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Schrecken des Opiums.

Lieber Leser, der du mich so weit begleitet hast, ich muß, bevor ich fortfahre, dich über drei Punkte aufklären:

Der erste betrifft die Tatsache, daß ich leider die Notizen für den hier folgenden Teil nicht in eine regelmäßige und zusammenhängende Form zu bringen vermocht habe. Deshalb gebe ich sie so wieder, wie ich sie vorfinde oder meinem Gedächtnis entnehme. Bei einigen ergibt sich das Datum von selbst, andere habe ich datieren können und einige mußte ich undatiert lassen. Wo es mir mit Rücksicht auf die Wirkung und den Zusammenhang zweckmäßig erschien, habe ich kein Bedenken getragen, von der chronologischen Folge der Geschehnisse abzuweichen. Manchmal spreche ich in der Gegenwart, manchmal in der Vergangenheit. Die wenigsten der Notizen wurden zur Zeit des berichteten Geschehens niedergeschrieben. Das aber kann ihre Genauigkeit nicht beeinträchtigen, da ja die Eindrücke, die ich empfing, in meinem Gedächtnis nicht welken können. Vieles habe ich ausgelassen, denn ich konnte mich nicht zwingen, die ganze Last der Schrecken, die auf mir ruhte, zurückzurufen und in regelmäßige, erzählende Form zu gießen. Deshalb bitte ich, teils diese Gefühle, teils die Tatsache als Entschuldigung gelten lassen zu wollen, daß ich jetzt in London bin und – da die Hände, die sonst für mich Sekretärdienste tun, mir jetzt fehlen – ich ein hilfloser armer Teufel bin, der nicht einmal in der Lage ist, seine Papiere selber in Ordnung zu halten. Zum anderen wird man vielleicht das Gefühl haben, daß ich zu vertrauensvoll und mitteilsam bin, was meine eigene Privatgeschichte angeht. Das mag der Fall sein. Aber meine Art zu schreiben ist eigentlich nur ein lautes Denken und meinen Eingebungen zu folgen, ohne viel zu überlegen, wer mir zuhört. Denn wenn ich erst anfangen wollte, zu überlegen, was passend für diese und jene Person ist, dann würden mir nur allzubald Zweifel aufsteigen, ob es überhaupt passend sei, etwas niederzuschreiben. So aber setze ich mich – in einem Abstande von fünfzehn bis zwanzig Jahren der zu beschreibenden Zeit gegenüber und nehme mir vor, ohne andere Rücksichtnahme, für diejenigen zu schreiben, die danach noch an mir Interesse nehmen. Und da ich den Wunsch habe, die Zeit auszunutzen und die vollständige Geschichte zu berichten, über die außer mir niemand Rechenschaft zu geben vermag, tue ich das so vollständig als möglich und mit Aufwendung aller Anstrengung, deren ich fähig bin, weil ich nicht weiß, ob ich jemals sonst noch die Zeit dazu finden werde.

Drittens wird dem Leser manchmal die Frage aufsteigen, warum ich mich nicht von den Schrecken des Opiums befreite, entweder dadurch, daß ich es aufgab, oder dadurch, daß ich den Genuß wenigstens einschränkte. Darauf antworte ich kurz: Es kann so aussehen, als sei ich den Lockungen des Opiums zu leicht gefolgt, denn daß man es um der Schrecken willen nimmt, wird ja niemand voraussetzen. Der Leser kann versichert sein, daß ich zahllose Anstrengungen machte, um die Dosen einzuschränken. Ich füge hinzu, daß diejenigen, die Zeugen der Seelenkämpfe dieser Anstrengungen waren – und nicht ich selber –, die ersten waren, die mich baten, davon wieder Abstand zu nehmen. – Aber hätte ich nicht wenigstens täglich einen einzigen Tropfen weniger nehmen können, oder durch Verdünnung mit Wasser die Lösung auf die Hälfte oder ein Drittel ihrer Wirksamkeit reduzieren können? Um von tausend Tropfen zurückzugehen, würde diese Kur etwa sechs Jahre in Anspruch genommen haben, und das würde doch nicht der richtige Weg gewesen sein. Die Annahme, daß es möglich sei, auf dem beschriebenen Wege zu einem Erfolge zu gelangen, ist der gewöhnliche Fehler all derer, die Opium nicht aus eigener Erfahrung kennen. Ich wende mich an die, die selber Erfahrung besitzen, und bitte, mir zu bestätigen, ob es nicht stimmt, daß man bis zu einem gewissen Punkt die tägliche Gabe mit Leichtigkeit und sogar mit Vergnügen verringern kann, daß aber von diesem Punkte ab jede Verringerung entsetzliche Qualen verursacht. »Gewiß«, urteilen manche Leute, die nicht aus Erfahrung sprechen, gedankenlos, »wird einige Tage hindurch Niedergeschlagenheit und Mißbehagen eintreten.« – Nein! sage ich. Von Niedergeschlagenheit ist keine Rede. Das Gegenteil ist der Fall. Die animalische Körpertätigkeit ist ungewöhnlich angeregt. Der Puls schlägt schneller, man fühlt sich gesund. Nicht da liegt das Leiden. Es hat keine Ähnlichkeit mit dem von der Alkoholenthaltsamkeit verursachten. Es tritt vielmehr eine nicht zu beschreibende Magenreizung, verbunden mit starken Schweißausbrüchen und allerlei anderen Empfindungen, auf, die ich hier, weil dazu zu wenig Raum zur Verfügung steht, nicht beschreiben kann. Ich werde jetzt in medias res gehen und aus der Zeit, zu der mein Opiumleiden seinen Höhepunkt erreicht hatte, einen Bericht über seine lähmenden Wirkungen auf die intellektuellen Fähigkeiten voraussenden.

Seit langem habe ich nun meine Studien schon unterbrochen. Ich kann weder mit Genuß lesen noch auch nur einen Augenblick lang mich konzentrieren. Zu anderer Leute Vergnügen lese ich manchmal laut vor, weil ich eine Fertigkeit im Vorlesen besitze, die auch die einzige »Fertigkeit« ist, die ich habe; wenigstens wenn man die übliche Bedeutung dieses Begriffes zugrunde legt. Früher, als ich noch stolz auf meine Fähigkeiten und Begabungen war, machte es mir Spaß, weil ich gemerkt hatte, daß keine Fähigkeit so selten ist als die, gut vorlesen zu können. Schauspieler sind die schlechtesten Vorleser. Einer meiner Freunde, der als sehr guter Schauspieler gilt, liest geradezu schlecht, und eine Freundin, die als Schauspielerin berühmt ist, kann nur dramatische Stoffe gut vorlesen. Milton z. B. liest sie unerträglich. Die meisten Leute lesen poetische Stoffe entweder ohne rechte innere Anteilnahme, oder aber sie übertreiben. – Manchmal kommt eine junge Dame zum Tee zu uns, und wenn sie und meine Gattin dann bitten, lese ich ihnen aus Wordsworths Gedichten vor. Wordsworth war der einzige Dichter, den ich je getroffen habe, der seine eigenen Gedichte vorlesen konnte; manchmal las er geradezu bewundernswürdig.

