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Einerseits dem Andenken des am 18. März 1848 auf den Barrikaden
gefallenen Regierungsreferendarius Gustav v. Lenski,
andererseits aber dem deutschen Dichter
Hermann Horn gewidmet
Friedrich Willem unser Keenich, unser gute Keenich, gute Keenich
Zahlt zwei Groschen, zahlt zwei gute Groschen
Is 'n bissel weenich, bissel weenich . . .
(Alter Querpfeifermarsch des pommerschen Königsgrenadierregimentes)
Immer, wenn ich Euch besuche, immer ists dann später Herbst. Die große Stadt ringsum mit ihrer ewigen Jagd nach Futter und Liebe, diese Stadt, die sich so viel amerikanischer gebärdet, wie Amerika selbst . . . sie ist dann weit fort, diese Stadt. Nebel trennt den Friederichshain von ihrer imposanten Häßlichkeit und ihrem Lärm . . . ganz fern das Tosen . . . graurotes Schleierlicht ringsum . . . vom nahen Krankenhaus gleitet geräuschlos der Totenwagen . . . unwirklich, wie eine Fahrt zum Styx. Und der Fuß watet tief in nassem Herbstlaub, es riecht modrig und überlebt, Sprühregen fällt auf die kleinen Grabsteine . . . es ist alles schon sehr lange her.
Die Eisentafel des Schlossers Frankenberg, der am Alexanderplatz fiel, ist nun schon ganz zerfressen vom Rost . . . der Tischler Matou von der berühmten Barrikade in der Breiten Straße schläft unter einem schier schon versunkenen Grabstein, und von dem Studenten Lewin Weiß aus Danzig, den vor d'Heureuse die Kartätsche niederwarf, wird nun auch bald die allerletzte Erdenspur getilgt sein. Da ist auch Herr Hermann 68 v. Holtzendorff, dessen Sarg so reich bekränzt war, als sie ihn hier in die Erde senkten, und da sind die vielen Namenlosen, die nie Erkannten . . . und um jeden hat einmal ein beraubtes Menschenweib geweint.
Und da endlich an der Ecke der Erste, junkerlicher Ahn, bist Du. Und Du bists, um dessenwillen ich immer hierher komme. Ach, wo sind sie hin, die Frauen, die Dir zujubelten, als Du, ein verzückter Freiheitsheld, auf der Barrikade standest, vom Hut die lange Feder wehn und den Degen blitzen ließest für eine . . . ach so bürgerliche Freiheit, die einst mit der Erklärung der Menschenrechte begonnen hatte und nun mit dem Recht der zwanzigtausend Livres Rente geendet ist. Und wenn die, die jährlich nun auch Dein Grab mit ihren roten Schleifen schmücken, wenn sie sich auch wundern mögen, wie Du, Sproß uralter Geschlechter, unter die grauen Maschinenmenschen bist zu liegen gekommen . . . war es nicht immer adeliges Vorrecht, alleweil in der Opposition zu sein? Und wenn ich auch nie Dein Antlitz gesehn habe, und wenn nur das Metallbildchen hier, das nun auch schon verbleichende, von Deiner umschimmerten Schönheit erzählt . . . sind wir nicht eines Blutes? Sind wir nicht eines Schicksales . . . bestimmt, immer gegen den Strom zu schwimmen, immer bei den schwächeren Bataillonen zu sein? Gebar uns nicht die gleiche, die menschenarme und götterreiche Ebene des Ostens . . . darf ich von den heimatlichen Wäldern Dich nicht grüßen, durch deren goldenes Laub jauchzend mein Jagdhorn nun klingt?
69 Und wenn auch Deine Stimme aus dem, was sonst von Dir geblieben ist, noch so laut klingt, so mag ich doch von Deinem jählings abgebrochenen Leben den Schleier nicht allzuweit fortziehn; und mag mit so ernsthaften Dingen nicht umgehn und nur die Geschichte jenes Tierarztes Urban erzählen, der in jenen Tagen an Deiner Seite ging und auch ein großer deutscher Freiheitsheld war und dann doch seinen Regenschirm auf der Barrikade stehn ließ . . .
Ja, aber zuvor ist zu berichten, daß jener heute schon ein wenig sagenhafte siebenzehnte März achtzehnhundertundachtundvierzig einer jener Tage war, wie sie die Polizeimeister revoltierender Städte zur Verzweiflung bringen können mit ihrem strahlenden Wetter. Denn vom Kreuzberg bis zu den putzigen Teleskopschornsteinen der borsigschen Fabrik war die ganze Stadt in warme Frühlingssonne gebadet und ließ die patinierten Kupferdächer der Kirchtürme giftgrün an einem atlasblauen Himmel erstrahlen und hatte mit dem Frühling alles geweckt, was in dieser murrenden großen Stadt im Winterschlaf gelegen hatte. In der Breiten Straße, am Lustgarten, am Werderschen Markte hatten sich heute ganz entschieden mehr Menschen angesammelt, als es dem Herrn Polizeipräsidenten von Minutoli recht sein konnte, und was nicht in den Zelten oder bei d'Heureuse politisierte, das hatte sich um die Volkredner versammelt, die von den Ecksteinen, von den Gaskandelabern und sogar von dem Sockel des Großen Kurfürsten herab sprachen und ganz genau wußten, daß die Hungersnot 70 in Schlesien nur auf die Knebelung der Presse und die Übergriffe des Bezirkszensors Piper und die Anmaßung des Militärs zurückzuführen sei. Und wer ganz fanatisch und radikal war, der begab sich vor die »Neue Wache« und gaffte die Blutspuren der gestrigen Toten an und drohte zu den Füsilieren hinüber, die hochmütig, als ginge sie das alles nichts an, auf ihren Posten standen. Ja, und dann ging man doch ganz gemütlich hinterher zu den Konzerten des Kapellmeisters Joseph Gungl in Sommers Salon oder in Östs Affentheater oder gar in Frechons anatomisch-mechanisches Kabinet, wo die berühmte Vaucansonsche Ente mit den Flügeln schlug und fraß und trank und sogar, worauf man viel Wert legte, sichtbarlich verdaute . . . alles, obwohl sie nur aus Blech gemacht war.
Trotz dieses ganzen bunten Lebens war in seiner Wohnung an der Königstraße . . . drei Stuben und ein durch die Nachbarmauer verdunkelter Alkoven . . . der Tierarzt erster Klasse Paul Urban erst um vier Uhr vom Mittagsschlaf erwacht, gähnte laut und nicht unmelodisch, strich sich den unendlich langen, bis zum Nabel reichenden Vollbart zurecht, fuhr in die heruntergetretenen Morgenschuhe und begab sich dann zum Kaffetisch. Fünf Kinder – die jüngsten noch auf sehr hohen und mit allen Bequemlichkeiten ausgestatteten Stühlen – saßen um den Tisch herum, tauchten die Finger in Milchnäpfe, überzogen das vorsorgliche Wachstuch mit einem phantastischen Netz von Milchbahnen und gerieten schließlich, als sich diese Systeme gegenseitig zu 71 stören begannen, in einen laut schallenden Streit, den der heranschlurfende Tierarzt dann mit zwei kräftigen Ohrfeigen schlichtete. Ohngeachtet des sich erhebenden Geheules legte er die Vossische Zeitung auf den Tisch, mitten in die Marskanäle aus Milch hinein, hob in regelmäßigen Abständen die ungeheuere, ausschließlich für seinen Gebrauch reservierte Barttasse an den Mund und schlürfte laut und vernehmlich den Eichelkaffe, dem er aus nationalen Gründen wegen des ihn produzierenden Baumes vor dem »welschen Gift« den Vorzug gab. »Sapristi« sagte der Tierarzt auf die Annoncen starrend »schau, da haben sie schon wieder die Kanasterpreise erhöht!«
In diesem Augenblicke ließ in der Vorderstube die Tierärztin sich hören. »Urban!« rief es »Du bist noch immer hier! Trinkst Deinen Kaffe um vier Uhr und läßt Praxis Praxis sein und Deine Kinder darben! Wie steht es mit Oberst von Prillwitz piphakigem Pferd? Und hat die Kommissionsrätin Zitelmann nicht heute schon zum zweiten Male nach Dir geschickt, wo doch ihr Kanarienvogel einen blauen Bauch hat?«
»Weib« donnerte der Tierarzt erster Klasse »geht es um Prillwitzens piphakigen Gaul oder den Kanarienvogel der Kommissionsrätin Zitelmann sammt seinem blauen Bauch? Da – sieh her! Schon wieder haben sie die Preise für holländischen Kanaster erhöht! Wie? Das ist nichts? Soll das Pfeifchen des armen Mannes erkalten? Soll wieder einmal das Volk . . .«
Hier unterbrach den Tierarzt ein merkwürdiger, durch 72 das offene Fenster kommender Lärm. Er kam entschieden von der Straße herauf, er näherte sich von der Königsbrücke her, es war das Schreien und Johlen einer großen Menschenmenge, die sich über irgend etwas Ungeheuerliches erregte. An das Fenster schießend, sah Urban an der Ecke der Jüdengasse einen schwarzen Menschenpfropf, tausend erhobene Hände, die ein angstvoll sich an die Mauer drückendes uniformiertes Wesen bedrohten. Das johlte immer lauter, schrie auf den armen Kerl ein, der mit zerrissener Montur und baren Hauptes eine schwarze Ledertasche vor den Fäusten des Pöbels zu decken suchte. Der Tierarzt lief, ohne ein Wort zu verlieren, zu dem großen Wandspiegel, nahm unter dem Glassturz die tellergroße dreifarbige Kokarde hervor, steckte sie an die Rockrabatte, schob, um das Abzeichen sichtbar zu machen, den ungeheueren Bart zur Seite. »Ja, Kinder, ich komme schon« rief er den halbwüchsigen Jungen zu, die unmittelbar unter seinen Fenstern standen. Was als Antwort herauf kam, war eigentlich eine ziemlich respektlose, im Volkston gehaltene Aufforderung, er solle nur getrost oben bleiben. Der Tierarzt aber, der sich im Wahne seiner Popularität absolut nicht stören ließ, wandte sich hastig der friedlichen Kaffestube zu. »Weib!« brüllte Urban »meine Filzstiefel!« Frau Urban, gehorsam sie herbeibringend, sah nicht ohne stille Bewunderung den Gatten in die ungeheueren Kanonen fahren. »Vorwärts!« schrie der Tierarzt und donnerte die Treppe hinab. –
Ja, man konnte nicht läugnen, daß aus der 73 Königstraße der Teufel los war. Studenten, Maschinenbauer in langen Staubhemden, Handwerker und Weiber mit Kindern auf dem Arm und Elegants mit pariser Zylindern neusten Typs . . . alles lief an Urban vorbei, stolperte in der Hast übereinander, sagte sich im Aufstehn herzliche aber entschiedene berliner Verbindlichkeiten und drängte an den Menschenwall heran, der dort an der Ecke der Jüdengasse den unglückseligen Uniformträger umringte. Wohlmeinende Bürger schwangen in ihrer Eigenschaft als gewählte Ordnungsmänner das Abzeichen ihrer Würde . . . Jene weißen Stäbe, über die sich damals das halbe Europa mokierte . . . zwischen all dem Johlen ließ sich ab und zu die klägliche Stimme des bedrängten kleinen Kerls vernehmen, man möge ihn um Gottes willen nicht töten, er habe ja nur seine Pflicht getan. Und dann wieder überbrüllte ein vollblütiger Metzger, die Schürze vor dem Bauch, alles Toben: er kenne den Mann da ganz genau, es sei ein königlicher Beamter und zudem habe er schon seit Jahren von ihm seine prima hausgeschlachtete Leberwurst bezogen und seine Rechnungen immer pünktlich bezahlt.
Urban, in seinen gewaltigen Filzstiefeln unter den anzüglichen Witzen der ihn begleitenden Fabriklehrlinge auf die Menge zustolpernd, sah sich plötzlich von einem baumlangen jungen Menschen überholt, der unter seinem wallenden Federhut an ihm vorüberhastete. »Lenski!« schrie der Tierarzt »Referendarius! Was ist los? Was bewegt das Volk?« Und er hielt den Davoneilenden am Arm fest.
74 Lenski drehte ihm das atemlose, noch knabenhaft junge Gesicht zu: »Doctor . . . schnell . . . Verrat . . . ein Kurier des Königs an den Zaren . . . Verrat am Volke . . .«
Und in seinem Ungestüm hatte er denn auch schon richtig die dicke Menschenmauer durchbrochen, hatte den ihm buchstäblich am Schoße seines Spenzers hängenden Tierarzt nach sich gezogen und tatsächlich gab man bereitwillig dem schönen jungen Menschen Platz, bis er, immer mit der Last des keuchenden Urban behaftet, vor dem bedrängten Manne dort in der Mitte stand. Der hatte sich, die Ledertasche zwischen die zitternden Beine geklemmt, in das rettende Hausportal gedrückt, ließ in dem zerschundenen und von allerlei Mißhandlungen zeugenden Gesicht die kleinen Augen wie ein Vogel umherschweifen, nach dem die offene Hand sich ausstreckt. Ein vierschrötiger Brauknecht von Josty hielt ihn am Genick und schrie zum zehnten Male, wie er ihn nebst seiner Depesche noch rechtzeitig in der Landsberger Straße erwischt habe – ja, hier sei sie, diese infame königliche Depesche, die den russischen Kaiser zu Hilfe riefe gegen das für seine Freiheit kämpfende Berlin. Und er hatte richtig dem jammernden, kleinen Mann die Tasche entrissen und schwenkte das Papier in der Luft. Ja, es half dem kleinen Courier durchaus nichts, daß er immer wieder versicherte, wie er um Amt und Brot käme, wenn die Depesche verloren ginge und daß er sieben lebende Kinder habe, und übrigens sei die Depesche nur vom Hofmarschallamt 75 und er habe sie als erstes Glied der Estafette ja doch nur mit der Bahn bis Frankfurt befördern sollen. Nein, sie halfen ihm garnichts, diese Versicherungen, und die Weiber schrieen, man kenne derlei Schliche und Kaufmann Bendix versicherte mit lautschallender Stimme, er kenne ganz genau den Aufmarschplan der russischen Armee und in Polen stünden allein zehn Armeekorps, um über Berlin herzufallen. Und wenn auch Pelzhändler Semrau meinte, das sei lange nicht genug, um den Löwenmut dieser Stadt hier zu brechen, so gab es doch erneutes Verratgeschrei und nicht mehr mißzuverstehende Drohungen für den kleinen Kerl. Aber da pflanzte sich Lenski in seiner ganzen Länge vor dem armen Menschen auf, und wie er seine helle Stimme über die Straße schallen ließ, wurde es ganz stille mit einem Male.
