Wilhelm Raabe
Holunderblüte (1)
Wilhelm Raabe

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Jemima Löw erzählte:

»Die hier liegt, wurde Mahalath genannt, weil ihre Glieder schlank und leicht waren und weil ihre Füße sich wie im Tanze bewegten, wenn sie ging. Sie war auch im Schmutz und in der Dunkelheit geboren wie ich und in noch größerem Schmutz und noch schlimmerer Finsternis wie ich; denn unter der großmächtigen Kaiserin Maria Theresia war die Stadt der Juden zu Prag ein viel traurigerer Ort als heute, und sie gönnten uns die reine Luft nicht, und bezahlen mußten wir jährlich zweihundertelftausend Gülden für die gnädige Erlaubnis, hier zu verkümmern in Dunst und Finsternis. Aber die Mahalath hatte eine freiere Seele als die stolzeste Christin in der Stadt Prag; sie wurde auch gelehrt in den Büchern und schlug die Laute mit ihrer feinen Hand, daß sie eine Perle in unserm Volk genannt wurde, gleich der Perle des Hohen Rabbi Jehuda. Sie war in der Dunkelheit geboren und sehnte sich nach dem Licht: viele große Männer aus allen Völkern sind darum gestorben, weshalb sollte darum nicht auch ein armes Mädchen sterben? Was siehst du mich so an, Hermann? Denkst du auch, ein Mädchen könne nur um der Liebe willen sterben? Glaub es nicht; – die Mahalath ist nicht an der Liebe gestorben, wenngleich ihr Herz brach; und die irren, welche meinen, daß sie starb um den jungen Grafen, der sie mit Gewalt aus ihres Vaters Hause reißen wollte und gegen den die hohe Kaiserliche Majestät Maria Theresia nachher erkannte, daß er hat müssen ins Ausland entweichen. Die Mahalath lachte über den Toren, der nichts hatte als seinen Namen, seinen Reichtum, Sammetrock und Federhut. Sie nannten sie die Tänzerin, und sie starb, weil ihre Seele zu stolz war, um äußerlich zu zeigen, was sie duldete um ihr Volk. Der einzige Ort, wo sie die Sonne sah, war dieses Beth-Chaim, sie las die Schriften auf diesen Steinen und lernte die Geschichten derer, die unter den Steinen liegen, und ihre Seele tanzte über den Gräbern, bis die Toten sie herabzogen, zu sich – hinab!«

Wie das junge Mädchen an meiner Seite das kleine Wort »hinab« aussprach!

»Jemima«, rief ich, die Hände faltend, ohne zu wissen, was ich tat, »Jemima, ich liebe dich!«

Sie aber streckte drohend die Hand gegen mich aus, stampfte zornig mit dem kleinen Fuße auf. »Es ist nicht wahr. Der junge Herr in Grün und Gold, der mit dem weißen Federhut, liebte die Mahalath auch nicht, und wer sagt, daß sie um ihn gestorben sei, der lügt. Einen Herzfehler hat sie gehabt, und unser totes Volk hat sie zu sich herabgezogen. Du sagst, du liebst mich, Hermann; aber wenn ich in dieser Stunde wie sie herniederstiege zu den Toten, du würdest mich nicht zurückhalten mit deiner Hand.«

Wie sie mich ansah! Es war, als ob ihr schwarzes Auge die tiefsten Verborgenheiten meines Herzens hervorholte; hätte ich sie wirklich geliebt, so würde ich diesen Blick ertragen und erwidert haben; aber sie hatte recht, ich liebte sie nicht, ich war nur fieberkrank, und so mußte ich das Auge abwenden und niederschlagen.

Ich war nicht falsch, war kein Verräter; kein böser Gedanke war während meines Umgangs mit diesem armen Mädchen in meiner Seele wach geworden. Woher nun die schneidende Angst, diese Gewissensbisse, für die ich nirgends in meiner Erinnerung einen Grund fand? Ich fühlte eine furchtbare Verantwortung auf mir lasten, als ich scheu, fast furchtsam auf die herrliche Kreatur sah, wie sie mir drohend, mit blitzenden Augen die Hand entgegenballte und sich in Verzweiflung wehrte – gegen ihre eigene Liebe.

»O Jemima! Jemima!« rief ich; und nun sahen wir uns gegenseitig in die Augen. Allmählich wurden ihre Blicke milder und milder, sie wurden voll feuchten Glanzes; die geballte Hand öffnete sich und legte sich auf meinen Arm.

