seiner Gesellschaft, die nicht zuhörten und die Gläser auf die große Loge richteten.

In dieser girlandenverzierten Mittelloge erschienen jetzt, vom Publikum lebhaft begrüßt, drei elegante spanische Damen in weißer Mantilla, hinter sich ein paar Herren, die trotz der Mittagshitze Frack und schwarze Krawatte angelegt hatten, und einige Offiziere in Uniform. Alle benahmen sich sehr wichtig und bewußt.

Kloppenbusch, der die ganze Veranstaltung schon vor ihrem Beginn mißbilligte, äußerte sich dahin, wenn er eine vornehme Spanierin wäre, würde er sich andere Vergnügungen aussuchen, anstatt hier zu erscheinen, um Rindvieh abmetzgern zu sehen. Was die Damen in der Loge, die von Kloppenbuschs Mißbilligung nichts wußten, nicht abhielt, sich am Rande der Loge anmutig und selbstsicher zu verneigen und lächelnd ihre Tücher und Blumen auf den Sammetrand der Logenbrüstung zu legen. Dieses mußte ein Zeichen irgendwelcher Art gewesen sein, denn das Gekreische, Gepfeife, Gejohle der erhitzten Menge begann von neuem. Die Kapelle, die jetzt über dem Eingang zu den Ställen angestrengt musizierte, hätte aufhören können, sich zu mühen; denn es hörte kein Mensch einen Ton von ihren Übungen.

Jetzt schwoll der Lärm ins Ungemessene, bekam aber eine deutlich vernehmbare Jubelnote, die vorhin gefehlt hatte.

Auf schwarzen, kleinen Pferden ritten zwei ganz in Gelb und Seidenflitter gekleidete Reiter von links her in die Arena, parierten ihre Tiere, indem sie ihnen mit rohem Ruck die Eisen ins Maul rissen, und senkten kurze Lanzen grüßend vor den Damen.

»Als ob sich die Kerle in Eidottern und Fischschuppen gewälzt hätten«, gab Kloppenbusch nicht ganz unrichtig seinen Eindruck dieser ritterlichen Erscheinungen wieder.

Wieder eine Musikkapelle in Uniform. Dahinter auf armseligen Kleppern, denen die Todesangst schon durch die fellüberzogenen Knochen zu flattern scheint, die Picadores mit den ahnungsvoll umwickelten Beinen. Als Farbflecken schön, aber lächerlich in ihrer altspanischen Rittertracht, die von den elenden Rosinanten, die sie reiten, übel absticht. Hinter ihnen zu Fuß mit wiegenden Ballettschritten die Banderilleros. Ihre gelben Strümpfe leuchten, und unzählige bunte Bänder hängen an ihren sehnigen Leibern herum, wie von einem Kirchweihbaum. Einige tragen die grellbunte seidene Schärpe, die später den Stier äffen und wütend machen soll, nachlässig über dem Arm; andere schleifen sie gar ein wenig im Sande nach. Alle schicken ein kokettes Lächeln über die lückenlos vollgepfropften Reihen des Amphitheaters hinauf zu der bevorzugten Loge.

Jetzt ein ohrenbetäubendes Gebrüll und Getrampel . . .

Kloppenbusch kneift, um etwas zu tun, seiner Erregung Herr zu werden, den Bankdirektor Tiegs in den Arm, daß dieser ärgerlich protestiert. Elisabeth Hunneberg beugt sich atemlos weit vor, so daß sie fast auf des vor ihr sitzenden Schwammerl grünem Steirerhütel liegt. Tilly Schuch ist sehr blaß geworden; und Grabusch überlegt, wie das erst werden soll, wenn die Stiere nun wirklich kommen, und . . . schließlich haben die Damen doch kaum die Seekrankheit überwunden. Und man sitzt so dicht wie die Datteln in einem Versandkistchen aneinandergepreßt, und er hat unvorsichtigerweise seine beste Sommergarnitur angelegt.

»Aha – die Espadas!« Bergemann hat früher in Gibraltar und Kadiz schon Stiergefechte mitgemacht und ist eigentlich nur mitgegangen, um Erich Gesellschaft zu leisten, den er vom Standpunkt mitteleuropäischer Kultur auf Abscheuliches vorbereitet hat. Der theatralische Einzug aber mit seinen hellen Farben, tänzelnden Pferden, wehenden Seidentüchern und blitzenden Toledoklingen erfreut sein Auge, so sehr er sich gegen den Zweck dieses Aufmarsches auflehnt.

»Aha – die Espadas«, wiederholt Kloppenbusch, sieht aber dabei gar nicht in die Manege, sondern auf zwei gestikulierend und scheltend, kletternd und stolpernd sich bahnbrechende Menschen, die in der Richtung der Schiffsgesellschaft, mühsam und von den Verwünschungen Getretener und zur Seite Geschobener begleitet, ohne jede Ähnlichkeit mit Espadas, hinanstreben. Ritter von Scupinsky und Selma, die ganz in Himmelblau gekleidet ist und einen ihrer kühnsten Hüte trägt.

»Wir haben Glück!« ruft Scupinsky schon von weitem kordial über die erregten Köpfe der Spanier weg den Bekannten zu. »Wir werden berühmte Matadoren erleben: Machaquito, Fallo, Cocherito – sehen Sie« – zwischen Grabusch und Reubke hat er seinen Lackstiefel gesetzt und erklärt gereckt, den Feldstecher am Auge, Tilly Schuch mit dem vom Zigarettenrauchen gelben Zeigefinger auf einen der eben, den Degen in der Rechten wippend, den seidenbezogenen kleinen Stab in der Linken, einziehenden Espadas weisend: »Der mit der spitzen Nase – das ist Machaquito, der voriges Jahr zweimal in Sevilla von einem andalusischen Stier auf die Hörner genommen wurde!«

»Um Gottes willen!« Tilly Schuch wird noch um eine Nuance blasser. Sie denkt sich das schrecklich, wenn heute wieder ein Stier ihn auf die Hörner nähme. Sie sucht den Espada mit der spitzen Nase. Was muß doch dieser Scupinsky für Augen haben! Sie sieht da unten überhaupt keine Nasen. Und sie überlegt sich blitzschnell, daß es vielleicht später ein Vorteil sein mag, wenn man da unten nicht alle Nasen und alle sonstigen Details sieht.

Selma begrüßt Mücke mit großer Herzlichkeit und äußert in ihrem forcierten, immer etwas unechten Vorstadt-Wienerisch: »Ja, es wird scho a Hetz werden. Also wir haben ja in Sevilla und Madrid die Sachen scho mitg'macht. Aber für die Herrschaften, die wo's z'erstemal sehn, is so was scho unterhaltlich.«

Und schon hatte die Unterhaltlichkeit da unten begonnen. Die Musikkapelle war im Laufschritt links verschwunden. Würdig, mit kokett wiegenden Schritten, hatten sich die Espadas angeschlossen, die mit dem Beginn des Schauspiels und seinen holden Neckereien nichts mehr zu tun hatten. Das ernste Ende gehörte ihnen.

Von oben aus der Mittelloge war aus der Hand einer der weißen Damen in weitem Bogen der schwere Schlüssel zum Stall in den Sand der Arena geflogen. Unter dem wilden Beifall der Zuschauer sprengte einer der Picadores heran, hob geschickt mit der Lanzenspitze den Schlüssel auf, galoppierte an das Tor gegenüber und reichte ihn über die Holzschranke den wartenden Stallburschen. Auf dem riesigen weißen Ziffernblatt über dem Stall wiesen die Zeiger auf fünf Minuten nach halb vier.

Mit kurzen Galoppsprüngen, zornig mit dem Schweif schlagend, den Kopf mit den geschwungenen Hörnern spielerisch gesenkt, flog staubwirbelnd der erste Stier in die Arena. Stutzt in der grellen Sonne, in dem schwarzen, von Feinden wimmelnden Ring der Mauern, hebt die breite Stirn und zieht die Luft in zitternde, witternde Nüstern.

Die Eisen am Gurt, über den zurückgerissenen Hals des Gauls gekrümmt, ist der Picador aus der Mitte des Sandkreises dem stutzenden Tier an die Seite gesprengt. Ein Stoß. Ein feiner spritzender Blutstrahl aus der getroffenen Schulter des Stiers. Schon ist das Pferd brutal auf der Hinterhand herumgerissen. Aus heißer Kehle kurz und abscheulich aufschreiend, sein grellrotes Tuch, wie besessen, schwenkend, hat einer der Banderilleros, auf flinken Schuhen den gelben Streifen zwischen Pferd und Stier durchlaufend, den Verwundeten gereizt, irre und blöd gemacht. Der Stier stößt aus dem Stand mit furchtbarer Hörnergewalt nach dem neuen Feind, der den gut trainierten, schlanken Leib mit krampfhaftem Lachen zur Seite wirft. Wie eine leuchtende Welle von Rot bauscht sich die geschickt geworfene seidene Schärpe um die Stoßwaffe des geblendeten Tieres.

Das Publikum jubelt, applaudiert, rast. Ein paar Orangen fliegen von oben herunter.

»Tennis denk' ich mir angenehmer«, sagt Kloppenbusch, der seine Finger von der Aufregung feucht werden fühlt und mit einem Taschentuch abwischt.

Tilly hat die Augen geschlossen und fragt ganz leise den dicht bei ihr sitzenden Kreuzwendedich: »Hat er ihn getroffen, Herr von Reubke?«

»Nein, bloß das Tuch.«

»Eine Geschicklichkeit wie jede andere . . . Sport ist Sport. Bestimmte Regeln . . .« Mücke ist unerschüttert von der großen Leistung.

»Wenn man vergißt, daß das da unten zufällig ein Stier ist . . .«

Erich brummt leicht geärgert etwas vor sich hin. Nur Bergemann versteht es: »Und wenn man vergißt, daß das da oben zufällig ein Ochse ist . . .«

»Pscht, lieber Freund!« Bergemann beschwichtigt. Er kennt diese Erregung, diesen aufsteigenden Zorn gegen das kulturwidrige Spiel da unten, der sich leicht in Gereiztheiten gegen Umsitzende entlädt.

»Hallo!«

Ein Ruf, gemischt aus Staunen, Schrecken, Empörung. Wer ihn in der Gruppe ausgestoßen, weiß keiner. Alle denken ihn mit.

Von dem zweiten Picador gereizt und ins Schulterblatt gepickt, hat der Andalusier blitzartig, den täuschenden Banderillero, der sein rotes Tuch schwenkend anstürmt, nicht abwartend, den kurzen massigen Körper herumgeworfen. Drei kurze Galoppsprünge – ein wütender seitlicher Stoß. Der Picador hat noch rechtzeitig das umwickelte Bein aus dem Steigbügel hochgeworfen. Auch der Gaul ist noch nicht getroffen.

»Is ja nix g'schehn!« äußert Selma mit Enttäuschung und ordnet die Blumen an ihrem geräumigen Busen.

