Wilhelm Raabe
Holunderblüte (1)
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Still stand ich und hütete mich wohl, mich zu rühren, und als nun das Ding sah, daß sein lockendes Lachen, Blicken und Winken ihm nichts half, da fing's den Zauber auf eine andere Art an. Sein Gesichtchen wurde ernst, sein Köpfchen neigte sich, und schüchtern schlich's heran, neigte sich wiederum sittsam und stand vor mir und sagte: »Schöner Herr, verzeih, ich will nicht wieder böse sein.«

Ruhig duldete es, daß ich seine Hand nahm; es wehrte sich nicht, als ich es näher zu mir heranzog, um ihm besser ins Auge sehen zu können. Es gab wundersamerweise auch klaren und vernünftigen Bericht, als ich es fragte, woher es sei und wie es heiße. Wenn es nicht nach Elfenart log, so gehörte dieses verwahrloste und doch so reizende Geschöpf keineswegs ganz der Geisterwelt an, war nicht eine Tochter Oberons und Titanias, sondern der Sprößling sehr irdischer Eltern, welche in der Josephsstadt zu Prag mit alten Kleidern und Gerätschaften handelten. Auch die Hausnummer und den Namen erfuhr ich: Jemima hieß es, wie die Tochter Hiobs, des trefflichen Mannes aus dem Lande Uz, und Jemima bedeutet auf deutsch: Tag.

Obgleich der Vater nicht Hiob hieß, sondern Baruch Löw, so war er doch ein gutes Seitenstück zu jenem Dulder in der Zeit der Plagen. Von der Mutter Jemima Löws will ich lieber ganz schweigen.

O über den Schmutz, den ich in dem Hause Nummer fünfhundertdreiunddreißig in der Judenstadt sah, als ich zum erstenmal nach dem Bekanntwerden mit der Tochter des Hauses kam und schlau meine Uhr versetzte, obgleich ich einen frischen, nicht unbedeutenden Wechsel in der Tasche hatte. Und was ich roch, war fast noch schlimmer als das, was ich sah.

Aber der Zauber lag einmal auf mir, und es war ein mächtiger Zauber und sollte ein böser Zauber werden: wie hätte er auch sonst in diesem ruhigen, reinlichen, vornehmen Hause in Berlin vierzig Jahre später von neuem dadurch erweckt werden können, daß mir ein Kranz von Holunderblüte, welchen ein junges Mädchen auf dem Ball getragen hatte, in die Hand fiel? –

Von dem lustigen Wien war ich mit dem festen Vorsatz herübergekommen, dem collegio medicorum zu Prag alle Ehre zu machen, sehr fleißig zu sein und mit Eifer das Versäumte nachzuholen. Daraus wurde nichts. Nicht daß ich mich wieder dem vorigen wilden Treiben ergeben hätte, welches schon manchen Studenten der Medizin dahin gebracht hat, daß er kläglich die edle Heilkunst an seinem eigenen Leibe praktizieren konnte. Im Gegenteil – weder nächtliches Schwärmen und tolles Trinken, weder Melniker, Pilsener Bier und Slibowitz hatten mehr den gewohnten Reiz für mich; aber berauscht war ich nichtsdestoweniger, und unendliche Quantitäten ungarischen Tabaks konsumierte ich über meinen verworrenen Träumen. Auf meine Stube in der Nekazalkagasse, ins Kollegium, an den Seziertisch, überallhin verfolgte mich die kleine Hexe aus der Judenstadt, Jemima Löw. Es war keine Möglichkeit, jetzt Pathologie, Therapeutik zu studieren und menschliche Leichname und lebendige Hunde, Katzen, Kaninchen und Frösche zu zergliedern. So gab ich's denn auch in Prag auf und verlegte den Vorsatz, fleißig zu sein, auf eine andere, spätere Zeit und auf eine andere Universität.