»Betrübe dich nicht, mein Freund. Du bist ja nicht schuld daran; du hast mir unnützen, unwissenden, schmutzigen kleinen Ding viel Freude gebracht, und ich verdanke dir so viel – o so viel. Du kannst nichts dafür, daß ich ein so albernes Herz habe, welches über den Raum, den ihm Gott in der Brust bestimmt hat, herauswachsen will. Fühle, wie es klopft; wir haben hier eine große Doktorin in der Judenstadt; hinter der Tür hab ich gelauscht, als sie und meine Mutter über mich gesprochen haben. Es kann nicht anders sein; ich muß an dem Herz, das zu groß wird, sterben.«

»Jemima, Jemima, ich will dir andere, bessere Ärzte bringen, die sollen deine Brust untersuchen und dir sagen, daß du dich irrst, daß die alte Quacksalberin sich irrt!« rief ich. »Du wirst leben – lange leben, wirst eine schöne, holde Jungfrau sein und fortgehen aus diesem Dunst und Moder, diesem uralten Schauder!«

»Wohin werd ich gehen? Nein, ich werde hier bleiben, wo meine Väter begraben liegen seit des Tempels Zerstörung. Du aber, mein Freund, wirst fortgehen nach deinem Vaterland und wirst mich vergessen, wie man einen Traum vergißt. Ich bin ja auch nur ein Traum! Was kannst du dafür, daß der Traum zu Ende ist und der blasse verständige Morgen dich weckt und dir sagt, daß es nichts war. Gehe fort und gehe bald; es ist dein und mein Geschick. Du wirst ein gelehrter und guter Herr sein in deinem Vaterlande, mild und barmherzig gegen die Armen und Schwachen; bist du doch auch mild und barmherzig gegen mich gewesen, und ich war auch arm und schwach, und viel Schmerz hättest du mir schaffen können, viel Böses hättest du mir bereiten können, wenn du gewollt hättest. Jetzt sind diese Holunder verblüht, und ich lebe; aber wenn diese alten Bäume und Büsche im nächsten Frühling ihre Blüten einander über die Gräber entgegenreichen werden, dann werde ich so ruhig und still liegen unter meinem Stein wie Mahalath, die Tänzerin hier, die mit der großmächtigen Kaiserin Maria Theresia in einem Jahre starb. Wie lange wirst du wohl denken an Jemima Löw aus der Judenstadt zu Prag in der Zeit der Fliederblüte?«

Noch einmal versuchte ich es, allerlei sehr Verständiges über diese törichten Reden zu sagen, aber es gelang mir nicht, und wenig besser gelang mir das Zürnen darüber. Zuletzt standen wir zwei stumm nebeneinander am Grab der Tänzerin, und wie an jenem ersten Morgen, wo ich diesen Ort betrat, erfaßte mich das Grauen mit gespenstischer Hand am hellen Tage. Es war, als rege sich der Boden wie ein Würmerhaufen, es war, als schöben überall bleiche Knochenhände die Steine zurück und die Blätter und das Gras auseinander; ich stand wie zwischen rollenden Totenköpfen, und all der lebendige Moder griff grinsend nach mir und dem schönen Mädchen an meiner Seite.

Es war höchst wunderlich, daß der hagere lange Herr aus Danzig und der dicke Herr aus Hamburg, welche sich eben von dem Oheim das Beth-Chaim zeigen ließen, so gar nichts von dem Graus bemerkten. Sie gingen ganz ruhig, mit den Händen in den Hosentaschen, und klimperten jedem verwesten Jahrhundert mit barer Münze in das hohläugige grinsende Gesicht. Die Gegenwart dieser beiden Herren verscheuchte das Grauen gar nicht, wie man doch hätte meinen sollen. Im Gegenteil, sie machten es nur noch eindringlicher; denn es war doch allzu widernatürlich, daß sie gar nichts merken sollten von dem, was um sie her und was unter ihren Füßen vorging.