Seit nahezu zwei Jahren habe ich mit Ausnahme eines einzigen Buches kein anderes mehr gelesen; dem Verfasser dieses einen aber schulde ich so großen Dank, daß ich seinen Namen nennen muß, um damit meine Schuld abzutragen. Erhabene und leidenschaftliche Dichtungen lese ich nur noch gelegentlich, und dann auch nur in Kostproben. Früher war es mein eigentlicher Beruf, die analytischen Fähigkeiten meines Verstandes zu üben. Analytische Studien aber muß man zusammenhängend und nicht durch fortgesetzte Pausen und Anläufe unterbrochen oder bruchstückweise betreiben. Mathematik, exakte Philosophie und ähnliche Studien aber waren mir unerträglich geworden. Da, im Jahre 1819, sandte mir ein Edinburger Freund Ricardos Werk. Ehe ich das erste Kapitel noch zu Ende gelesen hatte, sagte ich mir: »Das ist mein Mann!« Verwunderung und Neugier waren Fähigkeiten, die seit langem in mir erstorben waren. Jetzt verwunderte ich mich endlich wieder. Ich wunderte mich über mich selbst, daß ich wieder Reiz am Lesen fand, und noch mehr wunderte ich mich über das Buch. War dieses tiefschürfende Werk tatsächlich in dem England des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben worden? War das überhaupt möglich? Ich hatte schon geglaubt, daß das Denken in England erstorben sei. Konnte es möglich sein, daß ein Engländer, ohne akademischen Lehrstuhl, vielmehr bedrückt von kaufmännischen und Verwaltungssorgen, vollendet hatte, was alle Universitäten Europas und die Denker eines Jahrhunderts nicht hatten schaffen können? Alle anderen Schriftsteller waren von der Masse der Tatsachen und Dokumente erdrückt und zermalmt worden. Ricardo hatte a priori aus dem Verstande selbst Gesetze abgeleitet, die zuerst Licht in das schwerfällige Chaos der Materie warfen, und hatte aus dem, was früher nur eine Sammlung von Einzeluntersuchungen und Streitfragen gewesen war, eine systematische Wissenschaft geschaffen, die nun zum ersten Male eine bleibende Grundlage besaß.

So gelang es einem einzigen tiefschürfenden Werke, mir Schaffensfreude und Tatkraft, die ich seit Jahren nicht mehr gekannt hatte, zurückzugeben. Es rüttelte mich sogar auf, wieder zu schreiben oder doch wenigstens meiner Lebensgefährtin das zu diktieren, was sie für mich zu Papier brachte. Ich hatte nämlich den Eindruck, daß einige wichtige Tatsachen selbst dem Scharfsinne Ricardos entgangen seien, und daß diese meist so geartet seien, daß ich sie am kürzesten und elegantesten durch mathematische Formeln ausdrücken oder beschreiben konnte, im Gegensatz zu der üblichen plumpen und schwerfälligen Ausdrucksweise der Nationalökonomen. Das Ganze war nicht mehr als ein Notizbuch. Und da es so wenig Umfang hatte, schrieb ich mit meiner Gattin Hilfe, so wenig ich auch größeren Anstrengungen gewachsen war, damals meine »Prolegomena zu allen künftigen Systemen der Nationalökonomie«. Ich hoffe, man wird ihnen nichts vom Opium anmerken, obgleich der Gegenstand für die meisten Leute ein vollgültiges Schlafmittel darstellt.

Dieser Aufschwung war jedoch nur ein vorübergehendes Aufblitzen, wie die Folge bewies. Ich beabsichtigte, mein Werk zum Druck zu geben, und in einer Provinzstadt, achtzehn Meilen von meinem Wohnorte entfernt, wurden in einer Druckerei bereits alle Vorbereitungen getroffen. Zu diesem Zwecke wurde ein Hilfssetzer für einige Tage eingestellt. Das Werk war bereits zweimal annonciert, und ich war bereits auf irgendeine Weise zur Einhaltung meiner Absichten verpflichtet. Aber ich mußte noch eine Einleitung und eine Widmung an Ricardo schreiben, die ich so glänzend als möglich abfassen wollte – da fand ich mich völlig unfähig, das Werk zu vollenden. Die Vorbereitungen mußten rückgängig gemacht werden, der Hilfssetzer wurde wieder entlassen, und meine Prolegomena blieben friedlich bei ihrem älteren und würdigeren Bruder liegen.

Ich habe hier die geistige Erstarrung, die auf mir lastete, in Ausdrücken beschrieben, die auf die gesamten vier Jahre, während deren ich mich unter dem Circe-Zauber des Opiums befand, mehr oder weniger zutreffen. Hätte ich nicht Elend und Leiden verspürt, so hätte ich sagen können, daß ich mich in einem Schlafzustande befand. Ich konnte mich selten dazu zwingen, einen Brief zu schreiben; eine kurze Antwort, aus wenigen Worten bestehend, auf Briefe, die ich erhielt, war das Äußerste, was ich zu leisten vermochte, und oftmals auch das erst, nachdem der Brief Wochen und Monate hindurch auf meinem Schreibtisch gelegen hatte. Ohne die Hilfe meiner Frau wären alle Rechnungen, bezahlte und unbezahlte, verlorengegangen, und meine ganze häusliche Ökonomie wäre – trotz aller Nationalökonomie – in unentwirrbare Unordnung geraten. Ich will vermeiden, noch einmal über diesen Teil meines Befindens ausführlich zu werden. Aber dieser Zustand wird schließlich jedem Opiumesser so drückend und niederschlagend erscheinen wie nur irgendein anderer, denn die Unfähigkeit und Schwäche bringt ihn zur Vernachlässigung seiner täglichen Pflichten, und die Gewissensbisse darüber treiben ihn zu immer größer werdender Verwirrung. Der dem Opium Verfallene verliert nämlich nichts von seiner moralischen Urteilskraft und seinem Streben. Er wünscht und verlangt so ernsthaft, wie immer sonst wann, durchzuführen, was ihm als möglich erscheint und wozu die Pflicht ihn treibt. Doch leider geht das, was ihm als möglich erscheint, meist über seine Kräfte hinaus, nicht allein in der Durchführung, sondern selbst schon, sich zum Versuche aufzuraffen, mißlingt.

