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Hänschen sang wundervoll an diesem frühen Morgen, der die »Astarte« langsam, ganz ins Gold der Frühe getaucht, in den Hafen von Malaga trug.
»Morjen!« sagte Mücke gönnerhaft. Er kam im orangefarbenen, weiß verschnürten Pijama aus dem Bad und erinnerte Erich an die ekelhaft süßen Vanillestengel, die seine Jugend so gerne auf den Juxplätzen – drei für einen Groschen – erstanden hatte.
Und im Weiterschreiten äußerte Herr Mücke: »Ein doller Vogel! Egal vergnügt. Und weshalb? Weil er in einem schuhlangen Käfig sitzt, während alles um ihn rum tut, was es will.«
Ob das nun ein Monolog war oder eine für den Hörer bestimmte philosophische Betrachtung, erfuhr Erich nicht, da Arthur Mücke bereits auf seinen geräuschlosen Bastschuhen in seine Kabine verschwunden war.
Auf der Treppe zum Promenadendeck begegnete Erich Hilde, die mit einem freundlichen Morgengruß rasch vorüberhuschen wollte. Er aber sprach sie an.
»Wir fahren schon ein, Fräulein?«
»Wir werfen gleich Anker, Herr Assessor.«
»Um Gottes willen, lassen Sie den Assessor! Der ist schon daheim im lieben Deutschland nicht viel, aber nun gar auf dem Wege zur Alhambra! Kommen Sie auch mit an Land?«
»Das geht doch nicht. Es bleiben ja einige von meinen Damen an Bord. Ein paar von den ungarischen Herrschaften. Und vielleicht auch Frau Tiegs. Ich soll gerade in ihrem Auftrag den Kapitän fragen, ob die spanische Eisenbahn Malaga-Granada zuverlässig sei.«
Erich sah den Schalk in Hildes hübschen, dunklen Augen blitzen. Und ihm fiel ein, daß sie es war, die heute nacht in seiner Kabine den Heiligenschein, wie einen Hut, abgenommen und an den Haken gehängt hatte. Was es doch für respektlose Träume gab! Er hätte ihr gern das wunderliche Abenteuer seines Schlafes erzählt, aber er fand doch, daß Ort und Stunde nicht besonders gut dazu gewählt waren. Um so weniger, als Beppo, der Barbier, jetzt gerade die Treppe heraufstürzte, der Mücke rasieren sollte. Und ein paar Ungarn kamen lärmend aus ihren Kabinen.
»Aber Sie freuen sich doch auch auf den Hafen . . .?« fragte Erich und nickte freundlich im Weitergehen.
»Nicht so sehr.«
Sie war schon verschwunden, als er, mitten unter den Ungarn, die Antwort hörte. Warum freut sie sich nicht? dachte er. Sie ist jung, hat offene Augen, sieht ein schönes Stück Welt . . . Vielleicht weil wir an Land gehen, und sie . . .? Weil ich an Land gehe . . .? Er mußte selbst lachen über die blöde Vorstellung. Aber knüpfte doch wieder an: wenn er so, wie er so oft mit Anny nach Wannsee gefahren war, um im Schwedischen Pavillon zu Abend zu essen, oder nach Rheinsberg, ihr vom Alten Fritzen zu erzählen . . . wenn er so mit der kleinen Heiligen von S. Giustina hätte nach der Alhambra fahren können . . . Donnerwetter, ja, die Alhambra! Er hatte gestern noch rasch allerlei Historisches darüber nachgelesen und auch einen Plan studiert. Und jetzt fegten ihm so die Namen und Zahlen im Hirn herum: Mohammed I. und Karl V. und die Naßriden und die Abencerragen. Aber es war keine rechte Ordnung in die Sachen zu bringen. Man müßte eben als Kulturmensch, wohl vorbereitet und studiert, die »rote Feste« besteigen; er aber hatte sich von einem Abend zum andern Morgen entschlossen. Oder eigentlich hatte die Herrin des unter Hypotheken langsam einstürzenden »Eugenienhofs« ihn zu der zerfallenen Prunkburg der längst aus Spanien und der Welt entflohenen maurischen Kalifen gescheucht.
Der Morgen war herrlich. In der Spitze des Schiffes traf er Bergemann, der, das Glas in der Hand, interessevoll die Einfahrt beobachtete.
Drei braune Matrosen und ein flinker, nacktfüßiger Schiffsjunge rollten das starke Tau auf, das, wie eine riesige Schlange glatt und wie mit gebändigtem Eigenleben, durch ihre rauhen, festen Hände lief. Da unten, im breiten Schiffsboot schaukelnd, führten zwei Ruderer den Kopf dieser Schlange hinüber nach dem Kai; und als scharfer grauer Strich schleifte das Tau im grünlichen Hafengewässer nach. Die Ankerketten, von Mannschaften in blauen Kitteln bedient, ließen ihre gewaltigen Eisenglieder über die Zahnräder rasseln. Der erste Offizier, die weiße Kappe im Nacken, steht ganz vorn in der Spitze und leitet alles mit Worten und Winken. Ein paar italienische Kommandos von oben. »Ferma!«
An der Kaimauer zwischen den roten Fässern kommt Bewegung in eine Gruppe ziemlich zerlumpter Burschen. Zwei werfen ihre Zigarettenstummel weg und springen an den Steinrand. Die Matrosen aus dem Boot reichen das Tauende hinauf, das am eisernen Haken verstaut wird. Das Schiff gleitet leise, langsam, ohne Dampf. Die Maschinen arbeiten nicht mehr. Der Kai schiebt sich näher und näher. Die breite graue Masse der Kathedrale von Malaga, über dem grünen Gürtel von Bäumen, das Häusergewirr beherrschend, scheint, wie ein riesiger Feind, drohend heranzurücken.
Ein leiser Ruck, das Bild steht. Die kahle Mole blendet mit ihren weißen Quadern von links herüber. Dahinter liegen Schornsteine, Fabriken. Ein Wäldchen schließt sich an, schattenversprechende Bäume in all dem Weiß, vielleicht ein Park. Die Stadt liegt in der Morgensonne unter den abschließenden, schöngeschwungenen Bergen. Alte Befestigungen scheinen ihre trotzigen grauen Mauern vorschieben zu wollen aus dem Gewirr der weißen und rosafarbenen Häuschen. Auf dem kahlen Rücken des nahen Hügels ein paar Pinienschirme, unbewegt, wie spielerisch eingesteckt.
Nur wenige Dampfer liegen im Hafen. Alt, müde, grau, vom Morgen unberührt. Auf einer kleinen weißen Lustjacht aber regt sich die Neugier. Ein paar geringe Barken schaukeln am Kai. Oben ziehen nickende Maulesel bedächtig die hochrädrigen Karren, die seitlich mit seltsamen, hohen Stöcken besteckt sind.
Ein paar Zigeunerinnen in Lumpen, aber Gold in den Ohren, strecken bettelnd nach dem Schiff die hagern braunen Arme aus. Eine hält einen Säugling an der Brust. Ein Mädel von ein paar Jahren springt vergnügt zwischen zwei Pudeln herum. In ihrem Holztellerchen klappern ein paar Kupfermünzen. Würdig, steif, teilnahmlos stehen zwei Gendarmen am Steg. Die tellerartigen, hinten aufgeklappten Lackhüte spiegeln in der Sonne. Das gelbe Riemenzeug des Tornisters glänzt.
»Das da hinten,« sagte Kloppenbusch, an die Herren herantretend, »das ist der Camino del Palo.« Er zeigte dabei auf die angenehme Rundung eines Hügels zur Linken und war stolz auf diese Wissenschaft, die er beim hastig genommenen Frühstück eben von einem Steward bezogen hatte. Er war schon ganz gerüstet für die Landung, mit Tasche und Feldstecher behangen und einen Lodenmantel über dem Arm. Da die beiden Herren schwelgend in das Stadtbild versunken blieben, hielt er allgemeine Betrachtungen für angebracht. »Wenn man so denkt,« sagte er und nickte ernst vor sich hin, »da ist man zum Beispiel krank. Oder man war krank. Und der Arzt sagt: ›Herr Kloppenbusch,‹ sagt er, ›trinken Sie Malaga!‹ Und man trinkt Malaga. Die Flasche zu drei Mark fünfzig. Aber eine Ahnung, wo das Dings liegt, wo das Zeug wächst, hat man nicht. Und dann spielt man in einer Wohltätigkeitslotterie, wo's sonst bloß Regulatoren zu gewinnen gibt und Musikalbums mit kaputten Federn und Vasen, die umfallen, wenn man sie bloß ansieht – und bums! gewinnt man ein Billett und – ist in Malaga. Man steht mit einemmal, wo bei Wein wächst, die Flasche zu drei Mark fünfzig. Also – wenn so was nicht wunderbar ist und gewissermaßen das Dasein einer höheren Macht beweist, die man ›Fügung‹ nennen könnte – oder so . . .«
Herr Kloppenbusch verbreitete sich dann noch über die weitere Wirksamkeit dieser Macht, die man Fügung nennen konnte; erzählte, daß es zum Beispiel sein Onkel selig niemals geglaubt hätte, daß er, Kloppenbusch, der bei ihm Lehrling war und das Baumwollenfach lernte, einmal Granada besuchen würde. Denn eine bestimmte lilafarbene Baumwolle, die viel zu Strümpfen verstrickt wurde, hieß Granadawolle. So erhielt Herr Kloppenbusch als Jüngling durch den Onkel, dessen Bildung bis nach Spanien reichte, die erste Belehrung darüber, daß Granada eine wundervolle Stadt sei mit einem Schloß aus der Zeit der Mauren. Diese aber hätten, wie alles Heidentum in der Welt, was der Onkel mit Genugtuung konstatierte, dem Christentum weichen müssen; und der letzte Maurenkönig sei unter Zurücklassung großer Kostbarkeiten . . . Kostbarkeiten! Dabei fiel Herrn Kloppenbusch ein, daß der Ring, der Ring der Frau Schuch, immer noch nicht gefunden sei.
»Denken Sie nur,« sagte er, und die Erinnerungen an Granada, den Onkel und die Sarazenen versanken vor der Wirklichkeit, »denken Sie nur, der Kapitän bleibt an Bord. Wegen der Untersuchung. Sein Teckel liegt ganz oben auf dem Brückendeck in der Sonne. Der Funkentelegraphist sagt, das tut der Prinz von Indien immer, wenn sein Herr besonders schlechter Laune ist. Ich denke mir: der Kapitän wird das Gepäck der Reisenden durchsuchen lassen, wenn alle an Land sind.«
»Der Passagiere?« Erich streifte Kloppenbusch mit einem merkwürdigen Blick. »Das wäre denn doch . . .«
Kloppenbusch fühlte sich von der eigenen Vermutung stark angeregt und war erfreut, endlich wenigstens einen der Herren in so etwas wie einen Dialog verwickelt zu haben. Seine Ansprüche an die Antworten der andern waren bescheiden, wenn er nur einhaken und weiterreden konnte. »Ich bitte Sie, was soll er tun, der Kapitän? Daß Frau Schuch den Ring noch besaß, als sie nach der Stiermetzgerei an Bord kam, ist durch Zeugen festgestellt.«
»Man irrt sich da leicht.«
»Aber nicht drei Leute zugleich. Es kommt also, da ein Verlust ausgeschlossen scheint – sie haben ihr die Kabine um und um gewendet – nur ein Bediensteter in Betracht oder ein Passagier. Ein Bediensteter? . . . Wer? Hm, die kleine hübsche Stewardeß – wie heißt sie doch . . .«
»Giustina,« sagte Erich, wie aus einem Traum aufsehend, verbesserte sich aber sofort: »Hilde Pauly . . .« Und eifrig fügte er hinzu: »Ich glaube wenigstens, so hört' ich's vom Kapitän.«
Bergemann ließ seine klugen Augen auf dem Antlitz des Sprechers ruhen. Erich fühlte es; fühlte auch, daß ihm Blut in die Wangen stieg, und daß seine Ohren heiß wurden. Das ärgerte ihn. Und so fuhr er Kloppenbusch ziemlich heftig an: »Sie werden doch nicht auf den unsinnigen Einfall kommen, daß dieses todanständige Mädel einen Ring . . .«
Kloppenbusch wich zurück. »Ich – wieso ich? Aber nein. Meiner Ansicht nach kann das Mädel seine Siebensachen genau so ruhig durchsuchen lassen wie Sie, Herr Assessor . . .«
»Wie ich –? Natürlich.« Erich hatte die Vision einer Anzahl grünseidener Sockenpaare, zwischen denen ein weißes Lederkästchen . . . Er sah den Kapitän, ungewohnten Ernst im glattrasierten Gesicht, das ein ganz klein wenig an eine gescheite Dogge erinnern konnte, aus den Kabinen treten, das Etui auf der breiten, flachen Hand. Und die Offiziere, Stewards, Köche, Schiffsjungen umdrängten ihn. Ganz vorn aber stand ein junges Mädel im enganschließenden, dunklen Kleid der Stewardessen, eine silberne Marguerite unter dem hübschgeschwungenen Kinn. Ihre braunen Augen, weit aufgerissen vor Schreck, schienen zu sagen: »Das ist doch nicht möglich – der Assessor?« . . . Die Frühsonne über Malaga machte aber doch schon sehr warm.
»Haben Sie schon gepackt, Sanitätsrat? Es sind ja nur zwei Tage, die wir von Bord bleiben, aber . . .«
»In aller Herrgottsfrühe hab' ich ein bißchen was zusammengerafft in meine kleine Ledertasche. Ist übrigens noch Platz, Herr Erich, wollen Sie Ihr Nachthemd und Ihre Toilettensachen dazupacken . . .?«
»Danke, nein. Ich denke, die Temperaturen wechseln hier rasch. Ich will doch lieber den Handkoffer mitnehmen mit einem wärmeren Anzug für den Abend.«
Erich entfernte sich mit eiligen Schritten. Bergemann sah ihm befremdet nach. Sein junger Freund schien ihm etwas nervös heute. Sollte doch die Wunde wieder ein bißchen zu schmerzen beginnen? Oder . . .
