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Nach jahrhundertelanger Trennung und Abwesenheit! Das letzte Wort war das richtige; ich aber war Pedant genug, daß ich mir auch in diesem Augenblicke, das heißt, nachdem ich dem Vetter die Treppe hinunter mit dem Lichte vorangegangen war, durch jenes Worts sprachliche und begriffliche Zergliederung meine Stimmungen und Gefühle klarer machte. Wer diese langen Jahre hindurch abwesend gewesen war, das war nicht der Vetter Just Everstein, sondern ich – ich, der ich so hübsch ordentlich zu Hause geblieben war!
Ich schlief in dieser Nacht nicht mehr, obgleich ich ziemlich rasch zu Bette ging. Da lag ich und versuchte es, hundert zerrissene Fäden wieder anzuknüpfen, was stets ein bedenklich Geschäft ist und nicht immer gelingt, jedenfalls aber ungemein selten das Gewebe des Lebens haltbarer und glatter macht. Nun war es sonderbar, wie gerade die letzten Exkurse des wackeren Freundes mir die heftigste Unruhe in das Geblüt geworfen hatten. Was erzählte mir auch der Mann von dem »weinenden Frühlingsmorgen« Eva Sixtus? Wir waren doch alle – ohne Ausnahme – in den Sommer des Daseins hineingeraten. Was sollten mir die hübschesten Bilder aus Tagen, die, wie der Vetter ganz richtig sich ausdrückte, ein Jahrhundert weit hinter uns lagen?
Ich wendete mein Kopfkissen darob fortwährend um, ohne Ruhe darauf zu finden. Baß ergrimmt (nein, das war nicht das richtige Wort!) entstieg ich, als der trübe Morgen gekommen war, dem ruhelosen Lager mit den Gefühlen eines Mannes, der eine weite Reise unternommen hat, um alte Schulden einzukassieren, überall aber leere Taschen gefunden hat und nun selber mit leerer Tasche in einem öden Gasthofszimmer sitzt. Mit einer wahren Wut blickte ich von einem meiner Büchergestelle auf das andere. Die weisesten Autoren, denen ich in diesen schönen Momenten mit meiner Lebensrechnung unter die Nase zu rücken versuchte, waren nur imstande, mir die Gegenforderung und Frage zu stellen:
»Wer soll uns denn mit Noten versehen, wenn nicht ihr Lebenden? Dummes Zeug: Trost und Beruhigung! – Bestätigung unserer Lebensangst, Unruhe und Not wollen wir von euch Atemholenden! Weiter im Texte!«
Von den Schuldnern zu den Gläubigern – den Gespenstern, die mich in der Nacht geplagt hatten! Der Mensch hat eigentlich gar keine Ahnung davon, wie er die Wörter seiner Sprache mißbraucht. Die Abgeschiedenen lassen einen wohl schon in Ruhe: es sind die lebendigen Wesen in Fleisch und Blut, die mit atmenden, leidenden, sich freuenden Genossen der Erdenlaufbahn, die da gewöhnlich durch unsere Träume spuken gehen! Sind sie gar noch gute alte Freunde und Bekannte und haben sie dazu muntere Füße, wackere Hände, helle Augen und rote Backen und wissen sie mit kräftiger, sanfter oder gar freundlicher und liebevoller Stimme ihre Fragen zu stellen in der Geisterstunde, so ist das sehr häufig am allerbedenklichsten für unsere nächtliche Ruhe.