– Er liegt beständig unter einem Alpdruck; beständig sieht er alles vor sich liegen, das er gern ausführen möchte, wie ein Mensch, der durch die tödliche Schwäche entkräftender Krankheit ans Bett gefesselt ist, untätig zuschauen muß, wie man den Gegenstand seiner zärtlichsten Neigungen beleidigt und mißhandelt; – er verflucht den Zauber, der ihn unbeweglich niederhält, er würde sein Leben hingeben, könnte er nur einmal aufstehen und hin und her gehen. Aber er ist kraftlos wie ein Kind und darf nicht einmal den Versuch machen, sich zu erheben.

Ich komme nun zum Hauptgegenstande dieser Bekenntnisse: zur Geschichte und dem Inhalte meiner Träume, denn diese waren die unmittelbare und naheliegendste Ursache meiner Qualen.

Das erste Anzeichen dafür, daß sich in meiner Leibesbeschaffenheit merkliche Änderungen vollzogen, gewann ich durch die Beobachtung, daß ein gewisser Zustand des Auges, der sonst nur der Kindheit eigen ist, wiederkehrte. Ich weiß nicht, ob meinen Lesern bekannt ist, daß viele Kinder – vielleicht die meisten – die Fähigkeit besitzen, allerlei Traumbilder in die Dunkelheit hineinzusehen. Bei manchen ist das nur eine mechanische Affektation des Auges; andere können diese Bilder mehr oder weniger freiwillig hervorrufen. Einmal erzählte mir ein Kind, das ich darüber befragte: »Ich kann sie gehen heißen, dann gehen sie; manchmal aber kommen sie zu einer Zeit, wo ich sie gar nicht gerufen habe.« Darauf sagte ich zu ihm, daß es ja dann eine Macht über die Geistererscheinungen habe wie ein römischer Zenturio über seine Soldaten. – Mitte 1817, glaube ich, wurde diese Fähigkeit bei mir geradezu beängstigend. Wenn ich wach im Bett lag, schritten endlose Prozessionen im Trauerpomp an mir vorüber; Friese von nie endenden Geschichten erschienen, die mir so traurig und so feierlich vorkamen, als seien sie Erzählungen aus versunkenen Zeiten, die vor denen des Ödipus oder Priamos, vor Tyrus und vor Memphis lagen. Zu gleicher Zeit vollzog sich ein damit im Zusammenhang stehender Wechsel in meinen Träumen: in meinem Hirn schien sich ein Theater geöffnet und erleuchtet zu haben, das mir nächtlich Schauspiele von überirdischer Pracht darbot. Vier Tatsachen möchte ich insbesondere in dieser Zeit als erwähnenswert bezeichnen:

Erstens: Daß, während der schöpferische Zustand des Auges sich verstärkte, zwischen dem wachen und dem träumenden Zustande des Gehirns korrespondierender Zusammenhang entstand. Nämlich daß, was immer mir einfiel und was auch immer ich durch einen Akt des Willens auf die Dunkelheit malte, sehr geneigt war, sich auf meine Träume zu übertragen, so daß ich fürchtete, diese Fähigkeit könne sich in übertriebenem Maße ausbilden. Denn wie Midas alle Dinge in Gold zu verwandeln vermochte und sich dennoch in seinen Hoffnungen betrogen und in seinen Wünschen genasführt sah, so nahm bald alles, was ich in der Dunkelheit dachte, vor meinen offenen Augen phantomartige Gestalt an und wurde durch einen nicht mehr zu vermeidenden Prozeß, wenn es erst einmal in schwachen und visionären Farben gemalt war, wie Schriftzüge, die mit sympathetischer Tinte geschrieben wurden, im heißen chemischen Ofen meiner Träume zu solch unerträglichem Glanze gesteigert, daß mein Herz das nicht zu ertragen vermochte.

Zum andern: Diese und alle anderen Veränderungen meiner Träume waren von tiefsitzenden Angstzuständen und trüber Melancholie begleitet, so wie man sie durch Beschreibungen nicht schildern kann. Ich schien jede Nacht, nicht metaphorisch, sondern in der einfachen Bedeutung des Wortes, in tiefe Schlünde und sonnenlose Abgründe hinunterzusteigen, in unergründliche Tiefen, aus denen ein Wiederaufsteigen als hoffnungslos erscheinen mußte. Selbst wenn ich wachte, hatte ich nicht das Gefühl, wieder oben zu sein. Doch ich will nicht dabei verweilen, weil die Verdüsterung, die auf diese glänzenden Schauspiele folgte, schließlich zu der letzten Finsternis selbstmörderischer Gedanken führte, die man durch Worte nicht beschreiben kann.

Drittens war das Gefühl für Zeit und in der Folge auch das für Raum gefährlich erregt. Gebäude, Landschaften und vielerlei andere Dinge erstanden in solch ungeheuren Dimensionen vor mir, daß sie das menschliche Auge nicht zu fassen vermag. Der Raum schwoll zu unbeschreiblicher Weite an. Das aber beunruhigte mich nicht so sehr als die ungeheuerliche Ausdehnung der Zeit. Manchmal kam es mir vor, als hätte ich siebzig oder hundert Jahre in einer Nacht gelebt. Manchmal glaubte ich, es seien in der Zeit tausend Jahre vergangen oder jedenfalls Zeiträume von einer Dauer, die außerhalb der Grenzen jeder menschlichen Erfahrung liegen.