Ja, er lege es den Volksgenossen dringend ans Herz, daß der Mann doch nur ein armer Schächer sei und seine Pflicht getan habe und daß es unwürdig sei, des Volkes Sache mit dem Blute eines unschuldigen Menschen zu beflecken. Und wenn ihm auch eine schlampige Megäre ins Gesicht geiferte, er selbst sei ein Tyrannenknecht und man könne hier keine Regierungsreferendariusse gebrauchen, so gab es doch plötzlich ein allseitiges Hoch auf den Referendarius von Lenski und man flüsterte sich zu, das sei derselbe junge ostpreußische Edelmann, der wegen demagogischer Umtriebe vom König schon einmal eingesperrt worden sei und der erst kürzlich in den Zeiten vor den letzten Volksversammlungen geredet habe. Und in all der plötzlichen 76 Begeisterung für einen schönen jungen Menschen entwischte der unglückselige Kurier zwischen den Beinen der Menge und stahl sich um die Ecke der Jüdengasse davon.
Aber da eben, als Lenski die Depesche mit dem königlichen Siegel an sich nahm, um sie feierlich in Anwesenheit des Volkes aufzubrechen, da eben war es der Tierarzt Urban, der zuerst würdevoll über seinen Bart strich und dann seine Stimme erhob und sich gegen das Öffnen der Depesche erklärte. Nein, ganz und gar nicht ginge es an, daß man sich einer ungesetzlichen und dazu noch undeutschen Handlung schuldig mache und ohne behördliche Genehmigung sich in ein Geheimnis eindränge! Ja, er als reifer Mann könne ja wohl den Eifer seines lieben jungen Freundes Lenski begreifen, aber bürgerliche Zucht müsse auch in der Revolution obwalten und er für sein Teil mache den Vorschlag, eine Deputation an den Herrn Polizeipräsidenten von Minutoli, der ja das allgemeine Volksvertrauen wohl verdiene, zu senden, und dann solle man anfragen, ob der König die Öffnung seiner an den russischen Hof gerichteten Depesche erlaube . . .
Ja, da nützte es absolut nichts, daß Lenski kirschrot wurde vor Zorn und erklärte, man könne mit Deputationen keine Revolution machen und inzwischen werde der König eben eine zweite Geheimdepesche expedieren. Und es nützte auch nicht, daß die borsigschen Maschinenbauer Bravo dazu schrieen und meinten, es sei endlich einmal genug mit Deputationen und Ordnung und Volksvertrauen. Vielleicht war es die schöne solide Geste, mit der 77 Urban über den Vollbart strich, vielleicht war es dieser ungeheuere Bart selbst und vielleicht auch die schönen warmen Filzstiefel, die dem Tierarzt das Vertrauen der Menge sicherten: im Nu hatte er einen »Mehrheitsbeschluß der verehrten Versammlung über seinen Vorschlag« beantragt und »konstatierte gleich darauf die Annahme durch Akklamation« und erbat und erhielt den Auftrag, sich mit zwei Vertrauensleuten zum Polizeipräsidenten von Minutoli zu begeben und bat schließlich mit wohltönender Stimme, man solle doch den Bescheid heute abend in dem Tiergartenzelt erwarten, wo sich ja so wie so heute alle freiheitlich Gesinnten versammeln wollten.
Und plötzlich war alles voller Ehrfurcht vor dem königlichen Siegel, und plötzlich erklärte alles mit scheelem Seitenblick auf den Referendarius von Lenski, daß man so junge Herren überhaupt nicht solle in öffentliche Angelegenheiten hineinreden lassen. Und dann nahm der Tierarzt dem wütend sich abdrehenden Lenski die Depesche ab, und man sah ihn, von zwei zylinderbewehrten Bürgern begleitet, dem Schlosse zustampfen.
Die Menge, von der Parole »Nach den Zelten« und Aussicht auf Jostybier und Küchengeruch animiert, schob sich langsam über die Lange Brücke auf den Schloßplatz und was sich nicht noch unterwegs in Roschs Restauration an der Poststraße von der Erregung über die landesverräterische Depesche ein wenig erholte, das stolzierte gravitätisch, die Ehefrauen an der Hand, durch die 78 Linden nach dem Tiergarten. Bei Lenski blieben nur ein paar junge Arbeiter und streckten ihm die Hände entgegen: sie hätten noch unter dem Herrn Leutnant gedient als er noch bei den Maikäfern gestanden . . . Jawohl, und er wisse ja selbst, daß es nun bald anders zugehn werde, als so mit Mehrheitsbeschluß und Verhandlungen im Schloß, und überhaupt solle man dem ollen Ölkopp da eine Nachtmütze aufsetzen. Sie wiesen nach dem Tierarzt, dessen hochragende Gestalt eben auf der Brücke verschwand.
Und verdrossen und einsam begann Lenski hinter der Menge zu schlendern, den stilleren Weg an dem Spreeflügel des Schlosses entlang. Das Licht war nun schon im Sinken, die Masse des uralten Baues lag, von einzelnen höchst vereinsamten Fensterlichtern unterbrochen, blauschwarz und schwer auf dem trägen Wasser. Über den kleinen Stromtreppen die engen Hinterpforten brüteten über mittelalterlichen Geheimnissen von abgelegten Courtisanen und unliebsamen Höflingen, die man dort mit gefesselten Gliedern, den Stein an den Füßen, hinausgestoßen haben mochte in das schwarze Wasser . . . der Morast unten schwieg ewig. Trotz der nun verschwundenen Sonne war die Luft noch immer warm . . . die erste süße, schwere Frühlingsluft. Hinter ihm ritt der große Kurfürst, ein gespenstischer Ritter, hoch über den Häuptern dieser Menschen, die dichtgedrängt dem Platze sich zuschoben, stumm lauschend um die Neuigkeitserzähler sich scharten und doch alle im Geheimen irgendwie erzitterten unter den ungeheuerlichen 79 Dingen, die in dieser süßen melancholischen Luft sich bargen – unfaßbar, unabänderlich. Und plötzlich hatte eine unerklärliche Schwermut des jungen Mannes sich bemächtigt, und plötzlich schienen ihm diese dunklen Menschenmassen seltsam erstarrt und marionettenhaft mit dem unverständlichen Brausen ihrer vielfältigen Stimmchöre, und plötzlich war es ihm, als wandere er ganz einsam durch ungeheuere Räume und schwarze, dicht geballte Larven begleiteten seinen Weg.
Und da war es urplötzlich eine heiße Sehnsucht, aus dieser fremden Stadt heraus nach der fernen östlichen Heimat . . . der See hinter dem Parkausschnitt und graurote Ellernstämme im abendlichen Frühlingslicht, und der erste Schnepfenstrich und die Geborgenheit der eigenen Erde . . . Ja, und dann doch wieder das Wandern mit diesen schwarzen Larven durch die weite, weite Unendlichkeit und die Angst vor ungeheuren Räumen, in denen das Leben sich auflöste. Und plötzlich, als er um die Ecke biegend, den alten Renaissancebau mit den Pappeln umwanderte, kam ihm so die Gewißheit, daß er die Heimat nicht wiedersehn, daß er aufgesogen werde von dieser großen, fremden Stadt . . . bald . . . heute Nacht . . . morgen vielleicht . . .
In seinem Sinnen ging er weiter, sah die gigantische Westfront des Schlosses zu seiner Linken, die langen Reihen der erleuchteten Fenster schimmerten wie schöne Diademe, man sah geschäftige Schatten hinter den hellen Vorhängen sich bewegen. Waffen blitzten in dem offenen Portal, man sah Dragonerpatrouillen vornübergebeugt 80 in den Hof galoppieren. Hier aber im Lustgarten leuchteten die Gewehrpyramiden der biwakierenden Garde, die Leute, in dunklen Massen hingelagert, ruhten auf den Tornistern. Lenski blieb einen Augenblick stehn: die gelben Achselklappen . . . sein altes Regiment; und dort in dem Licht des Gaskandelabers eine wohlbekannte Gestalt, ein vertrautes Gesicht – Eulenburg, sein Landsmann und Regimentskamerad von ehedem, in einen unwahrscheinlich eleganten Waffenrock gepreßt, hochmütig die jenseits der Postenkette stehenden, die Wachen hänselnden Berliner musternd. Lenski ging in nächster Nähe des Offiziers vorbei – beide sahen eine Sekunde lang sich ins Gesicht, keiner entschloß sich zum Gruß – der Offizier drehte sich plötzlich brüsk ab.
Irgend eine Bitternis zuckte in Lenski auf. Was tat er, daß der Standesgenosse ihn verleugnete? Nur, daß er aus seiner Abneigung gegen diesen König keinen Hehl machte? Ah, dieser armselige König da oben hinter seinen Fenstern, den die ausländischen Witzblätter mit der Champagnerflasche im Rockschoß karrikierten . . . diese ganzen Hohenzollern, die man daheim in unergründlichem ostpreußischem Hochmut heute noch »die Nürnberger« nannte! Einem Lenski hatten sie vor hundertundfünfzig Jahren den Kopf abgeschlagen, weil er auf seine Herrenrechte gepocht hatte . . . man lachte daheim über diese brandenburgischen Familien, die sich wie Lakaien unterworfen hatten. War es wirklich so entehrend, daß er, ein ostpreußischer Edelmann, sich widersetzte? Nun, in Gottes Namen dafür sterben . . . 81 nein, nein, für dieses tüchtige kluge und liebenswerte Volk . . . in Gottes Namen, ja doch, ja!
Er bog mit festem Schritt in die Linden ein und wanderte weiter durch die mondhelle Nacht, von seiner Melancholie plötzlich befreit. In dem helleren Lichte der Straße war von der Menge das Spukhafte gewichen, und er lächelte über die beißenden berliner Witze, mit denen junge Handwerker vor dem Palais des Prinzen von Preußen die Posten neckten. Weiter nach dem Tor zu, an der Ecke der Friederichstraße, verbrannte man eine Strohpuppe mit gewaltigem Zweispitz, Metternich darstellend, dessen Rücktritt die Zeitungen gemeldet hatten; und am Pariser Platz hatte man sogar – eine offensichtliche Verhöhnung des Königstums – einem schwarzen Schnurenpudel eine Goldkrone ins Haar gebunden, daß das verängstete Tier unter allgemeinem Gelächter durch die johlende Menge galoppierte.
Im Tiergarten freilich war man weniger belustigt. Überall auf den Wegen, in den Büschen sogar drängte es sich . . . bis zum Zelt hin war alles voller erregter Menschen. Und wenn die einen wußten, daß der König in der abgefangenen Depesche um drei russische Armeekorps gebeten habe, so wußte Kaufmann Gubitz, polnischer Hopfen en gros, zu erzählen, daß er erst in der vorigen Woche drüben in Polen, in Kalisch gewesen sei, und da habe er genau beobachtet, daß die russischen Husaren jetzt beritten seien und Pferde hätten, was nach seiner Ansicht ganz bestimmt auf einen Krieg deute, da die Pferde in normalen Zeiten von den Offizieren immer 82 an die Juden versetzt würden. Und da das entschieden noch nicht genügte, so wußte die Fischhändlerin Plunze vom Stralauer Ufer zu berichten, an der Stadtvoigtei sei der ewige Jude gesichtet worden und habe für morgen den jüngsten Tag verkündet – eine Erzählung, die von wohlmeinenden Bürgern aber dann doch als zu weit gehend und eines aufgeklärten Jahrhunderts unwürdig bezeichnet und zudem von dem Kleiderhändler Tartakower widerlegt wurde; der ewige Jude, das sei kein anderer gewesen, als sein meschuggener Konkurrent Lubliner . . . und wenn dessen Firma auch schon zwanzig Jahre bestehe, so brauche er sich deswegen noch lange nicht einbilden, daß er der ewige Jude sei. Ja, und wenn man also auch hier und da noch bei seinem guten berliner Humor war, so war es doch so etwas wie Galgenhumor und diese ganze mit Weibern und sogar mit Kinderwagen hingelagerte Versammlung brodelte wie ein überhitzter Dampfkessel. Man hielt Lenski am Rockschoß fest . . . man wollte wissen, wie die Entscheidung über die Depesche ausgefallen sei. Vorn, wo er als Redner der letzten Zeltversammlungen bekannt war, begrüßten ihn junge Arbeiter und Studenten, man nannte seinen Namen, trug ihn schließlich auf den Schultern hinein – ach ja, es tat gut, so umjubelt zu werden. Aber eben, als er von seinem Triumphsitz herab danken und sagen wollte, wie er sich unwürdig solches begeisterten Empfanges fühle . . . da eben sah er ein paar spöttische Augen auf sich gerichtet.
