Wilhelm Raabe
Alte Nester
Wilhelm Raabe

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Fünftes Kapitel

Wie wir diese heiße Mauer entlanggingen, die sich jetzt da hinzog, wo früher unsere grüne Hecke unser Märchenreich umschloß, ohne die unermeßliche übrige Welt auszuschließen, kam mir ein Gedanke. Nämlich, daß es Leute, die in allen Dingen, großen und kleinen, auf der Stelle Partei nehmen, die Hülle und Fülle gibt, daß aber der Leute, die im wahren Sinne des Wortes neutral zu bleiben vermögen, sehr wenige sind und daß drittens die Namen und Adressen der letzteren überall, mit goldenen Lettern in ein besonderes Buch eingetragen, zum eiligsten öffentlichen Nachschlagen aufzulegen seien. Ich, der ich im Grunde heute so sehr Partei war, gewann aus dieser Mauer melancholisch die nicht mehr umzustoßende Überzeugung, daß mir sowohl in Schloß und Dorf Werden wie auch vor allen Dingen auf dem Steinhof nichts mehr übriggeblieben sei, als mich – vollkommen neutral zu verhalten.

Das hatte ich gewonnen! Ich, dem die Mühe, etwas Verlorenes wiederzugewinnen, erspart worden war, oder besser, der selber sie sich erspart hatte.

»Am sichersten wäre es vielleicht doch gewesen, wenn wir unseren Advokaten von Bodenwerder abgeholt hätten, um mit seiner Hülfe den Eingang in Schloß Werden zu finden«, brummte Ewald. »Nun, gottlob, hier haben sie wenigstens ein Loch gelassen, und sind wir somit drin und – zu Hause angekommen. Begorra, eine schöne Wirtschaft scheint das gewesen zu sein! Meiner Treu, als ich von der Fremde aus die Katze im Sacke kaufte, habe ich doch keine Ahnung davon gehabt, wie ruppig das Vieh sich bei der Okularinspektion ausweisen würde. Sieh nur hin, Langreuter, wie die Halunken gehaust haben! Und ich gebe dir mein Wort darauf, Fritz, daß ich längere Zeit hindurch in der festen Überzeugung gelebt habe, ich hätte das alte Haus und seinen Zubehör zu billig erstanden! Oh, oh, oh!«

Ich konnte auch nichts weiter tun, als in die Seufzer des Freundes betrübt einzustimmen. Kahl und verwildert lag der früher so stattlich schöne Park innerhalb der neuen Mauer vor uns da. Die Alleen waren niedergeschlagen worden, die Gebüsche ausgereutet. Nur um das Schloß selbst standen noch einige der ältesten Bäume aufrecht und hatten uns von ferne die Täuschung gegeben, daß das alte adelige Haus Werden noch aus dem alten vollen Grün aufrage. Es war nichts als eine Fata Morgana gewesen, die aus der fernen Jugendzeit in die schwüle Gegenwart herüberfiel. Die jüngsten Besitzer hatten auf Schloß Werden nur einen Raubbau in jeglicher Hinsicht betrieben und waren zugrunde darauf gegangen in der Sonne wie – der Herr Graf in dem vornehmen Schatten seiner hundertjährigen Linden und Kastanien.

»Da stehen wir!« sagte der irländische Ingenieur grimmig. »Wenn es dir beliebt, so können wir auch weitergehen oder – umkehren. Das letztere wäre mir vielleicht in diesem Augenblick das liebste.«

»Du willst doch wohl nicht jetzt den Mut verlieren?«

»Den Mut wohl nicht, lieber Freund, wohl aber die Lust, meine Rolle weiterzuspielen. Momentan ist mir meine Devil-may-care-Stimmung gründlich ausgetrieben, und ich sehe nach keiner Weltgegend mehr hin die Gelegenheit, mir durch einen mehr oder weniger fragwürdigen Witz aus der Patsche zu helfen. Ich sage dir, ich fühle mich in dieser Minute mindestens um ein Jahrhundert älter als der alte Kasten dort hinter den Kartoffelfeldern, das Haus Werden mit seinen sicherlich zersprungenen und eingeschlagenen Fensterscheiben, seinem Schwamm im Parterre und seinem Wurmfraß im oberen Stock. Ach, Fritz, es ist doch wohl gut, daß Irene Everstein auf dem Steinhofe wohl aufgehoben ist; und ich – ich hätte besser getan, wenn ich fürs erste Schloß Werden hätte links oder rechts liegen lassen und den alten Mann in dem Dorfe und dem Försterhause um seine Ansicht von der Sache gefragt hätte! Was dich anbetrifft, liebster Langreuter, so wird es mir immer klarer, daß du mir kaum von Nutzen bei dieser mißlichen Geschichte sein wirst. Nimm mir das nicht übel.«

