Fritz Reck-Malleczewen
Phrygische Mützen
Fritz Reck-Malleczewen

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Der Tag von Saint-Denis

Im Jahre siebzehnhundertunddreiundneunzig am elften Augustmorgen, der ganz hell und rasch aus einer neblichten Nacht aufstieg, pochten um die fünfte Stunde harte Schläge an die Pforte des »grand cerf«, eines düsteren und noch aus der gothischen Zeit stammenden Hauses, das mit einer in der Front betriebenen Gastwirtschaft in den Hofgebäuden das einzige Bordell der Stadt vereinte. Ravachol, Besitzer und Leiter aller dieser gemeinnützigen Unternehmungen, schob auf das Pochen hin sein würdiges Bischofsgesicht vor das Spähfenster der eichenen Haustür und lugte mißtrauisch hinaus. Denn nach dem einundzwanzigsten Januar dieses Jahres, an welchem Tage der Bürger Capet bekanntlich seinen Kopf unter das nationale Schermesser gebeugt hatte, kam auch Ravachol zuweilen der Gedanke, daß er und sein Betrieb nicht mehr den festen Untergrund jener Staatssicherheit besäßen, die er mit vollem Recht für eine unentbehrliche Voraussetzung seiner Existenz und seines Besitzes hielt.

Er erkannte aber alsbald in dem Reiter vor der Tür den Grafen Barrentin, den Kommandanten des berühmten Regimentes »Flandern«, einen massigen Vierziger mit plumpem Bulldoggengesicht, der kein seltener Gast in Häusern vom Range des »grand cerf« zu sein pflegte.

Wiewohl nun gerade dieses Regiment an jenem 50 einundzwanzigsten Januar als zuverlässigste Truppe des Konventes den Richtplatz des Königs abgesperrt und wiewohl eben dieser Barrentin ein wenig übereilt das ehemalige Hofamt mit der Stellung eines republikanischen Offizieres vertauscht hatte, so schien doch von ihm (der nach allgemeinem Glauben ein Bastard des vorletzten Königs mit der Witwe eines verarmten und verkommenen bretonischen Adeligen war) nicht gar so Schlimmes zu befürchten. Da zudem der Graf in allerbester Laune sein Pferd an die Holzbarriere draußen gebunden hatte, so öffnete der Alte unbedenklich, in der Meinung, der Offizier werde in so früher Stunde schon von seinem Geblüte belästigt, wovon in den pariser Vorstädten allerlei muntere Anekdoten umliefen.

So raunte denn Ravachol der ältlichen Wirtin, die sich von einer einfachen Insassin des Hinterhauses zur wohlbeleibten Leiterin jenes Betriebes emporgedient hatte, ein paar Worte zu, sie solle die Dirnen wecken, die um diese Zeit noch oder schon zu schlafen pflegten. Dann erst entsicherte er einen der zahlreichen Türriegel nach dem anderen und ließ mit gemessenem Anstande den Grafen ein, der seinerseits mit leutseliger Heiterkeit den einigermaßen unsauberen Treppenraum des grand cerf betrat. Ravachol, der bei aller richtiger Einschätzung des Bordellbetriebes doch jedwede Rücksicht auf die Nachtruhe der Vorderhausgäste zu nehmen gewohnt war, wollte den Grafen behutsam nach hinten geleiten, wurde aber von seinem adeligen Gaste zurückgehalten: ohne ein Wort zu verlieren, zog der Offizier 51 ein Papier aus der Tasche, das Ravachol, peinlich überrascht, an dem Siegel als ein amtliches Schreiben der pariser Regierung erkannte. In dem winzigen Sonnenfleck, den das offengebliebene Spähfenster in das Dunkel des Treppenhauses warf, las der Hurenwirt die Verfügung des Konventes, daß an diesem Tage noch die Königsgruft von St. Denis vom Regimente Flandern zu öffnen sei, und daß man den Damen des grand cerf die Aufgabe zugedacht habe, die Königsasche an einen anderen Platz zu schaffen.