Wie mit einem Zauberstabe hatte dieser Mensch und Vetter Just, dazu Bürger der nüchternen Vereinigten Staaten von Nordamerika, an die dürre Wand geschlagen und das klaräugige Spukgesindel über mich herbeschworen. Als ich gegen elf Uhr meinen Weg durch die belebten Gassen zu seinem Hotel suchte, um ihm, dem Vetter Just, meinen Gegenbesuch zu machen, sah ich unwillkürlich gespannter als seit langer Zeit den Begegnenden in die Gesichter und mit einem gewissen ängstlichen Suchen und Erwarten in das Getümmel überhaupt. Was ich seit langem teilnahmlos hatte an mir vorbeistreifen lassen, das gewann nach dieser Nacht plötzlich ein sozusagen angsthaftes Interesse für mich. Andere Leute mochten es vielleicht anders nennen; ich nannte es Gedanken, was mich auf meinen Wegen bis heute durchgängig gehindert hatte, auf die Bewegung um mich her viel zu achten. Höchstens ärgerlich hatte ich dann und wann auf- und mich umgesehen, wenn ein unvermuteter Puff und Knuff von Menschenkindern, die es stets eiliger als ich hatten, mich in meiner Neigung, mit gesenkter Nase hinzuschlendern und, offen gestanden, an sehr wenig zu denken, störte. Nun hatte sich dieses mit einem Male geändert, wenigstens für diesen Morgen. Ich ging mit geradeaus gerichteter Nase und mit Augen, die nach rechts und links und manchmal sogar einem auffälligeren Individuum nachguckten.
Weißt du, wer da mit dir geht oder dir entgegenkommt? Hast du es schriftlich, daß niemand darunter ist, dessen Erkennung im Haufen dir wichtiger sein kann als das träumerische Gespinste, in welches du deine fünf Sinne eingewickelt umherträgst? Würdest du dich über kein zweites unvermutetes Begegnen an der Straßenecke wundern oder freuen? Bist du wirklich so ganz allein und – auf dich allein angewiesen unter den Hunderttausenden? Und – da stand ich schon und starrte und brachte im jähen Anhalten meinerseits diesmal eine Hemmung in den Strom der Bevölkerung und auf dem Gesichte des Nächsten hinter mir, auf dessen Zehen ich mich mit meinem Hacken niederließ, einigen Verdruß hervor. – – –
Mademoiselle Martin!
Das war nicht das Gesicht, auf welches ich in dem großen Strome gepaßt hatte, – Eva Sixtus sah anders aus! – Aber das Wunder und die Verwunderung blieben die nämlichen. Ich mußte doch noch Mademoiselle Martin, unsere alte französische Sprachmeisterin von Schloß Werden, kennen! Sie war es! Sie war es unbedingt, und wenn auch nur, um das alte Wort zu bewahrheiten: Wenn es kommt, so kommt es in Haufen!
Ein greisenhaft, verschrumpfelt und verrunzelt, etwas phantastisch aufgeputztes Mütterchen wackelte sie daher, und ich stand mit dem Hute in der Hand:
»O Mademoiselle!... O Mademoiselle Martin, welches ungemein erfreuliche –«
»Monsieur?!«
Es lag eine Welt von Fragen in dem einen Wort; und ich war imstande zu stottern:
»O, ich bitte – Doktor Langreuter ist mein Name.«
Da ging es gottlob wie ein Lächeln über das sorgenvolle Altfrauengesichtchen der ci-devant sœur ignorantine.
»Je, Fritz?! Monsieur Frédéric Langreuter! Ei, der Herr Doktor Langreuter! Aber, en vérité, das nenne ich freilich ein recht erfreuliches Zusammentreffen. Haben Sie mich wiedererkannt, Fritz – Herr Doktor? O dieses unvermutete Wiederfinden freut mich ebenfalls sehr.«
»Und Sie kennen mich auch noch, Mademoiselle? Und gestern mittag – o Mademoiselle, welche Wunder können doch noch in dieser Welt geschehen!... Gestern der Vetter Just und nun Sie, Fräulein Martin! Und Sie haben sich so wenig verändert, daß auch das ein neues Wunder ist, Mademoiselle.«
»Geben Sie mir Ihren Arm, monsieur. Durch ein paar Straßen müssen wir sans condition miteinander gehen. Schmeicheln will ich Ihnen nicht: Sie haben sich sehr verändert, M. Langreuter, und hätten Sie mich nicht angerufen, so würde ich Sie wahrscheinlich nicht wiedererkannt haben.«
Wir paßten ganz zueinander: ich, der mittelalterliche Quellenforscher, und das melancholische, geputzte Mütterchen an meiner Seite. Durch ein heiteres Wesen hatte sich Mamsell Martin wohl nie hervorgetan; aber nun hatten die Jahre und die Erlebnisse wie immer dichter sich übereinander schiebendes Gewölk das letzte Licht in ihren Altjungfernzügen ausgelöscht. Ich hatte sie vorsichtig zu führen, denn ihr Schritt gehörte nicht mehr zu den festesten. Wir gingen langsam, und auch das war sehr nötig.
