Fritz Reck-Malleczewen
Die Dame aus New York
Fritz Reck-Malleczewen

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Die Antike fand einen Mittelpunkt ihrer geistigen Welt im Delphischen Orakel, in jenem Nabel der Erde, jener Höhle mit ihren jenseitigen Dämpfen, wo ein von diesen Dämpfen berauschtes Weib den Verkehr mit den Göttern vermittelte, Zwistigkeiten schlichtete und Schicksale verkündete.

116 Amerika hat seinen Mittelpunkt in jenem in der Mitte der Börsenhalle stehenden Eisenring gefunden, den man gemeinhin, weiß nicht warum, den Pitt nennt. Den Pitt, an dem die Rufer im Streit der großen Börsenschlachten stehen, vor dem die Börse die Kursgestaltung genau so wie einen Orakelspruch erwartet: eine runde schwarzlackierte Eisenbarriere, von Eisenstäben getragen, an der sich dennoch mit den Geschicken von Aktien, Syndikaten, Finanzministerien die Geschicke von warmblütigen Menschen, Menschengesellschaften, Geschlechtern nebst ihrem Anhang von Weibern und Kindern entscheiden. Und wenn, ich weiß nicht welcher antike Fürst sich nach einem ungünstigen Spruch des Delphischen Orakels in sein Schwert stürzte: erleben wir es nicht täglich, daß ein Makler, ein Outsider, ein gelegentlicher Börsenspieler, sich graubleichen Gesichtes aus der Nähe des Pitts schleicht und nach zwei Stunden als blutiger Brei von den Schienen des Subways aufgelesen wird?

Man vergebe mir: dieser Vergleich ist allzu verlockend, als daß ich ihn nicht bis zu seinem Ende führen müßte. Als Pythia, als Priesterin jenes Weltmittelpunktes, wollte die Antike ein Weib sehen, das alle ihre Ideale von Schönheit und Unberührbarkeit verkörperte. Genau so verlangt der Amerikaner von den erfolgreichen Menschen des Pitts vor allem jene Eigenschaften, die den Erfolg eben legitimieren: Gesundheit, Brutalität, Schlagfertigkeit und Korrektheit. Das Gentlemanideal ist leicht, ist jedem erreichbar kraft dieser Eigenschaften; der Arbeiter hängt willig zweihundert Fuß an schlecht gesicherten Flaschenzügen über dem Hudson, er läßt sich willig von den Giftgasen einer Grube vergiften, solange der Mann da oben, der Besitzende, der Führer, stark, gesund und hart ist. Dieser Führer lasse sich von einem körperlichen Leiden zu 117 Boden ziehen, er bleibe im entscheidenden Augenblick des Börsenspiels, der politischen Versammlung Antworten schuldig: der Mann ist verloren. –

Die Vorbereitung Percyval Tarquansons für einen großen Tag in Wallstreet ist somit selbstverständlich, um so selbstverständlicher, als das Erscheinen einer Finanzgröße in Wallstreet eine ungeheuerliche Ausnahme darstellt. Um sechs Uhr morgens läßt der Marchese da Bisticci Violet Tarquanson in das Schlafzimmer ihres Gatten rufen. Ein weicher, weißlicher Arm hängt aus den Kissen, sie hört das feine Klirren der Injektionsspritzen, deren Kanüle sich in die fahle Haut bohrt. Ein verklebtes Auge öffnet sich mühsam, findet sie endlich. Und wieder der angstvolle Druck der Hand: »Ich will nicht arm werden . . . ich will nicht sterben . . . Und dann, in kläglich verschlafenem Fortissimo: »Nein, ich will nicht sterben!«

Im nächsten Augenblick nimmt der Diener den schweren Leib seines Herrn auf die Arme, trägt ihn in das bereit stehende Bad. Man hört ihn aufkreischen in dem kalten Wasser, wie einen jungen Hund, den man ersäufen will. Sie sieht den Italiener an: »Sie werden ihn töten.«

»Ich werde Ihre Absicht erreichen.«

Aus dem Badezimmer wird ihr Name gerufen. Nach dem kalten Erwecken hat man Percyval Tarquanson in ein Kohlensäurebad gelegt, die feinen Gasblasen rieseln über die welke Haut. Er liegt ganz ruhig, die spärlichen Haarbüschel auf dem Schädel kleben naß an der pergamentenen Kopfhaut, der Bauch hängt schlaff und unförmig aufgetrieben über den Beinen. Wieder steigt der Ekel vor dieser Nacktheit ihr auf. Aber da ist wieder die angstvolle Hand, und die Hand läßt sie auch jetzt nicht los. »Liebt Violet mich noch?«