Ravachol, bei aller innerlichen Mißbilligung solcher Maßnahmen, wußte sich doch rasch in die Rolle eines Mannes zu schicken, der an seinem Teile einem Regierungsbefehle zur Ausführung zu verhelfen hatte. Er bat also den Grafen, ein wenig zu warten und begab sich rasch in das Hinterhaus, um das Wecken der schlummernden Damen zu leiten und zu beschleunigen. Während sich nun aus jener Richtung allerlei Schelten und keifendes Erwidern heiserer Frauenstimmen vernehmen ließ, setzte sich der Graf zunächst auf die unterste Stufe der Treppe, die in die oberen Gastzimmer führte. Er schloß die Augen und lauschte lächelnd diesem zornigen Protest der zu frühe geweckten Dirnen. Er erinnerte sich aus der Zeit, da er Kommandant der Conciergerie gewesen war, ähnlicher Laute: gerade so hatten in ihren schmutzigen Käfigen die ehemaligen Hofdamen gescholten, wenn Wächter oder Henker, in der Frühe sich unbemerkt wähnend, bei den Marquisen eingedrungen waren, um von ihnen allerhand Lustigkeiten zu erpressen.

52 Er begab sich schließlich, dieser angenehmen Erinnerungen voll, durch den Gang auf den engen Hof, um den in hohem Geviert die Wohnungen der Dirnen gelegen waren. Die Luft war in diesem Hof, den seit Jahrhunderten die Sonne nicht mehr erreicht hatte, so übelriechend wie möglich. Ganz hoch oben, wo die schwärzlichen Mauern ein kärgliches Himmelsquadrat freiließen, blähte im Winde sich Wäsche von den vermorschten Holzgalerieen, die in jedes Stockwerkes Höhe den Hof umliefen. Von der untersten rief ein Papagai in schmutzigem Federpelz dem Fremden ein arges Zotenwort zu; in der Ecke aber, auf dem Düngerhaufen des Bordelles, balgten sich räudige Windspiele, Modetiere einer vergangenen Zeit, die nun, wie Barrentin sich lächelnd eingestand, dem Geschmack dieser Kleinstadtdirnen entsprachen.

Das alles war ihm in der nüchternen Morgenbeleuchtung ziemlich neu, und er durchwanderte, jeder Einzelheit Beachtung schenkend, nachdenklich den Hof. Schließlich entdeckte er in einer der Mauern eine Nische mit einem bunten Marienbild, das wohl noch aus jenen Tagen hier stand, in denen das Haus anderen Zwecken gedient hatte und das Ravachol ab und zu auch jetzt noch mit ein paar Zweigen schmücken ließ. Barrentin verfehlte nicht, dem Bilde die übliche Zeremonie zu erweisen, wurde aber im Murmeln des in solchen Fällen gebräuchlichen Gebetes durch Lärm aus den Holzgalerieen und Treppen unterbrochen. Es waren die Dirnen, die durch die kühle Morgenluft inzwischen 53 munter geworden waren, und sie taten sogleich das ihre, den wartenden Gast mit den üblichen Gesten und Sprüchen ihres Gewerbes zu begrüßen. Barrentin, der, ohne sich allzuviel zu vergeben, auch diese Art des Umganges beherrschte, verfehlte denn auch nicht, ihre Grüße zu erwidern und erzwang sich bald Ruhe, indem er eine jede durch einen höllischen Witz zum Schweigen brachte. Dann übergab der Graf dem Hurenwirt das amtliche Papier, das der im Grunde doch etwas unsichere Ravachol mit überlauter Stimme seinen Damen vorlas.