Kloppenbusch hatte keinen aufmerksamen Zuhörer für seinen Bericht, daß Fräulein Viktoria von Öltzendorff den Kapitän um den Rest seiner Laune gebracht habe durch ihr dringliches Verlangen, daß die vermißten Gegenstände in der Reihenfolge der Entdeckung ihres Verlustes gesucht werden müßten: das heißt, daß man erst ihres Bruders goldene Stockkrücke und dann erst den Rubinring der Frau Schuch herbeizuschaffen verpflichtet sei. Sie hatte sich dabei auf die Gepflogenheiten der englischen Polizei auf Malta und in Ägypten berufen und die Geschichte der Mumie eines Pharao begonnen, die eines Nachts aus dem Museum in Giseh entwendet wurde. Am Abend vorher aber war einem Herrn aus Liverpool im Hotel des Pyramides sein Kodak gestohlen worden. Und die englische Polizei hatte mit der den Engländern eigenen Korrektheit sich keinen Augenblick um die Mumie der ägyptischen Majestät gekümmert, bevor sie dem Landsmann aus Liverpool seinen Kodak, allerdings in zertrümmertem Zustand, wieder übergeben hatte.
Bergemann hatte instinktiv gut daran getan, dieser mit Beispielen belegten Hymne auf die Polizei der von Viktoria von Öltzendorff sehr geschätzten Engländer in der Erzählung Kloppenbuschs keine Beachtung zu schenken. Denn als er eine halbe Stunde später mit Erich und den beiden Öltzendorffs – es hatte sich gerade so gemacht – in einem Wagen zur Bahn fuhr, würzte Viktoria von Öltzendorff die reichlich staubige Durchquerung Malagas mit dieser selben Geschichte, der sie ein sehr instruktives Beispiel nach den Erzählungen eines Obersten aus Britisch-Indien folgen ließ.
In dem durch Reinlichkeit nicht ausgezeichneten Durchgangswagen erster Klasse, den Mister Hobsen für die deutsche Gesellschaft belegt hatte, entwickelte sich fröhliches Leben. Die Schönheit des Frühlingsmorgens, die Aussicht, Granada zu sehen, bei einigen auch die Gewißheit, sechsunddreißig Stunden bestimmt nicht seekrank werden zu können, hatten günstigen Einfluß auf die Laune. Grabusch vergaß sogar, daß sein Kabinengenosse Zwingenberg diese Nacht schrecklicher geschnarcht als die Nächte vorher und am Morgen sich schon wieder mit seiner, Grabuschs, Seife gewaschen hatte. Auch daß er unterm Arm Fritzchens, des lieben Jungen, wieder Schwammerls Geschenk, das Segelschiff, entdeckte, konnte ihm den schönen Morgen nicht verderben, der ihm Elisabeth Hunneberg gegenüber, die in ihrem hellblau gemusterten Foulardkleid alle Verehrer junonischer Formen durchaus zufriedenstellen mußte, den Platz am Fenster angewiesen.
Tilly Schuch schien in der frohen und von ihrer Umgebung kühn genährten Zuversicht, daß in ihrer Abwesenheit der Kapitän mit aller Geistesschärfe den Ring persönlich suchen werde, das schreckliche Erlebnis im muntern Gespräch vergessen zu wollen. Schwammerl imitierte die Abfahrtsgeräusche auf einem Zug der Brennerbahn. Reubke zeigte Photographien von jenem bewegten Vormittag herum, der ihm die seekranken Opfer wehrlos vor seine unbarmherzige Kamera ausgeliefert hatte. Dadurch, daß er mehrmals dieselben Platten benutzt hatte, erhielten viele Figuren so etwas Transparentes, Okkultes, Vierdimensionales. Es war entschieden sehr lustig zu sehen, wie auf einem Stuhl mit acht Beinen ein seltsamer Körper lag, der oben zwei Köpfe zeigte, das leidensmüde Haupt Kloppenbuschs und den auch im Schmerz schönen Kopf der Frau Tiegs; und es war gewiß kein gewöhnliches Amateurbild, wenn auf einem andern dieser wertvollen Blätter der Schiffsarzt Lux, gefolgt vom Teckel Peterle, mitten in den Bauch des in einen karierten Schal gewickelten Rentiers Zwingenberg hineinmarschierte.
Öltzendorff empörte sich über die schlechten spanischen Postverbindungen, die ihm hier in Malaga Nummern der Kreuzzeitung ausgeliefert, die zehn Tage zurücklagen und außerdem so abscheulich zu riechen schienen, daß er sie auf dringenden Wunsch seiner Schwester Viktoria, gleich als sich der Zug in Bewegung setzte, aus dem Fenster werfen mußte. Es stellte sich allerdings bald heraus, daß es nicht die Journale gewesen, die diesen Mißduft verbreitet, sondern daß vielmehr das ganze Coupé an sich und aus sich heraus so übel roch. Was Fritzchen, den lieben Jungen, der es auch merkte, zu einer so drastischen und für einen allerdings nicht Mitreisenden verletzenden Vermutung veranlaßte, daß ihm seine Mutter, die große Wagnersängerin, mit einer großen Geste, aber doch lachend, den Mund zuhielt.
Erichs Gedanken waren nicht recht bei den Fahrtgenossen. Er machte wohl hin und wieder seine kleinen Beobachtungen, aber im wesentlichen flogen seine Gedanken doch immer zu der fatalen Ringangelegenheit zurück. Da oben in der großen gelbledernen Reisetasche, die er sich noch rasch in Genua gekauft, lag nun zwischen den Socken der Rubinring. Daß man eventuell in seinem Portemonnaie auch die überall längst ungültigen griechischen Silbermünzen noch finden konnte, die er beim Ankauf dieses Gepäckstückes herausbekommen hatte, konnte den Verdacht kaum mindern. Freilich, Bergemann würde bezeugen . . . Was denn? Bergemann hatte den Vater gut gekannt: ihn aber kannte er erst ein paar Tage; hatte ihn in Büssigheim rasch seine Entschlüsse, in der Bahn häufig seine Stimmungen wechseln sehen. Und warum hatte er Bergemann nicht den Ring schon vorher gezeigt, wenn er ihn ehrlich besaß? Übrigens . . . Bergemann schien ihm der einzige, der diese Fahrt in richtiger Weise genoß. Schweigend und ein glückliches Lächeln um den Mund, nur zuweilen im Reisebuch nachprüfend, sah er hinaus in die Gegend.
Mein Gott – Gegend! Schließlich war man doch in Spanien. Erich ärgerte sich, daß er über der dummen Geschichte den Reiz der wechselnden Bilder so wenig genoß. Er gab sich Mühe zu sehen, statt zu denken. Links und rechts die Felder im Sonnenschein, wie gelbe und grüne Teppiche über die Hügel geworfen, deren kahler Buckel da und dort eigensinnig die fruchtbaren Decken durchbrach. Von breiten Hüten überschattet, standen die Bauern breitbeinig im Feld und schnitten das Korn. Im Mai! Glückliches Land, das zweimal ernten kann! Jetzt trat das Gebirge heran. Kahl und runzlig, wie die Rücken abgetriebener Maulesel, die Felsen. Rechts und links Kakteen, immerzu Kakteen, riesige Kakteen. Einmal ein paar hübsche Granatbäume, darunter pflügende Stiere. Jetzt ging's an einem ausgetrockneten Flußbett entlang. Kahl und trostlos lag die riesige Rinne mit ihren trockenen Steinbuckeln im Tal.
»Also man meint, man is in den Dolomiten«, sagte Schwammerl; und diese herzliche Heimaterinnerung gab ihm Veranlassung, etwas näher an Tilly Schuch heranzurücken, die nicht allzuviel Platz hatte, da auf der andern Seite Kreuzwendedich von Reubke, vielleicht dichter als nötig, an sie herangerückt war. Dieser Kavalier freute sich besonders der Kurven in den Tunnels, die ihm erlaubten, seine Ellbogen, in denen er ein feines Gefühl besaß, die Molligkeit des Armes der Nachbarin genießen zu lassen.
Tunnels gab es genug. Otto Häfele und seine junge Frau waren mit der Strecke sehr zufrieden. Sie saßen im andern Abteil mit Scupinsky und Selma, die für Granada einen riesigen purpurroten Hut mit ebensolchen Federn gewählt hatte, der bei einem Stiergefecht bedeutende Gefahren hätte heraufbeschwören müssen. Ihre Erzählungen aus der Wiener Gesellschaft – die, wenn man ihren Andeutungen glaubte, in ihr allmählich einen Ersatz für die Fürstin Metternich-Sandor fand – ergötzten den neben ihr sitzenden Grabusch wenig. Diesen hatte ein Mißgeschick gleich nach Beginn der Fahrt von Elisabeth Hunneberg getrennt, mit der er gerne, den üblen Eindruck seiner letzten musikalischen Gespräche zu verwischen, über den »Tristan« gesprochen hätte.
Scupinsky hatte sich Mücke gerade gegenüber placiert und spießte den Gent, der heute blasser war als je und emsiger als sonst sein spiegelblankes Monokel putzte, mit seinen stechenden Augen, während er seltsam zerrissene Unterhaltungen mit dem widerwillig Antwortenden führte.
»Sie lassen, wenn ich fragen darf, in Nizza arbeiten, Herr Mücke?«
»Ja. Ist es erlaubt, das Fenster ein wenig zu öffnen?«
»Gewiß. Hm. Die Schneider in Nizza sind sehr teuer, ich kenne die Preise. Sie haben diesen hübschen Flanellanzug erst vor der Reise anfertigen lassen?«
»Allerdings. Er sieht teurer aus, als . . .«
»Gedenken Sie ihn noch oft zu tragen?«
Der Kerl will doch keine alten Sachen kaufen, dachte Grabusch in seiner Ecke.
»Das hängt davon ab«, gab Mücke mit einem gewissen Trotz zurück. Und Grabusch, der vergebens seine Gedanken auf den »Tristan« zu konzentrieren suchte, dachte, von was das wohl abhängen möge.
»Wie lange fahren wir eigentlich noch bis Amsterdam?'
»I glaub, so Stücker zehn, zwölf Tage –« Es war Selma, die ihn belehrte, da sonst niemand sich mit dem Kalender befassen zu wollen schien.
»Das ist ja noch ein ganzes Leben, was da vor uns liegt bis zur Trennung.« Scupinskys Lächeln, mit dem er das zu Mücke hinübersprach, war ohne Lieblichkeit. Grabusch dachte, was man wohl mit einem Leben von zehn Tagen viel anfangen könnte. Immerhin, solches Leben allein in Gesellschaft des Edlen von Scupinsky zu verbringen, mußte nicht angenehm sein.
Dann kam wieder ein Tunnel, und Grabusch hörte deutlich das leise schmatzende Geräusch, das bei plötzlichen Verdunkelungen auf der Strecke stets aus der Richtung des Ehepaares Häfele lautbar zu werden pflegte.
Als der Zug den Tunnel verließ, hatte sich Mücke erhoben und stand im Korridor, in dem sich Kloppenbusch über die Sitte des Spaniers, auf den Boden zu spucken, mißbilligend äußerte. »Und dabei«, sagte er, »haben die Leute gar nicht mal hier ihre Plätze. Sie fahren zweiter, gehen hier durch die erste und spucken auf den Boden.«
An einer kleinen Station waren große Frühstückskasten für die Passagiere hineingereicht worden. Appetitlich aufgemacht, ein wenig Huhn, ein Kotelett, ein paar Scheiben Wurst, Orangen, zierliche Viertelliterfläschchen mit rotem und weißem Wein. Die Stimmung wurde immer vergnügter. Besonders als Schwammerl, rasch aus dem Coupé springend, überaus schmierigen, dunkeläugigen Kindern, die da mit herrlichen Blütenwedeln den Zug entlang liefen, ihre duftende Ware für ein paar kleine Silberlinge abgekauft hatte und nun mit zierlichen Verbeugungen allen Damen Bukette überreichte, indem er übermütige Begleitworte sprach: »Also, bitt schön – im allerhöchsten Auftrag Seiner Apostolischen Majestät des Königs von Spanien – bitt schön, zum Willkommen in seinem Land . . . Die Sarazenen lassen Gnädigste recht schön grüßen und täten sich freuen, bitte, wann Gnädigste morgen die Alhambra persönlich beehren wollten . . .«
Und da Reubke nicht zurückbleiben mochte an Unterhaltsamkeit, so griff er seinen Regenschirm aus dem Netz, nahm ihn wie eine Mandoline in den Arm und sang mit ganz hübscher Stimme eine Romanze aus lauter unsinnig zusammengestellten Worten, die ihm spanisch vorkam: »Annis – Torero – Trabucos – Excusados – Señora – Pantalones – Revisador de billetes . . .«
In einem Halbabteil saß Zwingenberg mit dem Ehepaar Tiegs, das sich doch noch zur Fahrt entschlossen hatte, nachdem der Kapitän beruhigende Versicherungen über das spanische Eisenbahnmaterial abgegeben hatte. Zwingenberg unterhielt die Herrschaften mit seinen Befürchtungen, daß es in Granada kein Pilsener geben werde, an das er abends sehr gewöhnt sei. Dann kam er auf seine Köchin zu Hause in Lichterfelde zu sprechen, die ein Juwel genannt werden müsse. Sie verlange zwar zweimal in der Woche Ausgang und tanze dann trotz ihres Umfangs und Alters bis zum Saalschluß in Halensee, aber sie koche wundervoll und fertige zum Exempel ein Hühnerfrikassee, dem sie Kalbshirn und gehackte Morcheln beimenge . . . Adolf Zwingenberg mußte sich das Wasser vom Munde wischen in Erinnerung an diese Genüsse, von denen er die schweigend und in beleidigter Majestät zuhörende Frau Tiegs unterhielt, während der Zug an kahlen Felsen vorüberfuhr und dann wieder an Felsen mit Kletterrosen und wilden Oleanderbüschen; während aus der silbrigen Ferne deutlicher ein großer kahler Bergkoloß vortrat, in dessen Mulden es weiß, schneeig aufglänzte; während an kleinen Stationen schreiende, lachende Kinder Körbchen mit frischen Kirschen und schreckliche, runde Kuchen mit Zuckerguß durch die Gitter am Perron streckten.
Dicht vor Granada zog sich plötzlich ein Gewitter zusammen. Der Regen prasselte, als wollte er die Erde ersäufen. Blitze zuckten ins Land, als sollten alle Felder verbrannt werden. Und der Donner rollte, als ob ein himmlischer Eilzug von hundert Achsen über die trotzig geballten Wolken fahre . . . Dann schnitt plötzlich die Sonne messerscharf die Wolken auseinander, deren graue Fetzen rasch zur Seite flogen. Es war wieder heller, schöner Sommertag. Aber von Hecken und Bäumen und aus den fruchtbaren Feldern, die sich jetzt mit ihrer sturmgeduckten Frucht dicht aneinanderdrängten, blitzte und funkelte es.