»Ach – das hätten Sie sehen sollen,« rühmt Scupinsky, »in Sevilla – überhaupt Sevilla! –, da hab' ich ein Stiergefecht gesehen. Gleich beim ersten Stoß der erste Gaul tief in die Weiche getroffen. Ein Blutstrom, wie ein Kinderarm so dick, dunkel, schießt dem rotgefärbten Horne nach. Die Hinterbeine des Gauls knicken zitternd ein. Der Reiter haut die Sporen wie in Holz . . .«

»Eine verdammte Viecherei!« Grabusch vergißt die gesellschaftlichen Formen. »Wenn wir's schon, Gott sei Dank, nicht sehen, brauchen Sie's uns doch nicht noch zu erzählen!«

Die Damen sitzen, wie gelähmt von diesem Programm, das sie erwartet. Elisabeth Hunneberg hat den Mund weiter geöffnet als jemals in einer Wagnerrolle; aber kein Ton dringt aus den entsetzten Lippen. Frau Tiegs lehnt sich mit gesenkten Wimpern an ihren Gatten, dem auch nicht wohl ist und der was drum gäbe, wenn er jetzt auf der Margareteninsel in Budapest Kaffee trinken könnte, anstatt in dem verdammten Barcelona in der Bruthitze die Brutalitäten eines Stiergefechts zu erwarten.

Nur Selma, die mit Scupinsky einen Blick des Verständnisses getauscht, vermag die sportliche Leistung einzuschätzen: »Gut hat er's gemacht damals in Sevilla, was? A bisserl später aus 'm Bügel, der Picador – und die Waden wär' futsch g'wesen.« Sie blickte dabei über gemalten Augenwimpern interessiert auf die blassen Gesichter der Damen. Und es ist, als ob auch den Ritter von Scupinsky mehr die Wirkungen seiner Erzählung auf die Gesellschaft, als der Sport da unten interessiere. Das Glas hängt im Futteral vor seiner weißen Weste. Er drehte seinen gewichsten Schnurrbart in den gelben Fingern. Sein Auge begegnet abermals einen Moment dem listig glitzernden Blick Selmas, und ein ganz leises, zustimmendes Kopfnicken schien eine Art Verständigung zwischen den beiden herzustellen.

Niemand sah das. Denn eben schwenkten da unten wieder die Banderilleros wie rasend ihre Tücher, sprangen rufend, sich duckend und wieder aufschnellend um das breitbeinig stutzende Tier. Aber der Stier von Barcelona scheint kein Vetter des Stiers von Sevilla zu sein. Er steht da unten, sehr breitbeinig, sehr erstaunt, sehr dumm, die ersten Banderillas im Fell, und betrachtet aus glotzenden Augen die Chulos, die ihn wie Irrsinnige umtanzen und den Moment abpassen, um ihm ihre buntbebänderten Holzstäbchen, blitzschnell zwischen die Hörner hindurch, in den Nacken zu setzen.

»Warum toben die Bestien so?« Erich fragt es ganz aufgeregt und ohne Rücksicht, ob einer der umsitzenden, wie närrisch sich gebarenden Spanier Deutsch versteht.

»Sie pfeifen den Stier aus – er ist ihnen zu feig. Er greift nicht an.« Auch in Bergemanns Stimme zittert der heiße Abscheu.

Mücke sucht sich Haltung zu geben, aber er ist sehr bleich. Er pfeift leise vor sich hin: »Auf – in den – Kampf – To-re-ro –«

»Fällt Ihnen nichts Dümmeres ein?« raunzt Grabusch wütend und sieht ihn dabei an, als hege er große Neigung, ihn durch kräftigen Wurf da unten an dem von ihm gepriesenen Kampf zu beteiligen.

»Wir hätten doch lieber direkt nach England reisen sollen«, äußerte Viktoria von Öltzendorff zu ihrem Bruder, der gerade die siebente Natronpastille mit unsicheren Fingern in den Mund schiebt, da ihm die sechs ersten das Gefühl intensiver Übelkeit nicht genommen haben.

»Ich sehe nicht mehr hin«, haucht Tilly Schuch mit geschlossenen Augen.

Kloppenbusch billigt diesen Entschluß. Er würde sich ihm anschließen, wenn er nicht Hobsen zehn Peseten für den Platz bezahlt hätte. Und schließlich – zehn Peseten – dafür kann man in Deutschland drei lange Opern hören oder fünf Klassikervorstellungen am Nachmittag sehn – und für solches Sündengeld bloß die Augen zumachen . . . Was der Deutsche bezahlt hat, das genießt er . . .

»Der Espada!« Hobsen, der einzige in diesem Kreis, der dem spanischen Sport etwas abgewinnt, schwenkt seinen Hut.

»Das fehlt auch noch! Setzen Sie Ihren Deckel auf!« ruft Grabusch wütend.

Der Espada, untersetzt, etwas krummbeinig, kahlköpfig, in glänzendem, knappsitzendem Seidenkostüm, goldene Münzen am Hals und einen blitzenden Brillant in der kurzen roten Krawatte, ist mit eitlem Lächeln in den Kreis getreten. Er läßt den schmalen Stahl seines Degens in der Sonne glänzen. Das schillernde Seidenfähnchen der Muleta wirft er wie prüfend hin und her, sieht befriedigt an seinen unschönen Beinen hinunter wie ein Tänzer, ehe die Musik zum Ballett beginnt, und wirft ein schmalziges Lächeln nach der Loge. Dann sucht er, wie eine zerstreuter Professor seinen Schirm, den Stier mit den Augen und geht, da ihn sein Blick gefunden, lässig auf ihn zu.

Das Tier ahnt nichts Gutes. Mit schiefem Kopf beäugt es den Herannahenden, der ihm sichtlich aufs äußerste mißfällt.

»Er wird ihn töten!« zittert Tilly und hält den kleinen Papierfächer vor die Augen, der in Berlin bei Wertheim einen Groschen kostet, und den Mücke stolz für sie um zwei Peseten erstanden hat.

»Dann hören Sie schon auf!« brummte Grabusch wütend.

Das ist auch des Stieres Ansicht. Er macht eine knappe Wendung und trottet in einem kurzen, vergnügten Trab dem Stalltor zu, das er zu seinem Erstaunen geschlossen findet. Sein Schwanz geht wie das Pendel einer Uhr.

Der Espada scheint wütend. Man hat ihn zu früh gerufen. Um das Hinterteil eines Stieres zu besichtigen, steht er hier goldstrotzend im Sande . . .

Die Menge tobt. Der Stier soll kämpfen! Der Feigling soll sich wehren! Soll angreifen!

Noch einmal beginnen die Banderilleros ihre Neckerei.

Gespickt mit bunten Spießchen, überbauscht von wehenden Bändern und Papierschlangen, wendet sich das Tier um – begreift endlich die Feindseligkeit aller dieser Unternehmungen, sieht auf, sucht, rafft sich zum Angriff zusammen, und mit geschlossenen Augen, die Hörner wie zwei Bajonette gefällt, rennt es, unbelehrt von all den äffenden Lappen, die sein Horn schon statt der Gegner traf, gegen das flatternde Tüchlein der Muleta. Der Espada schnellt den Körper zur Seite. Im Augenblick, da der Stier unter dem vorgestreckten linken Arm, unter bewimpelten Stäbchen durchrennt, sticht ihm der Fechter mit sicherem Stoß den Degen in den Leib.

Händeklatschen, Zurufen, Hüteschwenken. Wie die Tollhäusler gebärden sich lobende junge Leute rings um die Fremden. Kinder werden hochgehoben von ihren Eltern, den verendeten Stier, den lächelnd danebenstehenden Espada zu sehen.

»Weischt, Otto, wir hätte am End in Cannstatt bleibe solle«, sagte Anna Häfele dicht am Ohr des Gatten. »Wenn ich mir denk, daß am End . . .« Sie sagt nicht, was sie sich denkt. Aber es sind Erwägungen, die sich auf eine folgende Generation beziehen. Sie hat gehört, daß gute Eindrücke, so die Mutter empfängt, oft nicht ohne mitbestimmenden Einfluß bleiben. Und der Besuch eines spanischen Stierkampfes ist für ein weibliches Wesen, dessen furchtbarster Eindruck bis jetzt die Wolfsschlucht in der Stuttgarter Oper gewesen ist, entschieden zu widerraten in Fällen . . .

»Für einen Augenblick Herr der Welt« – Grabusch ist's, der diesen größenwahnsinnigen Traum äußert –, »und ich würde die ganze Bande da um uns herum auspeitschen lassen. Ich, der ich gegen die Prügelstrafe geschrieben habe.« Er verfolgte den Gedanken eines sich literarisch betätigenden Herrgotts noch weiter, aber niemand hörte auf ihn. Da unten in der Arena haben Knechte in roten Blusen drei prunkvoll geschirrte Pferde vor den toten Stier gespannt, und mit Peitschenknallen unter dem jubelnden Zuruf der begeisterten Masse ist der Zug hinter der schokoladefarbenen Wand, hinter den Reklamen von Annis ins Dunkel verschwunden.

»Wollen wir nicht gehen?« Eine der Damen hat's gesagt.

»Wollen – wollen wir schon, bloß können können wir nicht«, hat Kloppenbusch ganz im Sinne der andern geantwortet. Menschenmauern schließen uns ringsum ein. Man müßte auf Leiber und Köpfe, auf Kinder und Greise treten, um zu entkommen. Und auf Anarchisten – denkt Kloppenbusch schaudernd; und das Gebrüll, das eben wieder einsetzt, übertönend, hört seine erhitzte Phantasie Revolver knallen.

Brüllender Beifall aus tausend Kehlen begrüßt den zweiten Stier, der mit großen Sprüngen hereintobt, den gewaltigen Kopf mit den lyraförmig geschwungenen Hörnern schüttelnd, als ob er in einen Hornissenschwarm geraten wäre.

Im nächsten Augenblick muß etwas Häßliches in der Wolke Staub da unten geschehen sein. Keiner weiß, was. Aber die Phantasie der Westeuropäer arbeitet.

Frau Tiegs hat sich mit geschlossenen Augen, als erwarte sie ein Blitzlicht, an Öltzendorffs dürren Arm geklammert, von dem sie annimmt, daß er ihrem Gatten gehört, Schwammerl hat, statt in seine Haare, wie er wohl vorhatte, grausam in sein Steirerhütel gegriffen und zerwühlt die Spielhahnfeder. Kloppenbusch hat den Kopf tief hinter Bergemanns Rücken gebeugt, damit er auf seinem Platz für zehn Peseten ja nichts sieht, und hält sich zur Vorsicht noch die Ohren zu, da er der Ansicht ist, daß es jetzt von irgendwoher gleich schießen müsse.

»Pfui Teufel – ich bleibe keinen Augenblick mehr! . . . Ich fahre zu meinem Vergnügen auf See und nicht, um spanische Schweinereien mit anzusehn!« Grabusch ist aufgesprungen. Auch die andern hatten sich erhoben. Tilly Schuch ist aber sofort mit einem kleinen schrillen Aufschrei zusammengesunken. Sie ist ohnmächtig.

