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Du, liebenswürdiger und hoffentlich auch nachsichtiger Leser (denn meine Leser müssen schon nachsichtig sein, weil ich sonst fürchte, nicht auf ihre Liebenswürdigkeit zählen zu können), hast mich nun bis hierher begleitet, nun laß dich bitten, daß ich acht Jahre überspringen darf, also die Zeit von 1804, als ich zuerst Opium zu nehmen begann, bis 1812. Die Universitätsjahre waren vorbei und vorüber – fast vergessen. Die Studentenmütze preßt nicht mehr meine Schläfen; wenn sie noch existiert, dann drückt sie heute irgendeinen jungen Studiker, von dem ich hoffen will, daß er so glücklich wie ich ist und für das Studium so viel wie ich übrig hat. Mein Talar ist wahrscheinlich in demselben Zustande wie viele tausend ausgezeichneter Bücher in der Bodleian Library, eifrig durcharbeitet von gewissen studienfreudigen Würmern und Motten, oder vielleicht hat er seinen Weg zu dem großen Sammelplatz all der unzähligen Teekessel, -tassen und anderen Teegerätes gefunden, an die mich manchmal die gegenwärtige Generation von Teetöpfen erinnert, weil ich auch einmal einen besessen habe, über dessen spätere Schicksale ich aber nie etwas erfahren konnte. Die Schläge der Kirchenglocke, die ihre unwillkommenen Geräusche um sechs Uhr früh ertönen läßt, unterbrechen meinen Schlaf nicht mehr, und der Pedell, der sie zu läuten hatte, dessen wundervolle Nase (Bronze mit Kupfereinlagen!) mich zur Abfassung manchen griechischen Racheepigramms trieb, ist lange tot und kann niemanden mehr ärgern. Und ich und mancher andere, der unter seiner merkwürdigen Vorliebe für das Glockenläuten gelitten hat, sind übereingekommen, ihm zu verzeihen und ihm seine Sünden nicht nachzutragen. Selbst mit der Glocke habe ich Frieden gemacht. Sie läutet wahrscheinlich immer noch dreimal täglich; ärgert wohl noch immer grausam manchen »würdigen Gentleman« und vernichtet noch immer manchen Seelenfrieden. Mich aber erreicht jetzt im Jahre 1812 ihr scheinheiliger Ton nicht mehr – scheinheilig, weil sie mit raffinierter Bosheit solch süße, silberne Töne aussandte, als lüde sie zu irgendeinem Feste – ihre Töne können nicht mehr zu mir dringen, und hätte der Wind die günstigste Richtung, wie es die Bosheit der Glocke nur sich wünschen könnte – weil ich nun, zweihundertfünfzig Meilen weit fort, mich in die Einsamkeit der Berge vergraben habe. Was ich in den Bergen tue? – Ich nehme Opium. – Was sonst noch? – Nun, lieber Leser, in dem Jahre 1812, das wir nun erreicht haben, so gut wie manches Jahr vorher, studiere ich deutsche Metaphysiker: Kant, Fichte, Schelling. Und wie und auf welche Weise ich lebe? Was für ein Mensch ich eigentlich geworden bin? – – – Ich lebe in dieser Zeit meines Lebens in einem Bauernhause mit einem einzigen weiblichen Dienstboten ( Honni soit qui mal y pense), der bei meinen Nachbarn die »Haushälterin« heißt. Als studierter Mann mit guter Erziehung darf ich mich wohl der Klasse als unwürdiges Mitglied beizählen, die man ganz undefinierbar »Gentlemen« zu nennen pflegt. Meine Nachbarn halten mich hauptsächlich dafür, weil sie mich kein Geschäft betreiben sehen, also annehmen müssen, daß ich von meinen Zinsen lebe. Höfliche Leute reden mich in der Briefadresse nach gutem englischen Gebrauch mit »Esquire« an, was eigentlich vor den Augen des Heroldsamtes schwere Bedenken erwecken müßte. Sonst bin ich nichts, nicht einmal Friedensrichter oder Standesbeamter. Ob ich verheiratet bin? – Noch nicht! – Ob ich noch Opium nehme? – Jede Samstagnacht! Und wahrscheinlich habe ich das, ohne zu erröten, seit »dem regnerischen Sonntage«, dem »stattlichen Pantheon« und dem »himmlischen Drogisten« von 1804 regelmäßig getan. Was meine Gesundheit bei diesem vielen Opiumgenusse angeht? Also kurz: »Wie geht es Ihnen?