Jetzt wird gleich jemand sagen: »wie tausend Diamanten«, dachte Grabusch und ärgerte sich schon im voraus.
Und richtig, Selma mit ihrer Krähstimme verkündete ihre Entdeckung: »Also – akkurat, als wenn jemand hunderttausend Diamanten da hineing'worfen hätt'.«
Grabusch hätte sie auch gern da hineingeworfen.
Im Nebenabteil aber saß Erich, hörte die Poesie der Signora di Venticinque und fröstelte über den Rücken. Nun mußte sie gleich auch »Rubinen« sagen. Aber sie sagte es nicht.
Fast ohne Vorbereitung im Landschaftsbild gingen die Felder in die Stadt über. Ehe man recht sah, daß man einfuhr, war man auf einem kleinstädtischen Bahnhof, dessen stolze Inschrift »Granada« nicht recht passen wollte zu der Dürftigkeit des Baus und seiner Umgebung. Hobsen, der – die andern Herrschaften nicht im Platz zu beengen – die Fahrt in einem bescheidenen, aber sonst leeren Abteil zweiter Klasse mit Agnes Hennerich zurückgelegt hatte und sehr angeregt auf den Perron sprang, hatte telegraphisch für Wagen gesorgt; und man fuhr alsbald über das recht holprige Pflaster wenig imponierender Straßen, an denen einstöckige Häuser sich und ihr Visavis zu langweilen schienen. Auf ein paar hochgegitterten Balkonen standen traurige Blumentöpfe. Hochrädrige Karren, drei, vier oder fünf Maultiere voreinander gespannt, schoben sich mühsam über die glitschigen Steine.
»Wenn ich hörte, wir wären irrtümlich, statt in Granada, in Neu-Böpplingen oder Niederbuchenbach ausgestiegen, würde es mich auch nicht sehr verwundern«, meinte Bergemann und versuchte sich neben Erich so im Wagen zu placieren, daß ihn das aus den Sitzkissen das Seegras durchdringende Holzstück weniger bei jedem Ruck und Stoß genierte.
Erich schwieg. Ihm war unbehaglich zumut. Er konnte die Vorstellung nicht loswerden, daß jetzt der Kapitän die Kabinen durchsuchen ließ, Und dazwischen fiel ihm immer wieder ein, daß auch Hilde in den Verdacht kommen könnte . . . Zum Donnerwetter, was ging ihn Hilde an! . . . Wenn er nun aus Granada den Ring als Muster ohne Wert an seine Mutter schickte? Oder an der Alhambra in den Garten würfe . . . einen Graben mußte die Alhambra doch haben . . . Bloß in dieser Gesellschaft, die man nie los wurde, der man keinen Tritt geben konnte.
»Pardon, das ist mein Fuß«, sagte Bergemann und zog. die Nase rümpfend, sein rechtes Bein zurück.
Erich entschuldigte sich. Er sei in Gedanken. Das Bild Granadas verwirre ihn.
»Na,« sagte Bergemann lächelnd, »bis zu dieser Straßenecke war nicht allzuviel zum Verwirren. Aber jetzt, scheint mir, biegen wir in elegantere Geschäftsstraßen ein. Ei ja – ich nehme Neu-Böpplingen und Niederbuchenbach zurück. Es könnte Mailand sein, so um die Galerie herum, oder Neapel. Freilich nicht gleich die Via Roma – aber ganz hübsche Läden.«
»Viele Juweliere sind hier«, bemerkte Erich.
»Ja,« lachte Bergemann vergnügt, »da könnte einer der drei Kavaliere, die mottenhaft um das blonde Licht des Köpfchens der Frau Tilly Schuch flattern, sich beliebt machen; könnte der Dame einen Ersatz für den Rubin der Herzogin kaufen. Die Erinnerungen, die sich an das Original knüpfen, gibt sie, glaub' ich, billig. Aber ich habe so meine Ahnung, als ob diese drei Kavaliere mit ihren Finanzen nicht so gut in Ordnung sind, wie – trotz der Juweleneinkäufe – diese hübsche, aber – unter uns – ein bißchen törichte Witwe.«
Erich kämpfte mit sich. Sein Blick irrte, ohne recht zu sehen, die Häuser entlang. »Sanitätsrat!« begann er.
Bergemann legte ihm die Hand auf den Arm. »Sehn Sie die hübschen Blumen, die das schwarze Mädel dort trägt. Aber – nicht ›Sanitätsrat‹! Wenn ich ›Sanitätsrat‹ höre, sehe ich Grabkreuze mit Sprüchen darauf. Sagen Sie zu mir Bergemann, und ich will zu Ihnen Erich sagen. Da bleibt immer noch die Distanz des Alters gewahrt, die wirklich nicht mein Verdienst ist.«
»Herzlich gern. Also – lieber Bergemann, hören Sie. In meinem Koffer . . . Oder, nein: in Büssigheim, im Abtzimmer . . . Oder, nein, so: in der Tauentzienstraße in Berlin . . .«
»Um Gottes willen, das wird eine lange Geschichte, Erich, wenn sie schon im ersten Kapitel dreimal den Schauplatz wechselt – vergessen Sie nicht. Aber sehen Sie erst mal – das ist ja herrlich, einfach herrlich!«
Sie bogen auf breiter Fahrstraße in einen wundervollen Park ein. Links und rechts hohe Laubbäume, vom Regen gewaschen, mit glänzenden Blättern. Ein leichter Wind warf noch Tropfen von den Ästen auf den moosigen Boden. Das köstliche Aroma einer reichen, getränkten Pflanzenwelt strömte würzig über sie hin. Alles atmete Frische und Leben nach dem Gewitter; und die warme Sonne, die sich schon zum Untergang neigte, warf, die üppigen grünen Schirme durchbrechend, goldne und violette Lichter hinein.
Die Pferde zogen eine Weile schwer bergan, bogen kurz ab und standen.
»Ist das die Alhambra?« Kloppenbusch stand in seinem Wagen auf und rief es sehr aufgeregt.
Hobsen, der im ersten Wagen gesessen hatte – mit Elisabeth Hunneberg, Grabusch, Agnes und Fritzchen, dem lieben Jungen –, machte hier, neben einer Regenpfütze stehend, zwei Kellner mit englisch phlegmatischen Gesichtern hinter sich, die Honneurs.
»Nein, die Alhambra ist das nicht. Aber das Hotel Alhambra Palace, in dem wir . . . Bitte, hier herein, meine Damen . . .! Ach, Sie bewundern schon die Souvenirs, die Sie morgen kaufen werden.« Und sich an den Hoteldirektor wendend, sagte er in einem etwas amerikanischen Englisch: »These are for the party for whom I ordered the rooms. I ask perhaps, to give the ladies rooms in the first story, the gentlemen can help themselves.«
Die Ankömmlinge kamen aus dem Staunen nicht heraus. Das war allerdings nicht der herkömmliche Typus eines erstklassigen Hotels. Man sah zwar sofort, daß hier nichts fehlte an Komfort, Bedienung, Behaglichkeit. Aber die Bedürfnisse des modernen Kulturmenschen waren gewissermaßen eingebaut in alte maurische Architektur. Die internationale Gegenwart war versteckt in die vergangene Herrlichkeit der Sarazenen. Gewölbbogen, auf schlanken Säulen ruhend, Hufeisenbogen aus roten Steinen über den Eingängen in die Säle. Überall der Fries farbiger Arabesken, die ihre Linien und Bänder seltsam und doch zu regelmäßig wiederkehrenden Figuren verschlangen. Orientalische Teppiche in köstlichen Farben über die Steinböden verstreut. An Ketten niederhängende Ampeln aus getriebenem Kupfer. Und zwischen all dem Alten, Orientalischen, das an längst vergangene Zeiten mahnte, an heiße südliche Länder, an kühle Moscheen, an gemauerte Bäder, an Tausendundeine Nacht und ihre Phantasien, Karawanen und Fabelschlösser – die hellen, leichten englischen Korbmöbel.
Verwirrt, staunend, schweigend gingen Bergemann und Erich hinter einem würdig auf lautlosen Sohlen voranschreitenden Kellner über kühle Gänge, breite Treppen nach ihren nebeneinander liegenden Zimmern im zweiten Stock. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus trug Erich seinen Koffer selbst. Auch als ihn der Kellner an der Zimmertür nehmen wollte, ihn auf den Bock zu stellen, dankte Erich.
Bergemann lachte: »Sie führen wohl Schätze mit oder Ihre Memoiren?«
»Vielleicht ein wenig von beidem.«
Erich war allein. Er sah sich im Zimmer um. Reizend! Maurisch gemusterter Mosaikboden, grüne Türen, von steinernen Rundbogen überdacht. Von dem kleinen Balkon ein Blick hinunter auf eine gezackte Festungsmauer, die das Hotel von der Straße trennte. Drüben ein kleines Gärtchen mit roten Blumen in viel frischgewachsenem glänzendem Grün. Eine hohe Palme drin mit trocknen Blättern, drüber ansteigend wie ein herrlicher, lebendiger Wall die alten hochstämmigen Laubbäume des Parks. Von einer dunklen Baumgruppe rechts hob sich ein riesiges weißes Kreuz ab, das mit seinen leuchtenden Marmorarmen das grüne Heer der nachdrängenden Stämme am Vordringen gegen die Straße zu hindern schien.
»Herrlich, was?« Erich sagte es zu dem Sanitätsrat, den er eben auf den kleinen Balkon nebenan treten sah.
Bergemann nickte: »Vielversprechend für morgen. Und das Kreuz fehlt natürlich auch nicht, das mich erinnern soll: ›Du bist nur ein durch Poesie gemaßregelter deutscher Doktor!‹«
Hobsen, der sich immer mehr als Arrangeur der Landtouren fühlte, kam, um Erich zu fragen, ob es ihm recht sei, daß in einer halben Stunde gemeinsam soupiert werde. Auch Bergemann stimmte von seinem Balkon aus zu.
»Es hält ja schwer,« seufzte Hobsen, »die Herrschaften alle zusammenzuhalten. Ziegenhüten in der Campagna ist leichter – Pardon! Die Damen besichtigen bereits unten – Sie haben das hübsche Geschäft links von der Halle bemerkt? – spanische Mantillen und Waffen und Bilderrahmen im Alhambrastil. Herr Kloppenbusch ist noch mal in die Stadt, Ansichtskarten zu kaufen; er vermutet, daß die im Hotel zu teuer sind. Das Ehepaar Häfele wünscht auf dem Zimmer zu speisen. Aber erst, wenn der Mond aufgegangen ist – so hab' ich's dem Kellner ins Spanische übersetzen müssen. Die Kellner sind hier an manches gewöhnt, in Granada. Übrigens, Ihr Zimmermädchen ist eine Schweizerin. Ich habe unsere Diva auf demselben Korridor untergebracht, da Fritzchen, der liebe Junge, oft Wünsche hat, die er nur deutsch ausdrücken kann. Sonst kommen Sie überall mit Englisch durch. Auch Fräulein Agnes Hennerich spricht nur wenige Worte Englisch . . .« Mister Hobsen verschwieg, daß Fräulein Agnes diese wenigen Worte von ihm gelernt hatte, daß diese Worte sich aber nicht gerade zum Verkehr mit Hotelangestellten eigneten, überhaupt behutsam und ökonomisch verwendet werden mußten.
Nach dem Souper, das die Gesellschaft, angeregt von der schönen Fahrt und den Erwartungen auf die Wunder des morgigen Tages, an kleinen Tischen eingenommen hatte, zogen sich die Damen, von der Reise und den neuen Eindrücken ermüdet, in ihre Zimmer zurück.
Über Mücke schien eine seltsame, fast zappelige Lustigkeit gekommen. »Bitte einen Augenblick, meine Herren,« sagte er, »ich gedenke heute abend auf der Terrasse des Hotels eine Champagnerbowle zu trinken und würde mich freuen, die Herren als meine Gäste . . .«
Mücke konnte nicht zu Ende reden, da Kloppenbusch ihn unterbrach, um zu versichern, daß der gütige Gastgeber bestimmt auf ihn zählen könne. Auch Reubke und Schwammerl, die nicht mehr auf den erhofften Mondscheinspaziergang mit Tilly Schuch rechnen konnten, nahmen dankend an. Hobsen entschuldigte sich mit Vorbereitungen für den morgigen Tag, der ihm ernste Führerpflichten auferlege. Grabusch, dem Elisabeth Hunneberg bei Tisch mitgeteilt, den Tristan liebe sie nicht sehr, dankte knurrig und kurz. Zwingenberg aber ermahnte, den Sekt nicht zu kühl zu nehmen, weil sonst leicht häßliche Magenverstimmungen die Folge seien. Woraus zu entnehmen war, daß auch er das kleine Fest durch seine Anwesenheit zu verschönen gesonnen war.
Erich und Bergemann, beide etwas überrascht durch die Gastfreundschaft des jungen Herrn, dankten höflich, schützten Müdigkeit vor und gingen, sich verabschiedend, nach dem Ausgang.
Im Vestibül trafen sie Herrn Häfele. Allein. Was eine große Seltenheit war. Er schien beherrscht von einem frohen Gedanken und war zu Mitteilungen aufgelegt.
»Also das Annale, meine liebe Frau, die schläft nämlich a wenig. Ja. Wir tun nachher erscht soupiere. Aber ich hab eine feine Überraschung fürs Annale. Wisse Sie, da herübe« – er fuhr mit der Hand großartig ins Dunkel –, »da ischt ein Zigeunerstadtteil. Ja. Also die Leut tun Geige spiele – 's ischt wundervoll. Steht im Reisehandbuch. Also jetzt fahr i g'schwind nüber und engaschier mir so e paar von dene Zigeunersleut. Ja. Und wann wir nachher soupiere – 's Annale und ich –, also dann fange die Zigeunersleut unte an Geige zu spiele. Was – das ischt fein ausdacht?« In der Vorfreude diese herrliche Überraschung auskostend, rieb sich Otto Häfele heftig die knochigen Hände.
Der Portier meldete, daß der befohlene Wagen für den Herrn bereitstehe; und Otto Häfele fuhr, den spanischen Kutscher in schwäbischer Herzlichkeit zur Eile ermunternd, froher Gefühle voll, zu den Zigeunern von Granada.