»Scupinsky!« Selma kreischt's hinüber zu dem Polen, der gerade mit einem Lächeln, das sein knochiges Gesicht nicht veredelt, eine Zigarette anzündet. »Frau Schuch ist in Ohnmacht gefallen! Scupinsky, hilf doch . . .«

Scupinsky horcht auf und wirft die Zigarette weg, um die sich alsbald zwei spanische Jungen balgen. Schon ist er bei Tilly und stützt sie mit Hilfe Reubkes und Schwammerls, während Selma der blaß und schlaff in dem Arm der Herren Hängenden eine stark riechende Essenz ins Gesicht spritzt.

Ein quittengelber Polizist ist, wie aus dem Boden gewachsen, in der Gruppe. Hobsen bewirft ihn aufgeregt mit spanischen Vokabeln. Der Spanier verständigt sich schreiend und gestikulierend über die Menge weg mit einem vier Reihen tiefer stehenden Kollegen. Mit Püffen und Tritten machen die beiden, aufeinander zu arbeitend, eine schmale, quer nach dem Ausgang und der Treppe zu führende Gasse frei.

Im Gänsemarsch steigt die ganze Gesellschaft durch die höhnenden, lachenden, schreienden Menschenmauern hinab. Jeder froh, daß der Anfall dieser nervenschwachen Dame ihm Gelegenheit gibt, diesem Schauspiel den Rücken zu kehren.

Scupinsky, Reubke und Schwammerl tragen Tilly. Hobsen mit den Polizisten voran, Selma dicht bei ihr. Sie hat der Ohnmächtigen den Hut abgenommen. Das schöne blonde Haar leuchtet wie Gold über dem blutleeren, schmal gewordenen Gesichtchen in der Sonne. Als ob man eine tote Königin durch den stumpfen Mob trägt, denkt Erich im Hinabsteigen. Sein letzter Blick streift noch ein paar tote Gäule in der Arena; streift wehende rote und blaue Seidentücher und gelbseidene Strümpfe, die in Ballettsprüngen über Blutlachen im Sande hüpfen. Das letzte Wort, das sein Ohr auffängt, ehe sie den Ausgang erreichen, ist nicht spanisch, sondern deutsch. Es ist Kloppenbuschs klägliche Stimme, die es spricht: »Und wenn man denkt, daß ich das Billett zu dieser Fahrt in der Lotterie gewonnen habe!«

Wie sie in den Wagen von der Arena de Toros durch die sonntäglich belebten Straßen, wie sie zum Kai und auf das Schiff gekommen, wußte später niemand mehr recht.

. . . Umgekleidet und aufatmend, nachdem der Druck des Erlebnisses von ihnen genommen, standen Erich und Bergemann, dem Kai abgekehrt, an der Reling des Promenadendecks und schauten über den Hafen.

Von den Passagieren waren wenige zu sehen. Die Ungarn kamen gerade lärmend aus der Stadt zurück und verteilten sich in ihre Kabinen. Der zweite Offizier ging im Tropenkhaki mit dem Agenten plaudernd auf und ab. Unbeweglich saß die alte Engländerin, die fleißige Penelope, auf einer Bank in der Abendsonne und stickte.

Die beiden Herren sprachen nichts. Das ruhige Gesamtbild, dieser Friede der sanft und gleichmäßig schaukelnden kleinen Wellen tat ihnen wohl, beruhigte langsam ihre gemarterten Nerven.

Kleine Boote gleiten im kühlen Schatten des weißen Schiffes langsam vorüber. In einem sitzen Soldaten und singen stumpfsinnig zum Rudertakt vor sich hin. Blaue Kappen mit roten und grünen Streifen hängen ihnen verwegen schief auf dem Kopf, wie deutschen Studenten das Zerevis. Ein ganz junger Mann, die Hemdbrust offen, rudert spritzend eine träg in ihrem Fett thronende Padrona im Sonntagsstaat vorbei. Am Steuer sitzen zwei geschminkte Mädchen, Granaten im blauschwarzen Haar, und werfen sich lachend Orangen zu. Breite Kähne mit viel schwatzender, lachender Jugend gleiten dicht, ganz dicht an den schon erleuchteten Schiffsluken hin. Man hört's dem Gekicher der Fahrenden an, daß da allerlei Intimes zu erspähen ist, Damen bei der Toilette, Herren beim Rasieren vielleicht . . . Segelboote segeln lautlos, scheinbar unbedient von Menschenhänden, goldene Wegspur hinter sich lassend, vorüber und verschwinden in einem letzten Leuchten hinter dem dreitorigen massigen Grau des Schuppens der Compania Transatlantica. Dort drüben auf hoher kahler Felswand, wie eine rötliche Schlange, liegen die riesigen Mauern von Montjuich, in dem Ferrer erschossen wurde.

»Beppo Marlettino, unser famoser Friseur, hat wieder das Richtige getroffen!« Bergemann sprach es so aus seinen Gedanken heraus, während er in die Wölkchen am Horizont sah, die langsam der Abend rötete. »Er hat einmal gehört, sagt er, daß es Leute gibt – in Indien oder wo – die an Seelenwanderung glauben. Das ist Blech, sagt er. Aber immer, wenn er in Spanien ist und von Stiergefechten erzählt wird – er hat nur einmal eines angesehen, in Kadiz – dann wünscht er: er könne das auch so glauben. Dann kämen die Picadores, meint er, als Gäule wieder auf die Welt und die Espadas als Stiere – und das wäre eine herrliche, eine wundervolle Rache an diesen dummen Bestien in Menschengestalt, die, geputzt wie die Weiber, für ihre rohen Tierquälereien pro Nummer mit tausend bis zehntausend Peseten bezahlt werden.«

»Von einer Nation, die in Afrika Kultur verbreiten darf.«

»Das ist nicht so merkwürdig. Aber von einer Nation, aus der Calderon und Cervantes hervorgegangen!«

Kloppenbusch, der sich für das kommende Diner schon einen vom Koffer reichlich zerdrückten schwarzen Rock angezogen hatte, in dem er sehr schwitzte – einen Smoking besaß er nicht – hatte die letzten Worte Bergemanns gehört. »Erst durchprügeln und dann hinrichten sollte man die Kerle!« stimmte er in wieder aufflammender Entrüstung bei; wobei er allerdings als Kandidaten für diese Prozedur in erster Linie Calderon und Cervantes meinte, die er sonst nicht kannte und in diesem Zusammenhang scharfsinnig für spanische Stierkämpfer hielt. »Übrigens,« fügte er hinzu, »unsere Damen haben sich gottlob rasch erholt. Fräulein Hunneberg –« er stockte, gedachte Fritzchens, des lieben Jungen, den er eben damit beschäftigt gefunden hatte, aus einer Konservenbüchse, einigen aus einem Korsett seiner Mutter gezogenen Fischbeinen und vier Topfdeckeln ein Automobil zu konstruieren, und er verbesserte sich: »Frau Hunneberg prominiert bereits wieder auf dem Sonnendeck mit ihrer gewöhnlichen Suite. Frau Tiegs hat sich, als ich vorbeiging, gerade ein Bad bestellt . . . Frau Häfele diktiert ihrem Gatten im Schreibzimmer entrüstete Ansichtskarten über Spanien. Selbst schreiben kann sie nicht. Es hat ihr ein spanischer Don oder Grande in der Arena auf den kleinen Finger getreten. Und Fräulein von Öltzendorff läßt sich von ihrem Bruder aus den angekommenen Zeitungen vorlesen . . .«

»Richtig, die Post muß ja an Bord sein!« Erich schämte sich ein wenig, daß er über der Flut der neuen Eindrücke ganz vergessen hatte, daß ein Brief seiner Mutter bei dieser Post sein konnte. Er bat, ihn zu entschuldigen, und eilte nach dem Glaskasten an der Tür zum Speisesaal. Dort hoffte er mit etwas unsicheren Gefühlen den nachträglichen Segen der Mutter zu seinem raschen Entschluß und der Meerfahrt zu finden.

Vor dem Glaskasten fand Erich den Kapitän im Gespräch mit Hilde. Die beiden versperrten den Zugang, so daß Erich höflich wartend gezwungen war, ihr Gespräch mit anzuhören.

Das joviale Gesicht des Kapitäns zeigte eine ernste Stirnfalte, und seine wasserblauen Augen blickten ohne Fröhlichkeit, als er sagte: ». . . Ja, liebes Kind, ich kann Sie doch nicht so ohne weiteres da hinten in den Luxuskabinen durch eine andere Stewardeß ersetzen . . .«

Hildes Stimme klang bescheiden, aber doch dringlich, als sie lebhaft einfiel: »Doch, Herr Kapitän – es wird schon gehen, wenn der Herr Kapitän wollen. Die Stewardeß vom Bootsdeck, die Engländerin, hat sich bereit erklärt, mit mir zu tauschen.«

»Die Rothaarige? Die wittert die großen Trinkgelder. Wenn sie sich da nur nicht schneidet . . . Also grob ist Ihnen die Edle von Scupinsky geworden?« Und als ob er den ironischen Ton bedauerte, mit dem er die »Edle« leise angetuscht, fügte er ernst hinzu: »Damen, die mit der Seekrankheit kämpfen, sind eben nervös, nicht wahr . . . Und Sie, hm, sind vielleicht ein bißchen empfindlich . . .«

»Darf ich für das Fräulein ein gutes Wort einlegen?« Erich wußte selbst nicht, wie er dazu kam; es blitzte ihm nur dunkel durchs Bewußtsein, daß er den Dialog der beiden, der ihn von seiner Post zurückhielt, nicht durch Ritterlichkeiten aufgehalten hätte, wenn die Silhouette des jungen Mädchens, die sich famos gegen das Licht des Abendhimmels in der Tür abhob, nicht so reizvoll gewesen wäre. »Wenn ich das Fräulein gewesen wäre, so . . .« Jetzt erst merkte er, daß er sich hier in Dinge mischte, die ihn als Passagier den Teufel angingen. Er sah in die erstaunten Augen des Kapitäns, in denen jetzt so etwas wie ein Lächeln aufblitzte, und beendigte seine seltsame Sekundantenrede mit einem kurzen: »Pardon.«

»Na also,« der Kapitän rieb sich schmunzelnd das Kinn, »auf dringenden Wunsch der Passagiere, vertreten durch Herrn Assessor Doktor Erich Eckardt, versetz' ich Sie. Tauschen Sie meinetwegen mit der Engländerin –« Er sah Hilde, die sich nach kurzem, frohem Dank entfernte, mit vergnügtem Kopfnicken nach: »Ein netter Kerl . . . Sie müssen nämlich wissen . . .«

Erich wäre durchaus bereit gewesen, sich belehren zu lassen: denn die Frage bewegte ihn und ließ ihn nicht los: wie dies hübsche Mädel mit dem feinen, von schwarzem Haar madonnenhaft gerahmten Profil und den ausgezeichneten Manieren gerade Stewardeß geworden, mithin einen Beruf gewählt hatte, den vom besseren Dienstmädchen nichts zu trennen schien als das bißchen Wasser zwischen dem Schiff und den Etagenwohnungen der Großstädte.