« »Oh, aber ganz ausgezeichnet! Danke der gütigen Nachfrage, lieber Leser!« muß ich antworten, wie eine Dame im Wochenbett: »Den Umständen nach vorzüglich!« Tatsächlich wage ich die volle und einfache Wahrheit zu sagen, obgleich ich, um die Theorien der Mediziner zu befriedigen, eigentlich krank sein müßte, fühlte ich mich nie im Leben besser als im Frühling 1812; und ich hoffe zuversichtlich, daß die Quantitäten von Claret, Portwein und echtem Madeira, die du, lieber Leser, in diesem Zeitraum von acht Jahren vertilgt hast, deiner Gesundheit so wenig geschadet haben als der meinigen das Opium, das ich in diesen acht Jahren, von 1804 bis 1812, genommen habe. Ich habe des würdigen Herrn Doktor Buchanan Rat befolgt und nie mehr als fünfundzwanzig Unzen Laudanum genommen. Dieser weisen Mäßigung habe ich es wohl zu verdanken, daß ich bis 1812 die rächenden Schrecken, die das Opium für alle die in Bereitschaft hat, die seine Sanftmut mißbrauchen, nie erfahren habe und nichts darauf schließen läßt, daß ich sie je kennenlernen werde. Dabei darf man aber nicht vergessen, daß ich bisher ein Dilettant des Opiumessens gewesen bin. Acht Jahre Praxis, mit dem einzigen Vorbehalte, daß ich nach jeder Gabe einige Zeit verstreichen ließ, haben es nicht fertig gebracht, daß mir das Opium unentbehrlich werden konnte. Nun aber kommt eine andere Ära; also, lieber Leser, wir sind jetzt im Jahre 1813. – Im Sommer des letzten Jahres hatte meine Gesundheit durch eine tiefe geistige Niedergeschlagenheit, die die Folge eines sehr traurigen Ereignisses war, gelitten. Dieses Ereignis stand in keinerlei Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Stoffe und hatte auch keinerlei Einfluß auf die Krankheit, die mich in der Folge anfiel, so daß ich es hier übergehen kann. Ob die Krankheit von 1812 irgendwelchen Einfluß auf die von 1813 gewonnen hat, kann ich nicht entscheiden; aber in diesem letzten Jahre wurde ich von einem fürchterlichen Magenleiden ergriffen, das in jeder Weise dem ähnlich war, das ich in meiner Jugend hatte durchmachen müssen, und begleitet war von einer Wiederkehr der alten Träume. Dies ist der Punkt meiner Erzählung, an dem, zu meiner Rechtfertigung, alles, was ich in Zukunft zu erzählen haben werde, hängt, und hier finde ich mich in einem eigenartigen Dilemma. Entweder muß ich die Geduld meines Lesers durch das Eingehen in die Details meiner Krankheit oder meines Kampfes gegen sie erschöpfen, was genügen würde, die Tatsache zu beweisen, daß ich nicht länger fähig war, mit der Erregung und den andauernden Schmerzen zu ringen; oder andererseits setzte ich mich der Gefahr aus, wenn ich leichthin über diesen kritischen Teil meiner Geschichte hinweggehen wollte, daß meine Leser glauben würden, ich sei nach und nach, wie die meisten Opiumesser, vom ersten Stadium der Vorliebe in das letzte hinübergeglitten, eine Annahme, zu der sie nach meinen vorstehenden Bekenntnissen nur zu leicht geneigt sein könnten. Das ist das Dilemma, das vollauf genügen würde, den Leser von der weiteren Verfolgung meines Berichtes zurückzustoßen. Ich will also annehmen, lieber Leser, daß du mir glauben wirst. Glaube mir also, ganz einfach, daß ich nicht länger zu widerstehen vermochte. Glaube es freiwillig und als einen Akt der Güte, oder wenn du das nicht kannst, glaube es aus Vorsicht...
