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Im oberen Teile des Schlosses hatte sich nun auch die übrige Gesellschaft nach und nach in Bewegung gesetzt und kam in heiteren Gruppen die Treppe herab, um sich einige Zeit, da der Abend milde war, im Garten zu ergehen und hier die festliche Beleuchtung zu sehen.
Heitere Musik, welche jetzt aus den offenen Fenstern des Tanzsaales erklang, machte die Promenade in dem von farbigen Lichtern, Lampen und Laternen strahlenden Garten nur noch angenehmer.
Während nun bald schöne Damentoiletten zwischen den im Abendwinde leise rauschenden Bäumen auf und nieder wogten, fanden sich die Hauptpersonen des Festes im geräumigen Gartensalon zusammen und bildeten hier eine Gruppe für sich, die bald darauf der Mittelpunkt einer ebenso unerwarteten als ergreifenden und Angst und Entsetzen verbreitenden Szene werden sollte …
Wir haben Helene verlassen, als sie eben von ihrem Abenteuer zu der Gesellschaft zurückkehren wollte.
Aber schon an der Türe trat ihr Remi Lotfahr entgegene und führte sie in den Garten-Salon zurück.
»Bleiben Sie, Helene«, sagte er, »unsere Gesellschaft ist auf dem Wege hierher. Was Ihren Handschuh anbelangt, so muss ich bedauern – ich hatte ihn in Gedanken hierher gesteckt.« Sie deutete auf ein Band ihrer Taille.
Der hereintretende Graf v. Starrenberg, in Gesellschaft des Präsidenten, unterbrach hier das Gespräch der beiden Verlobten.
»Es ist mir doppelt angenehm, Sie hier zu sehen, Herr Präsident«, bemerkte der Graf v. Starrenberg im Kommen.
»Vor neuen, blutigen Treffen und einem Feldzug, dessen Ende gar nicht abzusehen ist!« erwiderte der Präsident; und Helene und den jungen Lotfahr erblickend, fügte er hinzu: »Ei, hier finden wir sie ja gleich beisammen« –
»Wie es Verlobten und Liebenden geziemt«, unterbrach ihn der Graf, trat vor dieselben hin und reichte ihnen nach einander die Hand.
»Meinen Glückwunsch, Fräulein von Bergen«, sagte er: »Sehr erfreut, Herr Lotfahr, Sie auf dieser Stufe des Lebens begrüßen zu können. Glück und Genie werden Sie bald an das Ziel Ihrer Wünsche bringen!«
»Wo ich mich ganz besonders der hohen Gönner und Gründer meines Glückes erinnern werde!« sagte Remi, sich vor dem Grafen fein verneigend. Indem der Präsident zu beiden trat und mit Remi und Helene eine Gruppe bildete, erschienen Lotfahr und der Junker im Gespräch.
Graf v. Starrenberg gewahrte mit Vergnügen, dass sich beide, wenn auch mit sichtlicher Reserve, gegenseitig zu verständigen schienen, ging ihnen daher entgegen und sagte mit einiger Bewegung:
»Nun, Herr Lotfahr – Sie haben Gelegenheit gehabt, sich auszusprechen … Nicht wahr? Wie in den Strom der Vergessenheit sei versunken, was eine fanatische Partei, die Scheiterhaufen braucht, unter seinen Augen – den Augen unerfahrener Jugend – verübt! … Und nun kein Wort des Trübsinns mehr!«
Er blickte mit sichtlichem Vergnügen um sich, indem er die Introduktion zu heiterer Tanzmusik hörte und sagte zu Lotfahr: »Wer sich rühmen kann, durch Wahl der Gäste wie durch Licht und Blumenzier Sie zu übertreffen, der heiße der Meister!«
Die Tanzmusik begann, und am Ausgang nach dem Garten sammelte sich eine Elite von Gästen.
»Auf!« rief jetzt der Graf: »Ich denke der Jugend zu beweisen, dass Alter und Schlachten von einem Tänzchen nicht abwendig machen! … Wo ist Ihr Töchterlein, Lotfahr? Mit Burgei, meinem schönen wilden Liebling will ich den Tanz eröffnen! Ihr Feuer wird ersetzen, was meinem Alter mangeln mag!«
Er bemerkte eine allgemeine Betroffenheit und fragte:
»Burgei nicht hier? Nicht fröhlich unter den Frohen? … Lotfahr! So betroffen? Was ist vorgefallen? … Ei, so will ich meinen Liebling selbst …«
In diesem Augenblick erhob sich aus den herzudrängenden Gästen ein Ruf der höchsten Überraschung:
»Ah! Hier ist sie!«
Die Musik verstummte. Burge, schwarz gekleidet, ein Bild des tiefsten Schmerzes, das aufgelöste Haar über Schultern und Nacken, erschien im Hintergrunde des Salons und kam durch eine Gasse, die sich bildete, langsam vorwärts.