Und viertens lebten die geringfügigsten Erlebnisse meiner Kindheit und vergessene Szenen aus späteren Jahren oftmals wieder auf. Ich konnte nicht sagen, daß ich mich ihrer erinnerte, denn hätte man mich in wachem Zustande gefragt, so würde ich sie nicht als Teile meiner Vergangenheit erkannt haben. Wenn sie dann aber in Träumen, wie Intuitionen, vor mir standen, in allerlei flüchtige Umstände und begleitende Gefühle gekleidet, dann erkannte ich sie sogleich. Eine nahe Verwandte erzählte mir einmal, daß, als sie in ihrer Kindheit in einen Fluß gefallen und an der Schwelle des Todes gelegen sei, sie in einem Augenblick ihr ganzes vergangenes Leben wie in einem Spiegel vor sich gesehen habe, und das bis in die kleinsten Einzelheiten. Zu gleicher Zeit habe sie die Fähigkeit verspürt, auf einmal jeden Teil einzeln und das Ganze zu umfassen. Nach einigen meiner Opiumerfahrungen zu urteilen, kann ich das wohl glauben. Ich habe das Thema zweimal in modernen Büchern behandelt gefunden, und zwar von einer Bemerkung begleitet, von der ich überzeugt bin, daß sie richtig ist; nämlich der, daß mit dem furchtbaren Buche der Vergeltung, von dem die Heilige Schrift spricht, das Gedächtnis gemeint ist. Ich glaube, daß ein endgültiges Vergessen dem menschlichen Geiste nicht möglich ist. Tausend Umstände mögen und werden sich wie ein Schleier zwischen das gegenwärtige Geschehen und die geheimen Inschriften in unserem Gedächtnisse legen; Umstände derselben Art werden schließlich einmal den Schleier zerreißen. Aber gleichgültig, ob verschleiert oder unverschleiert, die Inschrift bleibt für immer, geradeso wie die Sterne sich vor dem Tageslichte zurückzuziehen scheinen, während wir doch alle wissen, daß es das Licht ist, das wie ein Schleier über sie gezogen ist, und daß sie darauf warten, enthüllt zu werden, wenn das verbergende Tageslicht wieder hinweggezogen ist.

Nachdem ich so die vier Punkte hervorgehoben habe, die meine Träume von denen gesunder Tage unterschieden, will ich nun einen illustrativen Fall der ersten Art beschreiben, und danach einige andere, deren ich mich erinnere, entweder in der chronologischen Reihenfolge oder in einer Reihenfolge, die sie dem Leser als Bilder eindrucksvoller macht.

In meiner Jugend, und auch später noch, habe ich fleißig Livius gelesen, dem ich der Form wie des Inhaltes wegen vor jedem anderen römischen Schriftsteller den Vorzug gebe. Oft hatte ich als geradezu feierliche und erschreckende Klänge, die die Majestät des römischen Volkes am besten auszudrücken vermögen, die beiden Worte empfunden, die im Livius so oft wiederkehren, besonders dann, wenn der Konsul in seiner militärischen Eigenschaft bezeichnet werden soll: »Consul Romanus.« Ich glaube sagen zu dürfen, daß alle anderen Bezeichnungen, wie »König«, »Sultan«, »Regent« oder andere Titel, die in den bezeichneten Personen die Kollektivmajestät eines großen Volkes versinnbildlichen, weniger Macht über meine Untertanengefühle hatten. Obwohl ich kein ausgesprochener Geschichtsliebhaber bin, hatte ich mich doch mit einer Periode der englischen Geschichte, der des Parlamentskrieges, sehr weitgehend beschäftigt, weil mich die moralische Größe einiger Menschen dieser Zeit und manche interessante Memoiren, die diese unruhigen Zeiten überlebt haben, anzogen. Beide Lektüren haben, nachdem sie mir in früheren Zeiten oft Stoff zum Nachdenken gegeben haben, mir später Stoff für meine Träume geliefert. Oftmals sah ich, nachdem ich im Wachzustande auf der tiefen Dunkelheit eine Art Probe abgehalten hatte, eine Anzahl Damen, oder vielleicht ein Fest oder Tänze, und dann hörte ich jemand sagen oder sagte es selber: »Das sind englische Damen der unglückseligen Zeit Karls I. – Das sind die Gattinnen und Töchter seiner Hofgesellschaft, die friedlich zusammenlebten, am selben Tische speisten und durch Heirat oder Blut verbunden waren. Und dann, nach einem gewissen Tage im Jahre 1642, lächelte niemand mehr dem anderen zu oder traf ihn anderswo als auf dem Schlachtfelde. Und bei Marston Moore, bei Newbury, bei Naseby wurden alle Bande der Liebe durch das grausame Schwert zerschnitten und das Andenken alter Freundschaft mit Blut hinweggeschwemmt.« Die Damen tanzten und sahen so lieblich aus wie der Hof Georgs IV., aber – ich wußte selbst in meinem Traum, daß sie seit mehr als zweihundert Jahren im Grabe gelegen hatten. Plötzlich löste sich dieses Schaugepränge auf, und ich hörte während eines Händeklatschens den herzerbebenden Ruf: »Consul Romanus«, und unmittelbar darauf kamen, »schnell vorübermarschierend« in prachtvollen Gewändern, Paulus oder Marius, rings umgeben von einer Schar Zenturionen, die die rötliche Tunika auf einen Speer aufgehißt trugen und von der Menge der römischen Legionen gefolgt waren.

Viele Jahre zuvor, als ich Piranesis »Römische Altertümer« ansah, beschrieb mir Mr. Coleridge, der danebenstand, eine Folge von Stichen desselben Künstlers, die »Träume« betitelt waren, die seine eigenen Visionen während eines Fieberanfalles wiedergaben. Einige davon – ich beschreibe sie nach Mr. Coleridges Bericht – zeigten weite gotische Hallen, in denen allerlei Maschinen, Räder, Kabel, Rollen, Hebel, Geschosse und ähnliche Gegenstände, die ungeheure Kräfte und Widerstände versinnbildlichten, auf dem Boden aufgestellt waren. An den Wänden zog sich eine Treppe empor, auf der, sich hinaufschleppend, man Piranesi selbst sah. Folgte man der Treppe, so nahm sie plötzlich ein Ende und brach ohne Geländer ab. Sie erlaubte dem, der dieses Ende erreicht hatte, keinen Schritt mehr vorwärts, ausgenommen den in die Tiefe unter ihm. Wie immer es dem armen Piranesi ergangen sein mag, ist zu vermuten, daß seine Anstrengungen irgendwie hier enden mußten. Aber – sieh in die Höhe, und du erblickst eine zweite Flucht von Stufen, noch höher, und du erblickst wieder den armen Piranesi emporklimmend, und dieses Mal ganz nahe am Abgrunde stehend. Noch höher, und eine noch luftigere Treppenflucht ist zu bemerken, und wieder quält sich Piranesi hinauf, und so immer weiter, bis die unendliche Treppe und Piranesi sich in der Finsternis der weiten Halle verlieren. Dieselbe Kraft endlosen Wachstums und endlosen Emportreibens und Sichselbstschauens zeigte die Architektur in meinen Träumen. Im Anfang meiner Krankheit war die Pracht meiner Träume hauptsächlich architektonischer Natur. Ich erschaute pomphafte Städte und Paläste, wie ich sie wachen Auges nie gesehen, es sei denn in den Wolken. Ein Dichter unserer Zeit singt von dem erhabenen Bild: »Türme, die auf unruhvoller Stirn viele Myriaden Sterne tragen« – das könnte er aus meinen Träumen abgeschrieben haben. Man hat von Dryden und von Fuseli erzählt, daß sie rohes Fleisch aßen, um prachtvolle Träume hervorzurufen. Wieviel besser wäre es für solchen Zweck gewesen, Opium zu benutzen – und doch erinnere ich mich nicht, daß irgendein Dichter das getan, außer dem Dramatiker Shadwell; im Altertum hat man – glaube ich, mit Recht behauptet, daß Homer die Tugenden des Opiums gekannt habe.