Es dauerte immerhin eine Weile, bis die Dirnen den eigentlichen Sinn des Ediktes und die ihnen zugefallene Aufgabe begriffen hatten. Schließlich aber schien die letzte Morgenmüdigkeit von ihnen zu weichen, und sie begannen johlend in dem engen Hof um Barrentin einen obszönen Reigen zu tanzen. Der Graf, der als Streber der Gasse und der Revolution jedwede Pöbelgeste zu beobachten gewöhnt war, sah überrascht in diesen Gesichtern eine besondere Art wollüstiger Grausamkeit zucken, dergleichen auch er an einem Weibe bislang nicht bemerkt und die er auf keinen Fall wieder zu vergessen sich vornahm. So sah er noch eine Weile, wie die Gestalten sich um ihn drehten und wie die Hündchen, die mit Gekläff und Rockhaschen diesen Sabbath störten, von den brutalen Fußtritten der Weiber bei Seite geschleudert wurden: daß eines der gebrechlichen Tiere dröhnend gegen die Wand flog und gerade zu Barrentins Füßen mit verständnislosen und brechenden Augen liegen blieb. Der Graf drehte mit der Fußspitze den verendenden 54 kleinen Körper um, wandte sich dann rasch ab und ging aus diesem beklommenen Hof zu seinem draußen wartenden Pferde, um nicht mit den nachdrängenden Huren zusammen auf der Straße gesehn zu werden.

Er fand übrigens den nach St. Denis geführten Teil seines Regimentes bereits im Viereck um die Kirche gestellt. Es blieb da zwischen den Fronten dieser Menschenmauer und der Kathedrale selbst eine Wiese, die von vielen Faltern übersegelt war und deren Tau im Frühlicht blinkte. Jenseits dieses sommerlichen Friedens ragte das schwärzliche Gemäuer des Domes so nahe, daß man in den Fugen jedes Mörtelkorn erkannte und jeden der riesigen düsteren Blöcke wie einen überlegenen, gespenstischen Feind empfand. Das Schweigen der Leute ringsum war so tief, daß man das Summen der den Klee umspielenden Bienen hören konnte. Dabei entging es dem Grafen nicht, daß auf den an sich gleichförmigen Gesichtern der Soldaten eine seltsame Unruhe war, die sich übrigens angesichts dieser starren Mauern seiner selbst zu bemächtigen schien. Unter dieser eigentümlichen Unrast, die ihm ein Abwarten der hinter seinem Ritt zurückgebliebenen Dirnen unmöglich machte, drängte er sein Pferd dicht an die Front der Leute heran, um sich durch einige zynische Späße Erleichterung zu verschaffen. Dann fiel ihm ein, daß das Edikt des Konventes das Verscharren der Königsasche auf gemeinem, ungeweihtem Boden befahl. So ließ er denn nächst der Straße, wo die umliegenden hohen Häuser ihren Unrat ablagerten, von den Sappeuren des Regimentes eine 55 tiefe Grube ausschachten. Da sich jetzt auch das Kreischen des nachfolgenden Dirnenhaufens in den Gassen vernehmen ließ, so beschloß er, ans Werk zu gehen und selbst die Öffnung der Gruft zu unternehmen. Er begab sich also zu diesem Zweck mit zwei axtbewehrten Leuten, während hinter ihm das Menschenviereck noch immer in seiner schweigenden Unruhe verharrte, durch das große Portal in den Vorraum, der von dem eigentlichen Kirchenschiff durch ein hohes Eisengitter getrennt war. Barrentin, der in seinem nerveusen Betätigungsdrange einem der Sappeure ein Beil entrissen hatte, hieb in dem Dunkel des Raumes blindlings auf das kunstvolle Schloß ein, ohne sich der Sinnlosigkeit seines Unternehmens bewußt zu werden. In den allgemeinen Lärm, der durch das Johlen des nun angekommenen Dirnenhaufens vermehrt wurde, mischte sich plötzlich in der Nähe eine scheltende Stimme. Es war der alte Meßner des Domes, und er war vom Frühläuten aus dem Turm gekommen und versuchte nun, mit Aufbietung seines ganzen Greisenzornes den unbegreiflichen Frevel zu verhindern. Barrentin, dem die eigene Erregung die Nasenflügel zittern machte, sah dieses lächerliche Greisenantlitz, dem aus dem halbgelähmten Mundwinkel der Speichel floß, sah dieses wäßrige, ein wenig blöde Auge und mußte plötzlich an den Blick des verendenden Hundes im Hofe des Dirnenhauses denken. So ließ er in einer plötzlich wollüstig-grausamen Aufwallung, als der zeternde Alte ihn am Arme faßte, seine Faust mit voller Wucht in dieses schlotterichte Gesicht fallen, daß der Mensch wie ein leerer 56 Schlauch in sich zusammensank. Diese im offenen Portal allen sichtbare Szene und der Anblick des Blutes, das in schmalem Rinnsal die Steinstufen hinab in den weißen Wiesenklee floß, schien bei der verhaltenen Unruhe der Leute ihre Disziplin zu lockern. Gegen ihre eigentliche und ursprüngliche Weisung sprangen jetzt die Sappeure hinein, und mehr als zehn Äxte schmetterten jetzt in das gothische Schnitzwerk der das Gitter haltenden schweren Eichenbalken. In dem allgemeinen hastigen Arbeiten und dem gegenseitigen Gedräng kam es allen Anwesenden fast überraschend, daß das ganze Gitter nach innen auf die Steinfliesen des Domes niedersauste, die ihrerseits dumpf und ein wenig hohl widerdröhnten.