Ich sage also, daß ich damals, als ich das Opium täglich zu nehmen begann, nicht anders konnte. Ob es mir später möglich gewesen wäre, mit dieser Gewohnheit wieder zu brechen, selbst als mir jede Anstrengung zwecklos erschien, und ob die zahllosen Anstrengungen, die ich machte, nicht doch Erfolg hätten bringen können, ob ich das allmähliche Wiedergewinnen des verlorenen Bodens nicht energischer hätte betreiben können – das alles sind Fragen, deren Beantwortung ich ablehne. Ich gestehe, daß ich die nicht abzulegende Schwäche habe, ein Eudämonist zu sein, und verlange zu sehr nach Glück, sowohl für mich als für andere. Ich kann dem Elend, weder eigenem noch fremdem, nicht fest genug ins Auge sehen und bin nicht fähig, gegenwärtige Schmerzen um der Anwartschaft auf zukünftigen Glückes willen ruhig zu ertragen.
Vom Ende des Jahres 1813 an muß mich der Leser als einen gewohnheitsmäßigen und regelmäßigen Opiumesser betrachten, den zu fragen, ob er an einem bestimmten Tage Opium genossen habe oder nicht, genau so gut sein würde, als wollte man die Frage stellen, ob seine Lungen an diesem Tage geatmet hätten, oder ob sein Herz seine Funktionen auch erfüllt habe. Jetzt also, lieber Leser, begreifst du, für was du mich zu halten hast, und nun merkst du, daß kein alter Mann »mit schneeweißem Bart« jemals den Erfolg haben wird, mich zu überreden, ihm das »kleine goldene Gefäß mit dem verderblichen Gift« auszuhändigen. Ganz im Gegenteil erkläre ich allen Moralisten und Ärzten, daß sie bei mir, wie sie es auch immer anzufangen und zu begründen versuchen werden, keine Hoffnung auf irgendwelches Entgegenkommen zu haben brauchen, wenn sie auch noch so tolle Vorschläge für einen Fastenmonat oder eine andere Abstinenz vom Opium machen würden. Nachdem ich das alles ausgeführt habe und annehmen kann, daß ich verstanden worden bin, können wir nun wieder vor dem Winde segeln. Also, lieber Leser, nachdem wir so lange auf Grund gesessen haben, so lange Zeit vertrödelt haben – auf! und laß uns drei Jahre weiter fahren. Nun wollen wir den Vorhang wieder hochziehen, und du wirst mich in einem neuen Charakter sehen.
Wenn irgendein Mensch, sei es ein Armer oder Reicher, uns sagen wollte, welches der glücklichste Tag unseres Lebens gewesen ist, und warum und weshalb, so glaube ich, daß wir alle rufen würden: »Hört ihn! Hört ihn!« Denn selbst dem Weisesten muß es sehr schwer werden, den glücklichsten Tag zu nennen, weil irgendein Ereignis, das einen so hervorragenden Platz beanspruchen dürfte, wenn ein Mann auf sein Leben zurückschaut, oder ein besonderes Glück, das über jemanden an einem bestimmten Tage ausgegossen worden ist, von solch dauerndem Charakter gewesen sein muß, daß es – Unfälle ausgeschlossen – fortgefahren haben müßte, dasselbe Glück weiter zu ergießen, oder wenigstens ein nicht viel geringeres, noch viele, viele Jahre hindurch. Das glücklichste Jahrfünft oder doch wenigstens das glücklichste Jahr zu bezeichnen, wird man einem Manne zugestehen dürfen, ohne ihn deshalb für einen Narren zu halten. Dieses Jahr war in meinem Falle, lieber Leser, dasjenige, das wir nun erreicht haben – obwohl es, wie ich zugeben muß, wie eine Einschaltung zwischen dunkleren Jahren stand. Es war ein Jahr vom reinsten Wasser, würde sich ein Juwelenhändler ausdrücken, gefaßt in die Düsterheit und Melancholie des Opiums. So seltsam es klingen mag, ich war kurz vor dieser Zeit allmählich, und ohne daß es mich große Überwindung gekostet hätte, von dreihundertzwanzig Gran Opium (d. h. achttausend Tropfen Laudanum) täglich auf vierzig Gran zurückgegangen. Ganz plötzlich verschwand – es war wie durch Zauberei – die tiefste Melancholie, die auf meinem Hirn gelastet hatte; wie ich schon beobachtet habe, daß eine dunkle Wolke plötzlich sich vom Gipfel eines Gebirges fortzieht, verschwand alles in einem einzigen Tage. Verschwand mit seinem schwarzen Banner, wie ein Schiff, das gestrandet ist und plötzlich von einer Springflut wieder flottgemacht wird.