In meiner Stube in der Nekazalkagasse lag ich auf dem harten Sofa, eingehüllt in dichte, blaue, duftende Wolken, und stellte die tiefsinnigsten, aber auch unvernünftigsten Betrachtungen an über die Wunder der menschlichen Seele. Ein Buch darüber, wie die Leidenschaft entstehe und vergehe, hätte ich freilich darum doch nicht schreiben können. Wenn ich dann genug geraucht und geträumt hatte, so erhob ich mich, das Träumen stehenden Fußes fortzusetzen, und durchstreifte die Gassen dieser Stadt, die selbst einem Traume gleich ist.

Auf dem großen Ring hörte ich die Mädchen am Brunnen böhmisch und deutsch durcheinanderschwatzen, hörte am Abend den Liedern der frommen Beter an der Mariensäule zu. Die ungarischen Grenadiere auf der Wache am Rathause wurden von Italienern abgelöst; wie in einer Zauberlaterne wechselte das bunteste Leben. Dann schlenderte ich ein andermal auf dem Wissehrad umher, wo über versunkenen königlichen Palästen die Gänse schnattern und die Ziegen weiden und wo ungemein zerrissene Wäsche getrocknet wird. Wieder ein andermal lehnte ich unter dem Schutze des heiligen Johannes von Nepomuk auf der berühmten Brücke und sah, ohne meiner unsterblichen, vernünftigen Seele einen Grund dafür angeben zu können, stundenlang in die Moldau hinab. Dann stieg ich nachher wohl durch die steilen Gassen der Kleinseite die Treppe zum Hradschin herauf und sah über die Mauerbrüstung die stolze Böhmenstadt zu meinen Füßen liegen. Manche heiße Sommerstunde verbrachte ich in der kühlen, dämmerigen Halle des Domes von Sankt Veit; aber Jemima Löw verfolgte mich bis unter den purpurnen Baldachin, der das Grab des heiligen Nepomuk überhängt. Da ist an der Wenzelskapelle der große Türring, an welchem sich der heilige Herzog und Landespatron im Todeskampfe hielt, als er von dem verräterischen Bruder erschlagen wurde. Wenn man diesen Ring mit Ehrfurcht küßt, so ist das nützlich und gut gegen mancherlei Übel: ach, gegen das, was mich bedrückte, hätte solch ein Kuß doch nicht geholfen. Ein gutes Mittel gegen Kopfweh ist's ferner, wenn man von einem alten Holzschnitzwerk neben der Tür den Staub abreibt und damit drei Kreuze auf die Stirn macht, – ich hatte auch öfters Kopfweh – echtes körperliches, nicht nur geistiges – in jenen seltsamen Tagen; ach, ich konnte es nicht heilen durch solches Bekreuzigen. Die Pein legte sich nur dann ein wenig, wenn ich spornstreichs die Treppe von der Kaiserburg und dem Dom wieder herabsprang und über die Brücke, vorüber am heiligen Nepomuk und den andern Bildern, zur Josephsstadt rannte. Erst im Schatten der alten grimmigen Mauern und Häuser des Judenviertels wurde mir die Stirn wieder freier, aber fieberkrank blieb ich darum doch.

Schon längst hatte ich Freundschaft geschlossen mit dem Pförtner des berühmten Kirchhofes, und schon längst bezahlte ich nicht mehr jedesmal, wenn ich Einlaß in das Reich des Todes verlangte, die sechs Kreuzer, welche die kaiserlich-königliche Polizeibehörde dem Pförtner bewilligt hat aus dem Geldbeutel, der Reisekasse der neugierigen Fremden.

Recht schnell hatte ich die Zuneigung des Graubarts gewonnen, denn ich verstand es, auf seine Anschauungen von dem Wert und der Geschichte des jüdischen Volkes einzugehen, und so wandelten wir unter den Gräbern, und manche Biographie und manche Sage habe ich mir erzählen lassen – wahrlich, vieles konnte man lernen unter diesen grauen Steinen, diesen Monumenten, welche so sehr denen gleichen, die im Tal Josaphat zerstreut liegen.

Jemima Löw aber war die Verwandte des Pförtners, seine Enkelin, Urenkelin, Großnichte oder dergleichen – die langen Jahre haben mir den Verwandtschaftsgrad aus dem Gedächtnis gewischt. Sie ging oft mit uns, saß neben uns und gab altklug, oft treffend genug, ihr Wort zu unserem Gespräch.