Er glitt, plötzlich errötend, hinab, stahl sich durch die 83 Menge seiner Bewunderer sehr rasch fort zu dem Menschen da, dessen Blick er eben gefühlt hatte. »Kleist? Und im Frack hier?«
Der Andere gähnte leicht: Ja, mein Sohn, im Frack. Ihr geht auf die Barrikade, und ich ziehe es vor, nachher zu Kroll tanzen zu gehn. Und wer kann wissen, ob es dann bei Kroll sein Bewenden hat. ›Weh denen, die Unzucht treiben mit des Volkes Töchtern.‹ Nun wo bleibt Deine Philippika, Volkstribun?«
Lenski runzelte die schöne, ein wenig zu niedere Stirn: »Eine Depesche des Königs an den Zaren, und Du . . .«
»Ach gewiß, und Ihr habt um Erlaubnis gefragt, ob Ihr sie öffnen dürft. Ja mein Lieber, wenn die Deutschen Revolution machen, brauchen sie dazu einen von der zu stürzenden Regierung beglaubigten Feldwebel als Führer.«
Lenski fuhr auf: »Menagiere Dich gefälligst mit Deinem Spott. Das Volk . . .«
»Das Volk der Dichter und Denker macht überhaupt keine Revolution, sondern Gedichte. Dieses hier zum Beispiel . . .« Und er zog die Vossische Zeitung vor und las mit Emphase von dem letzten Blatt:
»Ach weh, mein deutsches Vaterland
Wie blutest Du so sehr.
Oh schlinge fest ein Liebesband
Um Deine Schlesier.
Sieh her: dreitausend Waisen stehn
In kläglicher Gestalt!
Laß nicht umsonst den Ruf verwehn:
»Zucht! Brot! Kleid! Unterhalt!«
84 Ein paar polnische Studenten, die zugehört hatten, lachten unter den Konfederatkas. Lenski war unmutig aufgesprungen, warf, schön wie ein erzürnter Gott, das Haupt mit den langen Haaren in den Nacken: »Bist ein Deutscher, Kleist? Der König konspiriert mit dem Zaren, und Du . . .«
»Mit dem Zaren? Friederich Willem unser gute König? Nein, mein Lieber, wenn er überhaupt konspiriert, so konspiriert er mit Tante Jettchen aus Pillkupönen, will sagen mit Tante Henriette Kleist. Daß er sich Sommer für Sommer dort an ostpreußischem Idyll, Metwurst und kleistischer Loyalität erquickt, weißt Du. Was Du nicht weißt, ist, daß sie ihm im letzten Jahr in unwandelbarem kleistischen Patriotismus einen Sorgenstuhl hat bauen lassen, einen Ferientron gewissermaßen, mit einem verborgenen Musikwerk darinnen. Sinkt nun die Majestät in die Kissen, so erklingt es unter seinem Sitz: »Heil Dir im Siegerkranz«. Sieh, solch trefflicher Monarch, und gegen solche Untertanen mit dem Zaren konspirieren?«
Und nun mußte auch Lenski, der die tausend über die alte Dame und ihren Verkehr mit dem König kursierenden Anekdoten kannte, lachen. Der Andere blieb hartnäckig: »Wen habt ihr denn abgeschickt?«
»Urban.«
»Urban? Tierarzt erster Klasse?«
»Du kennst ihn?«
Da brach der Andere in helles Lachen aus, daß die ganze erwartungsvolle Versammlung unmutig sich nach 85 ihm umsah. Ein leise bezechter Handwerksmeister, dessen Temperament nur mit Mühe von der mitgebrachten Ehefrau gebändigt wurde, kam mit unsicheren Schritten an den Tisch und fragte, ob der Herr etwa über ihn lache; ja, und wenn das so wäre, so würde er . . .
Mit dieser Drohung wurde er fortgezogen. Kleist zog unverdrossen wiederum die Vossische Zeitung vor. Hinten, wo zwischen den Annoncen des »Olympischen Zirkus« von Renz und den patentierten Westen von Sommerfeld patriotische Bürger in gebundener und ungebundener Rede ihre Gefühle über die Ereignisse des Tages ablagerten, waren folgende Verse zu lesen:
»Wo ein Mann wie Karl der Große
Über Deutschland hält Gericht . . .
Friederich Wilhelm, zweifele fürder
An der eigenen Größe nicht.«
Für viele wohlmeinende Bürger:
Urban, Tierarzt erster Klasse.
Aber Kleist kam nicht dazu, seinen neuen Triumph auszukosten. Im selben Augenblick kam ein zerlumpter Bursche in das mit Tabaksqualm und Biergeruch angefüllte Lokal gerast: die Deputation käme soeben zurück und sie sei schon im Tiergarten und der Polizeipräsident selbst sei dabei. Und plötzlich hatten alle diese um Bayrisch Bier und Bockwürste versammelten Bürger Bier, Abendessen und Ehefrauen vergessen, man sprang auf die Stühle, goß volle Biergläser auf nagelneue Moireekleider und stürzte sogar die mitgebrachten Kinderwagen um. »Die Depesche . . . die Depesche . . .«
86 Inmitten einer Eskorte von kokardenbehafteten Männern wurde die Deputation sichtbar, und Urban schob seinen stattlichen Bauch wie einen Eisbrecher durch das Volk. Unmittelbar hinter ihm aber marschierte im Staatsfrack und mit einer Ordensfülle, in der nur noch der Sirius und der Polarstern fehlten, ein kleiner bebrillter Herr, und wer ganz scharf hinsah, der konnte wohl erkennen, daß sein bartloses Gesicht mit den kleinen Äuglein die Versammlung mit unverhohlener Mokanterie musterte.
»Die Depesche . . . hoch unser verehrter Herr Polizeipräsident von Minutoli . . .«
Da saß der Herr von Minutoli, der von einer Königsaudienz so ohne weiteres mitten in die Revolution hineinmarschiert war, schon auf den Schultern und begrüßte von dort oben mit schelmischen Äuglein hinter der Brille hervorfunkelnd Kleist. Und dann donnerte der Tierarzt Urban und gebot Ruhe und verkündete, daß Se. Majestät allergnädigst geruht habe, die Öffnung der Depesche zu gestatten. Und wenn auch allerlei zweifelhafte Gestalten dazwischen schrieen, der König habe nichts zu geruhen und ob er vielleicht einen Orden so groß wie einen Kuhfladen für sein »geruhen« bekommen habe, so brachte der Tierarzt doch durch seinen ernsten und strafenden Blick die Störenfriede zur Vernunft, und alles stimmte ihm bei und er verkündete, daß man nunmehr zum Aufbrechen des Siegels schreiten wolle.
Und alles drängte sich um die Musikantentribüne, die der Herr von Minutoli inzwischen erklommen hatte und 87 hing mit den Augen an dem handgroßen Staatssiegel mit den wilden Männern Preußens. Und in der erwartungsvollen Stille räusperte sich der Polizeipräsident ein wenig und lächelte wieder und sagte dann, daß er die Ehre und den allerhöchsten Auftrag habe, den Berlinern die Depesche ihres Königs und Landesvaters an den kaiserlich russischen Hof vorzulesen. So begann er:
»Aktum Berlin sub 183/48
Se. Majestät der König hat allergnädigst geruht, sich mit Befriedigung und Anerkennung eines bei Allerhöchstdesselben letzten Anwesenheit am kaiserlich russischen Hoflager servierten Hühnerfriquassees zu erinnern. Das unterzeichnete Hofmarschallamt wäre im Allerhöchsten Auftrage für eine baldige Übermittelung des Rezeptes außerordentlich dankbar.
Berlin, 16. März 1848
Kgl. Hofmarschallamt.
Und in der Totenstille, die diesen Worten folgte, blitzte der Herr von Minutoli die Versammlung mit einem ganz infamen und satanischen Blick schräg über die Brillengläser an und meinte, die wohlgesinnte Bevölkerung habe sich ja nun wohl davon überzeugt, wie ihr guter und gnädiger Landesvater nicht daran dächte, gegen sein geliebtes Volk zu konspirieren. Und er hoffe, er könne nun dem König die Grüße seiner lieben Berliner überbringen und forderte die Versammlung schließlich auf, dem Könige ein donnerndes Lebehoch zu bringen. Da war denn die unerträgliche Spannung gelöst und 88 bis weit in den Tiergarten hinaus erklang das »Vivat«, und Delikatessenhändler Krause sagte zu Kaufmann Gubitz, er sei ein alter Trankopf mit seinen russischen Husaren und Kleiderhändler Tartakower schrie, er habe ja gleich gesagt, daß das mit dem ewigen Juden ein aufgelegter Schwindel gewesen sei, und überhaupt liefere seine Firma viel billiger und solider, und er könne sein neuestes pariser Zylindermodell den Anwesenden dringend empfehlen.
Ja, alles atmete auf in Erleichterung und Loyalität, und Herr von Minutoli begrüßte Kleist und schüttelte dann Urban die Hand, und der Tierarzt hörte errötend, der König habe durch ihn – Minutoli – von seinem wohltätigen Einfluß auf die Bevölkerung gehört und ließe ihm danken. Aber gerade, als Urban sich bei »dem Herrn Baron« bedankte und auch dem Herrn von Kleist versicherte, wie es ihm eine hohe Ehre sei, seine Bekanntschaft gemacht zu haben . . . Ja, gerade als dann der Tierarzt die Tribüne besteigen wollte, um die Bürger zum ruhigen Auseinandergehn aufzufordern, da stand schon ein totenblasser junger Mensch auf dieser Tribüne, und man konnte es nicht läugnen, daß das der Regierungsreferendarius von Lenski war.
Ja, da stand er, und wenn es nichts anderes war, so machten wohl dieses schöne totenbleiche Gesicht unter dem wallenden Haar und die melancholischen Augen die Berliner neugierig, sodaß die Versammlung plötzlich stille schwieg. Und wenn man auch von einer Seite schrie, den kenne man schon und er wolle nur wieder Unfrieden 89 stiften, so pflanzten sich doch Studenten und junge Arbeiter mit abenteuerlich großen Händen schützend vor ihm auf, und wenn die Männer auch nach Hause drängten, so wurden sie doch von encharmierten Ehefrauen am Rockschoß festgehalten. Und da hatte Lenski denn auch schon begonnen, und wie er redete, war er plötzlich Herr über diese Versammlung.
Ja, auch er freue sich, daß dem König das russische Hühnerfriquassee geschmeckt habe. Was ihn aber noch mehr freuen würde, das wäre, einmal den Hunger des Volkes in diesem Notwinter gestillt zu sehn . . . hier in der Hauptstadt und dort in dem darbenden Schlesien. Gäbe es nicht hier wie dort Tausende und Abertausende, die nach Arbeit, nach einem einzigen Stück Brot schrieen . . . heute, heute, wo der allergnädigste König sich nach einem Küchenrezept erkundige?
Und während die Versammlung zusammenzuckte unter diesen aufpeitschenden Worten, da sah man plötzlich ganz andere Gestalten als diese behäbigen Bürger sich in den Saal drängen . . . magere, glutäugige Gesichter . . . hysterische Weiber in schlampigen Nachtjacken kreischten auf, und ganz nach vorn torkelte ein zerlumptes, verkommenes Individium . . . ein Kerl, der so aussah, als habe er schon im Grabe gelegen, und Ungeziefer kroch aus seinem Halskragen hervor. Und wenn er auch total betrunken war, so schrie man doch von hinten, von den Türen her, es sei einer von den hungernden Schlesiern . . . Ja, in solcher Jammergestalt müsse das Volk umherlaufen, während die Könige sich nach Küchenrezepten erkundigten.
90 Und während von hinten immer mehr solcher Gestalten sich hineinschoben und die Paria immer mehr das Bürgertum verdrängte, da haschte der junge Tribun von Neuem nach dem Rednerlorbeer: ja . . . nicht der Hunger des Leibes sei es allein . . . nach anderer Speise noch verlange ein freies, aufgeklärtes Volk. Ja – dort jenseits des Rheines, dort erstrahlten sie nun von Neuem, die ewigen, die sieghaften Ideen der Menschheit, anders als hier, wo ein aufgeklärt sich gebender Monarch seine Söldner zusammenzöge, um diese Ideen zu vernichten. Diese Ideen, die dennoch unabänderlich wie der Sonnenaufgang seien, diese Ideen, für die zu sterben unsäglich süß sei . . . morgen schon . . . ach, heute lieber als morgen.
Ja, und wenn es auch nur die Ideen waren, die, wie ich schon sagte, einst mit der Freiheit und Brüderlichkeit begannen und heute mit dem Recht des Bankkontos geendet sind . . . Ja, seht, es ist allezeit erschütternd, wenn der Mensch schön ist und glaubt, was er sagt. Und während es an dem Eingang plötzlich nach Volksbewaffnung schrie und im Saale wieder die exaltierten Weiber aufheulten, daß heute erst von Potsdam neue Truppen gekommen seien und aus Frankfurt auch und noch mehr aus Stettin, da verstummte doch wieder diese fibernde Versammlung, als der Redner dort oben von seinem Jünglingstod für die Ideale einer ganzen Zeit sprach und von seiner Brust die große Kokarde nahm und die Trikolore vor des Volkes Augen küßte.