Im selben Augenblicke nun geschah es, daß der Dirnenhaufe, durchsetzt mit dem inzwischen angekommenen Pöbel der Vorstadt – Marktweibern, kleinen Krämern und Handwerkern – den Platz erreichte und im ersten Anrennen die Kette der Truppen durchbrach. Unter allgemeinem Johlen schlossen sich die überraschten Soldaten dem wüsten Strom an, der sich in die dunkle Stille des morgendlichen Kirchenschiffes ergoß.

Der Graf, den man im Halbdunkel nicht erkennen oder jedenfalls nicht beachten mochte, sah sich alsbald von dem hereinbrechenden Menschenschwall nach hinten geworfen, wo er sich für kurze Zeit auf den Kanzelstufen niederließ. Einen Augenblick dämmerte angesichts dieser heulenden Menschen da in ihm die Erkenntnis, daß er nicht mehr, wie im Edikte vorgesehn, der Vollstrecker dieser über die Toten verhängten Hinrichtung, 57 sondern selbst nur noch einer aus diesem brüllenden Pöbelhaufen war. Er sah, wie diese Menschen mit dem richtigen Instinkt für die richtige Stelle sich an die Öffnung des die Gewölbe deckenden Steines machten und wie es schon im nächsten Augenblicke dicht an ihm vorüber die Treppe hinabdrängte. Dann wurde als erste Beute dieses Tages ein mäßig großer Bleisarg aus dem Schacht gehoben, einer der uralten, seit einem vollen Jahrtausend hier aufbewahrten Behältnisse, das die Überreste Ludwig des Frommen oder eines der Karolinger bergen mochte.

In einem Anflug plötzlicher und ihm selbst unverständlicher Ermattung ließ Barrentin das Haupt gegen die Steinstufen sinken und sah mit halb geschlossenen Augen, wie diesem grauen und für einen heroischen König lächerlich kleinen Sarg andere der gleichen Form folgten, wie gierige Hände den Deckel abrissen und die armsäligen Gebeine unter Fußtritten über die Steinfliesen des Domes kollerten. Aber dieses eifrige und laute Treiben, dem der Graf in einer unangenehmen und drückenden Erwartung schlimmerer Dinge zusah, endete plötzlich, als dann, gehoben von den Händen der unterirdischen Arbeiter, ein mächtiger, im Geschmacke des Jahrhunderts gehaltener Sarg aus karmesinrotem silberbeschlagenem Sammt sich durch die enge Öffnung zwängte. Die Erkenntnis, daß man es hier mit einem der letzten Machthaber zu tun hatte, den mancher der Anwesenden noch mochte von Angesicht zu Angesicht gesehn haben . . . diese Erkenntnis schien plötzlich auch die 58 kreischende Menge gelähmt zu haben. Schweigend setzten die Träger ihre Last unter die Ampel mit dem ewigen Licht. Und ganz still stiegen aus der Tiefe der Gruft die Übrigen, mit ihren vom Staub der Gewölbe bizarr verschmutzten Gesichtern lächerlichen Lemuren gleichend. Die ganze Versammlung, auch die Weiber, die sich scheu und wispernd aneinander drückten, harrten stumm und ohne jeden Mut zu einer weiteren Unternehmung. In der Mitte der Menschenrunde, getrennt vom Pöbel durch einen leeren Raum, stand der Sarg.