Sie schließt die Augen und sagt: »Ja, mein Freund, ich liebe dich.«

118 Wieder bemächtigt sich der Diener des Kranken, frottiert die Haut mit Güssen von Eau de Cologne, daß Percyval Tarquanson stöhnend sich gegen den belebenden Schmerz sträubt. Und dann wieder die Injektionsspritze, wieder mit minimalen Gaben: das Leben schleicht in kleinen Trupps sich in den Körper, vorsichtig, vorsichtig . . . der Marchese da Bisticci will Ehre einlegen mit diesem Lebendig-Toten. »Ja, es ist gut so, es geht mir besser.« Sie beugt sich über das starre Gesicht, sieht, wie langsam Ausdruck in den erloschenen Blick kommt, wischt in einer flüchtigen Anwandlung von Mitleid das Tröpfchen Blut von dem Arm, das die Injektionsspritze dort hinterlassen hat, und geht.

Auch diese Stunde läßt sie nicht ungenützt verstreichen. Der Wagen muß pünktlich zur Stelle sein, sie bespricht sich noch einmal mit Soaper. Der Schüler Mallisons zuckt die Achseln: hat dieses Weib Whitening zahm gemacht, so wird sie auch Percyval Tarquanson nach Wallstreet bringen. Erscheint aber Percyval Tarquanson auf der Börse, so ergibt sich alles Weitere von selbst.

Dann wird sie in den anderen Flügel des Hauses zurückgerufen. Eintretend hört sie im Nebenzimmer Schritte und Stimmen: Percyval Tarquanson und der Italiener, Arm in Arm auf und ab gehend. Sie lauscht unbemerkt hinter der Portiere: ja, dieser sorgfältig angezogene Gentleman mit dem brutalen Unterkiefer und den gestikulierenden Händen ist Percyval Tarquanson. Er spricht überlebhaft, die Worte sprudeln hervor: Börsenwitze, Anekdoten erotischer Färbung. Der Italiener schweigt und lächelt wie der Satan. Als sie eintritt, wird sie überlebhaft begrüßt, Percyval Tarquanson ist ritterlich, wie an seinem verschollenen Hochzeitsmorgen. Dann biegt er wieder in sein Fahrwasser ab, der Dollarmacher von ehedem ist wieder erwacht: Radamontaden üben seine finanziellen Feldzüge, Kritiken an Mallison, der doch nichts weiter gewesen sei als 119 ein Idiot. Andeutungen über zukünftige Unternehmungen, die in seinem Munde ins Uferlose wuchern. So redet er und redet. Sie erhascht, während er weiterspricht, insgeheim den Arzt. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«

»Was Sie verlangt haben.«

»Und er wird so bleiben.«

»Er wird noch imposanter.«

In diesem Augenblick bemerkt Tarquanson ihr geheimes Gespräch, und nun trifft sie plötzlich aus diesen unsteten Augen ein Blick, ein tierischer Blick künstlich erzeugter Wollust, das schmutzige Begehren eines stimulierten Greises. Sein Körper kommt ihr plötzlich so nah, daß sie seinen heißen Atem spürt. »Nicht wahr, du liebst mich noch . . . du liebst mich noch immer?«

Der Italiener grinst verstohlen. »Nehmen Sie sich in acht, ich habe ihn gefährlich gemacht.« Sie findet einen Ausweg, indem sie Soaper jetzt kommen läßt. Sie erläutert ihrem Gatten alles, was er wissen muß. Percyval Tarquanson hört aufmerksam zu; er ist plötzlich aus jahrelangem Schlaf erwacht, er erfaßt die Rolle, die er zu spielen hat, ausgezeichnet, er macht Vorschläge, die selbst vor Soapers Ohren Gnade finden. Die ersten Nachrichten treffen inzwischen aus der City ein: Whitenings Morgenblätter sind soeben erschienen. Sie kennt die Einzelheiten noch nicht, aber sie weiß, daß das Räderwerk, das sie geschmiedet, zu spielen beginnt. Weshalb also zuckt sie zusammen unter der fetten, kurzen Hand, die Percyval Tarquanson unter dem Tisch plötzlich auf ihre Knie legt?

Ein Wagen hält vor dem Haus, ein Bote aus dem Citykontor stürzt herein: Wallstreet eröffnet . . . es eröffnet eine volle Stunde vor dem üblichen Beginn . . . man hat dem Druck der Straße nachgeben müssen . . . Der Mann ist blaß, seine Kleider sind zerrissen, man hat ihn als Mitwisser wichtiger Geheimnisse am Madison Square zwangsweise ausfragen wollen.

120 Sie sieht ihren Gatten an. »Wenn es dir also recht ist.« Auch Soaper steht auf, Percyval Tarquanson wird für die Fahrt angekleidet. Das Spiel beginnt.