Es waren Tage, es waren Stunden, es waren Augenblicke, deren melancholischen Reiz ich in keiner Weise wahr genug zu schildern vermag. O über diesen uralten Totenacker und seine Holunder! Nun war die Luft an diesem Ort nicht mehr unatembar für mich, und keine Gespenster traten mehr in das Sonnenlicht, welches durch die Blätter schoß und über den Gräbern tanzte. Immer vertrauter wurde ich mit den grauen Steinen. Noch besser als der Alte machte mich Jemima damit bekannt. Wenn der Pförtner in seinem Lehnstuhl eingeschlafen oder zu tief in die unergründlichen Spitzfindigkeiten des Talmuds geraten war, so hüteten wir uns wohl, ihn aufzustören. Hand in Hand schlüpften wir in das Beth-Chaim und waren uns selbst genug in diesen seltsamen Sommertagen, welche die Welt lange nicht so lieblich gesehen hatte.

Ja, Beth-Chaim! Wohl wurde mir dieser Kirchhof zu einem »Haus des Lebens!« Wenn mir dieses junge Mädchen die wunderlichen Hieroglyphen der hebräischen Grabtafeln deutete, so beschwor es dadurch ein Leben herauf, von welchem ich bis dahin keinen Begriff gehabt hatte. Weise, tugendhafte, fromme Männer und Frauen, edle Dulder und Dulderinnen, schöne Mädchen und Jünglinge erwachten aus einem Schlummer, der Jahrhunderte hindurch gewährt hatte, und ihre Schatten gewannen lebendigstes Leben. Bald stand ich mit allen diesen Leuten aus einer unbekannten Welt, aus der doch noch so viele Bezüge in die Gegenwart herüberliefen, auf Du und Du und glaubte an sie wie an die Gestalten der Geschichte und Sage meines eigenen Volkes.

Gewöhnlich saßen wir neben der Tumba des Hohen Rabbi Löw, aus dessen Geschlecht meine kleine Lehrerin abzustammen glaubte und auf den sie sehr stolz war. Viel erzählte sie mir von dem weisen Mann: wie er mit dem Kaiser Rudolf dem Zweiten verkehrte und ihm die Geister der Patriarchen erscheinen ließ, wie er Bescheid wußte im Talmud und in der Kabbala, wie er einen Golem, das heißt, einen Diener aus der Geisterwelt hatte, wie er seine Frau, die schöne Perl, die Tochter Samuels gewann, wie er vierhundert Schüler hatte und wie er sein Leben auf hundertundvierzig Jahre brachte.

Ich aber glaubte an alles und hing an dem Munde der Erzählerin, wie keiner der vierhundert Schüler an dem Munde des Hohen Rabbi in der Schule »Zu den drei Klausen«.

Von Liebe sprachen wir nicht; ich liebte auch dieses Mädchen gar nicht; aber einen Namen für die Gefühle zu finden, welche mich gegen es bewegten, war und ist unmöglich. Sie wechselten wie die Launen des Mädchens selbst, wie das Wetter an einem Apriltage, wie die leichten Sommerwölkchen, die über der Stadt Prag und den Fliederbüschen von Beth-Chaim zogen. Bald hielt ich diese Jemima, die in gerader Linie von Chajim, dem ältesten Bruder des Hohen Rabbi Jehuda Löw, abstammte, für ein kleines, schmutziges, boshaftes Ding, mit dem man wohl des Spaßes wegen eine Viertelstunde verschwatzen konnte; bald hielt ich sie für eine Fee, ausgerüstet mit großer Macht, die Menschen zu quälen, und dem besten Willen, diese Macht zu mißbrauchen. Dann war sie wieder nur ein armes, schönes, holdseliges melancholisches Kind der Menschen, für welches man sein Herzblut hätte lassen mögen, für welches man hätte sterben mögen. Krank zum Sterben war ich damals, ein schleichendes Fieber verzehrte mich, und nur im Fiebertraum gehen solche wechselnde Gestalten und Empfindungen durch des Menschen Seele.