Der Königsbastard hatte aus der häuptlings angebrachten Silberplakette erkannt, daß man es mit dem vorletzten Monarchen zu tun hatte und daß eben dieser Tote vor allen Anderen ihn anging. Er verhehlte sich nicht, daß etwas wie Angst und Ekel ihm die Kehle würgte und daß er eine bleierne Schwere in den Gliedern spürte, als er sich erhob. Immerhin bemerkte er, daß sich die Augen der Menge erwartungsvoll auf ihn gerichtet hatten, und seine pariser Erfahrungen sagten ihm, daß hier jedes Zögern zur Gefahr werden könne. So schritt er denn auf die harrenden Menschen zu und befahl barsch, den Deckel zu öffnen.

Der Leichnam da war untadelig erhalten. Das Gesicht war von einem seidenen Tuch verhüllt; und wie er im Leben getan hatte, um seinen geringen Wuchs zu verhüllen, trug auch der tote König noch jene Stöckelschuhe, in denen man ihn stets gesehn hatte. Die Menge, die sich von dem Geheimnis des Sarges befreit fühlte, drängte nun in die unmittelbare Nähe des Toten, und 59 über die brokatenen Gewänder strichen zögernd die Hände dieser Fischhändler und Korinthenkrämer. Im Gegensatz zu dieser schwätzenden und wiederum gröhlenden Menge stand der Bastard totenblaß zu Häupten des Leichnams; und immer wieder glitten ihm ganz mechanisch durchs Hirn die Worte eines historischen Kapitels, das vom Leichenbegängnisse eben dieses Königs hier berichtete, und das ihn einst als Knaben der Kapuziner hatte auswendig lernen lassen: »Zuerst folgte mit dem Dauphin der Gesandte Seiner Heiligkeit, darauf mit dem Herzog von Orleans die übrigen Prinzen königlichen Geblütes. Die Zahl der auswärtigen Gesandten, die dem Leichnam Seiner Majestät zur Gruft des heiligen Dionysos folgten, war schier unübersehbar . . .«