Bergemann wollte gerade zu Erich eine anerkennende Bemerkung über die opferfreudige Verliebtheit dieses jungen Ehemanns machen, als seine Aufmerksamkeit von einer seltsamen Gruppe angezogen wurde. Dicht neben ihm hatte Mücke sich vor Scupinsky und Selma hingestellt, die beide anscheinend nicht erbaut waren, diesen Jüngling so dicht vor sich zu sehen. Was begreiflich schien, da Herr Arthur Mücke offenbar schon bei Tisch dem dunklen spanischen Wein mehr, als für seine Konstitution gut war, zugesprochen hatte.
»Also – Herr Baron,« sagte Mücke, mit der blassen Hand sein Kinn reibend, zu Scupinsky; und es war nicht zu überhören, daß die feierliche Titulierung einen leichten ironischen Unterton hatte, »ich gebe heute abend ein kleines Herrenböwlchen. Auf der Terrasse. Granada unter uns. Nur Herren, wie gesagt. Sie werden sich wohl nicht von der liebwerten Frau Gemahlin trennen wollen . . .?«
»Nein!« sagte Scupinsky scharf. Kam das von der Beleuchtung, oder war sein Gesicht wirklich so gelb? »Ich möchte mit meiner Frau noch nach der Stadt in ein Café gehen.«
»In ein Café –!? Schade –« Mücke feixte, »schade, da komme ich also um die Möglichkeit, Sie zu bewirten. Sie wird mir bedauerlicherweise wohl nicht mehr oft geboten.«
»Ich glaube das auch.« Eine leise Drohung grollte in Scupinskys Vermutung. »Und jetzt lassen Sie uns vielleicht vorbei.«
»Ungern – wirklich ungern! Sie glauben nicht, wie ich Ihren Gatten bewundere, gnädige Frau. Er hat wohl keinen aufrichtigeren Bewunderer – und Kenner! – auf dem Schiff und hier in Granada. Ich habe nie einen Menschen ruhiger – und glücklicher spielen sehen. Vielleicht den Lord Punderband ausgenommen. Ich werde dieses ritterliche Bild, glaub' ich, vor Augen haben, wenn ich sie einmal schließe – die Augen.«
»Was ja wohl heut nacht der Fall ist?«
Erich und Bergemann, die beiden unfreiwilligen Zeugen dieser wunderlichen Szene, begriffen den lauernden Ton in Scupinskys Frage so wenig wie die fast provozierend durchbrechende Ironie in Mückes Rede. Es war doch klar, daß Mücke heut nacht auch mal schlafen gehen würde; wozu also die Frage. Und wenn man seinen Zustand betrachtete und des weiteren in Erwägung zog, daß ihn die Champagnerbowle noch erwartete, so war sogar für sein Wohlbefinden und für die Nachtruhe der Zimmernachbarn zu wünschen, daß dieser Zeitpunkt nicht allzu fern liegen möge. Das waren die übereinstimmenden Erwägungen, die Bergemann und Erich, ohne sich durch Worte zu verständigen, anstellten, als nun Herr von Scupinsky mit einer höflichen Bewegung, die aber doch die dahinter lauernde Kraft verriet, Herrn Arthur Mücke ein wenig zur Seite schob, um für Selma Platz zu machen. Er folgte dann der rasch Vorausgehenden, indem er über die Achsel sprach: »Es erübrigt mir also nur, Ihnen gute Nacht zu wünschen!«
Mücke lachte kurz und ungezogen hinter den beiden her. Dann zündete er sich eine Zigarette an und schlenderte, die Hände in den Hosentaschen, nach der Terrasse.
»Werden Sie aus dem Menschen klug?« Erich richtete die Frage an Bergemann.
»Nein. Zuweilen scheint er mir nur ein dummer Gent, ein verbummelter Fatzke, der auf Reisen – wie viele bei uns zu Hause – seine traurige innere Disziplinlosigkeit durch übertriebene Moden, betonte Manieren, unterstrichene Formen ersetzt. Das Detail der Form muß ja so oft über die Leere des Inhalts täuschen. Aber dann wieder – wie eben jetzt . . . da klingt doch etwas Zersprungenes mit, etwas Besseres, das in Scherben ging . . . eine gewisse Verachtung des Lebens, die doch nicht ganz aus der Überzeugung der eigenen Wertlosigkeit entspringen kann. Denn schließlich . . . wenn dieser Herr von Scupinsky einer von den Heißblütigen wäre – wie ich's einmal in meiner Jugend war –, hätte die Sache bös enden können . . . Der junge Dandy wollte ihn doch offenbar verletzen, den sogenannten Baron, der mir ja freilich auch nicht zum Küssen sympathisch ist.«
»Und nun gar die Frau! Wo er die wohl aufgelesen hat? Aus einem Budapester Damenorchester oder . . .« Die Vermutungen über die Herkunft der Dame Selma, die Erich jetzt aussprach, waren mannigfach, aber alle wenig schmeichelhaft für die Signora di Venticinque.
Und während sie bergab durch den mäßig erleuchteten Park der Stadt Granada zu gingen, sprach Erich freimütiger, wohl nicht ganz unbeeinflußt von dem genossenen spanischen Wein und der anheimelnden Dunkelheit des Weges, auch über die andern Damen des Schiffes. Elisabeth Hunneberg war ihm zu gewaltig. Er zitierte Heine: »Diese kolossalen Massen – kolossaler Weiblichkeit . . .« Tilly Schuch hielt er für ein bildschönes Bählamm. Viktoria von Öltzendorff – nun, die war schon im neutralen Alter. Frau Anna Häfele – dem Gatten gefiel sie. Habeat! Frau Tiegs – er meine immer, man müsse sie auf einen imitierten Marmorsockel stellen in einer alten »guten Stube«, oder ihre Büste auf den Ofen. Und wenn sie dann, halb Göttin, halb Modell, da oben stünde – er, nein wirklich, er bekäme keine Pygmaliongelüste. Überhaupt, wenn er sich eigentlich überlege, was so sein Typ sei . . .
Aber da waren sie in der Stadt. Aus einer kleinen Schenke lockte Musik. Und sie gingen hinein.
. . . Auf der Terrasse des Hotels Alhambra Palace ging es derweil hoch her. Blitzblanke Sterne standen am Himmel, in den dort zur Linken die Sierra Nevada scharfe Linien riß. Unten aber leuchtete in unzähligen Lichtern Granada. Und es war, als ob Himmel und Erde illuminiert hätten für das feuchte Fest, das aus unbekanntem Anlaß der junge Herr Arthur Mücke seinen Fahrtgenossen von der »Astarte« gab.
Kloppenbusch, der links vom Gastgeber in einem der breiten Korbstühle, ein mit maurischen Ornamenten benähtes Kissen im Rücken, Platz genommen hatte, war voller Bewunderung über die Zubereitung dieser Bowle. Nur Pommery goß dieser Verschwender in das umfangreiche Kristallgefäß. Nur Pommery, von dem die Flasche, wie das Studium der Weinkarte vorhin ergeben, hier mit dem hübschen Preis von zweiundzwanzig Peseten notierte. Und die Pfirsiche zerschnitt er nicht, schälte sie auch nicht. Das war Kloppenbusch angenehm, denn er erinnerte sich der Pfirsichbowle bei seiner Base Kathinka in Mecklenburg, die solche Früchte umständlich über dem Bowlengefäß ihrer Schale entäußerte, wobei ihr reichlich der edle Saft über die Hände lief, mit denen die Fleißige viel Hausarbeiten zu verrichten pflegte . . . Nein, Mücke, dieser Allerweltskünstler, stach nur mit einer silbernen Gabel in die köstlich reife Frucht und warf sie dann sorglos in das Meer von schäumendem Champagner. Auch diese leichte und sorglose Bewegung hätte ihm Base Kathinka aus Mecklenburg, die gern bei allen Lebensgenüssen die Preise nannte, nicht mitgemacht.
»Prost alsdann – Spanien soll leben!« Schwammerl wollte sich den ersten Toast nicht nehmen lassen. Er sprach lieber kurz als gar nicht.
Aber Mücke wehrte höflich lächelnd: »Erst – Sie gestatten – meine werten Gäste! Sie leben – Hurra – hurra – hurra!«
So trank man erst mit Mücke auf die Gäste, dann mit Schwammerl auf Spanien und ließ auf Reubkes Vorschlag sofort die Gesundheit des geschätzten Gastgebers folgen.
Mücke füllte die Gläser aufs neue und goß Champagner in die Bowle nach. Sein Gesicht blieb eisern, als er höflich und mit dem leicht näselnden Ton, den er sich für offiziellere Momente angequält hatte, sagte: »Ich werde von dem sehr freundlichen Wunsch nicht allzu lange mehr Gebrauch machen. Aber – es war mir eine Freude, ein Stück des Weges, meines Lebensweges, mit Ihnen, meine Herren, zu fahren!«
»Sie hätten Pastor werden sollen«, lobte Zwingenberg, dem jede gehobene Rede sehr imponierte. »Hab ich nicht recht, Pastor.«
»Ich hätte vielleicht überhaupt irgend etwas werden sollen«, lächelte Mücke und nahm sein Einglas ab. Dies tat er immer, wenn er besser sehen wollte.
Kloppenbusch angelte aus seinem Glas schwimmende Pfirsichfasern und bemerkte tiefsinnig: »Das mit dem Pfarrerwerden ist nämlich gar nicht so leicht. Ich hab das auch mal zu einem gesagt, der in der Eisenbahn mit mir nach Lüneburg fuhr. Da erwiderte mir der Herr: Das wäre nicht gut gegangen, lieber Mann, daß ich Pfarrer werde. Ich bin nämlich Jude.«
»Paulus war auch ein Jude«, sagte Reubke großartig. Er fand das Gespräch sehr gebildet, und das freute ihn.
»Aber i bitt Ihne,« Schwammerl brachte Gemütlichkeit in die Unterhaltung, die in ein Religionsgespräch auszuarten drohte, »warum muß denn überhaupt jeder partout etwas ›werden‹? Also, bitte, einer is ein Mensch, nit wahr, und is ein Staatsbürger, nit wahr . . . und wann er a Göld hat, so is das denn ganz genug. Er liest seine Zeitung morgens, er besucht seine Freunde, die wo auch die Zeitung gelesen haben, nit wahr, und bespricht das, was sie in der Zeitung nit gelesen haben. Und dann geht er essen, nit wahr, und schlaft a wenig. Und dann schaut er, wie's der Poldi geht – was seine Freundin is, i denk mir so. Ein Theater dann des Abends – oder ein Konzert, nit wahr; so is das ein ganz ausgefüllter Tag. Ein runder Tag. Wann er nämlich a Göld hat.«
Dieses abwechslungsreiche Programm schien allgemeine Zustimmung zu finden.
»Geld regiert die Welt«, nickte Zwingenberg, der gute Sprüche bei einer Pfirsichbowle liebte, die Weisheit seiner Gedanken zusammenfassend. »Aber das wissen auch alle gescheiten Leute. Ich hab zum Beispiel eine Köchin, eine vorzügliche Köchin daheim, die spielt immerzu in der Lotterie. Immer so Dreimarklose. Ihren ganzen Lohn verspielt die blöde Person.«
»Hat sie schon einmal gewonnen?«
»Gewonnen? Gott sei Dank – nein. Niemals. Denn ich fürchte, wenn sie gewinnt, kocht sie nicht mehr. Wenigstens mir nicht mehr. Sie hat da so einen älteren Bäckerburschen an der Hand – mit dem tanzt sie immer in Halensee –, der möcht' sich gern mit ihrem Gesparten selbständig machen. Aber sie spart nichts, sondern spielt Lotterie. Denn, sagt sie, dabei kann sie mit einem Schlage mehr gewinnen, als wenn sie zehn Jahre ihren Lohn zusammenkratzt und in Lumpen geht. Der Himmel bewahr' mich vor dem Schlag!«
Zwingenberg, der diese Erzählung selbst für eine der längsten und zusammenhängendsten seines Lebens hielt, belohnte sich durch einen kräftigen Schluck. Die Herren waren so höflich, auf seine Köchin zu trinken.
»Holla –! Wir wollen ein Lied singen«, schlug Kloppenbusch, vom Einfall begeistert, vor.
»Gut,« lobte Zwingenberg, »aber eins, von dem wir alle den Text kennen, was? Denn sonst singt die Hälfte wieder bloß: ›La – la – la – la‹ und das gibt dann im Leben kein Lied!«
Die Stärke und die Güte der Champagnerbowle blieb bei der Auswahl des Liedes nicht ohne Einfluß. Kloppenbusch schlug vor: »In einem kühlen Grunde.« Dieses wurde als zu traurig abgelehnt. Reubke empfahl: »Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben –?« Dieses Lied war Schwammerl leider ganz unbekannt. In Wien sang man's nicht, meinte er. Mücke wollte »Gaudeamus igitur« gesungen wissen – aber Kloppenbusch meldete bescheiden an, daß ihm der Text der »lateinischen Volkslieder« nicht gegenwärtig sei. Dahingegen schien ihm »Ännchen von Tharau« ein sehr schönes und sangbares Lied. Hier verwirrte Zwingenberg die Erwägungen wieder durch den Hinweis, daß es doch auch Lieder geben müsse, die auf Granada Bezug hätten. Schwammerl leugnete das und empfahl zum Ersatz: »'s gibt nur a Kaiserstadt, 's gibt nur a Wien.« Mücke aber meldete als Resultat seines Nachdenkens an, daß er allerdings ein Lied kenne, das hierherpasse, und dies sei: »Fern im Süd das schöne Spanien . . .«
»Fern im Süd –?« Schwammerl dachte logischer, als seine allmählich verglasenden Augen das vermuten ließen. »I bitt Sie – also: wir sind doch mitten drinnen in Spanien!«
Nachdem auch die »Wacht am Rhein« und ein von Kloppenbusch vorgeschlagenes Lied »Wo die Mutter mich geboren . . .« das niemand sonst kannte, abgelehnt worden, einigte man sich auf: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten . . .« Doch als gerade die Lorelei ihr goldenes Haar mit goldenem Kamme kämmte, erschien ein sehr distinguierter Kellner und bat höflich, das Kämmen und Singen zu unterlassen, da eine englische Lady, die vorn heraus schlafe, bereits geklingelt und um Ruhe ersucht habe.