Das Haus braust auf in plötzlichem Erwachen. Schrillende Telephone mit Anfragen von allen Seiten, heranrasselnde Wagen draußen, Reporter, die mit Müh und Not am Portal abgefangen werden, hundert gaffende Menschen, fünfhundert . . . tausende. Dann Polizisten, die mit dem Chaos auf der Straße fertig zu werden suchen, Ovationen, die sich da draußen vorbereiten, Parker endlich, der sich, ihren Blick meidend, scheu an ihr vorüberdrückt. Tausend an sie gerichtete Fragen, tausend Anordnungen, für die sie die Verantwortung trägt. O ja, noch hat sie sie in der Hand, die Fäden des gestern begonnenen Spieles. Es antwortet aus ihr, eiskalt, überlegen, nein . . . nie hat man Violet Tarquanson so überlegen gesehen. Dort ist Tarquansons Wagen, sie tritt an seinem Arm vor das Haus, die untadeligen Gatten einer untadeligen amerikanischen Musterehe: Singen, Hochrufe, Gesichter ringsum, Händedrücke, auf der Steinmauer die großen Augen der Filmapparate, die auf sie schauen . . . auf sie, jawohl, auf sie . . .

Aber als der Wagen fährt und sie in die Halle zurückgeht, da fühlt sie doch, daß das alles über ihre Kräfte zu gehen beginnt, es beginnt zu kreisen um sie wie ein riesiges Karussell: Menschen . . . Wagen . . . ein Chaos von Geräuschen . . . ein ungeheuerer Schwall. In ihrem Zimmer ist sie dann ganz fertig, überrannt von den ungeheuerlichen Stunden, die hinter ihr liegen. Nein, es ist nicht mehr die Furcht vor dem Schicksal, es ist grenzenlose Ermüdung, das Versagen eines Weibes, das seinen Willen für ein paar Stunden der ganzen Welt aufgezwungen hat. Und während sie daliegt und das Gesicht vor dem hellen 121 Tageslicht in die Kissen vergräbt, drehen sich die Räder des ungeheueren Uhrwerks weiter, das sie in Bewegung gesetzt hat. –

Die Schlacht, die sich zur Stunde in Wallstreet abspielt, ist entschieden, noch ehe die Großmacht Percyval Tarquanson eingreift. Joe Mallisons Prinzip, zwerghaft kleine Aktienstücke herauszugeben, seine Unternehmungen von dem kleinen Mann, gewissermaßen von dem eigenen Chauffeur finanzieren zu lassen, dieses Prinzip ist zweischneidig genug. Die Menge gewährt oder entzieht ihren Kredit nicht wie die großen Kapitalisten nach kühlen Berechnungen, sondern nach unergründlichen Sentiments: die Ohrfeige einer schönen Frau verdirbt diese Laune und ein Vermögen und ein Finanzgenie ersten Ranges werden umgeweht. Ein Weiberschoß zwingt die Straße, für ein paar Tage anders zu denken, und es bedarf nicht mehr der Börse, um ein gigantisches Vermögen wieder zu festigen.

Tatsache ist, daß in diesem Falle die Menge – Outsider und berufsmäßige Spekulanten – nach dem Finanzviertel drängt, wie sie vor zwei Tagen, bei den Meldungen über Mallisons Zusammenbruch nach dem Presseviertel, nach den großen Fabriken der öffentlichen Meinung drängte. Tatsache ist, daß die soliden Türen Wallstreets, noch ehe sie geöffnet werden, unter dem Druck der andrängenden Menschenflut bersten, daß die eindringende Menge, wie einst auf dem Krönungsfelde eines im Blute ertrunkenen Zaren, alles niederstampft, was das Unglück hat, auf den Stufen zu stolpern. Hinten schlagen Schutzleute – durchaus unerhört für New York – vergeblich mit ihren Knüppeln auf die Menge ein: man ist taub und unempfindlich für alles, was nicht Kurszahl ist. Die Makler innen sehen sich rasenden Tieren gegenüber, stehen totenblaß da, in Kleidern, die man zerfetzt hat im Kampf um die 122 Magalhães-Bonds, sie drängen sich zu einem zitternden Haufen zusammen unter dem ungeheueren Menschendruck. Der Wahnsinn rast den Weg der letzten Tage wieder zurück: wo Schwindelnachrichten die Kurse gedrückt haben, treiben nun neue Schwindelnachrichten die Zahlen wieder in die Höhe . . . neue Erzfunde . . . eine Stützungsaktion der Regierung für den Konzern . . . wer noch zweifelt, wird niedergebrüllt. Was hier kauft, kauft zum größten Teil im Auftrag der Straße, für Leute, deren Finger sichtbare Abdrücke auf den Papieren hinterlassen werden. Gleichgültig, ob diese Kapitalisten des East Endes, diese Spekulanten aus Arizona und Texas hinterher mit zu ungesund hohen Preisen gekauften Papieren sitzen bleiben: der Zwischenhandel wittert nun einmal die ungeheure Hausse – die letzte, die dieser antike Säulenbau erlebt. Man reißt an sich, was zu haben ist, man ist bereit, sich gegenseitig die Kehle abzuschneiden, um diese Papierstöße mit den grünen Litographien des Konzernes zu erobern.