Ich hatte wahrlich keine Ursache, hier irgend etwas übelzunehmen. Der Freund hatte nur zu sehr recht. Mehr sogar, als er selber zu ahnen imstande war.

Ein altes Weib, das mit einer Sichel in der Hand einige Schritte weiter vorwärts sich aus dem Kraut und Unkraut aufrichtete und dem wir, wie es schien, einen gelinden Schrecken einjagten, gab unseren trübsinnigen Gedankenläufen, wenigstens für einen Augenblick, eine gelegene Ablenkung. Es war sicherlich eine gute Bekannte unserer Jugendjahre; aber wir waren allesamt älter geworden und kannten uns nicht mehr.

Das kümmerliche Mütterchen zog rasch und ängstlich eine hoch mit Grünfutter vollgestopfte Kiepe zu sich heran und hatte unbedingt die größte Lust, ohne sich weiter auf Gruß, Gegengruß und freundschaftliche Unterhaltung einzulassen, Reißaus zu nehmen; aber –

»Halt, Mutter! Hier geblieben, Mrs. Ragtail! Nur auf ein Wort, Mütterchen!« rief der Herr von Schloß Werden. »Gehören Wir zu dem Dorfe oder dort in das graue Haus – Schloß Wackelburg, oder wie es heißt!?«

»Schloß Werden, liebster Herr! Das ist das Schloß. Ach, Jeses, liebste, beste Herren, nur ein bißchen Grünes für die Ziege und fünf lebendige Enkelkinder; es wächst ja alles hier rundum doch nur dem armen Volke und lieben Herrgott in die Hand –«

»Richtig, Mutter! Mich aber soll der Teufel holen, wenn ich Ihr nicht alles gönne«, brummte Ewald Sixtus und fügte gegen mich gerichtet hinzu: »Hätte ich doch nur dasselbe Recht an den Nachlaß und die Erbschaft hier!« Und wieder der alten Frau sich zuwendend: »Es kommen wohl manche aus dem Dorfe, um da herum das, was dem lieben Herrgott in und aus der Hand wächst und was auch in Hof und Stall nicht zu niet- und nagelfest ist, abzuholen, he?«