Reubke, der schon stark angeheitert war, wollte sich erheben, um sich sofort persönlich zu dieser Lady zu begeben. Er versprach sich von diesem Besuch eine gründliche Belehrung der widerborstigen Dame über den Wert deutscher Volkslieder. Kloppenbusch, der neben ihm saß, drückte ihn aber in den Korbstuhl zurück und belehrte ihn, daß er morgen früh der Lady sicherlich willkommen sein werde. Reubke schwur, daß aufgeschoben nicht aufgehoben sei, und trank schließlich auf das werte Wohl der Lady sein eben gefülltes Glas aus.
Zwingenberg fand es unlogisch, daß dieses Land, in dem man nicht singen dürfe, gerade irgendwo »das Land des Weins und der Gesänge« genannt wurde, was Schwammerl wieder veranlaßte, die Dichter im allgemeinen großer Lügenhaftigkeit zu zeihen. Er habe mal auf dem Semmering einen rotnasigen Herren kennengelernt, der da oben mit seinem Verhältnis in Freuden gelebt habe, und dieser rotnasige Herr habe alle Weihnachten einen Band Gedichte erscheinen lassen, in dem immerzu das größte Malheur passiert sei. Entweder sei jemand drin gestorben oder untreu geworden oder habe aus Eifersucht einen Freund vergiften wollen – und so. Und von all dem Gelogenen habe er auf dem Semmering in der ersten Etage mit seiner Freundin gewohnt und Spazierfahrten gemacht und viel Erdbeerbowle getrunken.
Hier äußerte Reubke den Wunsch, auch auf den Semmering zu fahren. Sofort. Die Alhambra könne ihm gestohlen werden. Er wolle auf den Semmering. Und zwar mit einer Freundin. Und zwar mit Tilly Schuch.
»Sein S' so gut,« lachte Schwammerl, »die wird grad so mit Ihna laufen!«
Da erhob sich Kreuzwendedich von Reubke in seiner ganzen Länge, hielt sich fest am Tisch, weil ihm die Terrasse plötzlich das Deck der »Astarte« und das Meer unter diesem Schiff unruhig zu sein schien, und tat mit einigen Stockungen, die wohl mit der Kühnheit seines Gedankens zu erklären waren, den Vorschlag: »Also, meine Herren – meine Herren . . . Ich weiß, Sie wollen – wollen die schöne blonde Frau Tilly . . . Schach – Schoch – ach, nein – Schuch – Schuch auch . . . heiraten. Weiß ich . . .«
Kloppenbusch und Zwingenberg protestierten. Aber Reubke duldete keinen Widerspruch.
»Ich hab das Wort – hab ich! Ja. Also – alle können wir sie – nicht heiraten. Nein. Und einer kann – kann die andern nicht mit – mit – heiraten. Nein, kann er nicht. Also – weil wir uns doch liebhaben – haben . . . und uns nicht totschießen wollen – nein . . . wollen wir um sie losen. Losen wollen wir! Hab ich recht . . .?« Entzückt von seinem eignen Vorschlag ergriff er Kloppenbuschs Glas, das Mücke eben gefüllt hatte, und leerte es auf einen Zug. Dann ließ er sich in den Sessel fallen und bemerkte nur noch, daß die Nacht wohl sehr stürmisch werden würde. Eine Mutmaßung, für die eigentlich kein Anlaß vorlag, da kein Lüftchen sich regte und die Sterne vom wolkenlosen Himmel vergnügt auf Granada herabblickten. Schwammerl dachte, daß das eine sehr seltsame Rede war, und daß es eigentlich Kloppenbuschs Glas gewesen sei, das der Redner ausgetrunken; und daß er viel darum gäbe, wenn er jetzt so viel Spanisch könne, einen Kellner zu fragen, wie man auf dem kürzesten Wege hier in sein Bett komme. Kloppenbusch klopfte mit seinem Kofferschlüssel ans Glas und meldete an, daß er bei der von Herrn von Reubke vorgeschlagenen Lotterie ausscheide. Aus Anstand. Denn er habe die Eigenschaft, immer zu gewinnen. Worauf ihm Zwingenberg empfahl, sofort nach Lichtenfelde zu fahren und seine Köchin zu heiraten. Nein, Kloppenbusch wollte Zwingenbergs Köchin nicht heiraten. Und wenn er eine Köchin hätte heiraten wollen, so wäre dies schon vor vier Jahren geschehen, als seine Mutter selig eine bildhübsche Polin engagiert habe. Aber die bildhübsche Polin habe Ungeziefer gehabt und sei deshalb entlassen worden, eh' er sie heiraten konnte. Und er billige deshalb die preußische Polenpolitik. Aber auch Tilly Schuch, die sicher kein Ungeziefer habe, wolle er nicht gewinnen. Denn er sei nun so alt ohne Frau geworden . . . vierundfünfzig Jahre, und morgen sei sein Geburtstag. Es könnte aber auch nächste Woche sein. Aber sein Geburtstag sei es jedenfalls, das wisse er ganz genau.
Zwingenberg wünschte auf das Wohl des Geburtstagskindes zu trinken. Und da er zu Kloppenbusch nicht hinüberreichen konnte, küßte er Schwammerl mitten auf den Mund und bot ihm Grabuschs Bett ln der Kabine an, für den Fall, daß er müde sei.
Schwammerl aber war nicht nur müde, sondern schlief schon. Kloppenbusch hatte in der Eingangstür, die zur Terrasse führte, einen unheimlichen Herrn bemerkt und verkündete, dort stehe Scupinsky. Sogar zweimal stehe er dort. Und es sei nicht schön, den Mann nicht einzuladen, obschon er auch ein Pole sei und ein Landsmann von der Köchin mit dem Ungeziefer.
Mücke halte sich erhoben. Auch er sah Scupinsky, der aus der Ferne zu dem Tisch hinüberspähte. Aber nur einen Augenblick, visionartig sah er den Polen, dann war er verschwunden.
Mücke griff sich an die Stirn, die blaß und feucht war. Er suchte des Alkohols Herr zu werden, und seine Korrektheit bekam etwas Aufgezogenes, Pagodenhaftes, als er sagte: »Meine Herren – wir sind beim letzten Glas – unwiderruflich beim letzten! . . . Eh' ich's austrinke – auf Ihr Wohl, die Sie . . . die Sie weiterfahren . . . möcht' ich Ihnen sagen: ich spiele nicht mehr – nie mehr. Nicht um . . . nicht um Geld und nicht um . . . eine Frau. Rien ne va plus, Arthur Mücke! . . . Und wenn Sie morgen früh gefragt werden – nach den Geschichten, die wir uns diese Nacht erzählt haben – oder die uns diese Nacht erzählt hat . . . dann denken Sie auch an diese: es war mal ein junger Dachs, der hatte . . . die Spielleidenschaft, die Glücksverachtung im Blut – vielleicht im Blut . . . Und da sie ihm das Kasino zusperrten . . . da fuhr er in die Nachbarstadt . . . in einen Privatzirkel und spielte . . . spielte die Nächte durch . . . verlor, gewann – gewann, verlor . . . verlor mehr, als er geerbt hatte. Und als er nicht zahlen konnte und der Wein ihm zu Kopf gestiegen war . . . wie heute – und sein Unglück, da beleidigte er den Gewinner . . . denn der, was soll ich Ihnen sagen . . . Sie kennen die Spieler nicht . . . Sie merken diese Wölfe nicht unter sich – Sie haben keine Augen für die lüsternen Raubtiere, die schon sprungbereit warten . . . Ich sage Ihnen, ehe Sie in Amsterdam sind, wird dieser Pole Sie ausgeplündert haben – dieser Pole . . . Ihre Sache! Lassen wir ihn! . . . Beleidigt hat der junge Dachs das alte Raubtier – da unten in der Stadt, wo die Palmen an der Promenade stehen und die Kranken herumhusten, die nie mehr aus der Sonne da unten heimkommen nach Norden . . . Und da hat der alte Spieler den jungen gefordert . . . nicht auf blitzende Säbel – nicht auf Pistolen. o nein, auf zwei elende Holzkugeln . . . Roulettkugeln, wenn Sie wollen – eine weiße und eine schwarze. Eine Frau hielt lachend, die großen weißen Zähne fletschend, ihre geschlossenen Hände hin und ließ wählen . . . Und der junge Dachs griff die schwarze Kugel und hatte drei Wochen Zeit . . . Eine Woche hat er gespielt – eine Woche hat er geliebt . . . und eine Woche . . . Meine Herren – es ist Zeit, schlafen zu gehen . . . schlafen zu gehen!«
Mücke trank aus. Seine Hand war ruhig, und um seine Lippen lag ein eigentümliches Lächeln. Er winkte die Kellner heran.
Schwammerl mußte geführt werden. Er glaubte auf der Kärntnerstraße zu spazieren und bat den Kellner, noch für einen Akt mit ihm ins Burgtheater zu kommen, Sonnenthal zu sehen. Der sei zwar schon tot, aber für ihn spiele er noch mal. Und das Stück, das er spiele, führe den gemeinen Titel: »Ein Glas Wasser.« Pfui Teufel!
Reubke riß sich mächtig zusammen. Er gab Kloppenbusch zeremoniell den Arm, als ob er eine Prinzessin zu Tisch führe, und sagte immer wieder: »Herr Kloppenbusch, Sie sind ein vollendeter Gentleman . . . Es ist möglich, daß Sie keinen erstklassigen Schneider haben . . . und daß Ihr Schuster besser sein könnte . . . Auch Lodenmäntel trägt man selten jetzt . . . aber – Herr Kloppenbusch, Sie sind ein vollendeter Gentleman!«
Kloppenbusch rührte diese Einschätzung seiner Persönlichkeit sehr. Und das mit seinem Schuster beschloß er zu ändern. Es lag vielleicht an den Filzeinlagen. In der ersten Etage angekommen, lud er Kreuzwendedich von Reubke ein, mit ihm noch eine weitere Bowle zu trinken, die er ganz aus Kognak, Benediktiner und Ananas herzustellen gedachte. Reubke lehnte die Einladung dankend ab unter Hinweis auf den Umstand, daß sie morgen, wenn ihm recht sei, eine Besichtigung vornehmen wollten. Von wem oder von was, das fiel ihm leider nicht mehr ein.
Da ging Kloppenbusch gekränkt und weinend in sein Zimmer. Und da er nach drei Viertelstunden den elektrischen Knopf nicht gefunden, wohl aber zwei Stühle, einen Handtuchhalter und eine Wasserkaraffe umgeworfen hatte, beschloß er, in Kleidern zu Bett zu gehen. Aber auch dieses mißlang ihm. So entschlief er sanft auf einer Chaiselongue und hatte seine umgestürzte Handtasche als Kopfkissen, aus der langsam, tropfenweise, das mitgeführte Zahnwasser auf die maurisch gemusterten Steinplatten lief . . .
Als Mücke in sein Zimmer trat, schien der Mond wundervoll hell herein. Er übergoß auch die Krokodilledertasche, in der der Revolver sich befand. Der Brief an den Kapitän war bereits seit zwei Tagen geschrieben.
Da er im Spiegel einen Bowlenflecken auf dem Hemdausschnitt bemerkte, beschloß er, das Hemd zu wechseln, ehe er sich erschösse. Die Kragenknöpfe machten, wie immer, üble Arbeit. Auch einer der blinkenden Fingernägel sprang ab. Und auf den Beinen war er nicht ganz so sicher wie sonst, obschon er vorsichtiger getrunken als die andern.
Morgen früh würde sich die Kunde wie ein Lauffeuer im Hotel verbreiten. Er hätte noch fünf bis sechs Tage gut aushalten können mit seinen hundertfünfzig Franken. Die Schiffskarte war bezahlt bis Amsterdam, weil Teilstrecken bei dieser Fahrt nicht ausgegeben wurden.
Schade, wie manchem armen Teufel hätte er eine Freude machen können mit der Karte für den Rest dieser Reise! Es kam ihm angenehm zum Bewußtsein, daß er mit diesem edlen Gedanken des Bedauerns sterben werde.
Er nahm behutsam, wie ein Kleinod, die Waffe aus ihrem Futteral. Es war ein hübscher kleiner Revolver mit zarten Elfenbeinbacken, blank und sauber. Und die Patronen – die Patronen . . . wo waren denn nur die Patronen?!
Teufel auch, jetzt hatte er wahrhaftig die Schachtel mit den Kragenknöpfen und Krawattenhaltern eingepackt, die er doch sonst so leicht vergaß, statt der Patronenschachtel!
Er konnte sich doch nicht mit einem Patentkragenknopf erschießen!
Da hatte er nun die besten Absichten, noch vor dem gestellten Termin die Ehrenangelegenheit als Kavalier zu erledigen – und nun spielte ihm das Schicksal diesen einfältigen Streich.
Aber war er denn angewiesen auf die Pistole? Dort die Schnur –? Pfui Teufel! Proletengewohnheiten! Man ist ein Kavalier oder man ist keiner – auch der Tod muß elegant gerufen werden. Aber dort der Balkon –? Das Geländer ist niedrig . . . Dritter Stock . . . Man wird an einen Unfall glauben – an Trunkenheit? . . . Mag man –!
Mücke trat auf den Balkon. Die Straße lag weiß im Mondschein. Menschenleer. Nein, doch nicht – da lief ja ein Mann herum – wuselig, unstet wie eine Maus – und spähte nach rechts und links. War das nicht Herr Otto Häfele? Natürlich! Ach, der schaute wohl immer noch nach den gemieteten Zigeunern aus, die hier schmelzende Weisen spielen sollten für das Annale? Mücke hatte gleich widerraten, die Schufte voraus zu honorieren. Aber Otto Häfele wollte Arm in Arm mit Annale der Serenade lauschen und nichts mehr zu tun haben mit der Bezahlung, wenn sein Raffinement in Spanien Liebe und Musik gemeinsam auf einem maurisch stilisierten Balkon genoß.
Jetzt sah Mücke Herrn Häfele nicht mehr. Der hatte wohl endgültig in dieser Nacht auf die Zigeunergeigen verzichtet und widmete sich dem ihm verbliebenen Rest seines Programms
Aber was war das da unten – auf dem kleinen Balkon in der ersten Etage? Da stand doch jemand? Ein Herr, unbewegt. Er hatte die rechte Hand auf das Geländer gestützt und ließ etwas im Mondlicht blitzen. Einen Ring. Schien sich am rötlichen Feuer des Steines zu weiden – eines zu langem Oval geschnittenen Rubins . . . Des Rubins der Herzogin!