Daß Percyval Tarquanson hier, wo man seit Jahrzehnten keinen der großen Finanzmänner in eigener Person gesehen hat, selbst erscheint, steigert unter den gegebenen Umständen den Wahnsinn zur Raserei. Zehn Minuten nach Börsenbeginn, als die Kurse den Emissionswert der Papiere um dreiundvierzig Dollar und fünfzig Zent überschritten haben, sichtet man seinen tief brummenden bordeauxfarbenen Wagen in der Nassaustraße. Man erkennt ihn zunächst nicht, man empfindet das Erscheinen eines hundertpferdigen Automobils als das unbefugte Eindringen der Hochfinanz in die Börsenrechte der Straße. Als der Wagen rücksichtslos in die Menge stößt, macht sich dieses Gefühl in einem Wutschrei Luft, und es ist ein Glück, daß einer der Börsenmänner, Tarquansons Namen über die 123 Köpfe hinwegbrüllend, die Situation rettet.. Dann geschieht es, daß ein baumlanger Lastträger von den Hobokener Peers den Schlag aufreißt. In dieses Gesicht eines erfolgreichen Ringkämpfers starrend, versteht Tarquanson die Situation falsch, fährt zurück, stottert etwas wie eine Entschuldigung und begreift das alles auch da noch nicht, als er, herausgerissen aus den Lederpolstern, auf den Schultern dieses Ungetümes über der Menge reitet. Aber dann gellen wieder die Cheers, und wieder strecken sich Hände nach der seinen aus, und er zieht als Triumphator dieser irrsinnigen Börse in die Hallen von Wallstreet ein.

Sowie er die bekannten, lange nicht mehr gesehenen Gesichter der Makler auftauchen sieht, gewinnt er seine Haltung wieder. Er hat nicht viel zu tun, er hat einfach dazustehen und würdig und ruhig auszuschauen, er hat hin und wieder einen Gruß zu sagen und populär zu sein. Und während er so dasteht, ein Hoherpriester des Großkapitals, ein Hausseautomat, der vorn Hände drückte, während hinter ihm hundertarmige aufgeregte Menschen seine kletternden Aktien ausschreien, steigen Magalhães-Mines und schweben mit ihren phantastischen Zahlen an dem rosaroten Himmel eines großen Börsentages, an dessen Abend es eine soziale Frage, ein auf Entbehren sich gründendes Menschenleid notwendigerweise überhaupt nicht mehr geben kann.

Genau eine Stunde nach Tarquansons Aufbruch hält sein Wagen mit Parker vor der Tür des Hauses in Blythebourne. Er tritt blaß und abgespannt vor sie: »Ich wünsche Ihnen Glück. Sie sind wieder reich.«

»Und was weiter?«

Er sieht sie an: sie sieht hilfsbedürftig und elend und doch so unnahbar aus, daß er ihr nicht ein persönliches Wort zu sagen wagt. »Herr Tarquanson bittet Sie, ihn von Wallstreet abzuholen. Es wird einen guten Eindruck machen, wenn Sie sich mit ihm zeigen.«

124 Sie erhebt sich, trinkt gierig den Kelch mit dem schwarzroten Chilewein leer, bleibt einen Augenblick mit geschlossenen Lidern stehen, schüttelt sich, als wolle sie irgend etwas Schweres von sich werfen. Dann gehen sie gemeinsam zum Wagen.

Am unteren Broadway bleibt ihr Wagen in dem Menschenknäuel stecken. Als sie die Augen unter den pochenden Schläfen hebt, sieht sie in dem Wagen nebenan ein bekanntes Gesicht: Whitening. Er kann ebensowenig weiter wie sie, er neigt sich aus dem offenen Fenster, um sie zu begrüßen. Er ist nicht unsympathisch in diesem Augenblick, er ist ein verprügelter, gedemütigter Mensch, als er sich über ihre Hand neigt. Sie hat keine Augen, das zu bemerken, sie zuckt unter seiner Berührung zusammen, fährt unwillkürlich mit dem Taschentuch über die Stelle, die seine Lippen berührt haben, zieht lässig das ominöse Papier hervor, reicht es ihm wortlos zurück. Da bäumt sich in der armseligen, vom Leben mißhandelten Kreatur die Wut gegen diese Gesunde, Starke auf: »Hat Violet Tarquanson etwa vergessen, daß morgen, wenn ich es will, drei Millionen Menschen die Geschichte dieses Papieres da erfahren?«