Und plötzlich war alles außer Rand und Band, und 91 Frauen und Mädchen drängten sich an Lenski und küßten ihm die Hände, und Borsigarbeiter erkletterten an den Strebepfeilern sogar die Musikantentribüne und schrieen, man müsse wieder vor das Schloß ziehn, ehe es zu spät sei . . . heute, noch in dieser Stunde. Ja, und da stand auch dieser Tierarzt Urban neben dem Polizeipräsidenten von Minutoli, und er hatte eben sich noch begeistert daran, daß der König den Zaren nur um ein Fricasseerezept und nicht um sieben Armeekorps gebeten hatte. Aber als der Herr von Minutoli, blitzschnell überdenkend, daß die auswärtigen Truppen morgen erst da sein könnten und daß es bis dahin zu lavieren gelte . . . Ja, als dieses kleine gewandte Männchen den Tierarzt fragte, ob er denn nichts zur Beruhigung der Leute hier tun könne, da hatte sich auch in Urban urplötzlich eine seelische Wandelung vollzogen und abermals hob er, wie vorher an seinem Fenster, den vollen und schönen Bart in die Höhe und zeigte auf die tellergroße Kokarde und donnerte: »Freiherr! bestellen Sie Ihrem Könige, daß ich ein loyaler Bürger bin, daß ich aber für die Ideale dieser Farben hier sterben werde! Ich, Urban, Tierarzt erster Klasse!«
Die kleine Exzellenz sah ihn ein wenig verdutzt an: »Nanu?« Dann aber lächelte der Herr von Minutoli gleich wieder spöttisch und verständnisvoll: »Ach . . . Jawohl, verstehe, lieber Tierarzt, verstehe vollkommen.« Aber als der Tierarzt den Triumph seiner Donnerworte einheimsen wollte und dem immer noch auf der Tribüne stehenden Lenski auch wirklich einige Bravorufer 92 abspenstig gemacht hatte, da erscholl plötzlich draußen dumpfes Singen, kam näher und näher, war vor den Pforten und hallte schmetternd durch die laue Frühlingsnacht. Und siehe und siehe: plötzlich brach die Mitteltüre aus unter dem Drucke gewaltiger Menschenmassen und herein schob sich eine ganz andere Menge als die bisher hier gesehn war. Und diesesmal waren es nicht die drei Farben der deutschen Freiheit, sondern ein blutrotes Banner flatterte über den Häuptern dieses Zuges in den Saal. Und die diesen Zug anführten, das waren nun nicht die vertrauten und Jedermann bekannten Gesichter des berliner Groß- und Kleinbürgertums: es waren sehr elegant angezogene Leute, und es gelang nur den anwesenden Herrenschneidern, in ihrer Garderobe pariser Eleganz zu erkennen . . . Ja, es waren die von Minutoli längst gewitterten Emissäre der pariser Bewegung und der polnischen Freiheit, die diesen Zug anführten. Dahinter aber kam ein anderes, das unterirdische Berlin. Und wenn auch blaublusige Maschinisten mit gut märkischen Gesichtern den Fahnenträger flankierten, so drängten sich dahinter Leute mit Wämsern, durch deren Risse der nackte schmutzige Körper schaute . . . andere mit verstümmelten Gliedern und mit Gesichtern, in denen die Nase fehlte . . . Riesenkerle mit Raubtierkiefern und fliehenden Stirnen . . . die Urväter von heute blühenden Lustmörderdynastieen . . . unterirdische Kaschemmenwirte und halbwüchsige, im Aufblühen schon verfaulte Lümmel und abgründige Weiber mit Schakalaugen. Und wenn es auch von diesen seltsamen Gestalten 93 nur wenige waren, die den Text mitzusingen vermochten, so krächzten und schrieen sie desto lauter die Melodie der Marseillaise mit, und in der Marseillaise ist bekanntlich mit keinem Worte die Rede von bürgerlicher Preußentreue und Hofmarschallämter und Krebsfriquasseerezepten.
Der Herr von Minutoli betrachtete einen Augenblick mit dem Interesse des Fachmannes diesen Haufen und die Erstarrung, die plötzlich in die hier Versammelten gefahren war und die Eile, mit der sich alle gut gekleideten Bürger an dem hereinbrechenden Haufen zum Ausgang drängten. Einen Augenblick nur, dann sagte er zu dem neben ihm stehenden Kleist: »Ich glaube, lieber Kleist, daß es nun für uns beide Zeit ist.« Und damit hatte er den hinteren Ausgang erreicht, den ein geschickter Kriminalbeamter immer sich erspäht, wenn er ein Lokal betritt . . .
Draußen wanderten die Beiden durch die Nacht, die Linden entlang dem Schlosse zu. Der Mond war beinahe voll und blitzte aus den Dächern des gräflich reedernschen Palais und auf der britischen Gesandtschaft, und die Quadriga auf dem Tor stürmte vorwärts durch ein Bad von grünem Licht. »Ah sehn Sie, lieber Kleist« sagte Minutoli »sehn Sie den alten Kuppler . . . wird allerhand Merkwürdiges sehn morgen, . . . allerhand Merkwürdiges.« Ein riesengroßer Kerl in zerlumptem Mantel ging vorüber, spuckte aus vor der im hellen Lichte schimmernden Uniform. Herr von Minutoli zog den Mantel dichter um die Schultern.
94 »Nun sehn Sie, lieber Kleist, alles ist mir verständlich . . . aber dieser Lenski! Jawohl . . . ist schon seiner Majestät aufgefallen! Leutnant in der Garde und Regierungsreferendarius und Opposition! Und dabei doch aus gutem Hause . . .«
Kleist lachte. »Aus gutem Hause und wenn Sie wollen aus zu gutem Hause. An sich guter Royalist, und in der Opposition im Grunde nur deswegen, weil momentan das Haus Hohenzollern und nicht das Haus Lenski regiert . . . –«
»Ah so . . . verstehe . . . Majestät sagen . . . Sehr gut: das Haus Lenski, sehr gut . . . ah, diese Ostpreußen!«
Die Linden waren menschenleer, nur die dunklen Massen der lagernden Truppen hoben sich von dem schimmernden Pflaster ab, die Posten schlichen, in den umgehängten Mänteln Nachtwächtern gleichend, um die Gewehre. Als sie aber, auf die Hausvoigtei zugehend, in die Oberwallstraße einbogen, blieb Minutoli gedankenvoll vor einem riesigen, mit Brettern beladenen Wagen stehn. »Sehn Sie, lieber Kleist, der steht nun schon seit vier Tagen hier, und wenn Sie die Augen weit aufmachen, so werden Sie diese Vehikel überall auf den Straßen finden. Ich sage Ihnen, das hier ist ein Stück Revolution, die präformierte Barrikade . . . ein Barrikadenembryo, jawohl, werden selbst sehn! Übrigens diese Rotte Korah da vorhin in den Zelten vorhin, die mit der roten Fahne, haben Sie gesehn?«
»Gott Gnade, Excellenz, die Revolution selbst.«
95 »Irren sich, lieber Kleist, irren sich! Morgen schießt noch der Bürger, dieser Tierarzt erster Klasse . . . wie heißt er . . . Urbat . . . Urbanek . . . wenn der zufällig mitschießen sollte. Die Anderen, die Rotte Korah, schießt erst drei Generationen später . . . unter einem Amtsnachfolger von mir . . . geht mich nichts mehr an.« Er stieß gedankenvoll mit dem Galanteriedegen aufs Pflaster. »Na und Sie, lieber Kleist . . . morgen . . . sich auch dem König zur Verfügung stellen . . . wie?«
Da lächelte Kleist: »Er hätte nicht viel davon, Excellenz! Die Kleists . . . das war einmal so der Friedhof von Hochkirch und Kriegslieder und Dragonerregiment Ansbach und Bayreuth, und dann nachher wieder deutsche Literatur. Aber nun, Excellenz, nun gehn sie nicht mehr an die Front, sondern zu Kroll. Und es ist noch garnicht abzusehn, ob es bei Kroll sein Bewenden hat.«
»Ah, jawohl, . . . verstehe, zu Kroll, und nicht abzusehn, ob es dann dabei bleibt . . . verstehe, verstehe . . . immer amüsant, lieber Kleist . . . gelegentlich Majestät erzählen.«
Und damit trennten sie sich dann.
* * *
Ja, und nun müßte ich eigentlich von jenem womöglich noch strahlenderen achtzehnten März achtzehnhundertundachtundvierzig erzählen, in dessen zweiter Nachmittagstunde ganz Berlin in einem Meer von Jubel und Fortschrittshoffnung schwamm. Für ein paar Minuten nur, 96 welche Minuten dann durch die beiden berühmten und unbeabsichtigten Schüsse aus den Gewehren der Gardegrenadiere Hettgen und Kühn beendet und durch Wutgeschrei und Kampf und Feuer und zweihundert Leichen abgelöst wurden . . .
Ja, und von den beiden berühmten Schüssen müßte ich eigentlich schon deswegen sprechen, weil sie nach Meinung der deutschen Historiker neuen Styles daran schuld sind, daß die achtundvierziger Revolution endgiltig ins Rollen kam und weil somit ohne die zwei Schüsse das neunzehnte Jahrhundert ein anderes Gesicht bekommen hätte. Geradeso, wie nach der Meinung jener Historiker Napoleon an der Moskwa nur deswegen nicht siegte, weil er einen Schnupfen hatte; und wie einst Ludwig XVI. in Varennes auf eine Johannisbeere tretend ausglitt . . . wodurch er bei der Flucht sich verspätete, wodurch er gefangen genommen wurde, wodurch die französische Revolution und mit ihr das ganze neunzehnte Jahrhundert einen anderen Verlauf nahm, wodurch, wenn man das konsequent weiter verfolgt, unter anderem die deutsche Sozialversicherung zu Stande kam und der Krankenkasseninspektor Namischke in Treptow an der Persante doch noch Rat vierter Klasse geworden ist . . . alles, weil König Ludwig XVI. in Varennes auf eine liegen gebliebene Johannisbeere trat . . .
Da ich es mir aber fest vorgenommen habe, mit der ungeheuer spekulativen und ideenreichen Forschung unserer Tage bei einer anderen Gelegenheit mich 97 auseinanderzusetzen, so will ich nur erzählen, daß es im Falle Kleist tatsächlich nicht bei Kroll sein Bewenden gehabt hatte und daß am nächsten Tage, welches bekanntlich der berühmte achtzehnte März war, der Regierungsassessor außer Diensten Hans von Kleist mit einem sehr erheblichen Katzenjammer bei d'Heureuse saß, gerade zu der gleichen Stunde, als auf der anderen Seite des Schlosses der König zu seinem Volke sprach, jene beiden Schüsse fielen, das Volk wütend aufheulte, Gardedragoner auf die Menge einritten und die Menge schließlich, den historischen Absichten des großen Unbekannten entsprechend, zum Barrikadenbau schritt.
Kleist dachte eben nur an einen der vielen Straßenkrawalle nach dem Muster der letzten Tage, er sah durch die Breite Straße auf den Schloßplatz, sah die bunten Figürchen der Soldaten sich über das Gesichtsfeld schieben . . . sah einzelne aus der grauen Menschenmasse sich loslösen und vor den bäumenden Pferden sich auf die Kniee werfen und dann den ganzen Haufen in Menschenatome auseinanderspritzen. Er gähnte leicht und legte sich das Zeitungsblatt zurecht. Aber da fing es da drüben vom Schlosse her zu brüllen und zu heulen an und dann jagten einzelne Menschen . . . immer mehr, immer mehr . . . dem kölnischen Rathause zu. Ja, ich kann nicht sagen wie rasch das geschah . . . aber plötzlich schien ganz Berlin verrückt geworden zu sein. Denn mit einem Male waren die Fenster der Breiten Straße geöffnet und mit brüllenden und gestikulierenden Menschen besetzt . . . Ja, sogar aus den Dachluken tauchten solche 98 wutverzerrten Gesichter hervor . . . . und mit einem Male war diese Straße da unten wie der Flaschenhals vom Kork vollgestopft mit solchen Rasenden . . . Arbeitern, Handwerkern, buntbeflauschten Studenten, rotbärtigen Polen in hellgrauen russischen Militärmänteln . . . Ja, weiß Gott von wem sonst noch, und plötzlich war das nun ein einziges Wutgebrüll.
»Zu den Waffen . . . Man schießt auf das Volk!«
Und da fuhr auch wahr- und wahrhaftig solch ein mit Brettern beladener Lastwagen, wie Minutoli ihn gestern als »Embryo einer Barrikade« bezeichnet hatte, vom Petriplatz heran, wurde im Fahren noch entladen, die Bretter schichteten sich blitzschnell über einander, die Pflastersteine, diese friedlichen, kindskopfgroßen Steine wurden aus ihrem beschaulichen Grasbette gerissen . . . Ja, da wuchs zwischen diesem alten, gemütlichen kölnischen Rathaus und d'Heureuse die erste Barrikade aus dem Boden.
Kleist, der nie, auch in den letzten Tagen nicht, an eine wirkliche Revolution geglaubt hatte, rieb sich die Augen. »Kleist, Regierungsassessor a. D., Rechtsritter des Johanniterordens pp hat sich gestern bei Kroll erheblich betrunken und sieht weiße Mäuse!« Und er starrte zu den beiden weißbemäntelten Polen hinüber, die den Barrikadenbau an den beiden Ecken leiteten. Er warf einen Geldschein auf den Tisch und ging an den die Köpfe zusammensteckenden Markeuren vorüber die Treppe hinab auf die Straße, drückte sich, von schrecklich zerlumpten und wie lebende Scheuertücher ausschauenden 99 Weibern scheel angesehn, zu der Barrikade hindurch. Nein, die war wirklich keine Luftspiegelung, und die Menschen auch nicht, und dort am Eingang der Straße, von einer ferne krähenden Kommandostimme gelenkt, schob sich schon ein Block behelmter Truppen heran.
Und plötzlich stob diese zwischen der Barrikade und den Soldaten eingekeilte Menschenmasse auseinander, wurde von den Häusern eingesogen, war mit einem Male verschwunden . . . nur von der Schanze starrten die Gewehrmündungen und die Gesichter der Verteidiger ihn an. Ja, es war nun wohl Zeit, daß er hier verschwand, und urplötzlich war er ganz nüchtern geworden und ertappte sich dabei, wie er sehr rasch Kehrt machte und um die Ecke des Mühlendammes lief. Hinter ihm prasselten die ersten Schüsse, Leute mit geschwenkten Gewehren liefen vorbei, ein Weib rief ihm wegen seiner eiligen Flucht ein zweifelhaftes Schmeichelwort nach. Er rannte und rannte, an der Stadtvogtei, an immer neuen Barrikaden vorüber, er machte erst Halt, als er die Jüdenstraße erreicht hatte. Hier brach er dann in ein befreiendes Lachen aus über seine Flucht: er war alt genug, solchen Ereignissen mit der nötigen Selbstironie zu begegnen.