Meinen architektonischen folgten Träume von Seen und silbrigen Wasserflächen. Die kehrten immer wieder, so daß ich schließlich fürchtete – so albern das auch vielleicht einem Mediziner klingen mag –, daß sich hier ein wässeriger Zustand oder Übergang meines Gehirns – um einen metaphysischen Ausdruck zu brauchen – »objektiviere«, und daß sich das erkrankte Organ als sein eigenes Objekt projiziere. Zwei Monate hindurch war mein Kopf sehr angegriffen; der Teil meiner körperlichen Struktur, der bisher jedem Schwächeanfall (physisch, meine ich natürlich!) widerstanden hatte, so daß ich, wie Lord Oxford von seinem Magen zu sagen pflegte, behauptete: »Er werde wahrscheinlich seine übrige Persönlichkeit um ein beträchtliches überleben.« Bis dahin hatte ich selbst nie Kopfschmerzen gehabt oder ähnliche kleine Übel auch nur kennengelernt, ausgenommen die rheumatischen Schmerzen, die ich durch meine eigene Dummheit verursacht hatte. Jedoch ging dieser Anfall vorüber, obwohl er recht gefährlich hätte werden können.

Dann änderten die Wasser ihr Aussehen. Aus durchscheinenden Seen, die wie Spiegel aussahen, wurden Meere und Ozeane. Und nun kam ein furchtbarer Wechsel, der, sich langsam aufwickelnd gleich einer Rolle, durch manche Monate hindurch, einen zurückgehaltenen Sturm versprach. Und wirklich verließ mich diese Erscheinung erst beim völligen Ende meiner Erkrankung. Bis dahin hatte das menschliche Antlitz sich oft in meine Träume gemischt, ohne jedoch sich despotisch zu gebärden und ohne die Macht, mich zu quälen. Nun aber begann das, was ich »die Tyrannei des menschlichen Gesichts« nenne, sich zu entfalten. Vielleicht war mein einstiges Londoner Leben schuld daran. Sei es, wie immer es will, nun begann mir auf den sich auftürmenden Wassern des Ozeans das menschliche Gesicht zu erscheinen. Das Meer erschien wie gepflastert mit menschlichen Gesichtern, die zu den Himmeln aufschauten – flehenden, wutentbrannten, verzweifelten Gesichtern, die tausend, Myriaden Jahre, Generationen, Jahrhunderte angeschwemmt haben mußten. Meine Erregung stieg ins unendliche; mein Geist tobte und schwoll mit dem Ozean.

Mai 1818.

Für Monate ist der Malaie ein furchtbarer Feind geworden. Durch seine Macht bin ich jede Nacht ins Innere Asiens entführt worden. Ich weiß nicht, ob sich andere in meine Gefühle zu versetzen vermögen. Aber oft habe ich gedacht, daß, müßte ich England verlassen und in chinesischer Landschaft nach chinesischer Weise unter Chinesen leben, ich verrückt werden müßte. Die Gründe dieses Entsetzens liegen tief, und einige muß ich auch mit anderen Menschen gemeinsam haben. Südasien ist im allgemeinen die Stätte furchtbarer Bilder und Gefühlsassoziationen. Als die Wiege der menschlichen Rasse würde es allein schon Gefühle dunkler Ehrfurcht hervorrufen. Aber es gibt noch andere Gründe. Kein Mensch wird behaupten, daß der wilde, barbarische, groteske Aberglaube Afrikas oder der wilden Stämme sonstwo jenes besondere Schaudern erregen, das ihm beim Gedanken an die alten, grandiosen, grausamen und erhabenen Religionen Hindostans beikommt. Das bloße Alter asiatischer Dinge, Institutionen, Geschichte, Moden oder Bekenntnisse ist so eindrucksvoll, daß bei mir das ungeheure Alter der Rasse und der Namen den Sinn für die Jugend des Einzelindividuums völlig ertötet. Ein junger Chinese scheint für mich ein wiedererstandener antediluvianischer Mensch zu sein. Niemand kann sich, glaube ich, eines Grauens erwehren, wenn er an die mystische Erhabenheit von Kasten denkt, die sich ganz rein gehalten haben und jede Mischung ablehnten – während unvorstellbar langer Zeiträume. Niemand kann die Namen des Ganges und des Euphrat ohne Schauder nennen hören. Und diese Gefühle werden noch durch die Tatsache verstärkt, daß das südliche Asien Tausende von Jahren hindurch der bevölkertste Teil der Erde, die » Officina Gentium«, gewesen ist. Der einzelne Mann ist nicht mehr als ein Unkraut in solchen Ländern. Die ungeheuren Reiche, in die sich die asiatische Menschheit teilte, geben unseren Gefühlen für orientalische Namen und Bilder noch höhere Erhabenheit. In China – abgesehen von dem, was es mit allen Ländern des südlichen Asiens gemeinsam hat – erschrecken mich die Art der Lebensführung, die Sitten und diese Schranke äußersten Abscheus, die zwischen uns und Chinesen durch Gefühle aufgerichtet ist, die so tief liegen, daß sie keiner Analyse mehr zugänglich sind. Lieber wollte ich mit Mondsüchtigen oder unvernünftigen Tieren zusammenleben.