Nun also war ich wieder glücklich. Ich nahm nur noch tausend Tropfen Laudanum täglich. Und was das zu bedeuten hatte? – Ein später Frühling hatte mir noch einmal die Jugendzeit erschlossen. Mein Hirn formte seine Gedanken so gesund wie nie zuvor. Ich las Kant wieder und verstand ihn wieder, oder – bildete mir wenigstens ein, das zu tun. Und wieder verbreitete sich mein Glücksgefühl über die Menschen meiner Umgebung. Hätte mich jemand aus Oxford oder Cambridge heimgesucht, so hätte ich ihm in meiner bescheidenen Hütte einen Empfang bereitet, wie ihn ein armer Mann nur immer zu bieten vermag. Und was nur immer zum Glücke eines Weisen gefehlt hätte – ich hätte ihm so viel Laudanum geschenkt, wie er immer gewünscht hätte, und das in einer goldenen Schale. Da ich gerade davon rede, Laudanum zu verschenken, erinnere ich mich eines kleinen Vorfalles, dessen ich, so unbedeutend er ist, Erwähnung tun muß, weil der Leser ihn bald wieder in meinen Träumen antreffen wird, auf die er so furchtbar einwirkte, wie man es sich überhaupt nur vorzustellen vermag. Eines Tages klopfte ein Malaie an meine Türe. Was für ein Geschäft ein Malaie in den englischen Bergen auszuführen gehabt haben mag, habe ich mir nie erklären können. Vielleicht war er auf dem Wege zu dem vierzig Meilen entfernten Seehafen.
Das Dienstmädchen, das ihm die Tür öffnete, war ein junges Ding, das in den Bergen geboren und aufgewachsen war und niemals eine asiatische Kleidung irgendwelcher Art gesehen hatte. Sein Turban brachte sie in nicht geringe Verwirrung, und als sich herausstellte, daß seine englischen Kenntnisse genau so groß waren wie ihre malaiischen, schien sich ein unausfüllbarer Abgrund zwischen der Mitteilung ihrer Ideen aufzutun, wenn einer von den beiden überhaupt welche hatte, was sich nicht ganz bestimmt behaupten läßt. In diesem Dilemma erinnerte sich die Kleine des vielgerühmten Wissens ihres Brotherrn – zweifellos schrieb sie mir die Kenntnis aller Sprachen des Erdballes und außerdem die einiger vom Monde zu –, kam und gab mir zu verstehen, daß da draußen irgendein Dämon sei, von dem sie annehme, daß meine Kunst ihn von dem Hause fortexorzisieren könne. Ich ging nicht sofort hinunter, aber als ich es dann tat, erblickte ich eine Gruppe, die der Zufall zusammengestellt hatte und, obgleich sie nichts Bedeutendes darstellte, sich fester in meine Phantasie eingrub, als irgendeins der Bilder in den Balletts des Opernhauses es je getan hat. In einer Bauernküche, die an den Wänden mit schwarzem Holz, das vom Alter und vom Saubermachen fast wie Eiche aussah, bekleidet war, und das ihr mehr den Anblick einer großen Landhausdiele gab als den einer Küche, stand der Malaie. Sein Turban und seine weiten Beinkleider von schmutzigem Weiß hoben sich von der dunklen Paneelierung ab. Er hatte sich näher zu dem Mädchen gestellt, als diesem wohl angenehm war; aber der angeborene Geist von Unerschrockenheit, den die Bergbewohner haben, schien mit einem Ausdruck von Furcht auf ihrem Gesicht zu streiten, während sie die Tigerkatze