»Ich habe es gestern von einem guten, alten Freunde vernommen, daß Gräfin Irene jetzt hier ihren Aufenthaltsort genommen hat, Mademoiselle. Ich habe viel erfahren seit gestern, Mademoiselle, und vieles, was ich eigentlich ebensogut, wo nicht besser als jener treue, wackere Freund wissen müßte. Nun gehe ich plötzlich auch mit Ihnen hier –«
»Ja, wir wohnen seit einigen Wochen in Berlin, Herr Fritz – Herr Doktor. Durch wen aber wissen Sie das auch – seit gestern?«
»Durch den Vetter Just.«
Nun sah man wieder einmal recht deutlich, daß sowohl der Dichter des Textes zum Freischütz sowie der Komponist und alle weisen und melodischen und poetischen Männer, die das nämliche vor ihnen in Versen oder Prosa oder Noten angemerkt, das Richtige getroffen hatten.
»Ob auch die Wolke sie verhülle, die Sonne bleibt am Himmelszelt!« Wie ein Sonnenstrahl ging es über die gelbe, faltenreiche Stirn, wie freudiges Leuchten zuckte es aus den schwarzen Augen der alten sœur ignorantine.
»Oh monsieur, monsieur! Der Vetter Just! O wohl, monsieur Just Everstein! Ja, der hat uns gefunden und hat uns eine Visite gemacht, und wir waren so glücklich, ihn zu sehen! Und er hat bei uns gesessen stundenlang und von der alten Zeit gesprochen! Und er hat unser Kind in seinen guten Armen in den Schlaf getragen! Die Komtesse hat geweint, als er weggegangen ist, aber diesmal vor Freuden. Nicht weil er gegangen ist, sondern weil er versprochen hat, immer wieder zu uns zu kommen, zu uns und unserem armen Kinde. Und er ist wiedergekommen und hat wieder mit uns von der alten Zeit und dem Herrn Grafen und dem lieben, armen château de Werden geredet. O – er hat uns gesucht in dem pêle-mêle, der Vetter Herr Just, und er hat uns gefunden und nicht bloß durch einen Zufall. Le bon dieu hat ihm das in sein Herz gegeben, daß er es nicht anders konnte, sondern suchen und finden und kommen und dasitzen mußte, um uns zum Troste zu sein in dieser argen, schlimmen, schlimmen Welt! Wie ein Gesandter von dem guten Gott ist er uns gewesen, der Vetter Herr Just, der mir so viel aversion und répugnance hat bereitet in der glücklichen alten Zeit, wenn ich euch rief zu der Lektion – savez-vous? – hoch oben aus den Bäumen und ihr nicht antwortetet, weil ihr alle waret echappiert und – eh, eh, hattet euch durchgeschlüpft – glissés par la haie – wie die Vagabonden in die weite Welt und nach dem Steinhof. Oh mon dieu, damals habe ich geweint, weil das war, nun weine ich, weil das nicht mehr sein kann. Aber madame la baronne, meine Komtesse, kann noch lächeln, wenn sie spricht mit dem Vetter Just davon und von euch anderen bösen Kindern; und so bin ich auch glücklich, daß ich einst mich so sehr habe geärgert.«
Vergebens war es, meinerseits ein Wort in diesen Redefluß der alten Dame zu werfen. Und sie redete das alles zu mir in einer der belebtesten Straßen der großen Stadt Berlin, gänzlich unbekümmert darum, daß wir nicht allein darin gingen wie vordem wohl in der großen Lindenallee im Garten von Schloß Werden. Wir gingen ihnen allen zu langsam und nahmen ihnen allen zuviel Platz auf dem Wege in Anspruch; aber alle hatten sie es auch nicht darum so eilig, um rascher zu einem Vergnügen zu gelangen, und so war nichts gegen dies Geschobenwerden und Gedrängtwerden einzuwenden.