All das und mehr, als ich sagen kann oder zu sagen Zeit habe, muß der Leser begreifen, ehe er sich den unbeschreiblichen Schreck vorzustellen vermag, den diese orientalischen Vorstellungen und mythologischen Qualen auf mich ausübten. – Unter dem verbindenden Eindrucke tropischer Hitze und senkrecht herabbrennender Sonnenstrahlen brachte ich alle Kreaturen zustande: Vögel, wilde Tiere, Reptile, alle Bäume und Pflanzen, Gebräuche und Erscheinungen, die in den verschiedenen tropischen Gegenden zu finden sind, und versammelte sie alle in China und Hindostan. Aus verwandten Gefühlen kam bald Ägypten mit all seinen Göttern und Satzungen unter dasselbe Gesetz. Ich wurde angestarrt, angegrinst, angefaucht, angeschnattert von Affen, Papageien, Kakadus. Ich stürzte in Pagoden und wurde jahrhundertelang entweder auf die Spitze gespießt oder in Geheimgemächern festgehalten; ich war Priester, Götze, Heiliger; vor Brahmas Zorn floh ich durch alle Wälder Asiens; Vishnu haßte mich; Shiva lauerte mir auf; plötzlich kam ich auf Isis und Osiris; ich hätte eine Tat vollführt, sagten sie, vor der der Ibis und das Krokodil erschauerten, ich wurde für tausend Jahre in einer Steinkiste begraben, zusammen mit Mumien und Sphinxen, in engen Kammern, die im Herzen ewiger Pyramiden lagen. Mit giftigen Küssen küßten mich Krokodile; ich lag zwischen unaussprechlich häßlichen Geschöpfen irgendwo in Schilf und Nilschlamm.

Damit gebe ich dem Leser nur eine blasse Abstraktion meiner orientalischen Träume, die mich stets mit solchem Staunen über die monströsen Bilder erfüllten, daß mein Schreck zeitweise in reine Verwunderung überging. Früher oder später trat dann eine Gegenströmung auf, die die Verwunderung hinwegriß und mich weniger in einem Zustande des Entsetzens als in einem solchen des Hasses und des Widerwillens über das, was ich gesehen hatte, zurückließ. Über jeder Form, jeder Drohung und Strafe, jeder Einkerkerung in schwarze Finsternis brütete eine Empfindung von Ewigkeit und Unendlichkeit, die mich in eine wahnsinngleiche, niederdrückende Stimmung versetzte. In diesen Träumen aber, mit ein oder zwei Ausnahmen, geschah es, daß physische Qualen für mich eintraten. In allen früheren hatte es nur moralische und geistige Schrecknisse gegeben. Jetzt aber bestanden die Haupterscheinungen aus häßlichen Vögeln, Schlangen, Krokodilen. Diese Krokodile, diese verfluchten Bestien, wurden für mich die Quelle von mehr Schrecknissen als alle übrigen zusammen. Ich war gezwungen, mit solchem Tier zusammenzuleben, und – wie das meist in meinen Träumen war – für Jahrhunderte. Manchmal entfloh ich, und dann fand ich mich in einem Chinesenhause mit Bambusmöbeln wieder. Alle Tischbeine und Sofafüße fingen dann plötzlich an zu leben; der scheußliche Krokodilkopf sah mich mit seinen schielenden Augen in tausendfacher Wiederholung an – und ich stand gebannt und vom Ekel erfüllt. So oft spukte dieses ekle Tier in meinen Träumen, daß manchmal derselbe Traum auf dieselbe Weise unterbrochen wurde: Ich hörte freundliche Stimmen zu mir reden – denn ich höre alles, was um mich vorgeht, wenn ich schlafe –, und dann erwachte ich. Es war bereits Mittag, und meine Kinder standen an meinem Bett, Hand in Hand, um mir ihre farbigen Schuhe und neuen Kleider zu zeigen, ehe sie spazierengingen. So gewaltig war der Übergang von dem Krokodil oder anderen unausdenkbar scheußlichen Ungeheuern und Ausgeburten meiner Träume zum Anblicke der unschuldigen menschlichen Wesen, daß mein gewaltig erschüttertes Gemüt sich nicht mehr zu halten vermochte, und ich weinte, wenn ich die kleinen Gesichter küßte.

Juni 1819.

Zu verschiedenen Zeiten meines Lebens habe ich Gelegenheit gehabt, zu beobachten, daß der Tod geliebter Wesen, oder selbst ganz allgemeine Todesbetrachtungen, im Sommer angreifender sind als zu jeglicher anderen Jahreszeit. Dafür gibt es drei Gründe: Erstens, daß der sichtbare Himmel im Sommer höher, entfernter und – wenn ein solch feierlicher Ausdruck hier am Platze ist – unendlicher erscheint. Die Wolken, an denen unser Auge die Entfernung des blauen Zeltes über unseren Häupten am ehesten ermißt, sind im Sommer umfangreicher, massiger, gehäufter, zu größeren, gewaltigeren Turmpfeilern aufgebäumt. Zweitens sind das Licht und die sinkende und untergehende Sonne deutlichere Symbole der Unendlichkeit, und drittens zwingt die üppige und schwelgerische Fruchtbarkeit des Lebens das Gemüt, den Tod und die winterliche Unfruchtbarkeit des Grabes schmerzlicher als Gegensatz zu empfinden. Denn ich möchte ganz allgemein bemerken, daß, wo immer zwei Gedanken durch das Gesetz des Gegensatzes miteinander verbunden, vorhanden sind, sie einander, als wären sie durch gegenseitige Abstoßung verstärkt, wieder hervorzurufen scheinen. Deshalb erscheint es mir unmöglich, Todesgedanken zu bannen, wenn ich allein durch die endlosen Sommertage wandere. Wenn ein Todesfall mich in solcher Zeit auch nicht mehr ergreift als zu anderer, nimmt er doch meine Gedanken anhaltender und ausschließlicher in Beschlag. Dieser Umstand und ein anderer, den ich nicht für erwähnenswert halte, mag wohl die unmittelbare Ursache für den folgenden Traum, zu dem eine Neigung allerdings bereits lange in meinem Unterbewußtsein geschlummert haben mag, gewesen sein. Nachdem er aber einmal sich entwickelt hatte, wollte er mich nicht wieder verlassen, teilte sich in tausend phantastische Spielarten, die sich oft wieder vereinten und zum ursprünglichen Haupttraume zusammensetzten.