Mücke griff sich an den Kopf, biß sich auf die Lippen, kniff sich in den Arm. Alles, um sich zu vergewissern, daß er nicht träume, daß die Bowle, der er doch immerhin vorsichtiger zugesprochen als die andern, ihm keinen dummen Schabernack spiele . . . Das war doch Erich Eckardt!
Sohn eines unsteten Vaters, der nach einer wunderlichen, heute noch dem einzigen Sohne schleierhaften Künstlerlaufbahn in den eleganten Kurorten der Riviera vom Spiel und für das Spiel gelebt, und einer Mutter, deren deutsche Abstammung sich zuweilen in romantischen Projekten verraten, hatte Arthur Mücke lange genug an den Sammelplätzen der Eleganz, des Leichtsinns, des Glücksrittertums gelebt und mit den unruhigen Augen des Erwachsenden das Milieu bespäht, um zu wissen, daß Unredlichkeit, Gaunerei, Verbrechen sich nicht an die dürftigen Erscheinungen der Armen, Verstoßenen, Schlechtgekleideten binde. Die Falschspieler, Fälscher, Betrüger, die so hübsche Titel führten, in Paris arbeiten ließen, aus London ihre Schlipse bezogen und die sicheren Manieren der internationalen Kultur zur Schau trugen, waren ihm dutzendweis über den Weg gelaufen. In einem Hotel in Monte, in einem Café in Sestri Levante wäre ihm kaum Besonderes dabei aufgefallen, daß ein verlorener oder einer Lady gestohlener Ring plötzlich im Mondlicht funkelte am Finger eines eleganten Mannes, der behauptete, ein französischer Marquis, ein kalifornischer Minenbesitzer oder ein deutscher Assessor zu sein. Aber hier in Granada . . . einer aus dieser wunderlich gemischten, aber doch – bis auf den edlen Scupinsky, den er als rücksichtslosen Spieler kannte – bürgerlich anständigen Gesellschaft – ein in korrekt preußische Ehrenhaftigkeit so geschickt maskierter, durch die Freundschaft eines alten, offenbar echten Sanitätsrates ausgezeichneter Hochstapler! . . . Und noch dazu so ein Stümper im Handwerk! Denn der mondbeschienene Balkon eines Hotels mit dem Blick auf die weiße Sierra Nevada ist doch – selbst lange nach Mitternacht – nicht der geeignete Ort, sich unbeachtet seines Raubes zu freuen.
Seines Raubes –! Sollte er sich übers Geländer beugen und rufen: »Sie Dieb!« Sollte er vielleicht sofort hinuntereilen, plötzlich an das Zimmer des »Assessors« klopfen und dem Öffnenden kühl erklären: »Wollen Sie mir, bitte, auf der Stelle den gestohlenen Ring ausliefern – oder ziehen Sie's vor, daß ich dem Hotelpersonal läute?«
Und mitten in diesen kriminalistischen Erwägungen kam es Arthur Mücke zum Bewußtsein: es wurde von ihm verlangt, daß er handle. Daß er etwas in dieser Angelegenheit tue. Das Leben forderte heute, morgen, demnächst einen Entschluß von ihm, eine die Situation klärende Tat. Scupinsky mußte eben warten . . . Nein, jetzt war noch nicht Zeit zum Schlafengehen für Arthur Mücke, jetzt nicht, und wenn er zehnmal die schwarze Kugel gezogen hatte!
Es war fast ein Zug von echter Lebenslust, der sonst seinem zur Affektation der Gleichgültigkeit erzogenen Gesicht fremd war, was jetzt seinen Mund umzuckte, sein Auge leuchten ließ. Hätte Arthur Mücke, der sonst so oft und gern in den Spiegel sah, jetzt das ehrliche Glas befragt, es hätte ihm gezeigt, daß er ein ganz hübscher Kerl sein konnte, wenn er – nicht wollte.
Mit einem frohen Trotz hatte Mücke, ins Zimmer zurücktretend, den Revolver in die Ecke geworfen. Er wollte den Rest der Nacht dem ernsten Nachdenken widmen, wie er mit einer möglichst vornehmen und kühlen Geste – immer überlegen, immer Gent – diesen heuchlerischen Hochstapler stellen und entlarven könnte. Dieses Nachdenken ließ sich am besten im Bett bewerkstelligen, da die horizontale Lage erfahrungsgemäß den Meditationen sehr förderlich ist. Aber die angenehme Kühle der frischen Kissen, die Dunkelheit, das Bewußtsein, einer guten, nützlichen Tat entgegenzugehen, und die Einwirkung der vortrefflichen Bowle vereinten die Kräfte zu dem Effekt, daß Arthur Mücke über dem Nachdenken bald einschlummerte. Er hörte eine liebliche, etwas verworrene Musik in seinen Träumen. Es waren die Nachtigallen, die wundervoll vom Hang, auf dem die Alhambra im Mondlicht lag, in die frische Mainacht ihr uraltes Liebeslied schluchzten.
. . . Die Nachtigallen hatten in jener Nacht wenig Glück. Auch das Ehepaar Häfele, das sonst durch seine Persönlichkeit und die Glücksumstände gewissermaßen prädestiniert gewesen wäre, sich ihres Gesanges verständnisvoll zu freuen, nahm keine Notiz von diesen Liebesliedern aus den dunkeln Büschen unter der Alhambra. Das hatte seine begreiflichen Gründe.
Otto Häfele war, nachdem der Nachtportier zum dritten Male mürrisch und spanische Flüche in seinem Herzen wälzend die Pforte hinter ihm verschlossen, noch einmal ins Freie zurückgekehrt, da er ein Geräusch gehört zu haben glaubte, das er auf das verspätete Nahen der schon reichlich entlohnten Zigeuner deutete. Und wie Otto Häfele, das Ohr in den Wind legend, so ein paar Schritte die Hotelfront entlang machte, gewahrte sein achtlos am Boden entlang gleitendes Auge etwas seltsam Funkelndes, Blitzendes. Ein Käfer konnte es nicht sein. Wie ein roter Blutstropfen lag da etwas zwischen dem niedrig geschnittenen Gebüsch am Wege.
Otto Häfele bückte sich, griff zu, hob auf – es war ein Ring. In schmales Gold gefaßt ein schöngeschliffener roter Stein.
Otto Häfele war sehr erstaunt. Vollständig erfüllt von seiner Liebe zum Annale, und immer allein mit der kaum eroberten Gefährtin durch das Schiff wandelnd, war er wohl von allen Passagieren der »Astarte« der einzige, der absolut nichts wußte von dem Verlust, den Tilly Schuch beklagte. Und daß die blonde Dame je solchen Ring besessen, war ihm, der außer dem Annale keiner Frau ins Auge, geschweige denn auf die Hände sah, ebenso unbekannt, wie etwa die Tatsache, daß vor einigen Minuten ein deutscher Herr im ersten Stock des Hotels mit den leise gemurmelten Worten: »Das einfachste wird's schon sein –!«, diesen Ring wie etwas Minderwertiges, Ärgerliches, Unglückbringendes mit sicherem Wurf da unten ins Gebüsch geschleudert hatte.
Otto Häfele war kein Jurist, der sich über das »Recht am Funde« spitzfindige Gedanken machte. Das Sich-Gedanken-Machen war in der Familie Häfele, die seit Generationen ihr Auskommen hatte und dem Staat in gewissen, durch Natur und Tradition bestimmten Zwischenräumen brave und auf keinerlei Neuerungen gerichtete Bürger schenkte, überhaupt nicht üblich. Spanien aber war für Otto Häfele ein sehr seltsames, fremdes, gewissermaßen feindliches Land. Wenn er vielleicht im schwäbischen Cannstatt im gleichen Falle auf die Idee gekommen wäre, einen Schutzmann zu befragen, was er nun mit dem zufällig gefundenen Ring machen solle, so lag ihm im spanischen Granada dieses Beginnen fern. Auch war kein Schutzmann da. Ein wenig abergläubisch, wie alle Häfeles, deren einer im sechzehnten Jahrhundert sogar mal den Teufel als sechsbeinigen Bock gesehen und das in der Familienchronik sehr anschaulich und glaubhaft beschrieben hatte, fuhr es ihm durch den Sinn, daß ihn durch den Fund dieses Ringes das der Familie Häfele stets wohlgeneigte Schicksal vermutlich für die Unredlichkeit der Zigeuner, die ihn um sein gutes Geld geprellt, angemessen zu entschädigen trachte. Ein Kenner von Edelsteinen war er nicht, der Familienschmuck der Häfeles bestand meist aus etwas altmodischen Häufungen von Bernstein und Korallen.
So hielt er nun diesen ziemlich großen roten Stein für irgendeinen billigen Bergkristall, wie sie, in goldplattiertes Silber gefaßt, um die Weihnachtszeit daheim für drei oder fünf Mark in den Ramschbasaren auftauchten. Ja, wenn ihn die Erinnerung nicht täuschte, trug eine Kellnerin in Stuttgart, das rote Lieschen, an ihrer rissigen Hand, die er – natürlich vor der Bekanntschaft mit dem Annale – manchmal wohlwollend getätschelt hatte, so einen roten Stein. Was sollte er sich wegen eines solchen Fundes Scherereien mit der spanischen Polizei machen, die er nicht verstand und die ihn nicht verstand? Auch noch an dem einzigen Vormittag, den er mit dem Annale der Besichtigung der im Reisehandbuch gerühmten Alhambra widmen wollte? Das war doch wohl unnötig.
Mit dem Annale! Oh, jetzt wußte er es! Für das Annale war die bereits honorierte und schmählicherweise nicht gelieferte Serenade bestimmt. Für das enttäuschte Annale hatte ihm das der Familie Häfele stets wohlgesinnte Schicksal offenbar diesen an sich nicht wertvollen, aber durch den Fundort ganz bedeutsamen Gegenstand, als kleine Erinnerungsgabe, in die Hand gespielt.
Und gerade ein Schmuckstück für die Hand! Auch darin war eine sinnige Liebenswürdigkeit des gütigen Geschicks zu erblicken. Denn um Annales immer noch vom Pflanzengift leicht gerötete Hand lag Tag und Nacht sorglich der schützende Handschuh, unter dem die in Luzern verschriebene Salbe ihr Heilwunder vollzog. Für diese geduldig erlittene Unbequemlichkeit sollte das Annale nun offenbar entschädigt und belohnt werden.
Und Otto Häfele beschloß, diesen Willen des Schicksals zu respektieren und ihm eine hübsche Form zu geben. Er wollte dem Annale erzählen, daß die Zigeuner doch noch gekommen seien; aber da sie nach Mitternacht nicht mehr im Freien musizieren dürften, so hätten sie ihm diesen Ring verkauft, der Glück bringe . . . Das Annale hatte eine romantische Seele; und ganz abgesehen davon, daß sie ihn nun nicht ob seines Reinfalls mit den Zigeunern aufziehen konnte, mußte es ihr für den Rest der Reise und noch lange darüber hinaus Freude machen, den Glücksring eines spanischen Zigeuners am Finger zu tragen.
Selig lächelnd, als ob er nicht eine, sondern ein ganzes Dutzend der klangreichsten Serenaden genossen, schritt Otto Häfele zum vierten Male an dem Nachtportier vorbei. Höflich, wie er war, rief er noch vom Treppenabsatz dem nur halbangekleideten Manne, der ihm nicht sonderlich wohlwollend nachsah, nach unten zu, daß er ihm eine angenehme Nacht und hübsche Träume wünsche.
Erich und Bergemann waren wieder die ersten auf der Terrasse, die keine Spuren des nächtlichen Gelages aufwies.
Unten lag Granada mit seinem Gewirr von Dächern, Kuppeln, Sträßchen in der hellen Morgensonne ausgebreitet. Ein frischer Luftzug fuhr erquickend vom Park her über die Höhe. Links hinter der von dunklen Palmenschirmen flankierten Villa lag breit und weiß sich abhebend vom sanftblauen Morgenhimmel, von silbrigem Duft gegürtet, der beschneite Rücken der Sierra Nevada. Aus winkligen, grauen Höfen unten krähten die Hähne. Ein paar Esel schrien ihren langen Schrei. Man konnte Frauen über die Steintreppen kommen sehen mit breiten Schüsseln. Spielende Kinder hetzten sich mit kleinen Hunden in den Hofwinkeln herum.
Wenn Hobsen nicht gar so dringlich zum Aufbruch nach der Alhambra gemahnt, hätten sich die beiden Herren noch lange nicht losgerissen von diesem Anblick. Bergemann war glänzender Laune.
»Wahrhaftig, ich bin so jung, wie dieser Morgen heute«, sagte er und legte seine Hand in Erichs Arm.
Erich aber lächelte vergnügt vor sich hin. Er hatte den ärgerlichen Ring mitten in einen Strauch fallen sehen heute nacht. Da mochte er liegen ein paar Tage, Wochen, Monate, bis spielende Kinder oder ein Gärtner ihn fanden. Dann war er weit, Tilly Schuch hatte längst den ihren wieder oder auch nicht; die »Astarte« schwamm mit andern Passagieren und andern Sorgen und Freuden vielleicht dem kahlen Felskopf des Nordkaps zu oder den pfeilschlanken Minaretten am grünen Bosporus. Ihm war, als habe er sich jetzt des Letzten entäußert, was ihn noch an Eugenie, an den dümmsten, voreiligsten Irrtum seines Lebens erinnerte. Vielleicht hatte er's töricht, wie ein Junge, getan. Hätte warten und trotzen und den rechtmäßig erworbenen fatalen Stein behalten sollen, bis er irgendeinem Mädel eine Freude damit machen konnte . . .
Einem Mädel? . . . Indem er's dachte, sah er Hildes feste, kleine Hände mit den rosigen Grübchen . . . Aber nein, es war besser so. Mochte den Zwillingsstein des Rubins der Herzogin eine Gärtnersfrau zum Stiergefecht in Granada tragen . . . Weg mit ihm aus Leben und Gedanken!