vor sich betrachtete. Ein wundervolleres Bild kann man sich kaum vorstellen als das feine englische Gesicht des Mädchens mit ihrer exquisiten Zartheit, ihrer aufrechten, ein wenig stolzen Haltung, neben dem gelbgrünen Gesicht des Malaien, das die Seeluft mit einer Art Mahagoniglanz überzogen hatte, seinen schmalen, wilden, rastlosen Augen, dünnen Lippen und sklavisch-unterwürfigen Bewegungen. Halb verborgen von dem wildblickenden Malaien war ein kleines Kind aus einer Nachbarhütte, das sich hinter ihm eingeschlichen hatte und nun, mit zurückgelegtem Kopfe und nach oben blickend, nach dem Turban und den wilden Augen darunter sah, während es sich mit einer Hand schutzsuchend am Kleide des jungen Mädchens hielt. Meine Kenntnis der orientalischen Sprachen ist nicht besonders tief, da sie sich nur auf zwei Worte beschränkt, auf das arabische für Gerste und – das türkische für Opium ( madjoon), die ich im Anastasius fand. Und da ich weder ein malaiisches Wörterbuch noch Adelungs »Mithridates« hatte, aus dem ich mir vielleicht mit ein paar Worten hätte helfen können, redete ich ihn mit einigen griechischen Versen der Ilias an, in Anbetracht der Tatsache, daß von allen Sprachen, die ich kannte, das Griechische den orientalischen Sprachen, wenigstens in bezug auf die geographische Lage, am nächsten kam. Er erwies mir in sehr demütiger Weise seinen Gegengruß und antwortete in einem Idiom, von dem ich annehme, daß es malaisch war. So rettete ich mein Ansehen bei der Nachbarschaft, denn der Malaie konnte ja nichts verraten. Er legte sich für eine Stunde auf den Fußboden nieder und wollte alsdann seine Reise fortsetzen. Bei seinem Fortgange reichte ich ihm ein Stück Opium. Ihm, als einem Orientalen, mußte das Opium bekannt sein, und der Ausdruck seines Gesichtes bestätigte mir, daß dem so war. Doch war ich von einiger Bestürzung ergriffen, als ich ihn geschwind die Hand zum Munde führen und das Ganze, das ich ihm in drei Teile geteilt hatte – um die Schuljungensprache zu benutzen –, »auf einen Mundvoll hinunterschlingen« sah. Das Quantum hätte genügt, um drei Dragoner mit ihren Pferden zu töten, und das Schicksal des armen Kerls machte mir Gedanken. Aber was konnte ich tun? – Ich hatte ihm aus Mitgefühl für sein einsames Leben das Opium gegeben, da ich mir sagen mußte, daß er von London aus wenigstens drei Wochen unterwegs war, ohne mit einem menschlichen Wesen einen Gedanken ausgetauscht zu haben. Doch durfte ich jetzt nicht die Gesetze der Gastfreundschaft verletzen und ihm gewaltsam ein Brechmittel einflößen. Er würde wahrscheinlich voll Schreck geglaubt haben, daß wir ihn irgendeinem englischen Götzen opfern wollten. Nein, ich konnte ihm nicht helfen. Er zog fort, und einige Tage lang war ich sehr besorgt, aber ich habe nichts davon gehört, daß man einen toten Malaien gefunden hat, und schließlich kam mir die Überzeugung, daß er an Opium gewöhnt war und daß ich ihm den Dienst erwiesen hatte, den ich beabsichtigte – ihn für eine Nacht von den Mühsalen seiner Wanderungen zu erlösen.
