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Mit europäischen Begriffen und ästhetischen Urteilen an indische Kunst heranzugehen, würde ein großer Fehler sein. Wir müssen die Methode ihrer Beurteilung aus dem Studium dieser Kunst selbst schöpfen. Unsere Kunstwissenschaft ist noch verhältnismäßig jung. Sie hat sich zunächst nur mit Europa beschäftigt und auch da nicht gleichmäßig mit allen Gebieten, Zeiten und Ländern.
Die Erforschung der beiden großen Kulturkreise Chinas und Indiens wird noch lange Jahre eifrigen Studiums erfordern. Die bisherige Pionierarbeit einiger weniger Forscher, die fast unübersehbare Zahl indischer Baudenkmäler entwicklungsgeschichtlich zu ordnen, ist nur der erste leise Versuch, dieses große Gebiet menschlicher Kultur unserem Wissen einzugliedern. Daß Indien für einen großen Teil der Menschen immer noch das wunderbare Märchenland ist, charakterisiert die Einstellung zur indischen Kunst. Es zeigt, daß wir noch nicht imstande sind, diesen überraschenden Formenreichtum zu überschauen. Die eigene Unfähigkeit, diese erhabene und reiche Kunst zu meistern, wurde dadurch beschönigt, daß man indisches Kunstschaffen für schrankenlos und willkürlich erklärte. Nur selbstloses Sichversenken und zähes Studium vermögen uns die Erkenntnis der harmonischen Gesetze zu vermitteln, die in den Schöpfungen indischer Kunst verborgen sind.
Sehr treffend sagt Diez (Die Kunst der islamischen Völker) über die Grundlagen indischer Kunst: »Der Ausgangspunkt für eine richtige Erkenntnis der indischen Kunst und ihre Wertung ist die religiöse Weltanschauung der Inder und die alten, in den Sanskrit-Texten niedergelegten formalen Vorschriften für die drei Gebiete der bildenden Kunst. Aus der religiösen Weltanschauung wurde das gesamte Pandämonium der indischen Kunst geboren, ihre Ideen durchstrahlen und beherrschen sie bis in das ornamentale Detail. Die in den Silpasastras niedergelegten Bauvorschriften und im tibetischen Tandschur erhaltenen, zum Teil als göttliche Offenbarung überlieferten Vorschriften für die Malerei und Plastik bildeten andererseits eine formale Gesetzessammlung und feste Tradition, die eine stete Aufwärtsentwicklung innerhalb gewisser vorgeschriebener Grenzen sicherte und einer formalen Disziplinlosigkeit vorbeugte. So war die indische Kunst mit zwei Wurzeln, formal und geistig (inhaltlich), im eigenen Boden verankert und am wenigsten auf fremde Einflüsse angewiesen.«
Wir hatten vergessen, daß wir Europäer doch nur ein Teil der Menschheit sind. Erst wenn wir die Gesamtheit menschlichen Kunstschaffens übersehen und Vergleiche anstellen könnten, würden wir die Voraussetzungen einer gerechten und auf breitester Grundlage aufgebauten Beurteilung haben. Seit dem Weltkrieg haben wir in Deutschland den entscheidenden Schritt getan und sind aus unserer Einseitigkeit herausgetreten. Wir haben erkennen müssen, daß unsere Kunst und Kultur nicht deshalb besser ist als die Asiens, weil wir stärkere Waffen haben. Wenn wir einmal die gesamten Dokumente der Kunst aller Völker und Zeiten gesammelt haben, werden wir erkennen, wie sehr wir von anderen abhängig sind. Diese Bedingtheiten sind natürlich wechselseitig.
Nimmt man etwa die Zeit um 1000 n. Chr. unserer Entwicklung, so sehen wir in Europa die ersten sehr bescheidenen Anfänge der romanischen Kunst. Der indische Kulturkreis aber steht in hoher Blüte. Die großartigen Felsentempel aus dem massiven Gestein der Berge sind geschaffen, auf Java wurde schon unter der Herrschaft der Shailendras der großartigste buddhistische Tempel, der Borobudur, errichtet, später die mächtige shivaitische Tempelanlage von Lara Djonggrang. Zählreiche prachtvolle Tempel und Skulpturen sind während der Blütezeit Mittel-Javas entstanden. Das zu neuer Macht erwachte ostjavanische Reich setzt die Tradition Mittel-Javas rühmlich fort. Im Reiche Pagan in Birma werden all die vielen großartigen Stupas und Tempel errichtet, die noch heute unsere Bewunderung erregen. Im Khmer-Reich in Cambodja entstehen die großen Palastbauten von Angkor Thom. Die Schöpfungen indischer Kunst im Mutterlande wie in seinen Kulturkolonien bleiben auch späterhin den Leistungen Europas auf diesem Gebiete ebenbürtig.