Wie er dann in die Königstraße geraten war, wußte er hinterher selbst nicht, er schwamm ganz einfach in dem großen Strom rasender Menschen mit, der nun aus den friedlichen alten Straßen nach den großen Kampfzentren brauste. Und wenn er in der Breiten Straße über das, was sich vorbereitete, noch hätte im Zweifel 100 sein können, so gab ihm die Königstraße volle Gewißheit: zur Rechten und zur Linken, am Eingang der Neuen Friederichstraße und weiter links in der Spandauer . . . überall überquerten Schanzen mit pathetisch flatternden Trikoloren den alten ehrlichen Fahrdamm; und wenn sie hier Grünkramhändler Krauses Handkarren verwandt hatten, so hatte dort Kaufmann Kurz sogar eine Batterie Ölfässer hergegeben, und an der Klosterstraße hockten begeisterte Kämpfer sogar auf Schanzen von prall gefüllten Mehlsäcken und stolzierten dann, da sich ein Gegner noch nicht zeigen wollte, mit ungeheueren Radschloßflinten und weiß gesessenen Hinterpartieen umher und mußten es sich gefallen lassen, daß halbwüchsige Burschen ihre Witze über sie machten.
Ja, und die alten ehrlichen Häuser, die doch noch auf des Soldatenkönigs Grenadiere und auf Tschernyschews Kosaken und dann auf das unglückselige Offizierkorps des Regimentes Gens d'armes geblickt hatten, wie es von den Franzosen entehrt und zerlumpt nach Spandau getrieben worden war . . . diese braven guten Häuser hatten es sich gefallen lassen müssen, daß man ihre Dachziegel abgedeckt hatte, und da standen sie und zeigten nach Jahrhunderten wieder die Holzsparren und auf den Speichern den längst vergessenen Hausrat und uraltes Gerümpel, das so und so lange keinen Sonnenstrahl mehr gesehn hatte. Und unten gröhlten Betrunkene und sangen Begeisterte, und rote und dreifarbige Fahnen flatterten im frischen Märzwind. Und über allem schwenkte doch der Frühling sein blaugoldenes Banner, 101 und Staare zogen pfeifend über die zerfaserten Firste, und die ganze Natur kümmerte sich absolut nicht um Pressefreiheit und Volksvertretung und alle die schönen Dinge, um deretwillen sich das behäbige Berlin in heroische Kämpfe zu stürzen anschickte . . .
Wiederum in dem großen Strom schwimmend und mit der Skepsis des Lebemannes diese tollgewordene Stadt betrachtend, kam Kleist bis zu der Heiligen-Geiststraße, wo, aus Balken und Ziegelsteinen besonders fest gebaut, trutzig die erste Barrikade den Fahrdamm überquerte. Hier stand die Elite der Kämpfer . . . fremde, unberlinerische Gestalten unter spitzen tiroler Hüten warteten, die gezogenen Büchsen in der Hand, starrten nach den Gardefüsilieren hinüber, die drüben auf der Langen Brücke standen: unbeweglich, eine unmenschliche Mauer starrer Marionetten. Und plötzlich hörte Kleist eine wohlbekannte Stimme, und da sah er hoch oben auf der Barrikade, den Degen in der Faust und die Stirn bekränzt, den Regierungsreferendarius von Lenski stehn, befehlend und anfeuernd und immer noch umschimmert von der wilden Schönheit, in der man ihn gestern gesehn hatte.
»Lenski . . .« Ja, der Andere hörte nicht mehr und salutierte nur mit dem Degen zu den Fenstern von Rosch hinauf, wo jetzt, vor dem Kampf, begeisterte Frauen ihm zuwinkten. Drüben auf der Brücke, marionettenhaft und doppelt unheimlich in seiner starren Ruhe, wartete der Feind . . .
Kleist, der wohl wußte, daß das die Stille vor dem Sturm war und daß die schwarze Mauer dort drüben 102 sich bald würde in Bewegung setzen, drängte sich mühsam rückwärts, dem Alexanderplatz zu. Ja, es war nun wohl das Beste für ihn, daß er nach Hause ging . . . Aber da sah er von der Königsbrücke her einen phantastischen Zug nahen, daß er unwillkürlich stehn blieb: Fahnen aller Staaten, Riesenbanner längst verschollener Dynastieen leuchteten in schreiendem Blau und Rot und merkwürdige und in dieser nüchternen Stadt doppelt merkwürdige Waffen, Hellebarden und Morgensterne blitzten in der Sonne. Fest entschlossen, sich fortan über nichts mehr zu wundern in diesem pertrublierten Berlin, kletterte er auf eine der Steinpodeste, und da lief denn auch schon neben diesem Zuge bannertragender Gemüsehändler und pickelbewehrter Sattlermeister ein jammernder kleiner Mensch und beschwor die »verehrten Mitbürger«, sie sollten ihm doch um Gottesjesuwillen wenigstens ihre Namen angeben. Ja, er sei doch der Garderobier vom königstädtischen Theater, aus dem man die Waffen da genommen hätte und er allein sei dem Herrn Direktor Freyberg verantwortlich für die entwendeten Gegenstände . . . und womit man denn in aller Welt morgen Raupachs »Kaiser Konradin« spielen solle, wenn der halbe Fundus auf der Königstraße unterwegs sei? Und da, als Kleist begriff, was hier los war, da schnob eine Donnerstimme den kleinen Kerl an, und da sah er an der Spitze des Zuges den Tierarzt Urban, und er hatte einen breiten Ledergurt um den Leib und schob den spitzen Bauch wie die Gallionsfigur eines Schiffes durch das Volk, und zu seinen Häupten flatterte . . . Ja, nicht das 103 dreifarbene Banner burschenschaftlicher Freiheit, sondern die drei Lilien des Hauses Bourbon, und das vollbärtige Gesicht starrte verzückt zu ihnen hinauf, als zöge da eine bartumwallte Jeanne d'Arc gegen alle Feinde des königlichen Frankreich . . .
»Mensch,« schrie Kleist und die Tränen liefen ihm vor Lachen über das Gesicht, »Urban . . . Doctor . . . Tierarzt, wissen Sie, daß Sie die Reaktion zum Siege führen?«
Der Andere hörte nicht.
»Die Lilien!« schrie Kleist, »Mensch! Sie tragen ja die ganze Restauration durch die Lüfte!«
Da aber Urban, wenn er in diesem Augenblicke überhaupt etwas hörte, unter ›Restauration‹ sicherlich etwas anderes verstand, als Kleist, so schwenkte er unentwegt sein Banner, das einst über dem Regiment ›royal allemand‹ und den Schweizern des enthaupteten Ludwig geweht hatte, und nur ein kleiner Kerl hinter ihm, ein Schreiber oder steckengebliebener Student, der mit einem gewaltigen Zweihänder einherstolzierte, schrie, das sei nun ganz egal, wenn das nur überhaupt Fahnen wären. »Vorwärts!« brüllte Urban und schüttelte Kleist, den er endlich doch erkannte, die Hand, »vorwärts, Bruder!« . . . und richtig hatte er ihm das Gewehr in die Hand gedrückt, das bis dahin auf Urbans rundem Rücken ein beschauliches Dasein geführt hatte. Kleist nahm die grünbebänderte Donnerbüchse mit der glockenförmigen Mündung. »Doctor,« schrie er, »damit haben gestern im königstädtischen Theater Kaspar und Samiel 104 Freikugeln geschossen, und Sie verlangen, daß ich damit Prittwitzens Füsiliere bekämpfe?« Aber »Vorwärts!« brüllte der Tierarzt von Neuem und Kleist sah ein, daß da absolut nichts zu machen war und schulterte sein Gewehr und zog lachend im Zuge mit.
Kanonenschläge hallten dumpf von der anderen Seite der Spree herüber und immer wieder das Prasseln ferner Gewehrsalven, und ein halbwüchsiger Junge schoß heran und schrie, daß in der Breiten Straße der Sturm des Militärs blutig abgewiesen sei. »Sieg!« schrie Urban und schwenkte die Fahne und »Sieg« schrieen alle Bannerträger, und die Farben des Hauses Tudor und des Hauses Stuart schwankten auf und nieder, und es war, als habe sich zu der kampftrunkenen Stadt nun auch noch die ganze mittelalterliche Heraldik betrunken. Aber da, als der Zug die Poststraße erreicht hatte und wieder Lenskis Gestalt auf der Barrikade auftauchte . . . dort drüben, unerreichbar für Kleist in dem ungeheuerlichen Menschenschwarm . . . da rollte von der Langen Brücke her, wo die Truppen standen, ein langer, langer Trommelwirbel, warnend, dumpf. »Artillerie!« schrie es, »man will mit Kanonen schießen!« Und wirklich hörte man Pferdegetrappel von der Brücke her und dann, als für Sekunden die Menge sich teilte, sahen die schwarzen Augen zweier Geschütze auf die rebellische Königstraße, sehr eindringlich und ernsthaft. Und wieder der Wirbel und eine krähende Kommandostimme, und mit einem Male kam Bewegung in diese eben noch so begeisterten Menschen ringsum, und mit einem Male lief es und 105 schrie, ja . . . und mit einem Male war, als Kleist erstaunt sich umsah, die ganze Königstraße öde und leer und nur noch hinten bei der Königsbrücke sah man hastende Menschen in den Kellerhälsen verschwinden. Nur Urban hielt, die Situation offenbar nicht begreifend, noch immer bei der Fahne.
Aber da klang es wieder von der Langen Brücke her – dieses Mal kurz und ungeduldig und beinahe zornig, und da prasselte auch schon die Salve herüber, und wenn man drüben auch offenbar zur allerletzten Warnung nur in die Luft geschossen hatte, so brüllte es doch auf der Barrikade in heller Wut auf, und noch einmal sah Kleist in Dampf und Feuer Lenskis Degen blitzen, und die hohe Gestalt, wie er, das Schicksal herausfordernd oben auf der Schanze hielt. Begreifend, daß es nun die allerhöchste Zeit sei, sprang Kleist in den nächsten Hauseingang, in dem er eben noch Urbans flatternden Rockzipfel hatte verschwinden sehn. Ihn selbst fand er gleich darauf, und er hielt noch immer hier zwischen den sehr rasch ernüchterten und verängsteten Menschen krampfhaft seine Fahne. »Ja lieber Baron,« schnaufte der Tierarzt, »der Führer gehört nicht ins Feuer. Traun – auch bei den alten Germanen . . .«
»Lieber Urban,« schnitt Kleist die Rede ab, »lieber Urban, die Germanen in allen Ehren, aber ich für mein Teil ziehe es vor, meinen Heldenmut nie vorher zu verkünden. Hinterher habe ich dann manchmal, wenn das Glück gut ist, und manchmal auch nicht. Und nun gestatten Sie, daß ich dieses ehrwürdige Produkt der 106 Waffenindustrie, das sicherlich schon bei Granson und Murten mitgewirkt hat, hier niederlege.« Und damit wickelte er das Gewehr in den ›Beobachter an der Spree‹, den er vorher bei d'Heureuse in die Tasche gesteckt hatte und stellte das Packet in die Ecke. Aber da dröhnte auch schon von der Langen Brücke her, voll und tief und nicht unschön, der erste Kanonenschuß, und mit Einem fuhr es die Königstraße entlang, daß die Splitter ins Mörtelwerk sausten und von den Fenstern die Scheiben der Spione aufs Pflaster klirrten. Und dann antwortete verdoppeltes Wutgeschrei von der Barrikade, und nun begann es auch von hüben zu prasseln, und dann sah man einen verwundeten Kämpfer auf allen Vieren zurückkriechen in das gegenüberliegende Haus an der Heiligen-Geiststraße. »Vorwärts!« brüllte Urban und nahm seine Fahne und stürmte . . . Ja, durchaus nicht auf die Straße hinaus, sondern er flog den Übrigen voran die Treppe mit dem barocken Geländer hinauf, und es ist zu bemerken, daß der ganze Schwarm ohne Ausnahme ihm nachdrängte . . .
Kleist hatte das unangenehme Gefühl, in eine schiefe Situation geraten zu sein. Gewiß, hier, eine Treppe hoch war das Lokal von Rosch, das er bisher nie besucht hatte . . . es roch friedlich nach Küche und kaltem Zigarrenrauch, und da war auch schon mit der Serviette unter dem Arm der dicke Wirt und brüllte die Flüchtenden an, er unterhalte einen anständigen Betrieb und sie sollten gefälligst einen anderen Unterschlupf sich suchen. Gleichwohl sah Kleist an den Fenstern der Kneipe wilde 107 Gestalten mit Karabinern in der Hand, es blitzte und krachte und spritzte zerpulvertes Mauerwerk umher, und da lag auch der eine dieser Leute und wälzte sich brüllend auf dem Boden.
Ja, es war ganz klar: wurde er hier von den Truppen mit den Anderen betroffen, so wurde er, Hans von Kleist, mit diesen Anderen zusammen füsiliert, trotz Assesorates und Johanniterordens. Da ihm aber keine andere Wahl blieb und unten auf der Straße der Teufel nun völlig von der Kette los war, so hastete er denn den Anderen nach, die vielen, vielen Stockwerke hinauf, an immer ärmlicheren Wohnungen vorüber bis zur Bodenluke, in der schließlich Einer nach dem Anderen verschwand.
Und wenn nun das Treppenhaus gewissermaßen nur die schlimmen Ahnungen einer Vorhölle erweckt hatte, so führte diese enge Bodenluke geraden Weges in den tiefsten Höllenpfuhl. Es war dunkel hier oben, es wimmelte in dem ungewissen Licht von undefinierbaren Gestalten . . . Schüsse knallten in nächster Nähe, ohne daß man zunächst sehn konnte, woher sie kamen; und in diesem Chaos von Dunkelheit und nach faulen Eiern riechendem Pulverqualm schnatterten und kreischten – Mannsbilder und Frauenzimmer durcheinander – sämtliche Sprachen, deren der weite Raum zwischen dem Ural und Le Havre fähig ist. Kleist hielt sich an die durch das Banner kenntliche Silhouette Urbans und schlich sich langsam vorwärts. Zwischen ausgedienten Weihnachtspyramiden und alten Kinderwagen hatte man große Haufen von Pflastersteinen – das Kampfmittel für die 108 hier anwesenden Weiber – aufgeschichtet, und aus Strohmatten, aus den mottenzerfressenen Bezügen wurmstichiger Rokokomöbel lagen in heillosem Gemisch durcheinander konfiszierte Gestalten.