Diesen Vorfall habe ich der Erwähnung wert gefunden, weil dieser Malaie (teils wegen des malerischen Bildes, zu dem er gestanden, teils wegen der Sorge, die ich mit der Vorstellung von ihm einige Tage hindurch ausgestanden habe) später in meinen Träumen auftauchte, andere Malaien mit sich brachte, Amok nach mir lief und mich in eine Welt von Qualen schleppte. Aber nun genug von dieser Episode und zurück zu meinem Schaltjahr der Glückseligkeit! Ich habe bereits gesagt, daß wir, wenn es sich um ein für uns alle so wichtiges Ding wie das Glück handelt, gern von den Erfahrungen und Experimenten eines jeglichen Menschen reden hören, und wenn selbst der Erzähler nur ein einfacher Ackerknecht wäre, von dem wir nicht erwarten können, daß er den schwer zu behandelnden Boden menschlicher Leiden und Freuden allzu tief durchpflügt habe oder seine Nachforschungen nach irgendwelchen erleuchteten Gesichtspunkten eingerichtet hätte. Ich jedoch, der ich das Glück in beiden Gestalten, in flüssiger und fester Form, gekocht und ungekocht, ostindisches und türkisches genossen habe, ich, der seine Experimente über diesen wichtigen Gegenstand mit einer Art galvanischer Batterie durchgeführt hat, sich zum gemeinen Nutzen der ganzen Welt täglich mit achttausend Tropfen Laudanum geimpft hat – genau so, wie ein französischer Arzt sich zum selben Zwecke mit Krebsgift, ein englischer vor etwa zwanzig Jahren mit Pestgift und ein dritter, dessen Nationalität mir unbekannt ist, mit Tollwutgift sich impften –, ich, das wird man zugeben müssen, muß bestimmt wissen, was Glück ist, wenn es überhaupt jemanden gibt, der das weiß. Und deshalb will ich hier eine Analyse des Glücks niederlegen; und um sie interessanter zu übermitteln, will ich nicht didaktisch berichten, sondern in die Beschreibung eines Abends eingehüllt, wie ich jeden Abend während des Schaltjahres erlebte, in dem, obwohl ich täglich Laudanum nahm, es doch mir nicht mehr bedeutete als das Elixir der Freude. Wenn dies geschehen ist, muß ich alsobald damit Schluß machen, über die Freude zu reden, und mich einem davon sehr verschiedenen Gegenstande zuwenden: Den Schrecken des Opiums.
Man stelle sich eine Hütte vor, die in einem Tale, achtzehn Meilen von jeder Stadt entfernt, steht. Das Tal ist nicht groß, etwa zwei Meilen lang und dreiviertel Meile breit im Durchschnitt. All die Familien, die in diesem Tale wohnen, scheinen einen einzigen großen Haushalt zu bilden, sind deinem Auge vertraut und deiner Zuneigung mehr oder weniger nahe! Die Berge sind ungefähr drei- bis viertausend Fuß hoch, und die Bauernhütten sind richtige Hütten. Stelle dir ein weißes Häuschen in einem blühenden Garten vor, dessen Blüten an den Wänden emporklettern und sich um die Fenster herumranken, den ganzen Frühling, Sommer und Herbst hindurch. Mit Maiblumen fängt es an und hört mit Jasmin auf. Laß meinetwegen nicht Frühling, Sommer oder Herbst, sondern den kältesten Winter sein. – Hier komme ich zu einem wichtigen Punkte in der Erkenntnis vom Glück. Ich habe zu meiner Überraschung gesehen, daß es Leute gibt, die ihn übersehen; die es für ein Glück halten, wenn der Winter Abschied nimmt oder bei seiner Ankunft nicht gar zu hart ist. Ich dagegen petitioniere jedes Jahr um so viel Schnee, Hagel, Frost und Sturm, von der einen oder anderen Art, als die Himmel immer nur gewähren können. Sicher kennt jedermann die himmlischen Freuden, die im Winter ein warmer Kamin gewährt, die brennenden Kerzen um vier Uhr nachmittags, warme Kaminvorleger, Tee, ein nettes Wesen, das den Tee bereitet, geschlossene Fensterläden, herabgelassene Vorhänge, die in schweren Falten zu Boden fallen, während Wind und Regen draußen rasen.