Aber der lange Herr von Öltzendorff stand schon zwischen ihm und dem Kapitän und erzählte, Klage führend, die Geschichte von seinem Spazierstock; nicht sehr folgerichtig, aber mit großer Wichtigkeit. Wenn man die Einzelheiten dieses Vortrags zusammenstellte, den der erregte Kavalier, seine beiden Arme wie Windmühlen im Winde schlenkernd, ohne Einwände zu dulden, hielt, so ergab sich das Folgende. Er hatte den Stock noch in Genua mit an Bord genommen. Die Goldkrücke war eine genaue Nachbildung der Krücke des Stockes, den der große Friedrich in Sanssouci benutzt, mit dem er seinen Lakaien und Windhunden manchmal eins ausgewischt, und der nun im Hohenzollernmuseum sich befand. Er, Öltzendorff, trug nach seiner Erinnerung den Stock in der linken, nach Angabe seiner Schwester aber in der rechten Hand, als er an Bord ging. Das Hohenzollernmuseum aber befand sich am Monbijouplatz in Berlin. Er hatte nur diesen einen Stock mitgenommen auf die Reise. Friedrich der Große hatte stets mehrere im Gebrauch. Sein – Öltzendorffs – Stock war ein Geschenk seiner Schwester Viktoria, weswegen ihn auch der Verlust des Stockes besonders schmerzte, da ihn die Schwester zur Verzweiflung brachte mit ihrem ewigen Gefrage, ob er ihn endlich gefunden habe, unter Hinweis darauf, daß er sehr teuer gewesen sei und als Geburtstagsgeschenk eigentlich ihre Verhältnisse überstiegen habe. Friedrich der Große hingegen hatte seinen, nach Annahme eines Gelehrten, der sich in den Preußischen Jahrbüchern dazu geäußert, vom Feldmarschall Schwerin zum Geschenk erhalten, der schon im Mai 1757 bei Prag gefallen sei. Und Herr von Öltzendorff deutete an, daß dieser sonst bedauerliche Todesfall insofern wenigstens nicht ungünstig zu nennen sei, als der Marschall, falls Friedrich der Große einmal den Stock verloren hätte, ihn wenigstens in den Jahren von 1757 bis 1786 nicht mehr hätte immerzu fragen können, ob er ihn endlich wiedergefunden habe.

Da Erich vermutete, daß die Geschichte von dem Stock noch sehr lange dauern könnte und hinter dem Alten Fritzen schon wieder Friedrich Wilhelm I. drohen sah, unter dem ein Öltzendorff General in Spandau und korrespondierendes Mitglied des Tabakkollegiums gewesen, so beschloß er, die Herren zu bitten, ihn endlich an den Glaskasten heranzulassen, aus dessen oberem Fach er schon den Brief seiner Mutter, mit viel zu vielen Marken beschwert, damit er ja ankomme, erkannt hatte.

Er ging in seine Kabine und las.

Die Mutter war enttäuscht. Also keine Schwiegertochter! Und sie folgert richtig, daß damit auch ihre Hoffnung auf Enkel für einige Zeit erledigt sei . . . Sie spricht gleich von mehreren, dachte Erich, ihr Zahlensinn ist überhaupt nicht sehr ausgeprägt. Übrigens sah Hilde ein wenig dem Bilde einer Pieta ähnlich, das er einmal in der Mailänder Brera – oder war es in Florenz . . .

Und dann schrieb die Mutter: die See beunruhige sie sehr. Sie habe sofort das Bureau des »Lloyd« antelephoniert, und da habe ihr ein zu längeren Gesprächen nicht recht aufgelegter Herr bedeutet: ein Schiff ihrer Gesellschaft fahre überhaupt nicht Mitte Mai von Genua nach Amsterdam. Daß es sich um den Österreichischen Lloyd und nicht um den Norddeutschen handeln könnte, hat die Mutter natürlich nicht überlegt, dachte Erich. Ihre Telephonate waren überhaupt oft mehr impulsiv, als . . . Nein, in Florenz war's auch nicht gewesen. In einer Kirche von Perugia voriges Jahr! Der Mönch, der sie aufschloß, roch so merkwürdig nach Fencheltee, den man doch sonst nur kleinen Kindern gab. Oder . . .? Kleine Kinder . . . In manchen Mädchengesichtern liegt noch ganz deutlich das Kindergesicht. Er konnte sich Hilde denken mit kurzgeschnittenen Haaren, ein Korallenkettchen um den Kinderhals und eine Puppe in der kleinen grübchenreichen Hand. Grübchen hatte sie übrigens auch jetzt noch in der Hand. Das hatte er zufällig gestern . . . Und dann schrieb die Mutter: die See sei für eine Mutter doch etwas anderes als die Eisenbahn. Sie habe eine alte Dame gekannt, die einen Vetter auf See hatte, der nie wiederkam. Es sei eine Steuerrätin aus Hildesheim gewesen. Hildesheim! Richtig, da war der berühmte Dom – romanisch, wenn er sich recht erinnerte – und an seiner Mauer zog sich der tausendjährige Rosenstock herauf. Tausendjährig – bei Rosenstöcken und Frauen soll man nie nach dem Alter fragen! Übrigens älter als zwei-, dreiundzwanzig war sie nicht. Und in diesem Alter war auch das Madonnenköpfchen in Perugia aufgefaßt. Hildesheim – ob das nach einer heiligen Hilde genannt wurde? Gab's überhaupt eine heilige Hilde, und wie mochte sie ausgesehen haben? . . . Und dann schrieb die Mutter: sie werde immer an ihn denken und nicht ruhig sein, bis sie aus dem nächsten Hafen, das sei ja wohl Palermo, sie nehme das so an – o Gott, o Gott, Palermo in Sizilien, und er war in Spanien! Sie saß gewiß vor dem Atlas mit Fräulein Ida, und die beiden fuhren im Meer herum mit dem silbernen Bleistift . . . Mit dem silbernen . . . Silbern war auch die kleine Marguerite, die Hilde immer, als einzigen bescheidenen Schmuck, an ihrer dunklen Bluse trug . . . Und dann schrieb die Mutter: daß er den alten Freund getroffen, sei für sie eine große Freude und Beruhigung. Es sei ein so frischer, lieber Mensch gewesen, seines Vaters Freund – damals – und sie bedauere herzlich, daß das Leben sie nie mehr zusammengeführt. Aber so gehe das oft: man müsse aushalten in derselben Stadt, im selben Haus oft mit Menschen, denen man nichts zu sagen habe und von denen man meilenweit getrennt sei, wenn man sie frage: wie geht's? Und andere Menschen wiederum, die einem vielleicht viel hätten geben können, die tauchten unter in der Welt, als hätte die See sie verschlungen. Dann fand sie diesen Vergleich sehr unpassend und sehr schrecklich und bat Erich, ja darauf zu bestehen, daß in seiner Kabine ein Rettungsgürtel untergebracht werde: bat auch dringend, den Lotsen oder den Steuermann oder sonst wen, der da die zuständige Stelle sei, vielleicht unter Hinzufügung eines Trinkgeldes, zu beauftragen, daß er ihn unbedingt wecke, wenn in der Nacht etwas Verdächtiges oder Gefahrdrohendes auf dem Schiff passiere. Die Bedienung auf Schiffen sei, wie sie fürchte, oft mangelhaft und . . . Eine unerhörte Geduld mußte gestern dazu gehört haben, die Impertinenzen der mit der Seekrankheit ringenden Selma zu ertragen, die brillantengeschmückt, käseweiß in ihrem Stuhle lag und diese freundliche, bewegliche Stewardeß wie eine Haremsklavin herumkommandierte! Und wer vorurteilslos diese Szene mit ansah, mußte der sich nicht sagen, daß Erziehung, Kinderstube, Vornehmheit durchaus auf seiten der so anmutig und geduldig Aufwartenden und nicht auf seiten der schmucküberladenen, bedienten Dame zu finden war? Überhaupt die vornehmste Erscheinung unter all diesen das Schiff bevölkernden Frauen, die doch gewiß – zum Teil – aus besten Gesellschaftskreisen kamen, war eigentlich . . . Und dann schrieb die Mutter: er solle ja nicht versäumen, ihr vom nächsten Hafen und ausführlich zu berichten, warum er denn mit Eugenie so plötzlich gebrochen. Das Amateurbildchen aus Heringsdorf von ihr, das sie jetzt betrübt aus dem Rahmen entfernt habe, sei doch so sympathisch. Und so vornehm sehe sie aus darauf in ihrem weißen Strandkleid, oder sei es helles Blau gewesen? Und Fräulein Berta sage auch, sie könne das ganz und gar nicht verstehen: und sie habe das ähnlich mal bei einem Bruder erlebt, der sich einmal auf einer Fahrt von Karlsruhe nach Bruchsal, wozu man doch nur eine Viertelstunde brauche, verlobt hatte. Aus der Heirat sei dann freilich nichts geworden, weil die Familienverhältnisse bei der Dame sehr übel lagen und der Vater gerade in Untersuchungshaft saß. Aber daß die Liebe auch so plötzlich vergehe, das leugne Fräulein Berta, und sie selbst kenne auch keinen Fall dieser Art. Die rechte und echte Liebe . . . Na, was war denn die rechte und echte Liebe? Hatte er nicht geglaubt, Anne ehrlich zu lieben: war glücklich, wenn er mit ihr in den Rheinischen Winzerstuben saß und ihr liebes, zugegeben ein bißchen blödes Geplauder hörte. Noch als er mit Eugenie in Heringsdorf soupierte, hatte er eine warme Welle und einen Stich in der Herzgegend gespürt, wenn er an Anne dachte. Und dann hatte er Eugenie geliebt, ernst und echt. Und eine warme Welle und einen Stich in der Herzgegend hatte er noch gespürt, als in Göschenen zufällig eine Dame beim raschen Lunch im Bahnhofsrestaurant ihr Töchterchen rief, das während der Suppe nach einer Banane griff: »Eugenie! Kein frisches Obst essen unterwegs! Du weißt doch, Eugenie!« Und als am ersten Tag auf See Bergemann freundschaftlich, behutsam von der Enttäuschung im Zimmer des Abtes zu Büssingheim sprach, da hatte er beides wieder empfunden mit unverminderter Stärke, die warme Blutwelle und den Stich. Und jetzt – er sprach vor sich hin: »Änne« – »Eugenie.« Nichts. Keine Welle, kein Stich . . . Aber vorhin, als er in dem Brief da, in der Schrift seiner Mutter den Namen Hildesheim fand, den zufällig die Anordnung der Schrift in zwei Reihen zerriß: Hildes-heim, da hatte er etwas Seltsames gespürt in der Herzgegend – keine Welle, aber einen leicht flutenden Ansatz dazu; keinen Stich, aber doch so etwas, als ob ein Messerchen ansetze und probiere . . . Und dann schrieb die Mutter: was er aber auch getan habe und tue, und wenn sie auch noch nicht wisse, warum es geschehen sei und geschehen mußte, sie verlasse sich darauf, daß er ein anständiger Kerl sei und schon seine guten Gründe haben werde. Und übrigens nehme alles mal ein Ende, auch eine Seefahrt; und von Amsterdam nach Berlin fahre man bloß zehn Stunden. Und wenn man eine Mutter in Berlin habe, das sage auch Fräulein Berta, ließe man nach so langer Trennung die Nachtwache von Rembrandt Nachtwache und die Staalmeesters – Staalmeesters sein und beide ruhig im Museum hängen und fahre nach Berlin. Denn in Berlin lebe die Mutter; und übrigens der »Mann im Goldhelm« sei auch kein schlechter Rembrandt und hänge im Kaiser-Friedrich-Museum. Und nicht weit davon das andere: »Simson bedroht seinen Schwiegervater«, was übrigens nach ihrem unmaßgeblichen Urteil weder ein schöner Vorwurf, noch ein besonders gelungenes Bild sei. Am liebsten sei ihr der große Meister überhaupt, wenn er sein Hendrickje gemalt; aber nicht als Flora oder so als mythologisches Wesen, sondern einfach als frisches junges Mädel. Wogegen ihr die Saskia van Uijlenburgh eine zu derbe und gewöhnliche Nase habe. Aber wenn erst die Liebe den Pinsel führe, wäre die gröbste Nase fürs Antlitz einer Göttin eben recht . . .