Es schien ein Sonntagmorgen im Mai, vielleicht der Ostersonntag zu sein, und es war noch sehr früh am Tage. Ich glaubte an der Tür meines eigenen Hauses zu stehen. Zur Rechten lag die Landschaft, die ich von dort aus wirklich zu sehen vermochte, aber durch die Macht des Traumes ausgedehnter und feierlicher als gewöhnlich. Da waren dieselben Berge und dasselbe liebliche Tal zu ihren Füßen; aber die Berge waren höher als Alpengipfel gewachsen, und die Wiesen und Wälder zwischen ihnen lagen viel weiter auseinander als gewöhnlich. Die Hecken waren mit weißen Rosen übergossen. Keine lebende Kreatur war zu sehen. Nur drüben auf dem Friedhofe lagen ruhig Kühe auf den grünen Gräbern, und besonders lagen sie rund um das Grab eines Kindes, das ich besonders liebgehabt hatte – geradeso, wie ich sie einmal, kurz vor Sonnenaufgang im selben Sommer, in dem das Kind starb, liegen gesehen hatte. Ich sah das wohlbekannte Bild an und sagte laut zu mir: »Es fehlt noch viel zum Sonnenaufgang, und es ist Ostersonntag. Das ist der Tag, an dem man die Erstlinge der Wiederauferstandenen feiert. Ich will fortgehen, und alter Schmerz soll heute vergessen sein. Denn die Luft geht kühl und sanft, und die Hügel sind hoch und zum Himmel gewachsen. Die Durchschläge im Walde sind still wie der Kirchhof, und mit dem Tau kann ich mir das Fieber von der Stirn waschen – dann werde ich nicht mehr unglücklich sein.« Ich wandte mich um, als wollte ich meine Gartentür öffnen. Da sah ich auf der Linken eine gar verschiedene Szenerie, die aber dieses Mal die Macht der Träume in Harmonie mit der anderen gebracht hatte. Es war eine orientalische Landschaft, auch hier Ostersonntag und sehr früh am Morgen. In unendlicher Entfernung wurden die Türme und Kuppeln einer großen Stadt – wie Flecken am Horizont – sichtbar. Es war ein Bild, ein schwacher Widerschein einer Abbildung der Stadt Jerusalem, die ich in meiner Jugend einmal gesehen hatte. Und nicht einen Pfeilschuß von mir entfernt, auf einem Steine sitzend, von den Palmen Judäas beschattet, saß eine Frau; als ich genauer hinsah, war es – Ann! Sie sah mich ernsthaft an, und schließlich sagte ich zu ihr: »So habe ich dich schließlich doch gefunden!« Ich wartete, aber sie antwortete mit keinem Worte. Ihr Gesicht war dasselbe wie damals, als ich sie zum letzten Male gesehen, und doch, wie verschieden davon! Vor siebzehn Jahren, als der Lampenschimmer über ihr Gesicht fiel, als ich zum letzten Male ihre Lippen küßte – Lippen, Ann! – die mir nicht entweiht waren! – strömten ihre Augen von Tränen über. Nun waren die Tränen weggewischt; sie schien mir noch schöner als damals; sonst war sie noch ganz dieselbe und auch nicht älter geworden. Ihre Blicke waren ruhig, aber mit einer eigenen Feierlichkeit im Ausdruck. Unablässig und von einer gewissen Furcht ergriffen blickte ich nach ihr. Aber plötzlich wurden diese Blicke trübe, und als ich mich nach den Bergen umwandte, sah ich dichte Dämpfe zwischen uns niederfallen. In einem Augenblicke war alles verschwunden. Dichte Finsternis zog herauf, und einen Augenblick später war ich weit fort von den Bergen, in der lampenbeschienenen Oxfordstreet, ging mit Ann auf und nieder – geradeso, wie wir siebzehn Jahre früher immer auf und nieder gingen, als wir noch Kinder waren. – Zum Schluß will ich noch einen Traum ganz anderen Charakters aus dem Jahre 1820 erzählen:

Der Traum begann mit einer Musik, wie ich sie seitdem in meinen Träumen oft gehört habe, einer Musik, die Vorbereitung und bange Erwartung auszudrücken schien, einer Musik wie der des Auftakts des »Krönungsanathems«, und wie jenes löste sie das Gefühl eines unendlichen Vorübermarsches von Reitertruppen, der Parade eines zahllosen Heeres aus. Der Morgen eines gewaltigen Tages war erschienen, eines Tages der Entscheidung und letzten Hoffnung für die Menschheit, die im geheimnisvollen Kreislaufe litt und ihr Werk im Angesichte ungeheuerlicher Schrecknisse weiter tat. Irgendwo und wie – weder das Wo noch das Wie hätte ich zu beantworten vermocht – fochten irgendwelche Wesen – auch wer wußte ich nicht – einen Kampf; eine letzte Todesangst wurde erduldet, die sich aus einem großen Drama zu einer bewegten Musik herausarbeitete. Mein Mitleiden wurde grenzenlos unerträglich; vielleicht deshalb, weil ich von nichts etwas wußte, nichts über Zeit und Ursache, nichts über Ausführung und Ausgang. Ich – wie das gewöhnlich so in Träumen ist, in denen wir notwendigerweise den Mittelpunkt des Geschehens bilden – besaß die Macht und besaß sie doch nicht, die Entscheidung herbeizuführen. Ich besaß die Macht, wenn ich mich zusammenzureißen vermochte, es zu wollen, und ich besaß sie doch nicht, denn die Last eines Atlas preßte auf mich oder der Alp unsühnbarer Schuld. Tiefer, als je ein Senkblei reichte, lag ich zur Untätigkeit verdammt. Dann, wie ein Chor, vertiefte sich die Leidenschaft – größeres Interesse, mächtigere Sache, als je das Schwert erfochten oder für die je eine Posaune erschallt, stand auf dem Spiele. Plötzlich – Alarm! – ein Hin- und Herhetzen. Zahllos zitternde Flüchtlinge. Wohin sie gehörten, ob zur guten, ob zur schlechten Sache, ich wußte es nicht. Dann Finsternis und Licht. Sturm und menschliche Gesichte, und ganz zuletzt, mit dem Wissen, daß nun alles verloren, weibliche Gestalten und die Züge, die mir über alles in der Welt teuer waren. Und dann – gerungene Hände, herzzerbrechender Abschied – ewig-letztes Lebewohl! Und mit einem Seufzer, wie ihn die Schlünde der Hölle seufzten, als die blutschänderische Mutter den verabscheuten Namen des Todes aussprach, wurde mir der Klang zurückgeworfen – ewig-letztes Lebewohl! und wieder und immer wieder zurückgeworfen – »Ewig-letztes Lebewohl!«

Und ich erwachte voll Schauders und schrie laut: »Ich will nie mehr schlafen!«

Und nun muß ich meinen Bericht schließen, weil er sonst zu unmäßigem Umfange anschwellen würde. Bei größerem Raum hätte ich mein Material besser ausbreiten können, und manches, was ich nicht erzählt habe, hätte gut und gern noch berichtet werden können. Indes, ich glaube, das, was ich erzählte, reicht aus. Nur darüber, wie diese Verschlingung von Schrecken zur Krisis gebracht wurde, bleibt noch etwas zu sagen. Der Leser weiß bereits, daß der Opiumesser die verfluchte Kette, die ihn fesselte, gesprengt hat. Wie er das tat? – Das nach meinem ursprünglichen Vorsatz zu erzählen, würde die mir gesetzten Grenzen weit überschritten haben. Doch ist es ganz gut, daß ich einen solchen Grund zur Abkürzung habe, denn das Interesse des Lesers beschäftigt sich nicht so sehr mit der Wirkung des Opiums als mit seinen Zauberkräften. Nicht der Opiumesser, sondern das Opium ist der wahre Held dieser Geschichte und der Mittelpunkt, um den sich alles Interesse dreht. Mein Gegenstand war, die merkwürdigen Wirkungen des Opiums zu zeigen, gleichgültig, ob sie Freude oder Pein erregen. Nachdem das geschehen ist, ist das Spiel zu Ende.