Dann kam das Vorgebirge des Schornsteines, und dann wurde es heller, und man konnte sogar durch die Lücken der fortgenommenen Dachziegel ein wenig abendlichen Himmel sehn. An den Luken aber standen, rauchende Büchsen in der Hand, sechs Schützen. Ein Mann mit wildem Heckerbart gab in unverfälschtem Badnerisch seine Kommandos, die Übrigen waren borsigsche Maschinenschlosser, ehrliche, nüchterne Berliner; und nur einer sah so aus, als habe er schon einmal am Galgen gehangen. Auch hier krochen zerlumpte Weiber am Boden . . . irgendwo stöhnte es . . . ein vollbusiges Frauenzimmer neigte sich über einen verwundeten Burschen mit blutbefleckter Stirnbinde, und ein einsamer letzter Sonnenfleck fiel gerade auf sein Haar, und dieses Haar war so knallrot, daß man befürchten mußte, es werde diesen verstaubten uralten Dachsbau nebst seinem Gerümpel und dieser heillosen Besatzung von Alkohol- und Kampfberauschten in Brand stecken.
Draußen knallte es, Dachpfannen zersplitterten, eine Wolke uralten Staubes kam herab. Den Tierarzt hinter sich ziehend, tastete Kleist sich hinter den schützenden Schornstein zurück, tappte weiter, stolperte der Länge lang über irgend etwas Weiches . . . hu, ja, ja, da lag wirklich ein Toter, und die Kugel hatte ihm die Stirne zerrissen. Es war ein eleganter junger Mensch, und 109 in dem spärlichen Licht erkannte Kleist, daß ihm Montesquieus »Persische Briefe« in der Tasche staken: es war nicht zu läugnen, daß der stille Mann hier an der Aufklärung gestorben war . . .
Und mit einem Male mußte er an Lenski denken, und mit einem Male erschien es ihm, dem Skeptiker und offenen Verspotter seines eigenen Standes, als versäume er seine Pflicht gegen einen Standesgenossen, wenn er den Anderen, diesen verdammten närrischen Jungen dort unten seinem Schicksal überlasse. Und irgend ein warmes Gefühl, beinahe so etwas wie Zärtlichkeit gegen den Anderen war ihm hier, in der Nähe des ersten Toten aufgestiegen, und plötzlich war er entschlossen, ihn heraufzuholen . . . irgendwie, koste es, was es wolle, jetzt, sofort . . . Ja, ihm, dem erfindungsreichen Odysseus würde schon irgend eine Kriegslist einfallen. Und da unten gerade das Schießen schwieg und nur von der Friederichstadt das Getöse des Kampfes herüberschallte, so öffnete er eine der verrammelten Dachluken. Letztes Abendlicht flutete herein, und ein verfrühter Schmetterling, der da draußen in Frühling und Sonne gebadet hatte, fuhr erschreckt auf. Unten in der Dämmerung lag die Königstraße mit ihren Barrikaden, und wenn da auch kleine und seltsam zusammengeschrumpfte menschliche Leiber auf dem Fahrdamm ganz regungslos umherlagen – die Trikoloren flatterten noch immer im Winde, und dort auf der Schanze, den Arm nun doch schon in der Schlinge, sah er den, den er suchte, ein letztes Mal.
110 »Lenski!«
Der Ruf wurde ihm gewissermaßen vom Munde fortgerissen. Denn plötzlich stand drüben auf der Langen Brücke eine riesige Dampfwolke, und schwarzrotes Feuer zuckte daraus, und dann erst brüllte der Donner herüber. Und wie es krachend in die dürftigen Schanzen gefahren war, daß Staub und Qualm alles verhüllten, da sah man auch schon von der Brücke her flinke schwarze Figürchen auf die Königstraße zu laufen, und die Spitzen ihrer Pickelhauben blitzten durch das Grau. Und wenn auch viele dieser Figürchen mit höchst komischem Purzelbaum mitten im Laufen sich überschlugen, daß Kleist eigentlich lachen mußte, so waren die Übrigen doch gleich darauf in der brennenden Schanze und dann war das alles Klirren und Wutgeheul und Todesschreie.
»Lenski!« . . . Aber da wurde Kleist zurückgerissen von seinem Platz, und da sprang ein Mensch mit seinem Karabiner an die Dachluke und zielte und schoß und lud wieder hastig. Und dann hörte man wieder den Herren mit dem Heckerbart kommandieren und dann war alles wieder ein Chaos von Pulverqualm und Schießen und Fluchen und Stöhnen. Oh ja, es ist nicht zu läugnen, daß sie tapfer sich mit dem Tode herumbalgten, diese durch Leidenschaft und Zufall hier zusammengepferchten Leute . . . mit dem Tode, der mit Blitz und Knall von unten zu den Dachluken herausfuhr und ihnen die Stirn zerspellte und alle diese dahinter wohnenden Gedanken von Freiheit und Fortschritt so gänzlich illusorisch machte. Aber durch das Kreischen dieser 111 Weiber, die ihre Pflastersteine auf die Straße hinunterschmetterten und durch Todesschreie und Flüche in abgründigem Jargon klangen nun deutlich von unten langgezogene Signale und knappe Kommandoworte und dann das Getöse der eingeschlagenen Türen. Dann stampften schwere Tritte die Treppe hinauf . . . zwei, drei, immer mehr Menschen . . . Wutgeschrei auf der Treppe in den unteren Geschossen und Laufen in dem Stiegenhaus und dazwischen, ganz nahe jetzt, die scharfen Peitschenknalle der Schüsse . . .
Ja, es war klar, daß auch in dieses Versteck sehr bald der Tod hineinfahren würde, und wieder hatte Kleist das unangenehme Gefühl, in einer Falle zu sein. Und da hasteten die Schritte unten schon die Treppe hinauf, ein wüster Kerl, das Gesicht grotesk mit Pulverschleim verschmiert, zwängte sich schreiend durch die Luke, ein zweiter mit verbundenem Arm folgte, wieder knallten unten die Schüsse, eine zornige Männerstimme – wohl die des Gastwirts unten – schrie, wie man dazu käme, seine unschuldigen Gäste zu erschießen. Eine näselnde Offizierstimme antwortete . . . wieder ging alles unter in einer Flut von Wutgeheul und Angstschreien und den unzweideutigen Lauten der Mißhandlungen. Kleist sah, wie die Kämpfer hier oben mit ihren heiß geschossenen Gewehren an den Eingang drängten – von unten kommendes Flackerlicht spielte auf den bärtigen wilden Gesichtern. Und dann wieder Kommandoworte von unten und das Trappeln genagelter Stiefel auf den Stiegen . . . immer näher, immer näher . . . Ja, der 112 Regierungsassessor Hans Heinrich von Kleist fühlte mit einem Male, daß seine Glieder bleischwer wurden und mußte, weiß Gott warum, plötzlich an längst vergessene Versteckspiele mit älteren Jugendgefährten im winterlichen Dunkel des elterlichen Hauses denken: dort tappt es heran . . . Jetzt ist es nahe . . . streckt die Hand aus . . . hu, ja, ja, nun wird es Dich fassen . . .
Aber da, als gerade der Tod um die letzte Treppenwindung biegen mochte, da wurde Kleist von einer Hand zurückgerissen. »Hierher, Baron, es gilt!« Ja, das war Urban, und Kleist hatte ihn gänzlich vergessen in dem Durcheinander dieser letzten Stunde. Vom Staub wie ein Lemur gefleckt, hielt er immer noch seine Fahne: »Vorwärts! Es gilt, das Banner zu retten!« Und da hatte er auch schon den Andern in den Winkel zwischen Diele und Dach gerissen und war, das Lilienbanner voran, blitzschnell in die Höhlung einer zusammengerollten ungeheueren Strohmatte gekrochen, die hier seit Jahrzehnten schon liegen mochte und, aufgerollt wie sie war, im Halbdunkel nicht anders als ein verstaubter dicker Eichenbalken aussah. Und Kleist war nun garnicht mehr danach zu Mute, über diesen merkwürdigen Bannerträger der Revolution zu lachen, der die Fahne sammt dem eigenen, teuren Leben salvierte . . . krach, da war schon unter Fußtritten das Gatter der Bodentür aufgeflogen und im allerletzten Augenblicke sah er noch den Herrn mit dem Heckerbart die Arme hochwerfen und die Treppe hinabkollern, gerade dem heraufstürmenden pausbackigen jungen Offizier entgegen . . .
113 Ja, das war aber auch das allerletzte von diesen grotesken Bildern, und dann war er wie ein Dachs in die enge Röhre des Teppichs geschlüpft, mußte die staubige Luft dieses gottverfluchten Notbaues atmen und hörte nur ganz gedämpft den Lärm der Katastrophe ringsum . . . einen polnischen Fluch und eine Männerstimme, die rief, man solle den Offizier zuerst totschlagen . . . einen einzelnen Schuß und den dumpfen Fall eines Körpers . . . Klirren aneinanderschlagender Waffen von Weibergekreisch begleitet und einen irrsinnig hohen Schrei aus einer Männerkehle und Stampfen und Hinstürzen und dann das Stöhnen des Mordens, das von dem der Wollust so wenig verschieden ist . . .
Zuletzt blieb dann nur noch das Fluchen vergewaltigter, gefesselter Menschen übrig und unzweideutige Repliken aus pommerschen Soldatenkehlen und dann, einsam in all dem Lärm, das langgezogene Weinen eines Kindes und schließlich eine keifende Frauenstimme im berliner Bouillonkellerstil, die versicherte, ihr Mann sei ein anständiger Mann, und wenn er überhaupt geschossen habe, so habe er nicht mit Blei, sondern mit Kindermurmeln geschossen, und das habe sie genau gesehn, und überhaupt werde sie sich beim Oberst, beim Polizeipräsidenten, beim grundgütigen Landesvater selbst ihr Recht holen. Und als auch das erstarb, blieben nur die Stimmen und die Tritte der den Boden durchsuchenden Grenadiere übrig, und dann kam es ganz nahe, und unwillkürlich krümmte man sich zusammen in der engen Strohröhre bei dem Gedanken, daß da gleich der Stoß 114 eines dreikantigen preußischen Bajonettes hineinfahren würde und daß man ganz zusammengeschnürt und wehrlos war. Und Kleist fühlte den Stiefel des Anderen dicht vor seiner Nase zittern und fühlte, daß auch ihm selbst die Glieder zusammenschlugen . . . Ja, in der gleichen, gänzlich unpathetischen Todesangst.
Aber dann ging auch das vorüber, und die letzten Menschen entfernten sich, und es wurde gänzlich stille. Ja, man lag noch eine Weile und wußte garnicht, wie lange man da eigentlich gelegen hatte mit pochendem Herzen und spähte dann vorsichtig hinaus. Da spielte denn auch schon der Mond über einer ganz greulichen Unordnung, und da stand der Tierarzt vor Kleist und hatte kein Bourbonenbanner mehr in der Hand, sondern fuhr sich verstört mit der Hand über den Bart und meinte sehr kleinlaut, es sei wohl am Besten, wenn man nach Hause ginge.
Da tasteten sie sich denn beide durch das Dunkel des Bodens. Es roch nach frischem Blut, und auf den Dielen lag in großen Silberflecken der Mond. Nachtwind spielte leise in den Haaren des toten Herren mit dem Heckerbart dort am Eingang. Sie stolperten über verstaubtes Gerümpel . . . ein uralter Flügel mit sieben Pedalen und zerrissenen Saiten versperrte den Weg . . . im Mond schimmerte ein alter Papageienkäfig, aufgetürmt auf einer mottenzerfressenen Bergere, auf der zu des Soldatenkönigs Zeiten längst vermoderte Rokokodamen Artigkeiten sich gesagt hatten. Die von den Truppen liegen gelassenen Toten im ungewissen Dunkel . . . 115 der vergessene Hausrat verschollener Geschlechter ringsum . . . nein, dieser vor Stunden noch so belebte Raum gehörte nun dunklen, unterirdischen Mächten, und so kletterten die Beiden denn sehr rasch die Treppe hinab.
Das Haus war menschenleer: man hatte offenbar alle seine Bewohner mitgenommen. Im Zwischenstock spähte Kleist hinaus. Die Königstraße war ruhig, die Trümmer der Barrikaden lagen als dunkle Klumpen auf dem Pflaster, Biwakfeuer der lagernden Truppen brannten trübe hinter beizendem Rauch – nur von der Friederichstadt knallten noch einzelne Schüsse. Aber da, als sie sich trennen wollten, um nun endlich nach diesem wilden Tag nach Hause zu gehn, da hörten sie es unten im Korridor des Hauses schwer atmen . . . noch einmal und noch einmal. Und als sie sich dann hinunterschlichen und über den Totwunden sich beugten, da war es ein wohlbekannter Federhut, und in den ebenfalls wohlbekannten grauen Spenzer des auf dem Gesicht Liegenden hatte das Blut der Todeswunde einen handtellergroßen Fleck gefressen. »Lenski!« rief Kleist und er schämte sich, daß er den Anderen in den Stunden der eigenen Todesangst so ganz und gar vergessen hatte. Aber da antwortete nur der pfeifende Laut aus der zerrissenen Brust und die schwache Bewegung der Lippen . . . geflüsterte Worte . . . unverständlich, schon ins Leere gesprochen . . .
Ja, da lag der Regierungsreferendarius Gustaph von Lenski, und die Kugel hatte ihn in die Brust, dicht neben dem Herzen getroffen, und über das verfallene Gesicht hing das lange Haar, mitten in einem 116 Mondstrahl. Eine Abteilung Soldaten klirrte draußen vorbei . . . Gefangene wurden gefesselt schloßwärts geführt, Urbau duckte sich in den Schatten. »Mensch . . . Doctor, so helfen Sie doch wenigstens« zischte Kleist ihn an. Der Andere beugte sich herab, faltete das blutige Hemd auseinander, sagte etwas von ›vasa magna cordis‹ und von ›letaler Blutung‹ und sagte dann, daß er nun wirklich und sofort nach Hause müsse. »Gehn Sie zum Teufel« knurrte Kleist, und der Andere entledigte sich vorsorglich der Kokarde und stahl im Mondschatten der Straße sich nach Hause.