In jener Epoche las ich mit großem Eifer und schmerzlichem Genuß den Shakespeare, und zuletzt bildete ich mir ein, alle Frauen dieses Dichters in diesem unerzogenen Judenmädchen vereinigt zu finden, die zänkische Katharina nicht weniger als Helena, Titania, Olivia, Silvia, Ophelia, Jessica, Porzia und wie sie alle heißen.

Jemima Löw las den Shakespeare nicht, hatte auch in ihrem Leben nichts von dem Mann gehört, und sie verstand aus meinen verworrenen Reden über diesen Punkt nur, daß ich sie mit allerlei christlichen und heidnischen Frauen vergleiche, und lächelte ungläubig, und eines Tages, um die Mitte des Herbstes, als die ersten winterlichen Ahnungen durch die Welt gingen, als die Blätter des Flieders nicht weniger wie alle andern Blätter sich bunt färbten, – eines Tages um die Mitte des Herbstes faßte sie meine Hand und zog mich durch einen düstern Gang nach der Mauer des Kirchhofs zu einem Grabstein, den wir bis jetzt noch nicht betrachtet hatten.

Auf diesen Stein deutete sie und sprach:

»Das bin ich!«

In hebräischer Schrift stand auf dieser Platte:

Mahalath

Und darunter die Jahreszahl:

1780.

Wie kam es, daß ich so sehr erschrak? War es nicht Torheit, daß ich so erstarrt, wortlos das Mädchen neben mir ansah?

Ja, es lachte nicht, es freute sich nicht eines gelungenen närrischen Einfalls. Ernst und traurig, mit gekreuzten Armen stand es da, lehnte sich über den Stein und sagte, ohne eine Frage abzuwarten:

»Sie hieß Mahalath, und sie war Mahalath, das ist eine Tänzerin. Sie hatte ein krankes Herz wie ich und ist die letzte gewesen, welche auf diesem unserm Beth-Chaim eingesenkt wurde, – die allerletzte. Nachher hat's der gute Kaiser Joseph verboten, daß sie noch einen aus unserm Volk hier zu Grabe brächten; die Mahalath ist die letzte gewesen. Der gute Kaiser hat auch die Mauern der Judenstadt niedergeworfen und hat ihr seinen eigenen milden und glorreichen Namen zu seiner und unserer Ehre gegeben. Er hat dies Gefängnis zerbrochen und uns atmen lassen mit dem andern Volk; der Gott Israels segne seine Asche.«

»Aber wer ist die Mahalath? Was hast du mit der Mahalath, Jemima?« rief ich.

»Sie hatte ein krankes Herz, und es zersprang.«

»Sei keine Törin, Mädchen, was weißt du von dieser Toten, die im Jahre siebenzehnhundertachtzig begraben wurde?«

»Wir gedenken lange unserer Leute. Ich kenne die Mahalath ganz genau und weiß, daß ihr Los das meinige sein wird.«

»Dummes Zeug!« rief ich; aber Jemima Löw drückte plötzlich die Hand auf das Herz, und über ihr Gesicht zuckte es, als erdulde sie einen großen physischen Schmerz.

Ich erschrak wiederum heftig, und als sie meine Hand nahm und dieselbe auf ihre Brust legte, erschrak ich noch mehr.

»Hörst du, wie es klopft und pocht, Hermann? Das ist die Totenglocke, welche mir zu Grabe läutet. Du bist ein großer Doktor und hast das nicht gemerkt?«

Dieses Letzte sagte sie mit einem so hellen Lächeln, daß die Idee dieses frühen Sterbens mir um so schrecklicher erschien. Ich faßte beide Hände des Mädchens und schrie sie zornig an: »Scherze nicht auf so tolle Weise! Alles will ich dir hingehen lassen, nur nicht solche Worte.«

»Es ist kein Scherz«, antwortete sie, »soll ich dir die Geschichte der Mahalath erzählen?«

Nur nicken konnte ich, ergriffen von einem dumpfen, unendlich bangen Schmerzgefühl.


 << zurück weiter >>