Sie hebt nachlässig die Augenlider: »Ich glaube, sie hat ihre Reitpeitsche vergessen.« Er windet sich unter der neuen Demütigung, er schleicht sich in seinen Wagen zurück, er wird nie vergessen. Parker, der sich aus dem anderen Fenster heraus mit Bekannten unterhalten hat, bemerkt ihn erst im letzten Augenblick. »Er hat sie beleidigt?«

»Er hat seine Kräfte überschätzt«, antwortet sie und lächelt. Da öffnet sich endlich die Menschengasse. Makler, Agenten ihres Gatten, wieder die gestikulierenden, glückwünschenden Hände, eine Wolke von Geschrei und Huldigungen . . . sie weiß nicht, wie sie die Stufen hinaufkommt. Ihren Gatten findet sie in einem der kleinen Seitenkabinette, auf einem Diwan liegend. Der 125 Marchese da Bisticci, der ihn hierherbegleitet hat, beugt sich wieder mit der Injektionsspritze über ihn. Sie nimmt den Arzt zur Seite. »Sie wollen ihm noch mehr geben?«

Er zuckt die Achseln. »Wie denn nicht? Man darf es ihm nicht plötzlich vorenthalten, schöne Frau, man muß sich ausschleichen, man muß eine Diplomatie des Giftes treiben, schöne Frau, verstehen Sie mich . . . eine Diplomatie des Giftes.«

Es ist nichts. Percyval Tarquanson hat die leichte Ermüdung sehr bald überwunden, er geht würdig über das mit Papieren, verlorenen Taschentüchern und zerrissenen Zeitungen bedeckte Blachfeld, er passiert in imposanter Würde draußen die Huldigungen der wartenden Menschen, Börsensieger, Besitzer der schönen Frau an seiner Seite. Am Wagen verabschiedet er in aller Kürze Parker und Bisticci. Und plötzlich, urplötzlich, als der Wagen sich in Bewegung setzt, als sie in dem Coupé neben ihm sitzt und durch ihr dünnes Kleid seine Körperwärme zu ihr kommt, da faßt wieder Angst nach ihr. Sie sieht ihn verstohlen von der Seite an: ja, das ist es . . . die Erinnerung an den großen, brutalen Menschen, der einmal sie, die verarmte schottische Adelige geheiratet hat. Und sie sieht sich am Tage dieser Hochzeit an seiner Seite, genau wie jetzt, im Wagen sitzen, der sie dann nach Tarquansons Besitzung am Clynefluß geführt hatte, sie sieht in der herbstlichen Auffahrt alle die Piqueure ihres Vaters ihr die Abschiedsfanfare blasen und hört diese schmetternden Hornrufe, die ihr noch in das Elend der Nacht gellten. Und genau wie damals hat sie das Gefühl, aufschreien, herausspringen zu müssen aus der Enge der Wagenpolster, in letzter Stunde zu entfliehen. Ohne eigentlich zu wissen, was sie tut, erhebt sie sich und ruft den Wagenlenker an. Aber der hört in dem Tosen der 126 Straße den Ruf nicht, und wie damals, fühlt sie plötzlich eine breite Hand auf ihrem Knie. »Was ist?«

»Ich will nicht weiter fahren.«

Er sieht sie sachlich an, sachlich, wie ein Viehtreiber ein müdes Rind anschauen mag. »Wir sind gleich zu Hause, wir werden frühstücken, wir beide.« Sie drückt sich in die Ecke und erwidert nicht mehr.

In ihrem Zimmer kleidet sie sich um, nimmt ein puritanisches, graues Reisekleid, wirft sich wieder auf das Ruhebett, zu Tode erschöpft. Ah, hundert Jahre verschlafen können, den ganzen Lebensrest. Die Augen fallen ihr zu nach den ungeheueren Strapazen der letzten Tage, die Gedanken verwirren sich wohltätig. Aber da ist Tarquansons Stimme zu hören. Sie springt auf, geht hinaus, fragt, wo das Frühstück gedeckt sei. Der Lakai, in der roten Livree einem Henker ähnlich, zeigt nach Tarquansons Kabinett. Sie will Einspruch erheben, sieht sich plötzlich ihrem Gatten gegenüber. Er sieht unzufrieden ihren Anzug. »Man kleidet sich an solchem Tag nicht wie zu einer Hinrichtung.« Er bettelt um das frivole Kleid des letzten, gemeinsamen Opernabends, er bettelt und befiehlt doch. Sie hat Mühe, ihn aus ihrem Zimmer zu entfernen, als sie sich wieder umkleidet.