Der Aufstieg war viel kürzer als alle gedacht. Kloppenbusch hatte sich vom Bergsteigen, das er mit den Mienen eines Märtyrers begann, eine Milderung seines beträchtlichen Katers versprochen. Aber er spürte leider, auch als sie schon im Myrtenhof standen, noch immer den gräßlichen Druck im Genick, den ihm das verdammte Sicherheitsschloß seiner Handtasche, die heute nacht sein Kopfkissen gewesen, besorgt hatte. Und es heiterte ihn wenig auf, daß auch Reubke über intensives Haarweh klagte, und daß Schwammerl, blaß und bekümmert, eine Erneuerung seines Schnupfens anmeldete und die Ansicht aussprach, daß die Versicherungsgesellschaft an dieser Bowle auf der Terrasse über Granada keine reine Freude haben werde. Der Wiener brach im Gehen kleine Zweige und Blüten ab, um den ihm so wertvollen Geruchsinn zu prüfen, kam aber zu dem traurigen Resultat, daß ihm seltsamerweise alles intensiv nach Pfirsichbowle zu duften scheine.
Nur Zwingenberg war durchaus munter. Er hatte prächtig geschlafen und machte sich nur ernste Sorgen, daß ein Rest in der Bowle zurückgeblieben sei, der entschieden zu schade für die unausstehlich hochmütigen Kellner gewesen.
Mister Hobsen war als Führer unbezahlbar. Er redete zwar zunächst alles an Elisabeth Hunneberg hin, die sich schon beim Gang durch die Vorhöfe an die »Entführung aus dem Serail«, den »Wasserträger« von Cherubini und manche andere Oper erinnert fühlte; wie denn für die Diva überhaupt die Natur und die Baukunst, die Berge, Wälder und Ruinen im wesentlichen nur die Aufgabe hatten, den Dekorationen gewisser Ausstattungsopern möglichst nahe zu kommen. Aber von dem, was Hobsen mit großer Geläufigkeit erklärte, profitierten auch alle andern. Die Jahreszahlen, die er nannte, waren ja wohl mehr kühn als richtig; und die Taten und Schicksale Boabdils und anderer Maurenkönige wurden nicht immer in ihren Einzelheiten ganz klar. Aber seine Hinweise auf den Stil der Nomaden, die auch im Holz und Gips immer wieder das Flüchtige, täuschend Prunkhafte, leicht Zeltartige zu bauen und durch die Mannigfaltigkeit der Dekorationen zauberhafte Eindrücke zu erzielen strebten, wurden verstanden.
Es war Erich nicht unangenehm, daß er die Herrlichkeit des Myrtenhofs zwischen den beiden schönen Frauen, Tilly Schuch und Frau Tiegs, stehend genoß. Zwar paßte weder die junonische Bankdirektorsgattin noch die teutonisch goldblonde Witwe recht zu diesen Hallen mit den überschlanken Säulchen, zu diesen in die Wölbungen der Galerien gemeißelten Gebetssprüchen des Islam, zu diesen uralten Marmorplatten des Bodens und dem unbewegten Wasser des schmal zwischen den beschnittenen Myrtenhecken sich, wie ein riesiger Smaragd, hinbreitenden Teiches. Aber die beiden Frauen waren schön, wie dieser Morgen, und schwiegen feierlich wie diese Galerien, Alkoven und Nischen . . . Und daß dort drüben an der Schmalseite unter dem mit reichen Ornamenten geschmückten Hufeisenbogen der bewegliche Hobsen den andern, die vorausgegangen waren, Aufschlüsse über die von der Außenwelt sich abkehrende Bauart des Hauses gab, störte nicht weiter, da man die Gruppe nur wie Silhouetten sah und Hobsens Wort so wenig vernahm, wie die nicht sehr geistreichen Zwischenfragen Schwammerls und Kloppenbuschs.
Mücke war, immer sein Vorgehen gegen den heute nacht heimlich entlarvten Hochstapler besinnend, durch die Sala de la Barca, ohne ihre Inschriften und Nischen zu beachten, nach dem im verschwiegenen Comaresturm gelegenen Saal der Gesandten gewandert. In einer der tiefen Fensternischen, die ihm einen wundervollen Blick aus dem Dunkel des hochgekuppelten Gemaches über die im Morgenlicht strahlende Stadt gewährt, wenn er hingeschaut hätte, blieb er stehen und bohrte sein Auge nachdenklich in die in tiefem Rot und Blau dem Gipskleid der Wände eingeprägten arabischen Sprüche.
Da stand plötzlich Scupinsky neben ihm. Und die Sala de los Embajadores, die einst der stürmischen letzten Beratung Obdach gewählte, die Boabdil mit seinen Heerführern vor der Übergabe der stolzen Feste hielt, vernahm nun die folgende Unterredung, die im höflichsten Tone geführt und doch von heimlichem Haß hörbar durchzischt war.
»Ich hätte nicht mehr zu hoffen gewagt, Herr Mücke, daß ich Sie heute noch in der Alhambra würde begrüßen können.«
»Wie Sie sehen, Herr von Scupinsky, ist Ihnen das doch gelungen.«
»Nach Andeutungen, die Sie gestern abend im Hotel machten, mußte ich annehmen . . .«
»Ihre Annahmen müssen mir gleichgültig sein.«
»Sie werden sich vielleicht der – Abmachungen erinnern, die wir damals trafen. Ehe wir – als Gentlemen, die wir doch hoffentlich beide sind . . .«
»Hoffentlich – beide. Und ich erinnere mich. Aber was Gentlemen anbetrifft, mein werter Herr von Scupinsky, so dürften Ihre Erfahrungen am grünen Tisch Ihnen vielleicht die Überzeugung vermittelt haben, daß man sich in der gesellschaftlichen Einschätzung seiner Umgebung zuweilen bedauerlichen Täuschungen hingibt. Irrtümern, die dann plötzlich – wie soll ich sagen – von einer blitzartigen Erkenntnis zerstört, rektifiziert werden.«
Um Scupinskys Mund zuckte es nervös. Sein unsicheres Auge flog hinüber zu dem jungen Mann, der mit interessiertem Blick zu der hohen Kuppel von Lärchenholz hinaufsah, als kenne er kein wichtigeres Geschäft in diesem Augenblick, als hinter das System der raffinierten Facettierung dieses architektonischen Kunstwerks zu kommen.
»Sie wollen damit sagen,« Scupinskys Stimme gehorchte nicht ganz so sicher wie bisher seinem Willen, »daß Sie selbst . . .«
»Nein. Von mir will ich damit gar nichts sagen. Ich halte es nicht für geschmackvoll, immer von mir zu sprechen. Aber über den Geschmack werde ich mich vielleicht überhaupt nicht einigen mit einem Herrn, der es für angemessen erachtet, unter den gegebenen Verhältnissen und nach dem Vorgefallenen auf demselben Schiff mit mir eine Reise anzutreten.«
»Das war ein Zufall.«
»Ich gestatte mir anzunehmen, daß es in Ihrem Leben, Herr von Scupinsky, sogenannte Zufälle überhaupt nicht gibt.«
»Und ich gestatte mir anzunehmen, daß Sie diese Reise angetreten haben, um – hm – um den übernommenen Verpflichtungen pünktlichst nachzukommen.«
»Es ist, denke ich, nicht die Gepflogenheit unter Gentlemen, Wechsel vor dem Verfalltag zu präsentieren oder nur zu erwähnen. Ich habe hier – ich meine, auf dieser Fahrt – noch etwas wie eine Aufgabe bekommen. Eine neue Aufgabe und eine peinliche vielleicht; aber ich denke sie zu erfüllen. Wie und wann, das werden Sie ja erfahren und – dann wohl begreifen. Bis dahin scheint es mir angemessen und entspräche auch meinen persönlichen Wünschen, daß wir beide uns nicht bemühen, miteinander Konversation zu machen. Das Schiff ist groß, nicht wahr . . . Die Alhambra ist, wie ich mit Vergnügen bemerke, auch nicht klein . . .«
In diesem Augenblick unterbrach, als wolle er Mücke zu Hilfe kommen, ein Lärm vom Myrtenhof her das Gespräch. Die von Mücke sehr richtig angedeutete Weitläufigkeit der Alhambra hatte es gefügt, daß Fritzchen, das die Kuppeln, Galerien und Kapitelle wenig interessierten und Boabdil gar nicht, hinter den andern im Myrtenhof zurückgeblieben war. Der liebe Junge hatte den Teich zwischen den Myrtenhecken für das geeignete Becken gehalten, um endlich das von Schwammerl geschenkte Schiff auf seine Tüchtigkeit zu erproben. Dabei hatte er sich dann wohl etwas ungeschickt benommen und war, als er kniend eben den Stapellauf vollziehen wollte, mit dem Kopf voraus in das stille grüne Wasser gefallen. Grabusch, der just als Letzter gedankenvoll durch den Hufeisenbogen in die Sala de la Barca wandeln wollte, war auf das wilde Geschrei des Jungen im Laufschritt herbeigeeilt und hatte den Zappelnden aus dem Wasser gezogen. Nicht ohne daß er selbst mit dem linken Bein, an das sich der liebe Junge zunächst klammerte, bis übers Knie ins Wasser geriet.
Elisabeth Hunneberg drohte, als sie den glücklich geretteten, triefenden Jungen vor sich sah, in Ohnmacht zu fallen. Entschloß sich dann aber, in der Erwägung, daß die Alhambra zwar mehrfach restauriert, aber keineswegs möbliert ist, darauf zu verzichten. Um ihren Schmerz irgendwie zu betätigen, ohrfeigte sie zunächst den Jungen, der darüber mit unendlichem Geschrei quittierte. Dann fuhr sie Agnes Hennerich hart an, die sich von Hobsen in einer besonders lauschigen Nische die Lobpreisungen Allahs hatte erklären lassen, anstatt die Unternehmungslust ihres sportliebenden Schützlings zu zügeln.
Fritzchen und Grabusch wurden nun, da man der Kraft der spanischen Sonne das Beste zutraute an diesem klaren und warmen Frühsommertag, eiligst nach dem Löwenhof geschafft, wo sie trocknen sollten. Agnes aber enteilte mit tränenden Augen, um aus dem Hotel für Fritzchen den hier einzig noch verfügbaren Reiseanzug zu holen. Denn für die Alhambra hatte er darauf bestanden, seinen Sonntagsanzug anzulegen, da es sich doch um Besichtigung einer »Königsburg« handle. Auf diese kluge Äußerung des lieben Jungen war Elisabeth Hunneberg so stolz gewesen, daß sie sie bereits in der Alhambra überall herum erzählt hatte.
Es ärgerte den Amtsgerichtsrat bitter, daß er, während die andern den Saal der Schwestern besichtigten und die Bäder, neben Fritzchen auf dem Brunnenrand des Löwenhofes in der prallen Sonne hocken mußte, um seine klatschnassen Hosen zu trocknen. Er hatte sich den Gang durch die Alhambra anders gedacht und war gerade dabei, wütend die feinen, wie Elfenbein glänzenden Säulchen zu zählen, die rings um die löwengetragene Doppelschale des Hofes die Galerien von einem Kuppelpavillon zum andern leiteten, als er zu seiner Freude Elisabeth Hunneberg den Löwenhof betreten sah.
Die Diva wurde hierher einesteils durch ihre besorgte Mutterliebe geführt, andernteils durch ihre tiefe Abneigung gegen das Treppensteigen, die ihr die Besichtigung von Aussichtstürmen als eine entbehrliche Nummer jedes Vergnügungsprogrammes erscheinen ließ. Und nur die schmeichelhafte Annahme Grabuschs, daß vielleicht auch seine durch die nassen Hosen bedingte Anwesenheit im Löwenhof mit eine Veranlassung zu ihrer Rückkehr gewesen sein könne, traf nicht zu.
Grabusch entschuldigte sich wegen des unansehnlichen Zustandes seiner Beinkleider, aber Elisabeth Hunneberg fand, den Kopf Fritzchens liebevoll an die geräumige Heroinenbrust drückend, das gute Wort: daß die Bildhauer, um die Schönheit des menschlichen Körpers auch in moderner Gewandung zu erweisen, die Faltenwürfe ihrer Modelle stets erst reichlich anfeuchteten. Sie wisse das von einem ehemaligen Freunde, der ein überaus herrliches Denkmal der Freiheitskriege modelliert habe, dessen Aufstellung später allerdings durch elende Intrigen mißgünstiger Kollegen verhindert worden sei.
Grabusch war erfreut, daß seine nassen Hosen die Diva an ein so schönes Kunstwerk von Freundeshand erinnerten, und fand einen, wie ihm schien, sehr eleganten Gesprächsübergang auf die letzten Maurenkämpfe, von denen dieses Burgwunder erzählte. Er erinnere sich, auch vor Jahren eine Oper »Boabdil« von Moritz Moszkowski gehört zu haben, die – musikalisch sehr interessant – die letzten Tage von Granada behandelte.
Da für Elisabeth Hunneberg nur die Opern von irgendwelcher Bedeutung waren, in denen sich eine größere Partie für sie fand, so wechselte sie den Gesprächsstoff und erzählte Grabusch die ihr von Hobsen eben mitgeteilte Mär: daß dort im Saal, aus dem sie eben gekommen, die Edelsten des Geschlechtes der Abencerragen enthauptet worden seien. Und zwar, weil einer der Ihren, Hamet – nicht Hamlet, wie sie auch zuerst verstanden habe – in jenem Parke dort über dem Alhambrahügel unter den uralten Zypressen mit Boabdils schöner Lieblingsgattin ein verliebtes Stelldichein gehabt habe und dabei erwischt worden sei.
Bei dieser Stelle der Unterhaltung gab Grabusch pantomimisch zu verstehen, daß ein Kind als Hörer anwesend sei. Das störte aber die Diva nicht; und sie kam ausführlich darauf zu sprechen, daß auch ihr einmal ein indischer Rajah, der, durch Europa reisend, sie als Isolde gehört, kniend angeboten habe, seine Lieblingsfrau zu werden. Trotz hübscher Geschenke von Perlen und Edelsteinen, die Gutes erhoffen ließen, aber nicht alle echt waren, habe sie gedankt, da ihr Indien zu heiß und ein Harem zu langweilig sei.
Worauf Grabusch, diskret die Stellung wechselnd, damit die Sonne ihr mildes Werk auch an der hinteren Partie seiner Beinkleider verrichten könnte, fein bemerkte, nicht alle Künstlerinnen dächten so vornehm. Ein Schwager von ihm zum Beispiel sei ruiniert worden durch eine Dame vom Brettl. Vollständig ruiniert. Seine Schwester aber, die bedauernswerte Gattin des Entgleisten, hätte nach reumütiger Beichte dem Betörten verziehen. Der Mann lebe jetzt, sich mühsam wieder emporarbeitend, als Agent für Blumenzwiebeln in Amsterdam; und er, Grabusch, hoffe ihn an der Landungsbrücke zu finden, wenn er nach beendeter Reise dort die »Astarte« verlasse.