»Die Schwester!« rief Remi mit halb erstickter Stimme.
»Gott!« seufzte Lotfahr, fast zusammensinkend.
Erstaunt und bestürzt fragte der Graf: »Was ist das?« und ging der Trauernden entgegen.
»Burgei – Kind!« – sagte er mit teilnahmsvoller Stimme: »Zu kommen im Kleide der Trauer! Mit Wangen, von Kummer gebleicht! Das Auge schwer von bitteren Tränen?«
Burgei blieb stehen, blickte eine Weile starr in die Luft und sagte dann mit dem Tone tiefsten Grames:
»Soll ich nicht trauern und weinen? … Im Huse meines Vaters überall Festschmuck und Licht, Jubel und Leben … heute … am Sterbetage meiner Mutter!«
Alles schreckte zusammen.
»Die Unglückselige!« knirschte Remi.
»Herr der Himmels!« rief der Graf und blickte vorwurfsvoll um sich. »Hat denn des Umstandes niemand sonst gedacht? Herr Rat … Herr Lotfahr! …«
Sich selbst unterbrechend und Burgeis Han teilnahmsvoll ergreifend, fuhr er fort:
»Verzeihung, mein Kind … Bei der Eile, mit der ich ins Feld gerufen wurde, wünschte ich selbst an diesem Tage noch einmal Gast in Ihrem Hause zu sein – freilich – ohne des Tages schmerzlicher Beziehung mich zu entsinnen … Es hätte eines Wortes bedurft – ich wäre dankbar gewesen für diese Aufrichtigkeit – und ich hätte meinen Abschied in aller Stille genommen … Herr Lotfahr, warum haben Sie geschwiegen?«
»Ich hab' – ich wollte …« stotterte Lotfahr in tiefster Verzweiflung.
»Nein, mein Kind«, fuhr der Graf, zu Burgei gewendet fort: »Nein, in diesem Kummer, der uns alle teilnahmsvoll bewegt, dürfen Sie nicht länger – in diesem Schmerze nicht länger verharren … Burgei, bedenken Sie, dass die Zeit ihr Recht haben will und einen Balsam bietet für jede Wunde!«
»Wohl weiß ich das«, erwiderte Burgei mit derselben schmerzlichen Ruhe wie früher: »Vielleicht hätte auch ein Gebet in einsamer Kammer – eine still vergossene Träne das Herz über die Kränkung des mütterlichen Angedenkens wegsehen lassen – wenn nichts anderes meine Seelennot vergrößert hätte …«
»Wie? Was noch?« fragte der Graf. »Reden Sie, Burgei!«
»Mein Bruder«, sagte Burgei – »von falschem Ehrgeiz fortgerissen – hat sich einer einflussreichen Verbindung willen mit einer Dame verlobt, die – ihn nicht liebt, nur aus Eigennutz heiraten und vom Altare weg einem andern treulos nachsetzen wird!«
Neue allgemeine Bewegung.
»Schwester!« brach jetzt Remi in höchster Aufregung und Wut los.
»Unerhörte Verwegenheit!« donnerte der Präsident entrüstet.
»Verruchte!« drohte Helene im Tone tiefster Bosheit und Rache.
Graf von Starrenberg aber ergriff die Hand der Burgei und sagte ernst und bewegt:
»Dies Wort wirst Du zurücknehmen, Kind … Vieles mag man einem schmerzbewegten Gemüte nachsehen – doch, was Du hier sagtest – in solcher Stunde – im Angesichte solcher Zeugen – das wird, selbst im Falle Du wahr geredet …«
»O ich weiß«, unterbrach ihn Burgei mit derselben Ruhe, »ich weiß, dass meine Art nicht von der Art dieser Welt ist … Um der Wahrheit die Ehre zu geben und meinen Bruder wirksamer als unter vier Augen vor dem Abgrund einer schmachvollen Ehe zu warnen, hab' ich geredet … O, starrt mich nicht mit drohenden tödlichen Blicken an – ich will ja Euerm Zorn und Eurer Macht nicht entfliehen, wohl wissend nach dem Spruch der heiligen Buches: Die Weisheit, wie die Wahrheit, muss sich vor ihren Kindern rechtfertigen lassen … Ich habe nur eines noch zu sagen: – das Schwerste, Bitterste, das heute meinem Vaterhause widerfahren …«
»Was ist das? … Burgei!« sagte der Graf erschüttert.
Mit heftig bewegter Brust, schwer ringend und Tränen und Schluchzen neiderkämpfend, sagte Burgei nach einer Pause:
»Nicht genug, dass der Todestag der Mutter mit festlicher Tafel und Musik begangen wird – dass mich Kummer um das Glück des Bruders niederbeugt: – unter den Gästen dieses Festes muss sich auch – der Mörder meiner Mutter befinden!«
Burgei hatte sich bei diesen Worten straff aufgerichtet und sie mit furchtbarem Nachdruck betont.