Als Erich diesen ausführlichen Brief seiner Mutter – an dem er sehr lange gelesen, da ihm immer wieder eigene Gedanken dazwischenfuhren – mit dankbarem Lächeln wieder in das Kuvert steckte, fiel ihm ein, daß Hilde eine wundervoll geschwungene römische Nase zwischen den dunkelüberschatteten Augen hatte.

Teufel auch – schon das Trompetensignal zum Diner! Wie energisch das klang! Wie ein Schlachtruf. Und Erich skandierte, während er in den Smoking fuhr, den lateinischen Vers aus seiner Tertianerzeit: »At tuba terribili sonitu taratantara dixit«. – Und der Professor stand dabei, ließ den dicken Bauch über dem Pult der vordersten Schülerbank sich wölben und bemerkte mit einer spitzen Stimme, die ganz unwahrscheinlich aus diesem geschwollenen Riesen klang: »Tonmalerei nennt man das – wie nennt man's, Erich Eckardt?« . . . Tonmalerei.

Vergnügt kam Erich zum Diner.

»Na, was macht Ihr Schützling?« fragte der Kapitän, der diesmal präsidierte, und kniff listig über den Löffel hin das linke Auge zu.

»Hat der Assessor hier auf dem Schiff einen Schützling?« forschte Bergemann.

»Suprêmes de sandal du Rhin, Sauce tomates«, las Grabusch, den Zwicker ganz vorn auf der Nase, interessiert aus dem Menü vor.

Erich fühlte, daß sein Kopf etwas heiß wurde; er fürchtete – ohne selbst zu wissen, warum – die Antwort des Kapitäns.

»Ja«, nickte Kapitän Jürgens – ohne daß das listige Lächeln aus seinen Augen verschwand. »Einen Schützling hat er. Meinen Teckel Peterle. Den hab' ich schon zweimal aus seiner Kabine herauspfeifen müssen.«

»Ich bin sehr tierlieb.« Erich löffelte in befreiter Vergnügtheit seine Suppe. »Darum kann ich auch diese Suppe nur mit Wehmut und Trauer essen, weil viele Krebse dafür ihr Leben ließen.«

Jürgens, der als erfahrener Kapitän nicht nur das Mittelmeer, sondern auch die Tischgespräche kannte, fürchtete, daß man von toten Tieren, und wenn's auch nur Krebse waren, auf die Stierkämpfe zu sprechen kommen könnte, was er im Hinblick auf die Damen – Elisabeth Hunneberg war noch recht blaß, und der königliche Anstand der Frau Tiegs hatte etwas gelitten – fürs Leben gern vermeiden wollte.

»Mein Teckel,« übernahm er munter wieder die Führung der Konversation, während sein Blick, mit virtuoser Sicherheit die Stimmungen erforschend, über die Tafelgesellschaft flog, »mein Teckel ist aber auch ein frecher Kerl. Als ich mein Jubiläum feierte, fünfundzwanzig Jahre auf See – bloß nicht gratulieren! Ist schon so lange her, bald nicht mehr wahr! – da fragte mich meine Gesellschaft: ›Kapitän, haben Sie einen Wunsch? Busennadel – Ring oder so?‹ – ›Nee,‹ sag' ich, ›auf meinen Busen bin ich nicht stolz; und Ringe sind's, die eine Kette bilden, steht irgendwo gedruckt. Aber – ich möchte um die Erlaubnis bitten, gegen alle Regeln der Gesellschaft künftig den ›Prinzen von Indien‹ als blinden Passagier mitnehmen zu dürfen.‹«

»Einen Prinzen von Indien?«

Viktoria von Öltzendorff reckte sich interessevoll. Inder im allgemeinen schätzte sie nicht. Sie rochen schlecht, fand sie. Aber ein Prinz von Indien! Das war etwas anderes.

»Ach so,« sagte der Kapitän, »Sie wissen nicht: mein Peterle stammt aus vielprämierter Familie und wurde in dem Zwinger, der ihn das Licht der Welt sehen ließ, von seinem Züchter ›Prinz von Indien‹ getauft. Da will's aber der Satan – Pardon, meine Damen – will's der liebe Himmel, daß vor zwei Jahren ein wirklicher indischer Prinz in Southampton einsteigt, um mit nach Triest zu fahren. Der hatte einen englischen Offizier bei sich – indische Prinzen haben immer englische Offiziere bei sich: Albion ist vorsichtig, o ja! – dem Offizier aber gefiel der quietschvergnügte Teckel gar so gut. Und als durch ihn der zweibeinige Prinz von Indien erfuhr, daß der vierbeinige Vetter den Namen führe . . . Na also, er war sehr verschnupft. Da haben wir den Prinzen am selbigen Abend – den vierbeinigen – mit Pommery zum schlicht-bürgerlichen ›Peterle‹ umgetauft! Und der zweibeinige Prinz hat an jenem Abend nur mit werktätiger Hilfe seines englischen Mentors seine Luxuskabine gefunden. Er wollte partout im Gepäckraum schlafen – oder vielmehr eigentlich . . . Pardon!«

Alle lachten. Nur das Ehepaar Häfele sah verstört auf. Es befürchtete, von dem Gelächter erschreckt, es habe ein Taktloser auf die kleinen neckischen Zärtlichkeiten aufmerksam gemacht, die sich die beiden mit leicht zugeneigten Drehstühlen gestatteten.

Dann kamen Einzelgespräche in Fluß. Reubke, der etwas unruhig war, weil Tillys Stuhl neben ihm nun auch bei der Pièce de bœuf braisée à la Châtelaine leer blieb, wurde von Grabusch in ein musikalisches Gespräch verwickelt. Grabusch ging davon aus, daß der kleine Kapellmeister, der die ersten Tischkonzerte so gottsjämmerlich verpatzt hatte, vom Kapitän abgesägt worden war und jetzt ohne Gehalt, mit Verpflegung bis Amsterdam, als halber Passagier mitfuhr. Er machte darauf aufmerksam, wie das Potpourri, der »musikalische Operettensalat«, wie er das grimmig nannte, heute so relativ anständig serviert wurde, und kam mit einem kühnen Übergang von Offenbach auf Wagner zu sprechen, von dem er behauptete, er sei der Welt nur eines schuldig geblieben: die deutsche komische Oper. Es war ersichtlich, daß Grabusch zwar zu Reubke hinredete, aber nicht sonderlich ungehalten war, daß dieser, immer nach der Tür sehend, ziemlich unaufmerksam blieb. Was auch insofern gleichgültig sein konnte, als Grabusch mehr für Elisabeth Hunneberg redete, die in einem moosgrünen Foulardkleid kerzengerade, üppig, walkürenhaft gegenübersaß und Hobsens Konversationsversuche in eisigem Schweigen unbeachtet ließ.

Jetzt war gar vom Nebentisch noch Joseph Schwammerl herangetreten, um sich interessevoll zu erkundigen, ob sich Fritzchen, der liebe Junge, über das Holzschiff gefreut habe, das Schwammerl ihm in Barcelona gekauft. Grabusch, der aus ihm selbst unbekannten Gründen ungern von solchen, wie ihm deuchte, krampfhaften Bemühungen um das Söhnchen der Diva hörte, äußerte zu Erich die pädagogische Überzeugung: auf dem Lande mit Wasser spielen, sei schon eine mißliche Sache, auf der See aber mit Wasser spielen, sei geradezu frivol.

Die Erwähnung Fritzchens erinnerte Mister Hobsen an seine Pflicht; und da ihn ein Blick auf das Menü überzeugt hatte, daß er den folgenden Gang, Céleri à la Demi-Glace ohne Gewissensbisse überspringen könnte und Elisabeth Hunneberg gut unterhalten wußte, begab er sich rasch mal nach der Luxuskabine, um zu sehen, ob Fritzchen, der liebe Junge, gut gebettet war, und um dabei zu sein, wenn Fräulein Agnes, die Kindergärtnerin nach dem Fröbelsystem, das Licht ausdrehte. Aber sie blieb dann noch eine Weile im Dunkeln bei ihm, damit das Kind besser einschlafen konnte. Und von der Erwägung, daß es schön sei, gerade diesen Moment der erzieherischen Aufgabe mitzuerleben, wurde Mister Hobsen nicht zum wenigsten getrieben, als er sagte, er werde mal nach dem Rechten sehen und zum Nachtisch wieder dasein.

Öltzendorff aber war, ausgehend von der Pièce de bœuf braisée, die er seinen Zähnen nicht zumutete, auf die Roheit des Stiergefechts zu sprechen gekommen. Er vertrat die Ansicht, daß die andern Großmächte das verblendete Spanien unbedingt zwingen müßten, diesem niedrigen, unwürdigen Spiel zu entsagen. Wenn nötig, mit Waffengewalt zwingen. Und da er sich mit dieser Forderung im schönen Eifer seiner Überzeugung zum erstenmal an Frau Anna Häfele wandte und diese gewissermaßen für die unerträgliche Nachlässigkeit der Großmächte verantwortlich machte, so entgegnete die eingeschüchterte junge Frau, daß sie – was das betreffe – nach glücklicher Heimkehr in Stuttgart gewiß das ihrige dazutun wolle; daß sie aber hoffe, es werden noch friedliche Möglichkeiten zu diesem Endzweck sich finden lassen. Dies alles sagte sie leise und ohne die Rechte des ihr angetrauten Gatten loszulassen, der sich seit seiner Vermählung bei Tisch und überhaupt zum Linkshänder ausbildete, weil seine Rechte immer irgendwie mit der Linken Anna Häfeles beschäftigt war; wenn sie nicht gerade, um die Taille der liebenswürdigen Dame gelegt, einen seligen Ruheplatz gefunden hatte.