Sie kamen auf uns zu, und ich hörte, wie der Hamburger Herr zu dem Danziger Herrn sagte, er halte diesen hoch- und falschberühmten Prager Judenkirchhof für nichts mehr und nichts weniger als einen verdammten Humbug und verteufelten alten Steinbruch, und noch einmal raffte ich alle Kraft zusammen, fuhr mit der Hand über die Stirn und rief:

»Nein, nein, es ist eine Tollheit! Es ist krankhafte Phantasie! Wie kann man sich von solch dummem Ding so sehr in Schrecken jagen lassen? Wenn ich nicht krank wäre, würde ich hier ebenso ruhig umherspazieren wie diese beiden Herren!«

»Wehre dich nicht dagegen«, sagte aber Jemima, und weil eben die beiden Fremden mit dem Oheim näher kamen, trat sie von mir weg, hüpfte leicht über das Grab der Mahalath, bückte sich nieder, um unter den niedern Zweigen der Fliederbüsche durchzuschlüpfen, und aus dem Grün noch einmal zurückblickend, rief sie, nach ihrer Gewohnheit den Finger an den Mund legend:

»Gedenke der Holunderblüte!«

Dann war sie verschwunden, und – ich habe sie nicht wiedergesehen. Ist es nicht eine bittere Wahrheit, daß die Hand des Menschen eine Kinderhand ist, welche nichts festhalten kann? Gierig greift sie nach allem, was in irgendeiner Weise glänzt und lieblich ist oder was ihr verboten wurde anzugreifen. Sie zerstört das eine mit kindischer Neugier und verwundet sich an dem andern oder läßt es fallen aus Furcht.

»Wer war die Mahalath, welche unter diesem Steine liegt?« fragte ich den Pförtner, nachdem sich die beiden norddeutschen Herren entfernt hatten.

Der Alte zuckte die Achseln:

»Ihre Nachkommen leben noch hier am Orte; 's ist ein angesehenes Geschlecht bei uns, und so spricht man nicht gerne davon. Es hat sich viel Fabelei seit den vierzig Jahren, daß sie tot ist, über sie entsponnen. Sie hatte eine Liebschaft mit einem jungen Herrn von der Kleinseite, vom Malteserplatz; wir aber sind ein Volk, das was gibt auf seine Ehre; wir sind ein genaues Volk und können sehr grausam sein. So hat das arme Geschöpf sein Leben mit Kummer beschlossen – 's ist eine traurige Geschichte.«

Als der Alte auch mir die Pforte des Beth-Chaim öffnete, hatte er Grund, mir kopfschüttelnd nachzublicken. Gleich einem Trunkenen irrte ich an diesem Tage umher und versuchte es vergeblich, meine Schuld und Unschuld gegeneinander abzuwägen. Vergeblich versuchte ich alles mögliche, die Last von meiner Seele abzuwälzen oder sie wenigstens leichter zu machen, indem ich mir die Worte dieses jungen Mädchens als nichtsbedeutende Grillen und Phantasien eines törichten Kindskopfes darstellte. Endlich schwankte ich heim in die Nekazalkagasse, holte meine Bücher und mangelhaften, liederlichen Kollegienhefte hervor und fing an, mit zitterndem gierigem Eifer alles das, was darin über das Herz des Menschen, das körperliche Herz, seine Funktionen, seine Gesundheit und Krankheit geschrieben war, zu lesen. Ich habe nachher selbst ein Buch darüber geschrieben, welches von der Wissenschaft für sehr brauchbar erklärt wird und welches manche Auflagen erlebt hat; – ach, wenn nur die Wissenschaft wüßte, was mich dieser Ruf als Autorität in Herzkrankheiten gekostet hat! Es gehen nicht bloß Dichterwerke aus großem Schmerz und Unmut hervor.

Sehr schwül war es an diesem Tage, weiße schwere Wolken wälzten sich über die Dächer herauf und zogen sich zu drohenden, bleigrauen Massen zusammen, und trotzdem, daß die Luft kaum zu atmen war, trieb's mich doch wieder herab von meiner Stube in die heißen Gassen. Als eben der erste Donner dumpf rollend die Fenster der Stadt erklirren machte, zog ich abermals die klappernde Glocke des Pförtnerhauses am Judenkirchhof.

Statt des langbärtigen, ehrwürdigen Greisenkopfes erschien in der Türöffnung das verrunzelte gelbe Gesicht der alten Dienerin des Pförtners.

»Wo ist Euer Herr? Ich muß ihn sprechen – auf der Stelle!«

»Gott Israels, wie Ihr ausseht, junger Herr! Mein, was ist Euch begegnet? Was wollt Ihr schon wieder? Was bannt Euch an diesen Ort?«

Ich antwortete ihr nicht, sondern drängte mich an der Schwätzerin vorüber. Durch die dunkeln – jetzt während des Gewitters so schrecklich, furchtbar dunkeln Gänge des Friedhofes – eilte ich, und am Grabe des Hohen Rabbi Löw fand ich den Alten, unbekümmert um den immer stärker losbrechenden Sturm.