Die Gesellschaft war in höchster Bestürzung. Doch Graf Starrenberg, dem diese Nachricht keineswegs unwillkommen klang, rief mit triumphierendem Ernste:
»Wer ist der Mörder?«
»Hier steht er« – erwiderte Burgei: »Ihr Sohn – der Junker selbst! …«
Eine unbeschreibliche Bewegung entstand. Ein Teil der Gäste geriet in ein fluchtartiges Durcheinander.
»Mein Sohn?« sagte der Graf nach einer langen, furchtbaren Pause … »Ein verhängnisvolles Wort hast Du gesprochen, Kind – ein zweischneidiges Schwert gegen mein Herz hast Du gezückt … Du wirst es verantworten müssen – aber sei gewiss: hast Du die Wahrheit gesagt und kannst Du die Wahrheit beweisen – wäre der Verbrecher tausend Male mit Banden des Blutes an mein Herz gekettet – hinunter in den Abgrund der Hölle mit ihm! – Folge mir!«
Mit diesen Worten wendete sich der Graf zu seinem Sohne und verließ den Gartensalon, während die Verwirrung nach und nach sich aller Gäste des Schlosses bemächtigte …
Die Entfernung des Grafen brachte auch den Präsidenten aus seiner Erstarrung wieder zu sich. Er warf einen durchbohrenden Blick auf Lotfahr und dessen Kinder und sagte, indem er seine Tochter an sich zog:
»Das unerhörte Gebaren dieser Verwegenen hat meine Fassung gelähmt, ich finde sie wieder, um zu sagen, dass ich die Stunde verwünsche, die die Ehre meines Namens kompromittierte durch die Berührung mit diesem plebejischen Hause! … Auch ich will für eine Untersuchung sorgen, aber nicht um die Ehre meiner Tochter zu prüfen, sondern um die Verwegenheit – dieser hier (er zeigte auf Burgei) in einem Turme des Landes büßen zu lassen! … Sie aber …«, und er wendete sich an Remi – »einst der Verlobte meines Kindes – betreten sie die Residenz nicht wieder – betrachten Sie ihren Sturz als gewiss! Sie hatten uns wenigsten vor plebejischer Unbill zu schützen!«
Er entfernte sich mit seiner Tochter Helen und gab damit das Zeichen für die Gäste, in fluchtartiger Verwirrung ein Gleiches zu tun, so dass nach wenigen Minuten Salon und Garten von Menschen wie ausgefegt war; nur Lotfahr, Remi und Burgei bildeten noch eine verlassene Gruppe, aus der das Leben entwichen zu sein schien …
Remit war es zuerst, welcher, aus seiner Erstarrung erwachend, dem Zustand seines Herzens Worte lieh.
»Aus allen Hoffnungen – aus allen meinen Himmeln gestürzt!« rief er aus und geriet in rasch sich steigernde Wut: »Und durch sie – sie – die Geißel unseres Hauses, die Würgerin unseres Glückes! – O, so fahre hin, Du Abfall unseres Blutes; es gebührt Dir nichts als der Fluch Deines Bruders, den Du von der Höhe des Glückes in den Abgrund des Elends gestürzt hast … Vater – mit keinem Auge sehen Sie Ihren Sohn von Stund an wieder, wenn Sie nicht jetzt von Ihrer väterlichen Gewalt Gebrauch machen und diese Schande des Hauses mit dem Fluch von der Schwelle treiben – zum Beweise für die Welt, dass unsere Ehre nichts gemein hat mit dieser entarteten Tochter!«
Von einer unsäglichen Erschütterung hin- und hergerissen – taumelnd – fast ohne zu wissen, was er tue, sagte jetzt Lotfahr:
»Ja – hast recht – von meiner Gewalt – und so sei – sei – verstoßen mit dem Fluche Deines Vaters! …«
Dieser Fluch erweckte auch Burgei aus einer Art dumpfen Abspannung und Geistesabwesenheit – rasch belebte sich ihre Gestalt – ihr Gesicht – ihr Auge wieder, und mit höchster heroischer Begeisterung jubelte sie auf, ihre früheren Worte wiederholend:
»Märtyrerin der Wahrheit! Juble auf, Herz, und empfange die ersehnte Dornenkrone! Herbei, ihr Kränkungen und Martern – ihr Dolche und Schwerter – lächelnd drücke ich euch an meine Brust, die von der Süßigkeit der Wahrheit voll, eure Schmerzen nicht fürchtet!«
Und mit diesen Worten eilte sie von dannen – hinaus in die stille, schwüle, dunkle und einsame Nacht, ohne zu wissen, wo ihr armes, verlassenes Haupt hinlegen …