»Friedlich?« brummte Herr von Öltzendorff, der nun einmal dem Schwertadel entstammte. »Heute soll bloß alles friedlich gelöst werden! Man könnte allenfalls damit beginnen, daß alle von Spanien dekorierten Westeuropäer unter Bezugnahme auf die Unwürdigkeit der allsonntäglichen Vorgänge in den Arenen am selben Tage dem Könige von Spanien ihre Orden zurückschickten!«

Ein Vorschlag, zu dem der Bankdirektor Tiegs durch energisches Nicken sein unbedingtes Einverständnis zu erkennen gab. Was den Bankdirektor allerdings wenig mehr als dieses Nicken kostete, da er bis jetzt nur von Bückeburg dekoriert war. Und das eigentlich durch eine Namensverwechslung.

Grabusch war gerade dabei, dem toten Richard Wagner vorzuwerfen, daß er aus dem herrlichen urdeutschen Stoff der »Schildbürger« nicht die Komische Oper der Deutschen, das musikalisch-humoristische Nationalwerk geschaffen habe; und Öltzendorff erweiterte seinen Vorschlag gerade dahin, daß man auch die spanischen Tänzerinnen – die meistens gar keine Spanierinnen seien, allerdings auch nicht tanzen könnten – in den Varietés bis zum Verbot der Stiergefechte boykottieren müsse, als am oberen Ende der Tafel viel Unruhe entstand.

Von Hilde, die jetzt die vorderen Kabinen auf dem Promenadendeck zu bedienen hatte, begleitet, war Tilly Schuch sehr aufgeregt erschienen. Sie hatte, ohne Reubke zu beachten, der ihr erfreut entgegeneilte, und ohne Mücke eines Blickes zu würdigen, der sogar vom dritten Tisch mit ein paar der Tafelvase rasch entrissenen Blumen angestürzt kam, den gerade ein zartes Hühnerbein sachgemäß behandelnden Kapitän mit verwirrter, von Tränen halb erstickter Rede überfallen.

Soviel Bergemann, der das Kompott zurückschob, und Erich, der in der Erregung des Augenblicks doch nicht versäumte, Hildes taktvollen Beschwichtigungsversuch zu würdigen, verstehen konnte, handelte es sich darum, daß eine Kostbarkeit aus Tillys Kabine verschwunden war. Ein Schmuckstück.

Der Kapitän erhob sich mit einem schmerzlichen Blick auf sein kaum erst zur Hälfte erledigtes Hühnerbein. Er war wieder im Dienst.

»Sie wollen sagen, gnädige Frau –«

»Sagen – sagen –! Was hilft mir das Sagen! Mein Ring ist fort!«

»Welcher Ring?«

»Nun hier!« Sie streckte ihre weiße gepflegte Hand weit von sich, dem Kapitän direkt unter das Gesicht, das er rasch zurückzog. »Hier – der Rubin der Herzogin . . .«

»Einer – Herzogin? So, so – ich dachte, Ihr Ring.«

»Ja, meiner – aber das ist doch egal –! Der Rubinring.«

Es war eine seltsame Gedankenverbindung, aber Erich mußte bei Erwähnung der »Herzogin« an den »Prinzen von Indien« denken, der nur ein Dackel war und jetzt »Peterle« hieß. Dann aber sprang ihm wieder grell und scharf das Wort »Rubin« ins Ohr. Unangenehm klang's ihm, ohne daß er wußte, warum. Dann fiel ihm ein, daß er ja gestern diesen schönen Rubin noch am Finger der blonden Frau bewundert hatte. Und daß er sich dabei, wie einer halb vergessenen Tatsache erinnert hatte: zwei, drei Tage sind's her, da hast du ganz denselben Rubin – ganz denselben – irgendwohin in deinen Koffer geworfen – unter schmutzige Wäsche oder nein – unter seidene Socken . . . Egal – ganz denselben Rubin, der, wie er nun hörte, so selten, so wertvoll, so unersetzlich sein sollte. Und nun war er weg – nicht seiner, der andere.

Das alles kam ihm nur ganz traumhaft zum Bewußtsein, während sein Auge die Linie von Hildes hübscher römischer Nase nachzeichnete und sich dann über die feingeschwungenen dunklen Augenbrauen verlor in das krause, schlicht gescheitelte Haar. Und jetzt wußte er's wieder ganz genau: in Padua war's gewesen, in S. Giustina! Über den großen Platz war er gekommen, wo zwischen Büschen und Bäumen, gelangweilt und verlassen, die Statuen entsetzlich vieler, berühmter Männer stehen, wohl sechs Dutzend und mehr. An der Ecke der Riesenbau der Hochrenaissance: S. Giustina. Er war so kirchenmüde gewesen, so loggienkaputt, so sakristeielend von all diesen Gängen durch das Halbdunkel kühler Kapellen, durch das von bunten Scheiben gebrochene und gedämpfte Sonnenlicht der Kirchen, die feierlichen Säle der Museen. Venedig, Verona, Mantua, Vicenza lagen damals hinter ihm. Und dann wieder – für ein paar Soldi grüne Vorhängchen, gezogen von der Hand eines unrasierten, nach Tabak duftenden Alten in speckigem Rock: »Ah – Mantegna!« oder: »Ah – Paolo Veronese!« oder: »Ah – irgendein anderer, Toter, Historischer, Berühmter!« – – Aber der Riesenbau der S. Giustina halte ihn doch angezogen, herangeholt, eingeschluckt. Und ein alter unrasierter Mönch, der ausnahmsweise nach Fenchel roch, statt nach Tabak, hatte, schon nach ein paar verirrten Amerikanern schielend, die blöd ein Taufbecken umstanden, grüne Vorhängchen gezogen: Romanino – Paolo Veronese . . . Und dann rechts vor der Tür, ehe man zu den geschnitzten Chorstühlen kommt – das süße Köpfchen der Schmerzensreichen mit der edelgeschwungenen römischen Nase, mit den feingeführten dunklen Augenbrauen, mit dem krausen, fast schwarzen Haar, in dem, mehr ein irdischer Schmuck als ein Zeichen himmlischer Abkunft, das schmale Gold des runden Heiligenscheines lag.

»Der liebe Junge schläft«, sagte Mister Hobsen, der eben zurückkehrte, etwas echauffiert, was mit der Eiligkeit seiner Besorgungen keineswegs zusammenhängen konnte, denn er war wohl zwanzig Minuten weg gewesen. »Er hat das Schiff des Herrn Schwammerl im Arm . . .« Mister Hobsen stockte. Kam es nun daher, daß ihm einfiel, daß er selbst auch was im Arm gehabt hatte, oder bemerkte er plötzlich die seltsame Verstörtheit der Tischgesellschaft, von der keiner, selbst die Mutter des lieben Jungen nicht, Sinn und Verständnis für seine nicht lückenlose, aber zarte Schilderung des erlebten Idylls aufzubringen schien.

»Ich werde natürlich sofort untersuchen lassen, gnädige Frau.« Der Kapitän machte Tilly eine kleine Verbeugung. »Ich hoffe, Sie denken nicht etwa, daß irgend jemand von der Bedienung . . .«

»Ich denke gar nichts!« Tilly griff sich in das wundervolle Blond ihrer Haare, und es war, als tauchten ihre Hände in flüssiges Gold. »Wenn ich erst wieder denken könnte!«

»Hatten Sie den Ring denn noch in der Stadt am Finger?«

»Ich glaube bestimmt.«

»Hm – wenn man nicht denken kann, soll man auch nicht glauben«, brummte Mister Hobsen, wurde aber dafür von der Diva durch einen Blick gestraft. Sie trug ein Amulett und vermied die Zahl dreizehn.

»Gerade!« sagte die Diva.

Grabusch, nun wieder ganz Jurist, äußerte, daß dieses allerdings die Vorbedingung einer erfolgreichen Untersuchung des Falles sein müßte. Dann fügte er im ernsten Ton des Forschenden hinzu: »Der Ring war Ihnen vielleicht zu weit? Sie wurden ohnmächtig beim Stierkampf, die Hand hing Ihnen schlaff herab – –«

»Und das Gesindel –! Ringsherum nichts als Gesindel!« Kloppenbusch war, wie die andern von den Nebentischen – mit Ausnahme der Ungarn, bei denen gerade wieder einer in sprudelnden Worten eine von Eljens häufig unterbrochene Ansprache hielt – an den Kapitäntisch herangetreten. Er wiederholte, indem er sich Zustimmung fordernd im Kreise umsah: »Nichts wie Gesindel.«

Viktoria von Öltzendorff zuckte empört zusammen: »Der Mann ist betrunken!«

Aber ihr Bruder beruhigte sie, daß er es nicht sei und mit dem allerdings unschönen Wort nur die spanischen Zuschauer in der Arena von Barcelona meinte. Worauf Viktoria unwirsch erwiderte, daß es sich dann auch erübrige, bei solchen Reden sie gerade anzusehen. Überhaupt wären sie wohl besser direkt nach England gefahren.

Der Kapitän hatte den zweiten Offizier und den Obersteward herangewinkt und verließ mit diesen, ernst den unangenehmen Fall besprechend, den Eßsaal.

Reubke und Mücke bemühten sich um Tilly Schuch mit allerlei Trostreden. Schwammerl aber war auf den nüchternen, aber guten Gedanken gekommen, direkt aus der Küche eine kleine Auswahl des Erlesensten der abservierten Gänge zu holen und mit vielem Geschick und munter übertriebener Grandezza der verehrten Dame auf einem Silbertablett persönlich zu bringen.

Aber als Tilly die Gabel greifen wollte und ihre ringlose Hand sah, brach sie beim Anblick dieser Furchtbarkeit wieder in Tränen aus. Konnte sich auch nicht beruhigen, als ihr Elisabeth Hunneberg mitteilte, daß sie einmal ein Armband mit Saphiren in einem Taxameter verloren habe, das ihr – wenn sie sich recht erinnere – der Herzog von Meiningen geschenkt habe, es könne aber auch der Herzog der Abruzzen gewesen sein.

Für den Nachtisch hatte niemand mehr viel Sinn.

Die Öltzendorffs hatten sich schon an Deck begeben, weil sie diese ganze turbulente Szene plebejisch berührte. Die Häfeles vermuteten, daß man zum erstenmal den spanischen Mond sehen werde, von dem sie sich vielleicht übertriebene Vorstellungen machten und unter dem sie sich bestimmt noch nicht geküßt hatten. Und Frau Tiegs war der Ansicht, daß man bald abfahre und daß ihr leider der genossene Salat nicht bekommen werde, den sie zu spät als mit Mayonnaise angemacht erkannt hatte. Eine Mitteilung, die dem Bankdirektor Tiegs sehr trübe Aussichten für seine Nachtruhe eröffnete und die er deshalb auf der Treppe durch den Falschschwur, es sei keine Mayonnaise an dem Salat gewesen, listig zu entkräften suchte.

Eine Stunde später – das Schiff war langsam aus dem unbewegten Hafen von Barcelona herausgeglitten, und nur noch wie kleine goldene Löcher in den Schattenrissen der Hügel glänzten die Lichter der ansteigenden Stadt.

Die Ungarn, die aus einer unbekannten freudigen Veranlassung viel Tokaier getrunken hatten, übten geräuschvolle Laufspiele um das Promenadendeck. Der schweigsame Tisch der Engländer stand an der Spitze der »Astarte« zusammen und rauchte wortlos aus kurzen Pfeifen. Penelope saß unter der hellen Lampe an der Rückwand der Luxuskabine, die Füße in einem Fußsack aus Heidschnuckenfellen, und stickte, ohne den Mond oder die Engländer, die Ungarn oder das Meer zu beachten.