Da stand denn nun Kleist allein mit dem Sterbenden. Neue Schüsse kamen vom Alexanderplatz, eine Reiterpatrouille jagte vornübergebeugt . . . klabaster . . . klabaster . . . über den Fahrdamm, der Galopp verklang in der Nacht. Ein Signalhorn blies in der Ferne den Ruf ›Zwölfte Kompagnie‹. Der Sterbende röchelte . . . wieder die abgerissenen unverständlichen Worte. Schritte kamen den Bürgersteig entlang, ein alter uniformierter Invalide, die Büchse umgehängt, klapperte über die Steine. »Nu help mi man, Vadder!« Und Kleist sagte wer er und wer der Sterbende war. Der Alte beugte sich über den Daliegenden. »Tje, gnädger Herr, das is ja woll n' schlimm Ding und das will ja woll nu nicks mehr wern. Aber wo leggen wer'n hin?«
Da dachte Kleist an die Truppen, die alle Augenblick vorüberklirrten und lief nach oben in Rosches verlassene Säle und kam mit einer Billardqueue wieder. Da schoben sie's dem Sterbenden unter die Schulter und 117 die Büchse des Alten unter den Leib und trugen ihn sachte hinauf und legten ihn im ersten Saal auf ein langes Billard nieder. Und hier im vollen Mondlichte, als Kleist sich eben anschickte, a tout prix zu den Truppen hinüber zu laufen und einen Arzt zu holen – da geschah es, daß der Sterbende die Augen aufschlug und groß den Anderen ansah und dabei die Finger seltsam schnell über den zerrissenen Rock laufen ließ, als suchten sie dort nach dem entfliehenden Leben. »Kleist . . .« murmelte Lenski und versuchte sich aufzurichten. Und dann spielte der Tod, der alte Kavalier, der Jedem seinen Stil des Sterbens gibt, einen letzten und nicht unliebenswürdigen Streich. »Trotzdem!« sagte Lenski laut und ganz deutlich und sank zurück und lag tot im Mondlicht, jung und trotzig, wie im Leben.
»Tje« sagte der Alte »nu is woll aus, gnädger Herr.« Und dann fragte er Kleist, ob er mit ihm bei dem Toten bleiben solle. Aber Kleist lehnte ab, und da humpelte der Alte die Treppe hinab und die Tür des leeren Hauses fiel hinter ihm ins Schloß. Da war denn Kleist ganz allein mit dem Toten. Nachtwind fuhr durch die Fenster herein, pfiff ganz leise in den großen, an viele Menschen gewöhnten Räumen, blies in die Feder eines auf dem Fensterbrett liegen gebliebenen Insurgentenhutes, daß ein gespenstischer Mondschatten auf den Dielen hin und her sich bewegte, drehte auch auf dem Zeitungstisch mit leisem Laut die Blätter eines aufgeschlagenen, weiß Gott von wem fortgelegten Buches um. Im Auf- und Niederwandern hinzutretend, las 118 Kleist im Mondenlicht den Titel: ›Hufeland, Über die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern‹. Da lachte er laut und bitter auf, daß es seltsam in den leeren Räumen wiederhallte und warf den staubigen Band in die Ecke.
Abermals auf- und niedergehend eine lange, lange Weile in seiner einsamen Wache, blieb er vor dem Toten stehn. Der lag mit dem Kopf auf der Billardbande, und so war das Haupt ihm auf die wunde Brust gesunken, und er sah sehr schön und jung aus, wie ein überwundener junger Gladiator. Nur die Hand war noch geballt im Trotze des Sterbens. »Trotzdem und Trotzdem!« Und Kleist dachte daran, wie das schön war und ritterlich, und daß dieser Tote hier eigentlich müßte gepanzert daliegen mit gefalteten Händen über einem Schwert und das »Trotzdem« auf einem zerbrochenen Schild . . . Ja, ja, das Sinnbild eines verschollenen Junkertumes, das immer bei den Unterliegenden ist und immer gegen den Strom schwimmt. Und plötzlich mußte er an sich, an das eigene Leben denken. Hier stand er, Hans Heinrich von Kleist, Träger eines historischen Namens, beider Rechte Doctor, seine Tage und seine Nächte gerecht zwischen d'Heureuse und Kroll und den Amorsälen verteilend, mittags aufstehend, auf die Agora eilend um Neuigkeiten zu hören, am Abend allenfalls zwischen Chateaux d'Yquem und Sillery, zwischen Lolo und Nanon schwankend, alter Roué, nicht einmal Abenteurer, bestimmt, unrühmlich an seinen Gichtknoten oder einer Alkoholleber zu sterben. Und 119 die Kreuzzeitung würde einen Nachruf bringen und Tante Angelique einen Kranz schicken und vor Gottes Antlitz die Sünden des mißratenen Neffen durch unzählige gehäkelte und sicherlich lachsfarbene Unterbeinkleider für Hottentottenjungfrauen wieder gutmachen. Und abermals lachte er bitter auf. Bei Gott: der verlassene und verwehte Junge da auf Vater Roschs pariser Billard war einen guten Tod gestorben, und es hätte unendlich gut getan, dort an seiner Stelle zu liegen. Und da saß Kleist plötzlich auf einem der knarrenden und ausgesessenen Rohrstühle und warf das Gesicht auf die Hände und schluchzte das tränenlose einsame Weinen alternder Männer, das anzuhören so wenig gut ist. –
Dann freilich kam mit der Erschöpfung dieses Weinens die große Müdigkeit und er schlief, das Gesicht noch immer auf den Händen, ein. Aber da verwirrten sich die Dinge des Tages zu seltsamen Traumgesichtern, und der verfrühte schwarze Falter, den er im Wachen um Lenskis toten Leib hatte flattern sehn, reckte seine Flügel zu gewaltigen Schwingen, und da war es ein gespenstischer Todesengel, der durch den Raum, durch die nächtlichen Straßen flatterte, und wen seine Fittiche berührten, der schrumpfte zu einem merkwürdigen und grauenhaften Ding, zu einem kleinen Häuflein verbrannten Papieres zusammen.
Und dann wieder sah er sich mit Lenski vor den borsigschen Maschinenhallen stehn, und sämmtliche Essen qualmten, daß die Sonne nur ganz fahl wie durch 120 farbige Gläser schien. Und da war eine Riesenmaschine, viel größer, als Kleist sie je gesehn, und ein gigantischer Eisenstempel sauste auf Platten von glänzendem Blech und stanzte es zusammen, und plötzlich fielen unten aus der Maschine wie aus einem eisernen Mutterschoß blecherne Menschen, . . . alle ganz gleich, alle mit den nämlichen starren Gesichtern und fliehenden Stirnen; und wenn der Eine fertig war, so schob sich schon von hinten, aus dem Schoße dieser tosenden Maschine geboren, ein Anderer heran . . . immer mehr, immer mehr, die ganze Straße war voll von ihnen. Und wie die Flut dieser Eisenmänner stieg, . . . immer höher und immer höher . . . da sah er Lenski an die Maschine springen und den Hebel fassen, um diese satanische Menschenmühle aufzuhalten. Aber da faßte ihn ein langer, langer Eisenarm und riß ihn hinein in die Räder, daß seine zerfetzten Glieder umschwangen in den klirrenden Eisengelenken. Und plötzlich sah Kleist sich allein in dieser Schar blecherner Lemuren, und von allen Seiten schob die Maschine sie an ihn heran und überall sahen ihn die starren, aus Blech gemalten Augen an, daß er schreiend die Straße entlang davonjagte. Aber da hatte plötzlich diese Menge Leben gewonnen, und sie jagten hinterdrein, und die metallenen Glieder klirrten ganz greulich, und aus den erzenen Kehlen kamen wie aus Blechtrichtern heisere und hohle Laute, und er lief und lief gerade dem Tierarzt Urban in die Arme, der mit einer riesigen Partisane ihn vergebens vor seinen Verfolgern zu schützen suchte. Und wie er dann 121 die klappernden Arme an seiner Schulter fühlte, da erwachte er schweißgebadet, und sah dann doch nur den armen toten Jungen da auf dem Tische liegen, und der Brandschein, der aus der Gegend der Friederichstraße kam, zeigte, daß er eigentlich nun schon eine tote Maske, starre Materie war und nichts mehr gemein hatte mit dem Leben. Da hüllte er sich denn frierend und grämlich in seinen Mantel und schlief schließlich auf dem Stuhl fest und friedlich ein. –
Ja, er war totmüde nach solch einem Tage und so kam es, daß er auf seinem unbequemen Sitz in den hellen Tag hinein schlummerte und somit eigentlich ein gutes Stück Geschichte verschlief. Er erwachte gähnend, sah den Falter von gestern auf seinen Knieen die Flügel regen, erinnerte sich ganz langsam der gestrigen Vorgänge und hörte die Uhr der Petrikirche schlagen . . . sieben . . . acht . . . zehn Schläge. Aber als er dann nach dem stillen Toten sehn wollte, da setzte unten auf der Straße schrille Querpfeifenmusik ein, und er sah draußen mitten durch dichte Menschenmassen die Königsgrenadiere ziehn und ihre Musik kreischte und rasselte den Marsch:
»Friedrich Willem, unser König, unser gute König, gute König,
Zahlt zwei Groschen, zahlt zwei gute Groschen, is 'n bissel wenig, bissel wenig . . .«
Die Truppen aber, die hinter der lustigen Musik marschierten, zogen finsteren Gesichtes einher, und plötzlich schrieen aus den dicken Menschenmassen dort unten 122 heillose Flüche, und die Offiziere drückten sich scheu an die Kolonne heran, als befürchteten sie, fortgerissen und mißhandelt zu werden. Und ehe Kleist sich noch klar werden konnte über diese merkwürdige Verwandelung der Königstraße, die er am Abend zuvor doch so gänzlich in den Händen dieser nun so traurig einhermarschierenden Truppe gesehn hatte, da hörte er im Zimmer hinter sich Schritte, und da stand plötzlich ein kleiner Kerl mit spitzem Hut und der Trikolore am Rock vor ihm und schwankte bedenklich hin und her und hatte Tränen der Rührung in den rot unterlaufenen Augen und nannte Kleist seinen Bruder und Mitkämpfer und schloß ihn, ehe der Andere sich retten konnte, in seine Arme, und Kleist konnte es durchaus nicht verhindern, daß sich ein ganzer Schwall von kampfesbrüderlichen Küssen über ihn ergoß.
Da Kleist aber nach Allem, was er bisher an diesem Morgen gesehn und erlebt hatte, doch wohl annehmen mußte, daß er nun doch von einer Attacke von trementem Delirium befallen sei, riß er sich los und rieb sich energisch die Augen. Aber der Andere erwies sich als keine Halluzination, und da war auch der tote Lenski, und alles war Wirklichkeit, und da drängten auch schon noch weitere solche Gestalten mit Federhüten und grauslichen Schießgewehren über der Schulter zur Tür herein. Und als Kleist dann fragte, was zum Teufel denn eigentlich los sei, da erfuhr er denn die Dinge, die er verschlafen hatte: daß die Truppen zurückgezogen seien und daß der König alles bewilligt habe 123 und daß nunmehr alles, alles besser würde auf der Welt und von diesem Tage eine neue Epoche der Geschichte beginne. Da kam er denn zu der Erkenntnis, daß er hier eigentlich recht überflüssig sei, und er sagte, wer der Tote dort auf dem Billard war und wie er selbst hierher käme, und sah auch noch zu, wie die guten Leute vor der Leiche die Federhüte abnahmen und wie einer dann dem Toten zuerst den grauen Spenzer und dann das blutige Hemd auszog und seine eigene schwarzrotgoldene Kokarde nahm und sie auf die Todeswunde heftete, ja, mitten hinauf. Da machte denn Kleist, daß er hinauskam.
Die Königstraße war nun wieder so voller Menschen, daß Kleist, den Weg nach dem Schlosse nehmend, kaum vorwärts kommen konnte – voll von schreienden, predigenden, in den Armen sich liegenden Menschen. Und wenn die einen um die nagelneuen Plakate sich drängten, die den Abzug der Truppen verkündigten, so standen andere um die Trümmer der großen Barrikade an der Brücke und besichtigten mit ehrfürchtigem Staunen die von den Kugeln zerrissenen und hie und da wohl auch blutbefleckten Mehlsäcke; und ein Grünkramladennapoleon war aus seinem Gewölbe gestiegen und fuchtelte mit den Armen und schwadronierte, wie er an der Breiten Straße die Truppen irregeführt und mit sechs Mann während dreier Stunden das ganze Gardekorps aufgehalten habe, jawohl, bitte schön . . . Und Mitkämpfer der Nacht, noch immer geschwärzt vom Pulverqualm, wurden jubelnd auf den Armen getragen, und dickwadige 124 Bürgertöchter – für Kleists Geschmack entschieden zu dickwadig – hielten den Vorübergehenden schwarz rot und golden umflorte Sammelteller für die Verwundeten hin, und gegenüber, an der Ecke der Heiligen Geiststraße hatte man das Mobiliar des dort wohnenden Major Preuß auf die Straße geworfen, weil er nach allgemeiner Ansicht die in seinem Hause versteckten Revolutionäre an die Truppen verraten hatte; und Lehrjungen wälzten sich auf aufgeschlitzten Federbetten, und mitten auf der Straße war zum allgemeinen Gespött der Menge der ausgestopfte Seidenspitz der Majorin stehn geblieben, und grauslich mit Gewehren und Piken bewaffnete Bürgergardisten standen herum und spuckten in weitem Bogen und sagten, daß man ganz Recht damit getan habe. Ganz still und abseits aber an der Burgstraße standen, die Hinterköpfe tief in die handbreiten Rockkragen gestemmt, zwei behäbige Bürger, und Getreidehändler Bolle fragte nachdenklich den Kommissionsrat Schultze, ob er wirklich meine, daß russischer Roggen sich nun noch etwas höher im Preise stellen werde.