»O du guter Himmel, liebster Herr, ich habe ja gar nichts gesagt«, winselte die Alte. »Fünf lebendige Enkelkinder, und mein Junge, der Vater dazu, ist zu Schaden und Tode gekommen in Koldeweys Steinbruche, und die Mutter hat die Lungensucht mitgenommen, und ich bin mit den fünf Würmern allein übrig. Nur ein bißchen Kraut für die Ziege; denn das Jüngste ist erst dreiviertel Jahre alt, und ich bin an die Sechzig nahe heran. Und sie kommen alle, denn es ist ja kein Herr und Meister da seit Jahren, und der Herr Notar in Bodenwerder, der die Verwaltung hat, kann doch nicht immer dasein und nach dem Rechten sehen. Und wenn Sie auch zu dem Herrn Advokaten aus Bodenwerder gehören und mich vor Gericht ziehen wollen, so habe ich doch nichts gesagt, und den hochseligen Herrn Grafen habe ich auch noch gekannt, und das war ein guter Mensch, so vornehm er war; und ich habe auch zu seinen Zeiten schon das Gras an den Hecken schneiden dürfen, und aus dem vornehmen Schloß hab ich mir keinen Nagel aus der Wand geholt. Und die gnädige Gräfin, die jetzt bei dem – dem Herrn Vetter Just – dem Herrn Everstein auf dem Steinhofe wohnt und der es auch so schlimm in der bösen Welt ergangen ist, wie man sagt, ja, die habe ich, als ich noch eine junge Frau war, aus dem Dorfbache aufgehoben und naß wie eine Katze auf meinem Arme nach Hause getragen, und da war damals die Madam – die gute Frau – die Frau Steuerkontrolleurin auf dem Schloß, die hat das Kind mir abgenommen und mir zehn Groschen gegeben. Der Junge aus dem Försterhause – unserm Förster Sixtus sein Junge – hatte die gnädigste junge Komtesse in den Bach gestoßen. Sie sagen, dem soll jetzt das ganze Schloß und alles gehören; aber es will keiner im Dorfe so recht daran glauben. Wenn er aber heute wiederkäme und alles hätte sich ungelogen so geschickt, wie die Leute lügen, und er wäre der Herr, so brauchte auch er mit der Witwe Warneke nicht um eine Kiepe voll Ziegenfutter aus der Wüstenei hier herum ins Gerichte zu gehen; denn dazu ist er viel zu gut Freund mit meinem alten Seligen gewesen, und der hätte oft klüger sein sollen als der dumme tolle Junge aus der Försterei. Da ist der lieben Frau Langreuter ihrer ganz anders gewesen und sittsamer; aber sie sagen, der hat es auch dicke hinter den Ohren gehabt und ist ein Professor geworden und wohnt jetzt, was man nennt, in Berlin. Ja, so werden aus Kindern Leute, und ich habe es als junge Frau auch nicht gedacht, daß ich als alte Frau mal fünf Enkelkinder mit Tagelöhnerarbeit und Hunger und Kummer großziehen müßte. Aber die Herren lassen mich da schwatzen, und ich stehe da auch und schwatze, als wäre ich wie von oben her und vom Pfänder drangekriegt, und – – o du meine Güte – o liebster Himmel – jetzt falle ich um! Das sind Sie!... Das sind Sie ja selber, der kleine Fritz und der – Herr Ewald! Und so gewachsen! Solche Herren! Und wirklich noch im lebendigen Leben! Und wie wird sich der alte Herr Vater und die Schwester freuen, Herr Sixtus. Und die Schwester – ich meine Fräulein Eva, hat noch immer nicht gefreit. Jedermann im Dorfe wundert sich darüber –«

Der Ingenieur hielt die Alte am Oberarm und fing an, sie zu schütteln, um dem Übermaß der Gefühlsäußerungen ein Ende zu machen. Das Hereinsprechen in den Schrecken, die Verwunderung und die zitternde Hast, sich angenehm zu machen, half zu gar nichts weiter, als daß sich gar noch das helle Schluchzen und Schlucken in den Redeschwall mischte –

»Herr, mach ein Ende!« stöhnte fast ebenso erregt wie das graue Weiblein der Werdener Irländer. »Alle Hagel, da ist ja ganz das Ende weg! Witwe Warneke, honey, liebstes, bestes altes Mädchen, ja, wir sind wieder da, und es ist mir im höchsten Grade erfreulich, daß Sie die erste ist, die mir hier auf meinem Grund und Boden – weiß Sie was? Sie kriegt einen Taler von mir, wenn Sie jetzt auch mich und den Herrn Doktor Langreuter hier auf eine halbe Minute zu Worte kommen läßt!«

Die Alte duckte sich. Sie saß nieder neben ihrer Tragkiepe im Kraut und Unkraut des Parkes von Schloß Werden. Sie starrte zu uns empor von einem zum anderen:

»Ach Gott, ach Gott, ist das eine Freude! Und wie werden sich der Herr Vater und Fräulein Eva und die gnädigste Gräfin auf dem Steinhofe freuen! Das Futter aber haben sie sich alle im Dorfe hier im Schloßgarten geholt, seit keine Herrschaft dagewesen ist. Und der Herr Graf soll sich nur des Nachts ums Schloß herum und da in dem Gange, wo zu seiner Zeit die dicken Lindenbäume standen, haben sehen lassen!«

»Wohnt denn niemand mehr in dem Hause da?« fragte ich zögernd und beklommen.