Die deutsche Gesellschaft aber, zu der sich Mister Hobsen als Kavalier oder Anhängsel der Diva rechnete, war im Musiksalon versammelt. Grabusch saß vor dem offenen Instrument und erklärte Reubke, der sich bedeutend lieber um Tilly Schuch gekümmert hätte, die Mystik des »Feuerzaubers«. Wozu er hin und wieder ganz plötzlich einen Akkord griff, der Reubke sehr erschreckte.

Kloppenbusch aber, von dem Alpdruck Barcelonas befreit, erzählte sehr blutige Geschichten von Anarchisten. Dieser unangenehmen Menschenklasse diente sie ja als Nest und Dorado, diese unheimliche Stadt, deren Lichter nun – man sah's durch die runden Fenster – wie ein ferner Leuchtkäferschwarm von der Nacht eingeschluckt wurden. Da sei es zum Beispiel Sitte, erzählte er und hielt dabei Mücke, der nach Tilly Schuch und Elisabeth Hunneberg hinüberschielte, sehr zu dessen Mißbehagen am Perlenknopf seines Vorhemdes fest, sei Sitte, daß sich eine Anzahl von Herren einen gemeinsamen Barbier hielten – in Barcelona –, der keinen offenen Laden habe, sondern ins Haus zu jedem komme. Solche Gruppe von Leuten heiße man einen »Rasierklub«. Habe so ein Barbier – in Barcelona – seinen Kundenkreis nun durch Fleiß und Geschicklichkeit so erweitert, daß er's allein nicht mehr schaffen kann, so nehme er einen Gehilfen an, möglichst jung und billig. Alles in Barcelona. Zu solchem »Rasierklub« habe nun ein junger Deutscher gehört. Müller oder so. Eines Tages sei an Stelle des Barbiers der blutjunge Gehilfe zu Herrn Müller gekommen und habe den Bart dieses Kavaliers in eine sehr ungeschickte Behandlung genommen. Was sich ganz einfach damit erklärte, daß der Gehilfe bis vor kurzem gar kein Barbier, sondern Hütejunge auf einer andalusischen Stierfarm gewesen sei. Als dieser Künstler nun bei einer besonders schwierigen Messerwendung unterm Kinn den Herrn Müller gehörig in den Hals geschnitten, habe sich dieser hinreißen lassen, dem Burschen eine Kräftige herunterzulangen. Am Abend – alles in Barcelona – am Abend sei dann bleich und feierlich der Barbier selbst bei Herrn Müller erschienen, habe ihn durch Ehrenwort auf Schweigen übers Grab hinaus verpflichtet und ihm mitgeteilt, der junge Mann, der etwas ungeschickte Gehilfe, sei eigentlich gar kein Barbier, sondern bis vor kurzem Hütejunge auf einer andalusischen Stierfarm gewesen und gehöre einem anarchistischen Verband an. Es sei daher ratsam, daß Herr p. p. Müller spätestens bis morgen früh die schöne Stadt Barcelona verlasse, weil er sonst Gefahr laufe, in einigen Tagen hier beerdigt zu werden. Es sei nämlich Sitte der Anarchisten, den Schimpf einer körperlichen Züchtigung, als welche eine noch so berechtigte Ohrfeige immerhin anzusehen sei, innerhalb vierundzwanzig Stunden durch einen Stich mit einem Toledaner Dolch zwischen die vierte und fünfte Rippe zu beantworten. Alles in Barcelona. Herr Müller habe dann, vor diese Wahl gestellt, nach ernsten Erwägungen die Abreise der Beerdigung vorgezogen. Eine Entscheidung, die er, Kloppenbusch, nur billigen könne. Obschon er auch melancholische Momente kenne, in denen ihm das ganze Leben im Symbol der bekannten unreinlichen Hühnerleiter erscheine und nicht wert des Aufhebens dünke, das salbungsvolle Pastoren am Beginn und am Ende dieser Hühnerleiter, will sagen bei Kindstaufen und Begräbnissen, davon machten.

Es gehörte zu der sehr merkwürdigen Veranlagung Kloppenbuschs, daß er nach den seltensten Abschweifungen seiner Rede immer wieder zu dem ursprünglichen Thema zurückfand. Seine Rede hatte darin etwas vom Bumerang, dem Wurfgeschoß der australischen Eingeborenen. So wäre auch jeder im Irrtum gewesen, der angenommen hätte, daß er sich nunmehr ausführlich über die Pastoren und seine Stellung zu der Kirche äußern werde. Er war schon wieder bei den Barbieren. Und da sich ihm Mücke jetzt durch eine so listige wie rasche Bewegung entzogen hatte, so richtete er seine Belehrungen an Bergemann und Erich. Ohne weiter zu bedenken, daß er deren leise geführtes Gespräch über den Brief von Erichs Mutter eigenmächtig unterbrach. Ein Barbier, sagte er, habe überhaupt, wenn man's so bedenke, eine ganz unheimliche Macht. Wie oft sei man – als Mann und Bärtiger – allein mit ihm, gewissermaßen abgeschlossen von den Hilfsquellen der Außenwelt. Und man halte ihm, der ein haarscharfes Messer in der Hand führe, dann auch noch vertrauensselig seinen nackten Hals hin. Ein kurzer, sicherer Schnitt und – die Schlagader . . . oder die Luftröhre . . . je nachdem – sei durch! Und die Versuchung . . . Einmal neige der Mensch als solcher überhaupt zu grausamen Exzessen. Dann aber . . . Er zum Beispiel trage – Kloppenbusch dämpfte seine Stimme bei dieser Mitteilung, und es war ersichtlich, daß er ein großes Vertrauen in die menschlichen Qualitäten seiner beiden Hörer damit bekundete – er trage sein Reisegeld in Scheinen in einem Ledertäschchen um den Hals. Unter dem Hemde. Als er sich nun heute morgen vor dem Aufbruch zum Stiergefecht noch auf dem Schiff bei Beppo Marlettino habe rasieren lassen, da plötzlich habe er mit Entsetzen im Spiegel entdeckt, daß ihm unter dem Kragen das ominöse Schnürchen heraussah, an dem, wie jeder Kenner sofort merken mußte, das Täschchen mit seinem Gelde unterm Hemde hing! Wenn jetzt ein verbrecherischer Trieb in Beppo Marlettino erwacht wäre – wenn . . . Ein kurzer, sicherer Schnitt und – die Schlagader . . . oder die Luftröhre . . . je nachdem . . .

Bergemann lachte herzlich: »Ausgerechnet Beppo, der harmloseste Barbier, der je die Flöte geblasen – der gutmütigste Flötenbläser, der je barbiert hat!«

»Flötenblasen hat mit dem Morden oder sonstigen schweren Verbrechen gar nichts zu tun.« Kloppenbusch war gekränkt. »In Kottbus ist sogar mal ein Posaunist wegen wiederholter Brandstiftung bestraft worden.« Nachdem er diesen Trumpf ausgespielt, trat er zu Grabusch ans Klavier.

Der Amtsgerichtsrat war eben dabei, dem bis zum Zerspringen ungeduldigen Reubke, der an dem Sofa unter der melancholischen Palme Schwammerl und Mücke in eifriger Konversation um die Damen bemüht sah, zu erklären, wie die Musik den Ausdruck leichter Freude finde. Nach nur angetippten Beispielen aus dem »Figaro« und den »Lustigen Weibern« ging er, auf seinem Stuhl sich im Takt mitwiegend, zu den Rhythmen des Schmuckwalzers aus dem »Faust« über.

Tilly zuckte auf dem Sofa zusammen: »Der Schmuckwalzer! . . . Der Herr Amtsgerichtsrat wird doch nicht . . .?«

»Er möcht' Sie frozzeln, meinen S'?« Schwammerl hatte sofort verstanden. »Aber nein – der denkt nit dran!«

Aber Tillys durch die Unterhaltung der Herren ein wenig abgelenkter und gebändigter Schmerz hatte neue Nahrung durch den Dreivierteltakt des Schmuckwalzers gewonnen, den Grabusch pedantisch zu Ende führte. Und da sie nun auch Erich und Bergemann unter die Blätter der melancholischen Palme treten sah, empfand sie eine Art Glücksgefühl, die ganze Schwere dieses Verlustes einem so großen und gewählten Kreis von Herren zu schildern.

»Mein seliger Mann« – und indem sie das sagte, griff sie an ein Medaillon an ihrem Hals und schien erfreut, daß es noch da war – »mein seliger Mann hat nämlich den Rubin von einer Herzogin bekommen. Ja. Er hat doch so viel in Indien zu tun gehabt, mein Mann. Als Forscher, verstehn Sie. Er war im britischen Dienst – Gott, Deutschland hat ja keine Besitzungen da. Im Gebirge von Tramadi hat er geforscht, das ist da oben wo . . .«

Reubke bestätigte durch emsiges Kopfnicken, daß das Gebirge Tramadi »da oben wo« sei. Auch Mücke stimmte zu, und auf seinem zur Fadigkeit dressierten Gesicht lag kein Schimmer der Tatsache, daß er von der Existenz eines indischen Gebirges Tramadi bis jetzt keine Ahnung gehabt hatte.

»Gott, mein seliger Mann – so angesehen ist er gewesen in Indien.« Tillys Erinnerungen waren zuverlässig, aber nicht besonders gut geordnet. Das kam zutage bei ihren Schilderungen, deren Sprüngen nicht immer ganz leicht zu folgen war. »Bis Ceylon bin ich einmal mitgefahren und dann umgekehrt. Bei der Arbeit hat er mich eben nicht brauchen können. Und was für 'ne Arbeit! Wissen Sie, was die Ursache zu seinem Tod war? In einen erloschenen Vulkan ist er gefallen. In Indien. Nicht so ganz hinein natürlich, aber ein Stück weit. Davon hat er sich nie mehr erholt. Ja, ich bitte Sie, fallen Sie mal in einen Vulkan, wenn er auch nicht mehr brennt. Er war so kurzsichtig, mein Mann. Ich hab' ihm immer gesagt – noch in Ceylon hab ich's ihm zugerufen bei der Abfahrt: ›Geh nicht so nah an die Vulkane ran, Friedel, du weißt, du siehst nicht gut . . .‹ Aber was hilft's. Petroleumquellen hat sie dort gehabt, die Herzogin. Ja, man sagt, daß ihr Vater, der Herzog von Punderband, viel verloren hat. Die einen meinen, durch das elektrische Licht: die andern meinen, weil er immer in Monte Carlo so hoch gespielt hat.«

»Der Herzog von Punderband« – Mücke nickte mit einem leisen Kennerlächeln –, »man spricht heute noch im Kasino von seinem waghalsigen Spiel. Er hatte dabei immer einen französischen Roman auf den Knien. Wenn eine Serie kam, las er. Auch hat er beim Taubenschießen in Nizza dreimal den ersten Preis bekommen.«