All das sind Dinge, die jedem, der in nördlichen Breiten geboren ist, in der Beschreibung eines Winterabends wohlbekannt sein dürften. All diese Delikatessen erfordern – wie Eiscreme – eine ziemlich niedere Temperatur zu ihrer Herstellung. Es sind Früchte, die nicht ohne stürmisches und in mancher Art unerfreuliches Wetter zur Reife kommen. Ich bin kein »Sonderling«, wie die Leute sagen, gleichgültig ob es sich um Schnee, Frost oder Wind handelt, und wenn er, wie ein Bekannter von mir zu sagen pflegt, so stark ist, »daß man sich dagegenlehnen kann, wie gegen einen Türpfosten«. Ich nehme es mit jedem Regen auf, aber – es muß »Katzen und Hunde regnen«, etwas in dieser Art habe ich immer nötig, und wenn es mir fehlt, komme ich mir schlecht bedient vor. Denn weshalb muß ich im Winter für Kohlen, Kerzen und mancherlei Entbehrungen so viel bezahlen, wenn ich dafür nicht alles so gut als möglich bekommen kann? Nein, ich verlange einen kanadischen Winter für mein Geld, oder einen russischen, in dem jeder Mann den Nordwind als Mitbesitzer an seinen eigenen Ohren hat. Ich bin tatsächlich in dieser Hinsicht ein solcher Epikureer, daß ich keinen Winterabend ganz genießen kann, solange nicht St.-Thomas-Tag vorüber ist und das Wetter noch eine abscheuliche Neigung zu frühlinghafter Lauigkeit bekundet. Nein, der Winter muß durch einen dicken Wall von schwarzen Nächten von der Rückkunft des Lichtes und des Sonnenscheins getrennt sein. Die Zeit zwischen den letzten Oktoberwochen und Heiligabend ist deshalb die Blütezeit des Glückes, das meiner Ansicht nach mit dem Teebrett ins Zimmer tritt. Denn Tee, obgleich er von denen, die von Natur oder durch vielen Weingenuß abgestumpfte Nerven bekommen haben und dem Einflusse eines so seinen Anregungsmittels nicht zugänglich sind, so oft lächerlich gemacht wird, wird stets das Lieblingsgetränk aller geistigen Menschen sein. Und ich würde mich mit Dr. Johnson zu einem Bellum internecinum gegen Jonas Hanway und gegen jede andere unehrerbietige Person verbinden, die den Tee zu verschimpfieren wagen sollte. Aber nun, um mir allzuviel wortreiche Erklärungen zu ersparen, will ich einen Maler einführen und ihm Weisungen erteilen, wie er das Bild vollenden soll. Malersleute lieben keine weißen Hütten, wenn sie nicht sehr vom Wetter mitgenommen sind; aber da der Leser ja schon weiß, daß wir in einer Winternacht sind, werden seine Dienste ja nur für die Innenseite des Hauses in Anspruch genommen werden.