In Indien finden wir, besonders in früheren Zeiten, noch keine Trennung zwischen Architektur und Plastik. Beide bedingen und ergänzen einander. Die Bauwerke der Frühzeit haben keine großen Innenräume, die buddhistischen Stupas sind ganz massiv. Die Wohnungen der Mönche in den Klöstern sind zunächst Holzbauten, später kleine schmucklose Steinzellen, und werden in den architektonischen Gesamtplan noch nicht einbezogen. Auch die würfelförmige Cella der Linga-Tempel hat nur verhältnismäßig geringe Abmessungen. Die Bauten wurden von den Architekten, die zugleich Bildhauer waren, mehr als Gesamtkunstschöpfungen behandelt, so daß die Grenzen zwischen Architektur und Bildhauerkunst verschwimmen. Wesentlich trägt dazu bei, daß die Künstler nicht durch Forderungen der Zweckbestimmung eingeengt waren. Aus den Schätzen indischer Rajas flossen reichliche Baumittel. Bestimmend war auch die unbedingte Herrschaft über das Menschenmaterial, das zur Herstellung solcher Bauten herangezogen werden konnte. Indien ist ein Land von so großem natürlichen Reichtum, daß in früheren Zeiten nur ein Teil der Bevölkerung zu arbeiten brauchte, um den Lebensunterhalt für alle zu bestreiten. Dadurch wurden große Kräfte und Energien frei, die die Voraussetzung für das Entstehen derartiger monumentaler Kunstwerke sind.
Die Architekten konnten aus dem Vollen arbeiten und sich ganz der künstlerischen Lösung ihrer Aufgabe widmen. Denn das Bauprogramm war bei Errichtung indischer Tempel – der Tempelbau war neben dem Palastbau immer die wichtigste Aufgabe – nicht so kompliziert und durch technische Notwendigkeiten festgelegt wie etwa bei unseren europäischen Domen. Da keine großen Innenräume mit riesigen Spannweiten zu überwölben waren, hat die indische Baukunst niemals den Bogen aus keilförmigen Steinen als Konstruktionselement verwandt. Dieser Bogen, der die Baumeister des Abendlandes zwang, die auftretenden Horizontalkräfte konstruktiv zu meistern, ist das treibende Element bei der Entwicklung unserer mittelalterlichen Baustile gewesen. Im Gegensatz hierzu schichteten die Inder ihre Steine nur wagerecht übereinander. Der Spitzbogen der indischen Architektur wird durch Vorkragen der horizontalen Schichten gebildet. Die hierbei auftretenden Druckkräfte wirken immer nur senkrecht im Sinne der Schwerkraft und werden leicht von der Festigkeit der tragenden Steine aufgenommen.
Das Überwuchern der ganzen architektonischen Fassaden und Innenflächen mit plastischem Schmuck, die Entfaltung reichsten Ornamentes in immer neuen Formen sind wesentliche Merkmale indischer Baukunst. Die üppige Pflanzenwelt der Tropen mit ihrem märchenhaften Zauber von Formen und Farben regte die Phantasie der Künstler zu immer neuen, herrlichen Werken an, die in einer Pracht entstanden, die Europa zunächst fremd und unverständlich war. Jahrzehnte hindurch waren diese Kunstwerke bei uns verschrien wegen ihrer »barocken Überladung«.
Nehmen wir z. B. einen Torturm reichster Formentwicklung am großen Shiva-Tempel in Madura (Taf. 63). Die Fülle der Figuren und Gesichte läßt sich kaum in Worte fassen. Verwirrt streift das Auge über die unzähligen Plastiken. Und doch sind sie alle nach einheitlichen, großen, konstruktiven Gesichtspunkten geordnet. Harmonische, nach oben konvergierende Linienbündel geben jeder einzelnen Figur ihren Platz. Die übereinandergetürmten Stockwerke verjüngen sich nach oben, und eine große geschlossene Umrißlinie verleiht dem ganzen Bau monumentale Ruhe.