Dann sitzen sie sich zwischen Gobelins gegenüber. Er trinkt, zum erstenmal seit den langen Jahren, in denen er nichts hat vertragen können, den tödlich schweren Kubaner, den die Weinfarmen in Cienfuegos für ihn liefern. Er spricht von der überwundenen Krise des Hauses, er spricht von dem, was er jetzt vorbereiten wird, jetzt, wo er wieder gesund sei, wo Mallison ihn nicht mehr stören wird. Er spricht nicht mehr überhastet, wie unter der ersten Wirkung des Alkaloids am Morgen; etwas von dem Parvenue großen Stiles ist wieder erwacht, die Welt, ein riesiges 127 Ausbeutungsobjekt für Tarquansonsche Pläne, legt sich einer schönen Frau, einem hinter Haremsgittern gehaltenen schönen Luxustier zu Füßen. Und nun legt sich sein Arm auf ihre entblößten Schultern. Sie wehrt ihn ab, sieht nach der geschlossenen Polstertür, macht sich in rasender Angst klar, daß die dicken Gewebe jeden Laut verschlingen müssen. Sie versucht, sich an ihre fröhliche Stärke von gestern, an sein körperliches Elend von diesem Morgen zu erinnern. Aber sie ist eben zu Ende mit ihren Kräften, sie findet keinen Anschluß an das, was sie noch gestern gewesen, und sie fühlt, daß sie heute nichts anderes ist, als ein widerstandsloses Weib, ausgeliefert jedem brutalen Mann . . . Ja, auch diesem hier, dessen Brutalität erborgt ist. Wieder fühlt sie seine Hand auf ihrem Fleisch, fühlt den Kelch an ihren Lippen, den er ihr entgegendrängt. Da glaubt sie in ihrer Verzweiflung an die Kraft, die der Wein ihr bringen könne, und trinkt mit einem Zuge den Kelch leer.

Percyval Tarquanson beginnt zu essen – zum erstenmal seit langen Jahren ohne Rücksicht auf alle ärztlichen Vorschriften wie ein ausgehungertes Nilpferd zu schlingen. Sie beschwört die letzten Reste weiblicher Schlauheit, sucht ihn abzulenken, scherzt über Parker, über ihre gemeinsame Reise und erreicht das Gegenteil von dem, was sie will: Eifersucht, längst verstaubte Eifersucht steigt in Percyval Tarquanson auf, er sagt ihr, daß er für die Zukunft derartige Reisen, über die New York spräche, nicht mehr gestatten könne. Ein rettender Gedanke fliegt durch ihr Hirn. »Sieh selbst, daß Parker ein harmloser Liebhaber ist, ja, lassen wir ihn doch kommen . . .«

Sie ist aufgesprungen, sie versucht sich ans Telephon, ins Freie zu retten, spürt den lähmenden Kubaner in den Gliedern, fühlt sich zurückgerissen auf die Polster, wehrt sich und spürt seine verzweifelt in diese Minute zusammengeballte Kraft. Sie ringen 128 stumm, bis er sie endlich atemlos niederhält. Sie zittert in seiner Hand wie ein gefangener Vogel, sie sieht seine trockenen Lippen dicht an ihrem Mund, will vor Ekel schreien, würgt in der Angst nur einen halberstickten Laut hervor. In seinem unsteten Blick die Spuren des Alkaloids erkennend, verfällt sie auf eine letzte List. »Du bist krank, mein armer Freund, man hat dir zu viel zugemutet heute morgen.«

Da zwingt er sie, als wolle er sie Lügen strafen, auf die Kissen nieder, ringt ein zweites Mal mit ihr, bricht mit rohem Griff ihr verzweifeltes Wehren. In ihren Schläfen hämmert es, daß das das Ende sei, sie stößt ihn mit den Füßen von sich, sie schreit auf; die feiste, weiche Hand greift nach ihrer Kehle, sie greift ein zweites Mal zu und zerreißt das dünne Kleid, daß die Seide mit schrillem Laut birst. Da bricht der Wille, zu widerstehen, in ihr zusammen, sie liegt hilflos da, in ihr Schicksal ergeben. Er nimmt sie, greisenhaft, freudlos, doppelt das Weib schändend. –

Dann schläft er schnarchend ein. Als sie sich über ihn neigt, sieht sie in ein erschlafftes Gesicht, aus den hängenden Mundwinkeln fließt Speichel auf das Kissen: die erborgte Manneskraft ist zusammengebrochen, Percyval Tarquanson ist eine ekelhafte Karikatur, ein Kothaufen, an dem sie sich besudelt hat. Er erwacht nicht, als sie sich erhebt. Sie sieht sich um, sieht auf seinem Schreibtisch die scharfe Steinaxt, die Parker ihm von den bolivischen Ausgrabungen geschickt hat, greift nach der Waffe und steht vor ihm, eine geschändete Judith vor einem Zerrbild des Holofernes. Wie sie so dasteht, schlägt er ein blödes Auge auf, begreift in der Schlaftrunkenheit nicht, was das alles zu bedeuten hat, und schnarcht weiter. Da legt sie die Axt beiseite, kauert auf dem Teppich nieder, liegt eine Weile so, leise wimmernd in ihrer Beschmutztheit.