Daß sich Irene von Everstein in Wien mit einem Freiherrn Gaston von Rehlen verheiratet hatte, wußte ich, ebenso, daß diese Ehe nicht glücklich ausgefallen war. Nun wohnte die Frau Baronin seit einigen Wochen als Witwe in Berlin mit einem kranken Kinde und mit ihrer alten französischen Sprachmeisterin. Ich hatte hundert Fragen zu stellen und brachte doch keine einzige über die Lippen. Jeder Blick in das melancholische graue Gesichtchen mir zur Seite wurde mir hier zu einem Hindernis und trieb mir das Wort von der Zunge zurück; die sœur ignorantine aber schwatzte trübselig weiter von der guten alten Zeit, »als der Herr Graf noch lebte und niemand eine Ahnung, ein pressentiment, davon hatte, wie die Verhältnisse für uns alle sich nach seinem Tode gestalten würden«. Des Ausdrucks changer de face bediente sich Mademoiselle Martin, und es war der ganz richtige Ausdruck: ein ganz anderes Gesicht als damals, wo nur der Herr Graf genau wußte, wie schwankend unsere Stellung im Leben sei, machte uns heute die Welt!
»Monsieur Ewald ist immer noch in England oder Irland; doch er will nächstens nach Deutschland zurückkehren, hat uns neulich mademoiselle Eva geschrieben«, sagte Mademoiselle. »Der Herr Vetter Just hat ihn in der Stadt Belfast par hasard getroffen. Ich hätte mir gern von ihm erzählen lassen, aber der Herr Vetter hat nicht viel von ihm erzählt. Das Kind war sehr unruhig, und da nahm er es auf den Arm. Hélas, es ist ein sehr schwächliches Kind, monsieur Frédéric, und auch ein wenig verwachsen – ah, pardon.«
Die Gute hatte nicht nötig gehabt, um Verzeihung zu bitten. Erst durch ihren letzten halb erschrockenen Ausruf wurde ich auf die unwillkürliche Bezugnahme auf meine eigene gleichgültige Person lächelnd aufmerksam. Ich hatte nur an Ewald Sixtus in Belfast gedacht und an die Gründe, die den Vetter Just abhalten konnten, von ihm der Gräfin Irene ausführlich zu erzählen. Mir mußte der Vetter hierüber Rede stehen, das stand mir unumstößlich fest.
Wir hatten nun die größere Verkehrspulsader der Stadt verlassen und schritten durch stillere Straßen.
»Nun ich Sie wiedergefunden habe – auch par hasard, Herr Fritz Langreuter! –, so müssen Sie uns doch nun auch wohl eine Visite machen«, meinte Mademoiselle. »Ich werde Ihnen zeigen unsere Wohnung; doch können Sie nicht gleich mit mir gehen, denn madame la baronne – meine Irene – ist nicht wohl heute. Sie müssen kommen mit dem Vetter; ich aber werde sagen, daß ich Sie jetzt getroffen habe und daß Sie aus alter Freundschaft zu uns kommen werden. Darf ich das, monsieur Fritz? Dort wohnen wir, im dritten Stockwerk; – der Herr Vetter Just kennt aber den Weg, und Irene wird sich sehr freuen.«
Ich sah an dem Hause empor und hielt beide Hände der alten, so bittersüßen Dame, konnte aber nichts weiter hervorbringen als:
»O Mademoiselle!«
»Adieu, monsieur«, rief sie. »Und – au revoir! nicht wahr, monsieur?«
Die Haustür hatte sich hinter ihr geschlossen, und ich lief eiligst meinen Weg zurück und nach dem Hotel, in dem der Vetter Just Everstein abgestiegen war und hoffentlich noch auf mich wartete mit dem Frühstück, zu dem er mich eingeladen hatte.