»Wer sollte denn da wohnen? Seit fünf Jahren hat es ja keinen richtigen Herrn mehr gehabt, sondern ist nur immer auf dem Papier weitergegeben. Aber vor vierzehn Tagen ist die alte französische Mamsell – von des Herrn Grafen Seligen Zeiten her –, die Mamsell Martin mal vom Steinhofe 'rübergekommen und ist drumherumgegangen und hat in die Fenster gesehen – bei Tage, nicht zur Nacht- und zur Spukezeit – und hat geweint.«

»Und meine Schwester?« fragte Ewald Sixtus, und die Witwe Warneke sah sehr verwundert von neuem scheu ihn an.

»Jawohl, Fräulein Eva ist mit ihr gewesen und hat mit ihr nachher lange auf einer der Steinbänke gesessen. Das halbe Dorf aber hat nur von ferne zugesehen; wir haben das französische Parlieren der alten französischen Mamsell ja doch niemalen recht verstanden.«

»In meinem ganzen Leben ist mir die rote Abendsonne, wie sie jetzt hier rundum auf allem und vor allem dort auf den Mauern und Fenstern liegt, nicht so spukhaft und gespensterhaft öde und schwül vorgekommen wie jetzt, Fritz«, sagte der neue Herr von Schloß Werden, jetzt meinen Arm fassend und mich schüttelnd. »Es ist mir wie ein Traum, daß ich den Besitztitel vermittelst der Mathematik und der Arithmetik bei hellem, nüchternem Mittage und klar und kühl nächtlicherweile über dem Reißbrett und dazu vermittelst des Londoner Patentamtes erworben habe. Witwe Warneke, wer hat den Schlüssel von Schloß Werden?«

»Genau kann ich das wohl nicht sagen; aber der Vorsteher wird es ja wissen, Herr E – ach, ich weiß ja auch gar nicht einmal, wie ich Sie jetzt anreden und betitulieren soll, und bitte, es nicht übelzunehmen. Aber im Gartensaale ist ein Fensterflügel herausgefallen und mit Latten vernagelt. Aber die haben die Jungens und der Wind bald wieder lose gemacht, und –«

»So ist eigentlich eine Tür und ein Schlüssel dazu die letzten Jahre hindurch für das Dorf Werden ziemlich überflüssig gewesen«, brummte der Ingenieur. »Viel besser als hier herum im Garten sieht es drinnen im Hause wohl nicht aus, old girl?«

Die Alte hob nur stöhnend und ängstlich die Hände:

»Herre, Herr, für mein Teil will ich es vor jedem Gerichte beschwören –«

»Was meinst du, Fritz, sollen wir gleichfalls durch das Saalfenster Besitz von dem nehmen, was noch brauchbar von Schloß Werden ist? Zu dem Dorfe gehöre ich doch auch und taxiere mich um kein Haarbreit besser als das übrige saubere Gesindel! O Irene, Irene, meine schöne, stolze, wilde Irene!... Und der Herr Graf hat sich um Mitternacht dort auf der Vortreppe blicken lassen! Mademoiselle Martin hatte es verhältnismäßig noch gut. Sie konnte sich dreist hinsetzen und ihre Tränen fließen lassen, ohne sich lächerlich zu machen. Das ist ja rein zum Verrücktwerden! Sage es dreist heraus, Langreuter, wenn dir zur Stunde mein Eigentumsrecht hier beneidenswert, wünschenswert und solcher bitterschweren Lebensarbeit wert erscheint. Ich überlasse dir mit Vergnügen Kaufbrief, Gefühle, Stimmungen und – wollte – wollte – ja, was wollte ich denn?! Witwe Warneke, sehe Sie mich mal ganz genau an, wenn Sie einen richtigen Spuk sehen will. Ich komme als verhexter Mann aus der Fremde und gehe am hellen Tage um Schloß Werden und durch Dorf Werden als Gespenst um. Frage Sie nur die Leute im Försterhause und die – Frau auf dem Steinhofe und – den Vetter Just.«

»Ach Jeses, Herr Ewald, ich kann Sie ja wirklich nicht so sprechen hören; und die anderen werden es auch nicht können!« sagte das alte Weibchen mit zitternd gefalteten Händen und sprach damit ein braves, aber wenig tröstliches Wort.


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