Über diesen Worten, die ihm seltsam laut im Ohre klangen, hatte der Graf eine kleine Weile die Nähe dieser schweißigen Soldaten und übelriechenden Kleinbürger vergessen. So weckte ihn denn ein unvorhergesehener Eingriff aus seiner Lethargie: er witterte in seiner unmittelbaren Nähe den Atem eines derben vollblütigen Menschen und fühlte dann eine feste Faust, die ihn an den Rabatten seines Rockes gefaßt hatte. Es war ein Metzgerbursche in schmieriger Schürze, der ihm durch das Geschnatter der Umgebung überlaut zurief, ob er, Barrentin, vielleicht aus Paris gekommen sei, um die Ruhe seines Herrn Vaters hier zu beschützen? Barrentin, der in Paris gesehn, wie der Pöbel einen der Henkergesellen des einundzwanzigsten Januar nur 60 deswegen in Stücke gerissen, weil er den Leichnam des Königs nach Meinung der Umstehenden allzu sanft in die armselige Sargkiste gelegt hatte . . . . er, der gewiegte Routinier der Revolution, erkannte sofort, was bei längerem Zögern hier ihm selbst geschehn konnte. Flüchtig tauchte vor seinem Auge, als er gewaltsam seinem Körper die straffe Haltung wiedergab, das Antlitz jenes Alten auf, den er vorhin mit seiner Faust zu Boden geschlagen hatte. Er fühlte die Ermattung von sich weichen und spürte wieder den Rausch des Blutes, in dem er vorhin seine Scheu betäubt hatte. So riß er hastig das Seidentuch von dem Toten, daß das Antlitz, tintenschwarz gefärbt von den balsamierenden Kräutern, vor aller Augen lag. Dann rief er mit einer überlauten und sich überschlagenden Stimme den Umstehenden zu, er halte draußen ein allerliebstes Mittel bereit, dieses schwarze Tyrannengesicht zu bleichen. Unter dem allgemeinen Halloh, das seinen Worten folgte, schwankte der Sarg, umheult von den tanzenden Huren, hinaus zum Portal, zu der Grube, die man draußen gegraben hatte. Schnell, wie man den toten König aus dem Sarge gerissen, entledigte man sich seiner Bürde: kaum daß der Leichnam in Brokatrock und Ordensband in die Grube getaumelt war, ergriff Barrentin eigenhändig eine Schaufel und schüttete von dem bereitliegenden Ätzkalk hinunter. Steine und Rasenstücke, vom Pöbel nachgesendet, deckten alsbald den letzten bunten Schimmer des Gewandes zu. Und hinab auf die Erdschicht sprangen die Bewohnerinnen des grand cerf, 61 um dort auf ihre Art einen Reigen zu tanzen, wie der Ort und die Gelegenheit ihn eingaben . . . .

Barrentin, der nach dieser gewaltsamen Überwindung aller inneren Hemmnisse sich seiner Aufgabe vollauf gewachsen fühlte, besann sich auf den Wortlaut des Ediktes und verkündete mit lauter Stimme, daß die Ehre, alle übrigen Grüfte zu säubern, ausschließlich den Damen des Bürgers Ravachol solle vorbehalten sein. Die Dirnen machten sich alsogleich allein an die Arbeit, und es ist zu bemerken, daß von diesem Augenblicke an die Szene völlig zu tierischer Wildheit ausartete. Halb beifällig und voll schweigenden Grauens halb sahen es die Übrigen, wie die gewichtigen Barocksärge von den rasenden Weibern scheinbar ohne jede Mühe an das Tageslicht gehoben wurden. Man sprengte und schändete die Gruft des heiligen Dionysos, des Schutzheiligen der Hauptstadt, man riß in der Kirche selbst noch die Toten aus den Särgen und trieb im Dunkel der Seitenschiffe obszöne Späße mit ihren verdorrten Gliedern. Und ungeheueres Lachen begrüßte den einst so unnahbaren Sonnenkönig, als seine Mumie, auf den Schultern einer baumlangen Hure reitend, zum Portal hinausgetragen wurde. Barrentin, von der Pöbelwildheit überwunden in seinen letzten Hemmungen, hatte nicht einmal den Willen mehr, diese wüsten Dinge zu verhindern. So stimmte er denn als einer der Rasendsten ein in den wilden Jubel dieser Stunde, den man in den entferntesten Bezirken der Stadt hörte.

In der großen Kalkgrube verschwand in dieser Stunde 62 alles, was fleischlich an die ruhmvollen Überlieferungen des Landes erinnerte. Richelieu verschwand in ihr und Karl der Achte, der dreizehnte Ludwig und Turenne, den man mit offenem Munde fand, wie ihn nach der Überlieferung bei Saßbach die Kanonenkugel getroffen. Ältliche Prinzessinnen verschwanden dort, deren Schoß verdorrt geblieben war in Unfruchtbarkeit, und längst vergessene Dauphinen, die niemals in Reims die Weihen empfangen hatten. Alle aber, Könige und Minister, Prinzen und berühmte Kurtisanen und Priester: alle machte die große Grube gleich und der Ätzkalk, der sie schließlich bedeckte, und die Dirnenfüße, die darüber die Erdschicht steinhart traten.