»Ja, der. Und als er tot war, ist sie nach Indien gereist. Und hat selbst nach dem Rechten gesehen, bei den Petroleumquellen. Gott, wenn man denkt, nicht wahr – eine Herzogin und Petroleum! Das hat mein seliger Mann auch schon immer gesagt. Und drum hat er so zu ihr gehalten. Das heißt, die war in Birma, die Quelle. Und dort ist auch der Rubin gefunden worden, ja. Bei Mogok. Und sie hat ihn meinem Mann geschenkt, die Herzogin. Und hat dazu geschrieben. Der Brief hat sich im Nachlaß nicht gefunden. Aber eine Brieftasche ist ihm auch damals in den Vulkan gefallen. Da wird er wohl drin gewesen sein, der Brief. Kenner haben mir gesagt, er ist Tausende wert, der Stein. Und nun so auf einmal weg . . . Man weiß ja nicht, für was die Herzogin meinem Mann den Rubin geschenkt hat. Mein Gott, ein Mann, der so lange von seiner Frau getrennt ist, nicht wahr . . .«

Ein verständnisvolles Beifallsgemurmel durchlief den Kreis der Herren. Man fand es in der Ordnung, daß der selige Herr Schuch und die Herzogin . . . vielleicht . . .; und daß die Herzogin und Herr Schuch . . . ziemlich sicher . . . Und man empfand es angenehm, daß Tilly sich in der Sache auf einen so großdenkenden Standpunkt stellte. Es war ja möglich, daß, wenn es nicht gerade eine Herzogin von Punderband gewesen wäre, sondern eine Frau Smith aus Manchester . . . Aber man hatte da nicht mit Hypothesen zu arbeiten. Man stand vor den schlichten und schönen Tatsachen: Herr Schuch war mit einer Herzogin befreundet. Ehe er in einen Vulkan fiel. Die Herzogin hatte ihm einen wertvollen Rubin geschenkt. Tilly ignorierte vornehm die Freundschaft und erbte den Rubin, als Herr Schuch in den Vulkan gefallen war. Nun war aber der Rubin weg. Und Tilly war eine sehr schöne Witwe . . .

Das waren so ungefähr die Gedanken, die den Herren Reubke, Mücke und Schwammerl in gleicher Folge und Stärke Hirn und Herz bewegten.

Auch Erich und Bergemann dachten diese Gedanken. Bei diesen beiden aber hatten die Erwägungen eine ganz leicht fröhlich-ironische Färbung; und ihre Blicke wanderten vergnügt forschend über die Gesichter der drei teilnahmsvoll dreinschauenden Kavaliere.

»Gounod ist mir stellenweise noch lieber als Wagner«, sagte Grabusch und nahm seine dicken Hände vom Klavier.

Das war zuviel für Elisabeth Hunneberg. Erst hatte der Rubin, der gar nicht einmal vorhanden war, ihr alle Aufmerksamkeit der Herren entzogen und mit dem Glanz seiner Abwesenheit auf Tilly Schuch gelenkt. Und jetzt hörte sie aus Grabuschs Bemerkung auch noch eine Spitze gegen den verklärten Schöpfer ihrer Rollen, gegen den – nicht Urheber wollte sie denken, aber immerhin – Verbündeten ihrer Triumphe.

»Guten Abend!« sagte sie kühl, und als ob sie an einer Galerie von Pagoden entlang streife, rauschte sie an den Anwesenden vorüber. Gefolgt von Hobsen, der ärgerlich erwog, ob alle diese Erregungen, die er nicht begriff, ihrer Stimme schaden möchten, die er doch gekräftigt nach Amsterdam zu liefern hatte.

Grabusch sah ihr verblüfft nach. Er hatte Wagner nur erwähnt, um ihn als Brücke zu benutzen. Die war nun unter ihm gebrochen.

Der Amtsgerichtsrat war nicht gern allein, wenn er sich ärgerte, das hatten früher schon seine Referendare mit Mißvergnügen bemerkt. So faßte er den in seiner Nähe stehenden Schwammerl am Arm und zog ihn mit nach der Tür.

»Gehen wir noch etwas ums Promenadendeck. Das ist gut für Ihren Schnupfen!«

Schwammerl, der das eigentlich nicht vorhatte, setzte sein Steirerhütel auf und folgte willig. Er ließ sich überhaupt gern lenken.

»Sehen S', Herr Rat,« sagte er, den etwas heftigen Spaziergang mit dem alten Herrn beginnend, »wann andere einen Schnupfen haben – so haben s' halt den Schnupfen. Aber wenn meine Schleimhäut' in der Nasen gereizt sind – also, bitte, das ist eine Katastrophe! Ich bin doch nämlich . . .«

»Man sieht nichts mehr von Barcelona«, sagte der Rat, einen kleinen Augenblick stehenbleibend.

»Nein. Nix. Wie wegg'wischt. Das hat man so bei der Nacht, ja. Mein Beruf nämlich, sehn S', Herr Rat, der braucht die Nasen. Akkurat wie ein Jagdhund, verstehn S'. Ich hab eine sehr gute Anstellung in einer Parfümeriefabrik, ja. Eigentlich bin ich ein Chemiker – aber ein Examen hab ich nit g'macht. Brauch's auch nit, denn ich hab meine Nasen. Die wird bezahlt, verstehn S'. Also – die raffiniertesten Gerüch'n der Konkurrenz, ich riech's raus, was drin is. Und was die Stärke anlangt von unsre Fabrikate – ich halt so a Flascherl ans linke Nasenloch und sag bloß: ›Noch mehr Heliotrop zugeben – oder a wenig Reseda noch – oder so!‹ Und allemal schlagen wir die Konkurrenz. Bloß mit der Nasen. Und nu auf einmal krieg ich – was? Einen Schnupfen! Ich!! Einen chronischen, verstehn S' – der Arzt sagt, das sind die schlimmeren, sagt er, die chronischen. So einen hab ich. Nu hab ich ja, Gott sei Dank, meine Nasen versichert, natürlich. Denn meine Nasen ist mein Kapital, nit wahr? So was assekuriert man doch, nit wahr? Wenn ein' andern sein Haus abbrennt oder seine Fabrik, das ist so, wie wenn ich – den Schnupfen hab, nit wahr?«

»Von Malaga fahren wir direkt nach Granada?« fragte Grabusch.

»Ja, i glaub. Malaga is nit sehr unterhaltlich, denk ich. Aber Granada – da soll so ein altes Schloß sein, ja. Malaga ist bloß der Wein. Aber da, verstehn S', Herr Rat, da muß ich sehr vorsichtig sein, sehr. Bei einem chronischen Schnupfen, sagt der Arzt, ist der Wein schlimm, sagt er. Und ich hab einen chronischen. Jetzt hat mich also die Versicherungsgesellschaft auf die Reisen geschickt. Denn, sagt sie sich, wenn ich in Wien bleib, so vergeht er nit, der chronische. Aber das Meer – o ja, das Meer! Wissen S', kein Staub und so. Haben S' schon mal beobachtet, Herr Rat, wenn Sie auf der Kärntnerstraßen sich die Nasen putzen und dann Ihr Nastüchel beobachten tun – also bitte, und jetzt betrachten S's mal auf'm Wasser, wann Sie sich bedient haben, das Nastüchel, bitte. Also überhaupt nit zu merken, daß Sie sich g'schneuzt haben.«

»Majestätisch ist sie, diese Wagnersängerin,« sagte Grabusch, »fast möchte man sagen junonisch. Und bei der Seekrankheit hat sie sich auch nicht schlecht benommen. Nur schlecht ausgesehen. Haben Sie eine Ahnung, wer – hm – wer der Vater dieses Fritzchens war?«

»Nein, daß i nit wüßt. Aber sehen S', Herr Rat, daß ich Ihne sag: nu war das ganz gut mit dem Schnupfen. Da mußt mich der Deifel reiten, daß ich mich so a wenig . . . wie sag ich schon – a wenig verlieb, ja. Ich weiß zwar noch nit recht, in welche von den zwei Damen – aber in eine, is scho richtig, Und also sehn S', Herr Rat, das kost nu wieder die Versicherung a Stangen Gold. Denn verlieben – also verlieben, das is bei meiner Konstitution direkt a Malör für meine Nasen . . . von wegen – die Sach is nämlich die . . .«

»Ich habe sie als Brunhilde gehört«, sagte Grabusch. »Das Hoi–o–to–ho, – machen Sie ihr das mal nach!«

Schwammerl äußerte sich dahin, daß er das nicht vorhabe. Aber dann war er gleich wieder bei seinem Schnupfen und seinen Herzenszuständen.

Und so spazierten die beiden, der Amtsgerichtsrat und der Wiener mit der hochversicherten Nase, noch eine Stunde und länger um das Promenadendeck herum. Jeder ohne recht zu hören, was der andre sagte und fragte; jeder erfreut, daß ein atmender, redender, fühlender Mensch, dessen Körperwärme im Arm zu spüren war, neben ihm ging.

In den Luken der Kabinen war Licht um Licht erloschen. Eine Fracht schlafender, träumender Menschen trug die »Astarte« durch das friedlich geglättete Balearische Meer.

In Kabine Nummer 17 auf dem Promenadendeck aber lag ein junger Mann mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Durch die Luke, die der Leichtsinnige offen gelassen, fingerte ihm der spanische Mond silbern um das trotzige Kinn und den weichen, gutmütigen Mund, über dem, ein Schatten, das englisch geschnittene Bärtchen lag.

Und der junge Mann träumte, daß er in der Arena einem Stier gegenüberstehe, der gute Lust bezeige, ihn auf die lyraförmigen Hörner zu nehmen.

Und jetzt mußte auch so etwas geschehen sein. Aber – seltsam, weh hatte es gar nicht getan. Und neben ihm kniete eine barmherzige Schwester, oder nein – kniete eine Madonna aus Padua. Die war eigens aus S. Giustina gekommen, sagte sie. Und rasch nahm sie den Heiligenschein aus ihren dunkelgewellten Haaren und hing ihn an den Kleiderhaken. Und sie kniete nieder bei ihm und verband ihm die Wunde, die gar nicht weh tat. Und Grübchen hatte sie in ihren hübschen, festen, behutsamen Händen. Und – sieh mal an – einen wunderschönen Rubin hatte die Madonna am Finger, und sie sagte, den habe ihr eine Herzogin geschenkt . . . Jetzt gab sie ihm Arznei – die schmeckte gar nicht bitter, schmeckte wie Türkenblut . . . Er lag aber nicht mehr in der Arena – ei, nein, er lag in einem sauberen Bett auf einem weißen Schiff . . . und durch die Luke sah der Stier herein, gar nicht bös, sondern vergnügt und freundlich, und hatte den runden goldenen Mond mitten zwischen den lyraförmigen Hörnern . . . Aber neben ihm, ganz dicht – seine Hand fühlte die ihre – saß die Madonna aus S. Giustina in Padua und sagte, seine Mutter brauche sich gar nicht zu ängstigen, wirklich gar nicht . . .

Eine Fracht schlafender, träumender Menschen trug die »Astarte« in mondheller Frühlingsnacht durch das Balearische Meer.

 


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