Male er mir also ein Zimmer siebzehn Fuß zu zwölf und nicht höher als sieben und einen halben. Dieser Raum wird in meinem Hause ein wenig anspruchsvoll »das Wohnzimmer« genannt. Da es jedoch einem doppelten Zwecke dienen muß, ist es zugleich und heißt auch »die Bibliothek«, denn Bücher sind das einzige Eigentum, an dem ich reicher als alle meine Nachbarn bin. Davon habe ich so ungefähr fünftausend, die ich seit meinem achtzehnten Jahre gesammelt habe. Deshalb, lieber Malersmann, setze so viele in den Raum, als nur hineingehen. Bevölkere das Zimmer mit Büchern und male mir außerdem ein gutes Feuer und einfache, bescheidene Möbel, wie sie in die Klause eines Gelehrten passen. Nahe beim Feuer male mir einen Teetisch, und da einen ja in solch stürmischer Nacht niemand besuchen kann, stelle nur zwei Tassen und Untertassen auf das Teebrett; wenn du ein symbolisches Ding malen kannst, male mir auch eine »ewige Teekanne« – ewig a parte ante und a parte post –, denn ich pflege von acht Uhr abends bis vier Uhr morgens beim Teetrinken zu bleiben. Und da es sehr langweilig ist, sich selber den Tee herzustellen und einzugießen, male mir eine liebliche junge Frau, die an dem Teetische sitzt. Male ihre Arme wie die der Aurora und ihr Lächeln wie das einer Hebe. Doch nein, Liebste – nicht einmal im Scherz will ich zugeben, daß die Kraft, mein Heim zu erleuchten, von so vergänglichen Dingen wie äußerlicher Schönheit abhängt, und daß die Zauberkraft englischen Lächelns von einem irdischen Pinsel wiedergegeben werden könnte. Schreite lieber zu Dingen, die mehr in deiner Macht liegen, lieber Malersmann. – Und da mußte der nächste Gegenstand wohl ich selber sein – das Bild des Opiumessers mit seinem »kleinen goldenen Reliquiar mit dem verderblichen Gifte«, das neben ihm auf dem Tische liegt. Was das Opium anbetrifft, so habe ich nichts dagegen, es gemalt zu sehen, obgleich es mir im Original lieber wäre. Doch muß ich dir sagen, daß kein »kleines Reliquiar« seinen Zweck bei mir erfüllen könnte, der ich weit von dem »stattlichen Pantheon« und von allen Drogisten, sterblichen und unsterblichen, entfernt lebe. Male also schon lieber den wirklichen Opiumbehälter, der zwar nicht aus Gold, wohl aber aus Glas ist und einer Weinkaraffe zum Verwechseln ähnlich sieht. Dahinein tue ein Maß rubinfarbenen Laudanums; das und ein Buch über deutsche Metaphysik wird genügen, anzuzeigen, daß ich in der Nähe bin. Was mich selber aber betrifft, so mache ich einige Einwendungen. Ich gebe zu, daß ich als Held des Stückes im Vordergrunde des Bildes stehen müßte oder, wenn du meinst, als Angeklagter vor dem Richtertische. Das scheint richtig zu sein. Warum aber sollte ich deshalb einen Maler zum Beichtvater wählen? Oder warum überhaupt beichten? Wenn das Publikum, in dessen privates Ohr ich diese Bekenntnisse flüsternd beichte – und nicht in das irgendeines Malers – sich bereits zum Hausgebrauche ein angenehmes Bild von dem Opiumesser gemacht hat, ihm romantisch eine elegante Erscheinung oder ein hübsches Gesicht zugeschrieben hat, warum sollte ich barbarisch von dieser angenehmen Illusion, die sowohl dem Publikum als mir selbst gefällt, den Schleier lüften? Nein, male mich, wenn du mich überhaupt malen willst, aus der Phantasie. Und da die Phantasie eines Malers an schönen Schöpfungen übervoll sein soll, kann ich auf diese Art und Weise nur gewinnen.
Und nun, lieber Leser, haben wir alle zehn Kategorien meines Zustandes, wie er in den Jahren von 1816 bis 1817 sich darbot, durchlaufen. Bis zur Mitte des letzten Jahres darf ich mich einen glücklichen Mann nennen. Die Bestandteile meines Glückes habe ich mich bemüht dir vorzuführen in dem Bild vom Innern der Bücherei eines Gelehrten, in einer Hütte in den Bergen, an einem stürmischen Winterabend.
Und nun: Lebe wohl! – Ein langes Lebewohl – dem Glück, winters wie sommers! Lebt wohl, Lächeln und Lachen! Lebe wohl, du Seelenfriede! Lebet wohl, Hoffnung und stille Träume und ihr gesegneten Tröstungen des Schlafes! Für mehr als drei Jahre muß ich von ihnen allen in die Verbannung gehen. Nun bin ich angelangt bei jener Ilias von Leid, nun muß ich Bericht erstatten von den Schrecken des Opiums.