Da indes einige Leute darauf bestehen, zu erfahren, was aus dem Opiumesser geworden ist und in welchem Zustande er sich jetzt befindet, antworte ich so: Der Leser weiß bereits, daß seit langem das Opium aufgehört hatte, durch die Erregung von herrlichen Genüssen seine Macht auszuüben. Nur durch die Qualen, die mir die Versuche, mich seiner zu enthalten, einbrachten, hielt es seine Herrschaft über mich aufrecht. Da aber andere Qualen sich einstellten, so schlimm, als sie irgend vorstellbar sind, wenn ich mich von dem Tyrannen abzuwenden versuchte, blieb nur die Wahl zwischen zwei Übeln. Ich hätte wohl das wählen können, das schließlich einmal eine Genesung ermöglichte, so schrecklich es auch an sich ist. Das ist richtig. Aber die Logik gibt noch nicht immer die Kraft, auch nach ihr zu handeln. Indes trat in meinem Leben ein Wendepunkt ein, ein Wendepunkt auch in bezug auf Dinge, die mir teurer waren als das Leben und das auch immer bleiben werden. Ich sah ein, daß ich sterben müsse, wenn ich fortfuhr, Opium zu nehmen. Da entschloß ich mich, wenn es nötig sein sollte, zu sterben, indem ich es fahren ließ. – Wieviel ich damals nahm, weiß ich nicht. Das Opium, das ich brauchte, hatte mir ein Freund gekauft, der später seine Auslagen nicht wiedererstattet haben wollte. Deshalb konnte ich nicht feststellen, wie groß das Quantum war, das ich innerhalb eines Jahres verbraucht hatte. Ich kann nur sagen, daß ich es sehr unregelmäßig nahm, und daß die tägliche Dosis zwischen fünfzig bis sechzig und hundertundfünfzig Gran lag. Mein erster Versuch war, es auf vierzig, dann auf dreißig und schließlich, so schnell es gehen wollte, auf zwölf Gran herabzusetzen.

Ich triumphierte. – Aber, lieber Leser, glaube nicht, daß damit meine Leiden beendet waren, aber noch weniger stelle dir vor, daß ich in einen Zustand der Niedergeschlagenheit geriet. Vielmehr denke an mich, als an einen, der bereits vier Monate später sich noch in Schmerzen wand, angstvoll klopfenden Herzens, zitternd und zerschlagen, völlig wie ein Gefolterter, den ich aus den Schilderungen kenne, die uns der unschuldigste Märtyrer der Zeit James' I. hinterlassen, dahinlebte. Dabei erfuhr ich keinerlei Linderungen durch Medizin, ausgenommen durch eine, die mir ein ausgezeichneter Edinburger Arzt verschrieb: ammoniakhaltige Baldriantinktur. Viel medizinische Berichte über meine Befreiung habe ich also nicht zu geben. Selbst das wenige, das ein mit der Medizin so wenig vertrauter Mann wie ich zu geben vermöchte, könnte leicht Anlaß zu Mißverständnissen bieten. Die Moral meiner Geschichte wendet sich an den Opiumesser. Ihre Anwendung kann deshalb nur beschränkt sein. Wenn er zu fürchten und zu zittern lernt, habe ich genug erreicht. Vielleicht wird er sagen, daß mein Bericht ein Beweis dafür sei, daß man nach siebzehnjährigem Gebrauch und achtjährigem Mißbrauch seiner Kräfte auf das Opium verzichten könne, und daß er zu dieser Arbeit größere Energie besäße als ich, oder daß er mit seiner stärkeren Konstitution das gleiche Ergebnis mit geringerem Kraftaufwand erreichen könne. Das mag wahr sein. Ich möchte vermeiden, die Anstrengungen anderer Menschen an meinen eigenen zu messen. Herzlich wünsche ich jedem, daß er mehr Energie als ich haben möge. Ich wünsche ihm jedenfalls denselben Erfolg. Immerhin hatte ich äußere treibende Gründe, die unglücklicherweise ihm vielleicht fehlen. Diese Gründe gaben mir die Kraft, die allein das Interesse für die eigene Persönlichkeit einer vom Opium geschwächten Willenskraft nicht mitzuteilen vermag.

Jeremias Taylor sagt einmal, daß es ebenso peinvoll sein muß, geboren zu werden als zu sterben. Wahrscheinlich stimmt das. Während der ganzen Entwöhnungszeit vom Opium litt ich die Qualen eines Menschen, der aus einer Existenz in eine andere hinüberwechselt. Das Ergebnis war nicht der Tod, sondern eine Art physischer Regeneration. Ich darf hinzusetzen, daß ich seit der Zeit oft in einen Zustand jugendlich-glücklicher Ausgelassenheit geriet, und zwar unter dem Drucke von Schwierigkeiten, die ich in einem weniger glücklichen Zustande Unglücksfälle genannt haben würde.

Ein Andenken an meinen früheren Zustand ist mir geblieben: Meine Träume sind immer noch weit von vollkommener Ruhe entfernt. Die gewaltige Wucht des Sturmes, der über mich dahinfuhr, hat sich noch immer nicht ganz gelegt. Die Legionen, die meinen Schlaf durchwanderten, sind im Aufbruch begriffen, aber noch nicht alle abmarschiert. Mein Schlaf ist noch immer voll Aufruhrs. Ähnlich wie einst die Tore des Paradieses unseren ersten Eltern erschienen, als sie zurückblickten, sind – um mit Milton zu reden – auch meine Träume

»Von schrecklichen Gesichtern noch umdrängt,
und immer dräuen noch feurige Arme!«


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