Aber wenn nun auch über den Bürgern auf den Bürgersteigen auch der unentwegte Optimismus, daß nun alles, alles besser würde, seine schwarzrot und besonders goldene Fahne schwenkte, so war der Fahrdamm schon für eine ganz andere Gesellschaft reserviert. Und da war es wieder dieser höllische, unterirdische Pöbel, den das biedermeierische Berlin nur so selten und dann doch nur immer in einzelnen Exemplaren zu Gesicht 125 bekommen hatte: ein heilloses, aus infernalischen Kneipen, aus den Unterschlupfen der Umgebung, aus Gott weiß welchen Verstecken aufgestiegenes Gesindel . . . fanatisierte Weiber, polnisch sprechende, zerlumpte Kerle, ein Betrunkener, der eine blutige Offizierschärpe als Beutestück schwenkte. Und dann ein ganzer Zug kreischender Menschen . . . wieder die hysterischen Weiber an der Spitze, und auf dem Stuhl, den sie trugen, war eine splitternackte Leiche angebunden, und der leblos hin- und herbaumelnde Kopf hing gerade auf die Brustwunde hinab. An der Langen Brücke aber hatte man eine ganze Reihe Gefallener auf das Pflaster gelegt, und immer Neue wurden gebracht. Und wenn sie da nun auch nur noch wie belanglose Gegenstände dalagen, und mit glanzlosen Augen in den Himmel hinaufstarrten und sich partout nicht mehr für Fortschritt und Preußenfreiheit begeistern wollten, so hatte man doch ihre Wunden entblößt, und die brannten gräßlich rot im grellen Frühlingslicht, und so drängte sich vor diesen von ihren Kugelspuren schier pockennarbig gewordenen Häusern eine glutäugige, rasende Menge, und angesichts der Leichen wurden Wutschreie und Racheschwüre laut, die wie diese Toten selbst nichts Menschliches mehr hatten. Und inmitten dieser abgründigen Gesellschaft kam es dem distinguierten Kleist denn doch sehr gelegen, daß ihm irgend ein begeisterter, ehrlicher Handwerker um den Hals fiel, ihn als Bruder und Kampfgenossen begrüßte und ihm eine dreifarbige Kokarde ansteckte.
Überzeugt, daß die ganze Stadt verrückt oder 126 betrunken sei, machte er sich auf den Weg nach dem Schloßplatze. Wenn er aber geglaubt hatte, daß es dort ruhiger zugehn würde, so hatte er sich gründlich getäuscht. Die Menge stand hier stur und starr, Kleist konnte sich nur ganz mühsam seinen Weg bahnen und sah nur über den Köpfen dieser Menschen hinweg den Schellenbaum eines mit klingendem Spiele abrückenden Regimentes schwanken. Aus allen Fenstern ringsum schauten neugierige Gesichter. Die Menge, die Köpfe reckend, auf die Brückengeländer kletternd, drängte nach vorn – es war klar, daß dort vorn, wo mit Paukenkrach und Tubaton der Preußenmarsch von den Schloßmauern widerhallte, sich ein ganz erlesener Spektakel abspielte. Selbst auf eine der Laternen zu Seiten des Brückeneinganges kletternd, sah er, daß es das erste Garderegiment war, das, durch den Befehl des Königs zur Wehrlosigkeit verurteilt, bei seinem Abmarsch hier in einen heillosen Menschenknäuel eingekeilt war. Und wenn die Einen mit weißen Tüchern den Truppen zuwinkten und wenn Andere hier unten auf der Straße den finster ihres Weges ziehenden Soldaten die Hände drückten, so waren doch wieder auch ganz Andere da, die die Fäuste ballten und »Bluthunde« schrieen und nach den Offizieren spieen und dem Pferde des Kommandeurs in die Zügel zu fallen Miene machten, der ganz stumm, ganz verhaltene Wut über den Fall des Königs dicht hinter der Musik ritt. Und plötzlich geschah es, daß da aus dem Eckhause an der Burgstraße zwei Männer gelaufen kamen, und was sie trugen, das war nichts anderes, als eine Bahre mit 127 einem verstümmelten, nackten Toten . . . und plötzlich hatten sich diese beiden Leute vor die schlagenden Tamboure gedrängt und ihre Last mitten in den Weg gestellt. Und plötzlich hallte der Schrei »Bluthunde« über den ganzen Platz, und plötzlich brach die Musik mit schriller Dissonanz ab, und mit einem Male stand das Regiment, eingekeilt in diesen heulenden, wütenden Menschenhaufen. Und in diesem Augenblicke fielen . . . vielleicht von der Burgstraße, vielleicht auch vom Lustgarten her . . . plötzlich zwei oder drei Schüsse, ganz schnell hintereinander. Und wenn es vielleicht auch nur Freudenschüsse beglückter Freiheitskämpfer oder am Ende gar nur Knallbomben radaulustiger, von dem Spektakel höchlichst ergötzter Lehrjungen waren . . . so schien doch das akustische Phänomen für die rechte Sekunde vom Teufel selbst bestellt zu sein. Und wenn man vorher nur geschrieen hatte, so begann man plötzlich zu brüllen, und Messer blitzten und Flintenläufe hoben sich gegen die zusammengedrängte, verwirrte Truppe, und mit einem Male sah Kleist, daß der Kommandeur, keine zehn Schritt von seinem eigenen Standorte entfernt, vom Pferde gezerrt wurde und am Boden lag. Laute der Mißhandlung waren zu hören . . . eine zerbrochene Degenklinge klirrte über das Pflaster . . . der alte Offizier wurde wieder hochgerissen, stand, eingezwängt von den Menschen, wehrlos da, und es ist zu bemerken, daß er auch jetzt, geschmäht und mißhandelt, etwas von jener Würde hatte, die sich zu erhalten so schwer ist: der Würde des überwundenen und gedemütigten Mannes.
128 Aber da donnerte – das alles war blitzschnell geschehn – plötzlich über die Häupter des Volkes hinweg jener schöne, Kleist so wohl bekannte Bariton, und mit einem Male sah er Urban, der sich dicht vor dem mißhandelten Offizier aufpflanzte: »Noch ein Schuß, Oberst, und Sie hängen!« Und da waren denn auch gleich Tausende bereit, die Parole des Hängens aufzunehmen, und auf die gegenüberstehende Laterne war ein Mann geklettert, dessen Nase freundlich und an sich ganz beruhigend wie milder Laternenschein schimmerte, und er manipulierte auch schon in nicht mißzuverstehender Weise mit einem Strick herum. Da stieß der alte Offizier mit einem grimmigen Fluch den ihm geblieben Degenstumpf in die Scheide und ließ sich von ein paar ruhigen Leuten abführen.
Und da noch immer die wütende und plötzlich sehr blutdürstige Menge diese ratlosen Soldaten umheulte, und Jeder wußte, daß der geringste Zufall hier ein Blutbad – ein wirkliches Blutbad in diesem behäbigen Berlin – auslösen konnte, da hatte die Vorsehung, die nun einmal mit dieser Revolution ganz andere Ziele vorhatte, den Tierarzt erster Klasse Urban mit der Beruhigung der Geister beauftragt. Und Kleist sah ihn plötzlich auf den Schultern eines stämmigen Lastkutschers reiten und zum Volke – zu seinem geliebten Volke reden – ja, wirkliche Tränen kollerten über den Vollbart und tiefer hinab über den spitzen Bauch . . . Tränen der Rührung über die eigenen, berauschenden Worte.
Ja, da stand er, und wenn ihn dieses Mal auch kein bourbonisches Lilienbanner zierte, so hatte er doch 129 jetzt an handbreitem Bandelier einen riesigen Sarras umgürtet und so stand er – der Bastard Hermann des Cheruskers und irgend einer hypothetischen Grete Kulicke, und es läßt sich nicht läugnen, daß aus seinem Munde wirklich schöne, ergreifende Worte kamen. Zuerst sprach er von den mißleiteten Brüdern in des Königs Rock und davon, daß auch sie von deutschen Müttern geboren seien. Und dann sprach er von den zerbrochenen Tyrannenketten, und die Stimmung ringsum wurde schon erheblich besser, und man wurde eigentlich wieder ganz friedfertig und bot den bedrängten Grenadieren sogar Tabak an. Und als dann Urban gar von der deutschen Freiheit sprach und daß nun alles, alles viel besser werden würde, da war man wieder in allerbester Rosenlaune, und hätte man nicht den Tierarzt Urban bei der Hand gehabt, um ihn hochleben zu lassen, so hätte man jedenfalls den eben noch mißhandelten Offizier zurückgeholt, um in Ermangelung eines anderen Hochlebeobjektes eben ihn auf den Armen und den Wellen unentwegter deutscher Begeisterungsfähigkeit zu tragen.
Aber noch ehe Urban geendet hatte und eigentlich noch gerade vor seinem demosthenischen Hauptcoup, da wurden vom Schloß her, von der Peripherie dieser Menge brausende Hochrufe hörbar, und die Gasse teilte sich, und der da plötzlich als deus ex machina erschienen war, war Niemand anderes, als der bebrillte kleine Polizeipräsident von Minutoli; und wenn Urban nur einen Säbel und einen Vollbart hatte, so war doch der eben aus dem Schlosse herabgestiegene Polizeichef 130 abermals im goldgestickten Audienzfrack mitten in der Revolution erschienen, und da es nun einmal deutsches Geschick ist, mit seiner Sympathie immer zwischen Vollbart und Staatsfrack zu schwanken und Staatsfrack in Dubio immer noch mehr bedeutet als Bart, so hätte man gern den Herrn von Minutoli, wenn ers nur gewollt hätte, womöglich noch höher leben lassen, als den Tierarzt Urban. Aber, als Urban eben verwirrt nach der schönsten seiner Schlußphrasen suchte und ein wenig scheel den Ankömmling sah, der ihn um seinen oratorischen Ruhm gebracht hatte, da war auch Minutoli schon vor ihm und reichte ihm die Hand.
»Vom Schlosse aus Sie bemerkt . . . alles gesehn . . . lieber Urbat, Urbanski, nicht wahr?«
»Urban, Excellenz« stammelte der Tierarzt und ein Rot entschiedener Freude war auf seinem Gesicht zu bemerken.
»Ganz Recht, lieber Urbschat . . . vom Schlosse aus wie gesagt diese . . . diese Kalamität bemerkt« er wandte sich nach der Truppe um »und Majestät berichtet. Also« und er zog ein kleines Billet aus dem Uniformärmel:
»Ich ermächtige gern den Tierarzt erster Klasse Urban, das erste Garderegiment auf seinem Marsche nach Potsdam bis in das Weichbild der Stadt zur Sicherheit der Truppe hinauszuführen.«
Berlin, den 18. März 1848.
Friederich Wilhelm.«
131 »Danke sehr, lieber Doctor.« Und er reichte Urban die Hand und warf einen seiner verteufelten schelmischen Blicke durch die Brillengläser zu Kleist hinüber, den er da oben auf dem Kandelaber bemerkt hatte. Dann war er urplötzlich, wie er gekommen war, in der Menge verschwunden.
Nun aber kam Leben in Urban. »Das Pferd!«Und wirklich wurde das reiterlose Pferd des mißhandelten Offiziers herangeführt. Und dann saß er, urplötzlich zum Kommandeur des ältesten Armeeregimentes geworden, das schon bei Malplaquet und bei Leuthen und Torgau und weiß Gott wo noch gefochten hatte . . . Ja, da saß er im Sattel, und es gelang ihm auch wirklich mit jenem entschiedenen und älteren Infanteriehauptleuten wohlbekannten Griff in den Sattelbug, sich auf dem tänzelnden, durch den Lärm nervös gewordenen Tiere zu halten. Und wie er sich so im Sattel hochreckte und dann den handbreiten Theatersäbel zog und hinter ihm die Kompagnieoffiziere sich mokante Blicke zuwarfen und der Tambourmajor auch schon den Stock gehoben hatte, um das ganze Tschingdara von Neuem in Bewegung zu setzen, da durchbrach plötzlich eine eilige Frauengestalt die Menge.
»Pappa!« schrie Frau Urban, und es war nicht zu läugnen, daß sie das Wort auf der ersten Silbe betonte, »Pappa, Du hast ja keinen Regenschirm bei dem Wetter!«
»Sapristi« sagte Urban »den habe ich denn nun wirklich gestern bei der Barrikade an der Königstraße stehn lassen.« Und da Frau Urban ihm vorsorglich einen 132 breiten roten Shal hinaufreichte, schlang er sich die wollene Boa constrictor um den Männerhals, daß sie wie ein Panier im Märzwind wehte. Denn es hatte nun doch leise zu regnen angefangen.
Dann aber fuhr männliches Selbstbewußtsein, der Stolz des germanischen Kriegers in seine Glieder, und plötzlich dröhnte sein Kommando über das staunende Regiment. Und wenn das Kommando auch vielleicht etwas antiquiert war und entweder aus der Zeit des unglücklichen Krieges stammte oder überhaupt nur in den Soldatenspielen berliner Jungen vorkam, so wurde es doch von dem Regimente willig akzeptiert, und wieder hob der Tambourmajor seinen Stock und der Paukenschläger den Klöppel, und mit Tsching und Bum und quiekenden Flöten und satanisch grinsenden Leutnants hinterdrein setzte sich die preußische Kriegsmaschine in Bewegung. Und ringsum war nun alles gut und auch die Toten bis auf Weiteres vergessen und Jedermann überzeugt, daß alles, alles nun besser und immer besser würde.
Aber als der Zug die Brücke schon passiert hatte, stand eine Frauengestalt hoch auf dem Eckstein der Poststraße und auf jedem Arm hatte sie ein lebendes Unterpfand der Gattenliebe.
»Seht, Kinder den Pappa!« Und wiederum betonte sie die erste Silbe.
Und das war nun wieder Frau Urban, die mit beinahe ungläubigem und doch stolzem Staunen ihrem Gatten nachstarrte.