129 Dann, halb mechanisch, rafft sie sich auf, schleicht nach der Tür, öffnet einen Spalt, lauscht, späht, stiehlt sich blitzschnell in ihrem zerrissenen Kleid über die leere Halle hinweg in ihr Zimmer, wäscht in unsäglichem Ekel die Schmach der Stunde im Bade ab. Dann kleidet sie sich blitzschnell an, stiehlt sich aus dem Haus, läuft eine Weile nordwärts, erhascht einen von Parkville zurückkehrenden Wagen, irrt eine Weile bei Flatbush Station umher, entgeht, geistesabwesend auf dem Platze umherirrend, nur durch die Intervention eines Wachtmannes den Rädern eines dahinsausenden Automobiles. Sie bedankt sich nicht bei dem Manne, als sie wieder auf der sicheren Gehbahn steht. Sie geht starren Blickes weiter, der Mann, der sie mit eigener Gefahr geborgen hat, sieht ihr kopfschüttelnd nach. Eine eiskalte Regenbö prasselt nieder, durchnäßt sie im Augenblick. Sie geht gleichgültig weiter, weiß selbst nicht wohin, sieht sich nach einer halben Stunde auf der Brooklynbrücke. Sie sieht eine Weile, ohne zu wissen, was sie da eigentlich sieht, die Arbeitermassen vorüberziehen, denen die große Krise ihren Erwerb gelassen hat: graue Menschen, unter allen Breitengraden der Erde gezeugt – dennoch eines Gesichtes, Kinder der Maschinen, ausgemergelt, stumpf, müde, zukunftslos, das Stoffwechselprodukt einer verfluchten Wirtschaftsform.

Wie es kommt, weiß sie selbst nicht: sie gerät mitten in die Wellen dieses grauen Menschenstromes, sie wird über die Brücke geschoben, sieht sich in Manhattan, geht den Broadway abwärts, biegt schließlich, immer noch ohne jede Ueberlegung, in die Weststraße ein. Hier, wo New York trotz der Nähe der Hobokener Piers von der vorigen Jahrhundertmitte her sich etwas Kleinhändlerisch-Spießerhaftes bewahrt hat, wird sie angestarrt, flüchtet sich vor den Leuten, die der durchnäßten, verstörten Frau nachschauen, durch die Lastwagenzüge hindurch dem Kai zu. Ein 130 Riesendampfer wird – er hat leichte Schlagseite – drüben abgeschleppt, die Hobokener Fährboote mit dem phantastischen, Pumpwerken gleichenden Aufbau ihrer Balancierstangen kommen und gehen bedächtig, verschlingen ungeheuere Menschenmassen, verspeisen ganze Lastwagen und verschwinden mit ihrer Fracht in dem Grau. Der Fluß, der irgendwo über blitzenden Buntkieseln geboren wird, schleicht sich, fettschillernd, schwarz, giftig, dem großen Reinigungsbad des Ozeans zu, langsam, müde . . . die Nebel wallen. Vergessenheit ist hier allem Menschenlärm zum Trotz, Vergessenheit, die an ihren Gliedern zieht, hierher, ganz nahe heran an den Kairand, hinunter, tief hinunter . . .

Als sie sich gleichgültig, müde, stumpf über die Kette beugt, die noch zwischen ihr und der Tiefe ist, wird sie beiseite gestoßen von harten Händen. Rufende Männer laufen an ihr vorüber, klettern über die Ketten, zeigen auf das träge Wasser, in dem irgend etwas Undefinierbares auftaucht und verschwindet, fischen mit einer langen Stange in dem Wasser, bringen eine zweite, fahren wieder mit ihren Eisenhaken hinab und bergen schließlich ihren Fund. Sie erwacht aus ihrer Erstarrung, sieht es, prallt zurück vor Entsetzen und Ekel. –

Sie werden nicht oft in ihrer Ruhe gestört, die Toten des Hudson, sie haben schließlich ihre Qual dahin. Sie sind mitten aus der Orgie eines der Gettos heraus mit geknebeltem Mund an den Peer geschleppt, gebunden, mit einem Pflasterstein beschwert: far well! Oder sie hatten eine plötzliche Sehnsucht nach der heimatlichen Sonne Siziliens, sie finden nicht mehr heraus aus den engen Straßenschluchten New Yorks in die Heimat: vergessen, fort. Sie haben alles in dreißig Jahren Zusammengeschuftete auf eine einzige Wallstreetkarte gesetzt, sie haben verloren, sie haben 131 weder den Mut für weitere dreißig Sklavenjahre, noch den Mut für die Räder des Subways, die ihnen die Eingeweide aus dem Leibe reißen: der Hudson besorgt dieses Geschäft scheinbar sanfter.