Wer diesen Ort nicht in solcher Stunde gesehen hat, der kennt nichts von ihm. Es gibt keinen andern Gottesacker in der ganzen Welt, wo man, wenn der Himmel schwarz wird »wie ein härener Sack«, wenn der Blitz zuckt und der Donner kracht, mit solchem Zittern das Haupt beugt und den Anfang des Jüngsten Gerichtes erwartet. O wie sich diese alten Fliederbüsche winden und sich gegen den Sturm stemmen! Wie lebendige Wesen ächzen und stöhnen sie in großer Not. Sie rauschen nicht wie andere Bäume und Sträucher im Regen; und mit einem unheimlichen Gegurgel schlürft der Boden die Wasserströme, die von den an- und übereinandergetürmten Grabsteinen herniederrieseln, – es ist wirklich wie »eine Verwüstung vom Allmächtigen«.

Wir suchten einen Winkel, wo wir etwas vor der Wut des Sturmes geschützt waren, und fanden ihn nur an der Mauer in der Ecke, wo Mahalath, die Tänzerin, begraben lag. Dort sprach ich zu dem Alten und verschwieg ihm nichts. Ich erzählte ihm mein Bekanntwerden mit Jemima vom ersten Anfang an; so klar und deutlich, als mir nur möglich war, legte ich ihm unsern Verkehr dar. Ich hätte ihm Rechenschaft über jede Stunde und Minute geben mögen.

Er ließ mich aussprechen, ohne mich zu unterbrechen; als ich endlich atemlos zu Ende gekommen war, strich er mit der knochigen harten Hand über die Haare und die Stirn und sagte:

»Mein Sohn, dein Herz ist gut, und es freut mich sowohl um deiner selbst willen, als der Jemima wegen, daß du zu mir gesprochen hast, wie du tatest. Es ist ein edel Ding um ein Gewissen, das sich leicht regt und welches nicht erst durch Posaunenstöße geweckt zu werden braucht. Ich danke dir, daß du zu mir gekommen bist, dein Herz auszuschütten; du brauchst auch nicht zu sorgen, daß ich dich mit zornigen Worten kränken werde; – wer unter diesen Steinen wandelt, wer die Luft dieses Ortes atmet, der gewinnt ein mildes Auge für das Tun und Lassen seiner Mitmenschen. Du hättest mir viel Schlimmeres berichten können, und immer hätte es hier Gräber gegeben, unter denen noch Furchtbareres verscharrt liegt oder an die sich dergleichen knüpft. Gott segne dich, daß du nicht zu den Schlechten gehörst, die nach angerichtetem Elend noch spotten und lachen und groß Rühmens davon erheben. Leichtsinnig und unbedacht bist du gewesen – was gestern noch ein Spiel war, kann heute blutigster Ernst sein; der Funke ist zur Flamme geworden, ehe wir's denken, und wir schlagen um uns in großer Not und Angst, können's aber nicht mehr löschen. Arme kleine Jemima! Immer ist sie ein wunderlich Geschöpf gewesen – es war nicht gut, daß ich es duldete, daß sie diesen meinen alten schauerlichen Garten zu ihrem Spielplatz machte. Was hatte ich greiser Narr nötig, sie so manchen Sommertag hindurch hier an meiner Seite festzuhalten und ihr die Geschichten dieser Steine zu erzählen, wie man andern Ländern Märchen von Feen und Zwergen erzählt? Ihr Herz sei krank, sagte sie? Wehe mir, wer ist schuld daran, daß dem so ist?... Aber es kann ja nicht sein, sie ist ja noch ein halbes Kind, und wir können noch gutmachen, was wir gesündigt haben. Wehe, was gingen sie die Toten an! Weil ich nur in diesen Mauern leben konnte, hab ich ihr junges Dasein mit hineingeschlossen, und so ist sie wohl vor dem Schmutz draußen in der Gasse bewahrt geblieben, aber sie hat die Sonne und die Frühlingsblüte nur hier gesehen – die Sonne der Toten – die Fliederblüte der Gräber! – Aber sie soll nicht mehr den Fuß hierher setzen; sie soll das Leben sehen wie andere – sie wird nicht sterben; – nicht wahr, sie wird nicht sterben durch unsere – meine Schuld?«


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