Der Letzte, der den Gang zur Grube antreten mußte, war der vierte Heinrich, und er ruhte sein buntes und wechselvolles Leben ein wenig abseits von den Anderen in einem einsamen Grabe unmittelbar unter den Fliesen der Kirche. Der Stein, der seinen Leichnam deckte, war so gewichtig, daß die Dirnen Barrentin nebst seinen Soldaten zu Hilfe rufen mußten. Als dann endlich der Tote vor ihnen lag, ergab es sich, daß er noch besser erhalten war, als die Anderen, obgleich er hier doch schon länger ruhte, als die Meisten von ihnen. Das Hemd war auf der Brust weit geöffnet, daß man beide Wunden sehn konnte, durch die einst Ravaillac diesen Lebensvollen zum Tode befördert hatte.

Barrentin, der selbst die Entfernung des Steines geleitet hatte, beugte sich über den Toten und griff neugierig nach einer Schaumünze, die der König an langer 63 Kette um den Hals trug. Es erwies sich das zierliche Ding als ein einfaches Medaillon, das nach dem Öffnen in der einen Platte das Pastellbild der Comtesse Angelika d'Ivry zeigte, jenes ersten von dem noch kindlichen Prinzen geliebten Mädchens, und ihr Andenken schien das der übrigen zahlreichen Frauen überdauert zu haben, die später seinen Weg gekreuzt hatten. Der anderen Hälfte des Kleinods aber entfiel ein Zettel, den Barrentin, auf eine Pikanterie gefaßt, hastig entfaltete. Es war ein Vers im Italienisch jener Zeit, ganz einfach, ganz ohne Anspielung, an eine verborgen gebliebene Episode vielleicht erinnernd, die nur den Toten noch bekannt war:

La zelante Angelica
Col cuo Cimbalon
Per il suo re
Vuol cantar la canzon.
        Flon! Flon!

Das las Barrentin. Zettel und daran befestigte Haarlocke ließ er achtlos auf den Boden fallen. Die Medaille steckte er in die Cartouche auf seinem Rücken, die noch immer, weil es der jungen Republik an Rüstzeug gebrach, die Initialen der Bourbonen trug.

Er ließ es lachend geschehn, daß einer der Soldaten, die sich inzwischen in den umliegenden Schenken betrunken hatten, dem Könige mit dem Messer den wohlerhaltenen Bart abschnitt und ihn mit Wachs an der eigenen Oberlippe befestigte. Mit diesem Schmuck, erklärte der Mensch, werde es ihm ein Leichtes sein, alle 64 Feinde der Nation von Frankreichs geheiligtem Boden zu schrecken.

Es entspann sich übrigens am Abend in einer der schmutzigen Vorstadtkneipen, die die Soldaten nach getaner Arbeit aufsuchten, um diese König Heinrich abgenommene Trophae eine böse Rauferei, bei der es Verwundete und Tote gab.

Barrentin selbst überkam, als um die Mittagsstunde die Gewölbe des Domes völlig geleert waren, von Neuem eine völlige Erschöpfung, über deren Ursache er sich nicht klar werden konnte.

Er überwand aber schließlich auch diesen peinlichen Zustand in einer jener Orgien, die ihm später als Kommandanten der pariser Frauengefängnisse einiges Ansehn verschafften. Es lag übrigens nahe, daß er dieses Mal dem grand cerf den Vorzug vor den übrigen Kneipen der Stadt gab. Und es geschah bei dieser Gelegenheit, daß er eben jener Dirne, die auf ihren Schultern die Mumie des Sonnenkönigs zur Grube getragen hatte, die Medaille König Heinrichs schenkte.

Man sah noch am nächsten Tage die zwei oder drei namenlosen Kinder des Hauses mit dem Medaillon spielen, bis es im Unrat des dunklen Hofes für immer verschwand.

 


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