Gerade war die Diva dabei, nun auch ihrerseits etwas von ihrer Verwandtschaft zu erzählen, und hatte schon mit einem beachtenswerten Großonkel begonnen, der im Jahre achtundvierzig Ministerialdirektor im Herzogtum Nassau war, als der schwatzende und lachende Schwarm der Fahrtgenossen von seiner Wanderung durch Säle, Bäder, Türme und Gärten zurückkam. So daß Grabusch zu seinem Ärger wieder nichts erfuhr von den verwandtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen dieser imposanten Frau, die er als Künstlerin schätzte, die ihm menschlich nicht gleichgültig war, und die immerhin durch ihren Vergleich seiner nassen Hosen mit den Beinkleidern der Statuen vom Denkmal der Freiheitskriege bewiesen hatte, daß sie ihm eine gewisse Sympathie entgegenbrachte.
»Nu, und wie war die Aussicht vom Wachtturm?«
Schwammerl kam den andern zuvor mit der einschränkenden Bewunderung: »Ja, also schön is scho – das muß man sagen. Aber wissen S' – also: Wien, vom Kahlenberg aus g'schaut, is es halt nit!«
Erich aber, der, angeregt von diesen Wegen durch zierliche Galerien, duftende Gärten und schummrige Säle, hinter ihm stand, dachte so bei sich: Armes Granada, das alljährlich im Frühjahr sich von einigen Dutzend Schwammerls bewundert und taxiert sieht! Und dann fiel ihm der Ausspruch eines gescheiten Mannes ein, der mal behauptet hatte, man könne den klügsten und besten König in der Meinung der Menge herabsetzen, wenn man wohlwollend äußere: Nu ja, alles ganz schön – aber Walzer tanzt er schlecht.
»Jetzt hab' ich aber genug Alhambra,« meldete Zwingenberg mit großer Bestimmtheit und sah auf die Uhr, »wann wird denn nun endlich geluncht?«
Dieses war das letzte deutsche Wort, das an diesem sonnigen Vormittag auf dem Löwenhof der Alhambra über Granada geäußert wurde.
*
Um neun Uhr abends – zwei Stunden, nachdem der Zug von Granada in den wenig sauberen Bahnhof von Malaga eingelaufen war – verließ die »Astarte« den im weiten Lichterkranz schimmernden Hafen.
Die Passagiere genossen nach der Unrast der Bahnfahrt, des Wandelns und Schauens die herrliche Ruhe des sanften Gleitens über das spiegelglatte Meer, aus dem der Glanz der Sterne wie ein feines Goldgespinst widerstrahlte.
Das Diner war eingenommen. In kleinen Gruppen stand und wandelte man auf dem Promenadendeck umher. Bloß das Ehepaar Häfele, das auch am Abendessen nicht teilgenommen, hatte sich schon zur Ruhe begeben.
Penelope aber saß, ohne die schwatzend Vorüberschreitenden eines Blickes zu würdigen, im Schein einer elektrischen Lampe, kerzengerade, wie eine Wachsfigur aus dem Panoptikum; und nur die langen Spinnenfinger zogen die blauen, grünen und violetten Fäden durch das rätselhafte Muster.
»Mir scheint,« sagte Reubke, der mit Bergemann langsam auf und ab ging, »mir scheint, die Person sitzt noch von vorgestern da. Es gibt solche Leute – auch in der Kirche, im Theater auf Eckplätzen, in der Bahn, in Generalversammlungen –, solche Leute, die den Eindruck machen, daß sie nie aufstehn, daß sie gar nicht aufstehen können. Daß sie so mit einer Schraube oder einem Dorn unten festgemacht sind am Stuhl, wie die dicken Bleisoldaten auf ihren Pferden. Als ob sie auch weiter gar keinen Zweck hätten, als eben zu sitzen. So bloß zum Protest gegen alles, was nicht sitzt; gegen all die dumme Unruhe, den blöden Wirrwarr, das zwecklose Gezappel des modernen Lebens. So, wissen Sie, wie die alten, weisen Könige bei Maeterlinck in der Literatur sitzen.«
Bergemann sah den redenden Herrn von Reubke von der Seite an. Mit einem leisen Erstaunen. Und er dachte: Ist dieser wunderliche Jüngling jetzt unter dem Eindruck der spanischen Sternennacht plötzlich gescheit geworden, oder verstellt er sich nur, wenn er den ganzen lieben Tag lang den harmlosen Viveur spielt? . . .
Grabusch hatte Mücke, der an kokettem goldenem Gäbelchen eine Zigarette rauchte, um Feuer gebeten und war dadurch mit ihm in ein höfliches Gespräch gekommen.
Plötzlich fragte Mücke, indem er mit dem langen Nagel seines kleinen Fingers die Asche von der Zigarette schnickte: »Sie sind Jurist, Herr Rat?«
»Ja. Leider.«
»Würden Sie mir vielleicht eine juristische Frage beantworten?«
»Wenn ich kann – gewiß. Aber wenn es sich etwa um ausländisches Recht handelt, so . . .«
»Es handelt sich um Menschenrechte. Nehmen wir an, ein – aus irgendwelchem Grunde – zum Tod Verurteilter kann der Mitwelt . . . oder doch kann einem Nebenmenschen in wichtiger Sache zu seinem . . . zu seinem Recht verhelfen, wenn seine Hinrichtung aufgeschoben wird. Ich setze nun den Fall, daß er selbst die Möglichkeit hat, den Termin dieser Hinrichtung hinauszurücken.«
»Das scheint mir sehr unwahrscheinlich.«
»Den Fall wollen wir in der Voraussetzung als möglich annehmen. Glauben Sie, daß seine . . . sagen wir seine große Wurschtigkeit den Dingen dieser Erde gegenüber, die er ja doch als wertlos und unnutzbar hinter sich läßt, stärker sein soll, oder aber sein Interesse an einer Gerechtigkeit, der ja schließlich sein liederliches Leben selbst zum Opfer gebracht wird?«
Grabusch sah den redenden Herrn Artur Mücke von der Seite an. Mit einem leisen Erstaunen. Und er dachte: Ist dieser wunderliche Jüngling jetzt unter dem Eindruck der spanischen Sternennacht plötzlich ein moralischer Philosoph geworden, oder verstellt er sich nur, wenn er den ganzen lieben Tag lang den faden Dandy spielt? . . .
. . . Kapitän Jürgens, die Mütze im Nacken, kam die Treppe von der Kommandobrücke herabgestiegen. Der erste Offizier vertrat ihn jetzt da oben. Der Lotse war eben auf einer kleinen Pinasse nach Malaga zurückgefahren.
Just bei der Treppe fand der Kapitän die schmächtige Gestalt des Kapellmeisters Balzer, der nicht mehr dirigieren durfte, an die Reling gelehnt. Nicht Passagier, nicht Angestellter, von keinem gesucht und in seiner Beschämung alle meidend, wagte sich der scheue kleine Musiker aus Nordhausen nur noch abends in der Dunkelheit aus seiner Kabine, die er, schweigsam und geduckt, mit drei Stewards teilte.
Der Kapitän stand still. »Herr Balzer!«
Der kleine Kapellmeister schrak zusammen. Er kannte die Stimme des Schiffsgewaltigen, der ihn engagiert und dann nach der ersten verunglückten Tischmusik abgesägt. Er fürchtete einen Rüffel, einen Vorwurf, einen Befehl und griff, sich zusammenreißend, an die Mütze.
Aber die wasserblauen Augen des Kapitäns schauten gutmütig drein.
»Sie sind nicht an Land gewesen, Herr Balzer?«
»Nein, Herr Kapitän.«
»Warum nicht?«
»Ich – ich habe kein Geld dazu.«
»Hm. Als Kapellmeister sind Sie . . . na ja, war mein Fehler vielleicht. Man soll nicht auf billige Quellen reisen. Für fünfundsiebzig Mark und Verpflegung macht's eben der Strauß und der Nikisch nicht. Tja – was ich sagen wollte – Sie sollen aber nicht übel Klavier spielen?«
»O ja, das kann ich wirklich, Herr Kapitän.«
»Können Sie auch deutsche Volkslieder – auswendig?«
Ein Lächeln huschte, die Angst scheuchend, über Adam Balzers pockennarbiges Gesicht. Um ein ganz Weniges schien seine kümmerliche Figur größer zu werden, schienen die abfallenden Schultern in dem verschabten dünnen Sommermäntelchen sich zu heben, als er sagte: »Aber gewiß, Herr Kapitän!«
»So. Nun, dann – wissen Sie was, Herr Balzer, dann gehn wir zwei jetzt mal hinauf – nur wir zwei, verstehn Sie – nicht ins Musikzimmer –, oben auf Bootsdeck in die sogenannte Veranda – haben Sie schon gesehen? Da steht ja auch ein Klavier – und da ist jetzt kein Mensch. Und da spielen Sie mir noch eine halbe Stunde so ein paar hübsche Volkslieder vor, was? Ist so 'ne schnurrige Liebhaberei von mir. Das heißt, aber nur wenn Sie wollen. Das ist kein Dienst mehr. Und . . . hm, ja, ich honoriere das natürlich.«
»Herr . . . Herr Kapitän!«
Eine Welle von Glück flutete dem kleinen Kapellmeister heiß durch's Herz. Er hatte all die Tage durch die Fenster oben mit dem einsamen Klavier geliebäugelt. Hatte nur nicht gewagt, einzutreten und zu spielen . . . Und jetzt – phantasieren über deutsche Volkslieder! Sein Heimweh aus strömen, seine Verlassenheit trösten . . .
»Wie alt sind Sie, Herr Balzer?«
»Zweiundzwanzig Jahre.«
»Und zum ersten Male auf dem Meer?«
»Zum ersten Male – von zu Hause fort, Herr Kapitän.«
»Zum erstenmal von – – kommen Sie – wir wollen musizieren!«
Adam Balzer, der kleine Kapellmeister a. D., folgte dem die begegnenden Passagiere nicht beachtenden, rasch, wie im Dienst voranschreitenden Kapitän nach der Veranda oben auf Bootsdeck. Klopfenden Herzens und mit tiefem Erstaunen. Und er dachte: Ist dieser harte Seebär jetzt in der spanischen Sternennacht plötzlich weich und gütig geworden – oder verstellt er sich nur, wenn er den ganzen lieben Tag lang den gestrengen, wortkargen Vorgesetzten spielt?
. . . Vorn, an der Spitze des Schiffs, die, scheinbar fast unbewegt, das weiß aufleuchtend zur Seite fliehende Meer zerschnitt, hatte Erich, der allein sein wollte, eine Frauengestalt gefunden. Wie er die blaue Wäsche der Heizer und Maschinisten, die hier von den chinesischen Wäschern zum Trocknen aufgehängt war, zur Seite bog und gebückt unter den Seilen durchschritt, sah er sie. Sie saß auf einem Bündel Taue, fuhr erschreckt auf bei seinem Nahen und wollte rasch an ihm vorbei.
Verblüfft erkannte er Hilde. Sie hatte verweinte Augen und hielt einen zerknitterten Brief in der Hand.
»Fräulein Hilde – ja, was machen Sie denn hier?«
»Pst. Verraten Sie mich, bitte, nicht – Herr Assessor. Wenn das der Obersteward erfährt . . . Es ist uns nicht erlaubt. Aber ich konnte nicht anders. Einen Augenblick mußte ich für mich haben . . . mußte . . .«
Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen: aber das glückliche Lächeln ihres Mundes widersprach.
»Sie haben einen Brief bekommen?«
»Ja. In Malaga mit der letzten Post.«
»Von einer lieben Person?« Er hätte sich ohrfeigen können, daß er so taktlos fragte. Aber er fragte.
»Von einer Schwester.«
»Von Ihrer Schwester?« Es schien ihn zu freuen, daß es gerade die Schwester war.
»Nicht von meiner Schwester. Ich habe keine Geschwister. Nur noch eine alte Mutter. Der Brief ist von einer Schwester, einer Krankenschwester. Sie wissen ja, ich war selbst, ehe ich hier . . .«
»Ach ja, richtig, ich weiß, Sie waren Krankenschwester. Und nun haben Sie eine traurige Mitteilung bekommen . . .?«
»Traurig? O nein, o nein! . . . Er lebt ja – er lebt!«
»Wer lebt?« Er hätte sich anspucken können für diese dumme, heftige Neugier. Aber er fragte: »Wer lebt?«
»Er! . . . O Gott, wie ich glücklich bin! . . . Denken Sie nur, wenn das Gift . . . wenn das schreckliche Gift . . . das ich ihm doch selbst . . . ich . . .«
In diesem Augenblick kam der dritte Offizier auf seiner Runde nach der Spitze. Noch ehe er die letzten Kittel der Heizer, die auf der Waschleine gereiht waren, zur Seite geschoben hatte, war Hilde mit einem raschen »Guten Abend. Herr Assessor!« verschwunden.
Erich sah ihr nach. Mit einem tiefen Erstaunen. Und er dachte: Hat sich bei diesem Mädel jetzt unter dem sternbesäten Frühlingshimmel Spaniens der Sinn verwirrt – oder hat sie wirklich eine ernste Liebesgeschichte erlebt mit Eifersucht und Untreue und Gift . . .? Unsinn! Er versuchte, sich aus den früheren Begegnungen ihr sicheres Wesen, ihr schelmisches Lächeln wieder zu vergegenwärtigen. Aber jetzt – die Tränen waren doch echt. Und der Brief – der Brief!
Gedankenvoll wandte sich Erich zum Gehen. Da stand er verblüfft still.
Ein leichter Wind hatte sich erhoben. Lau und angenehm. Er füllte die blauen Blusen an den Stricken: er blähte die aufgehängten Beinkleider und drückte ihre Knie breit nach vorn. Wie eine Schar von grotesken Tänzern, von kopflosen Rümpfen und knickenden, fußlosen Beinen kamen die blauen Waschanzüge der Heizer der »Astarte« auf ihn zu. Allen voran aber, wie ein Kommandeur seiner Truppe, ein unsicher tänzelndes, zweibeiniges Gespenst. Das war Grabuschs Hose, die stolz war auf ihr ritterliches Abenteuer. Auf das Bad unterm früchteschweren Orangenbaum im stillen grünen Wasser des Myrtenhofes der Alhambra.