Und da sie, wie gesagt, ihre Qual dahin haben und weil der Schlamm, vom Unrat eines Großstadtjahrhunderts abgelagert, unergründlich ist, so gibt der Fluß sie selten wieder, und die große Hand zerstäubt sie, ohne daß die Hafenpolizei Veranlassung hat, sie als Bruder Unbekannt irgendwo einscharren zu lassen. Dieser hier, der auf dem Peer nächst der Weststraße gelandet wurde, mochte lange geschlafen haben dort unten, war von einer Schiffsschraube, einem Anker vielleicht heraufgeholt, besaß nicht alle seine Glieder mehr, war ebensowenig ein Mensch schon, wie es die armen namenlosen Puppen der Anatomiekeller sind.

Violet Tarquanson weiß zunächst nicht, was dieses Bündel zu bedeuten hat. Aber dann wird sie plötzlich von unsäglichem Grauen aufgerüttelt, sie zuckt zusammen bei dem dumpfen Geräusch, mit dem der Schädel, ein gleichgültiger Gegenstand, auf die Steine gelegt wird, und sieht sich plötzlich Aug in Aug mit einem unmenschlich gewordenen, zerfließenden Gesicht. Da schreit das Leben in ihr auf, und sie wendet sich ab von dem Tod und läuft fort, ohne zu wissen wohin.

Wie sie bei ihrer Ermattung die sehr beträchtliche Entfernung dieser Stelle bis zum Zentralpark zurückgelegt hat, ist später nie festgestellt worden. Sie weiß später selbst nicht einmal, ob sie dort oben gewesen ist. Im sinkenden Tageslicht beobachtet oben bei den Teichen ein Beamter eine merkwürdig an Violet Tarquanson erinnernde Frau in durchnäßten Kleidern und mit wirren Haaren. Diese Frau schmiegt sich an eine der häßlichen Marmorgruppen, die hier stehen, redet anscheinend mit sich selbst, lacht gellend auf, zuckt 132 plötzlich, als irgendwo in der Nähe die Uhren schlagen, zusammen, setzt in weiten Sprüngen, ehe der Beamte sich ihr so weit genähert hat, durch die Anlagen und verschwindet in der Richtung der fünften Straße. –

Es gibt in New York ein im Sinne des Amerikaners so ehrloses Häuserviertel, daß man eigentlich nicht einmal einen Namen für diese Gegend hat. Es ist ein Bezirk von einem nur geringen Umfang, nicht weit von Wallstreet und nicht weit von den Peers der Südstraße entfernt, ohne daß je einer der dort aus- und eingehenden Menschen es jemals betreten hätte. Man sieht es von Battery, von den Booten aus, die nach der Gouverneursinsel fahren, man hört, wenn man sich wirklich einmal dorthin verirrt, deutlich das Brausen des großen Verkehrs am Broadway und der Nassaustraße, und weiß dennoch nicht, wenn man wieder in der Pearlstraße steht, wo man eigentlich gewesen ist. Man sieht Häuser dort, die wie Gespenster einer anderen Zeit in das New York unserer Tage ragen, Häuser mit breiter, patrizischer Einfahrt und verwittertem Barockstuck, man sieht sogar ganz engbrüstige Häuser sich aneinanderzwängen mit engen Stiegenhäusern – Reminiszenzen an eine Zeit, wo ein gottsuchendes Geschlecht allzu winzige Menschenwohnungen schuf, weil seine Dome allzu kühn gen Himmel sich erhoben.

Möglich und wahrscheinlich, daß dieses das Ur-New York ist, damals entstanden, als die ersten sich hier ansiedelnden Kaufleute sich nach der Behäbigkeit Europas zu sehnen begannen. In jedem Falle fühlt man, daß dieser Stadtteil ein lächerlicher Anachronismus ist, der nicht hierher gehört. Man sieht, daß diese Häuser namenlos vernachlässigt, daß ihre Fenster eingeschlagen sind, daß die Türen mit den kunstvollen Beschlägen schief in ihren Angeln hängen, man entdeckt 133 wohl gar, wenn man diese Lebendig-Toten etwas näher sich betrachtet, hinter zerbrochenen Scheiben eine eingestürzte Decke, auf deren Schutthaufen Unkraut wuchert. Man sieht so gut wie nie einen Bewohner dieses Viertels, obwohl ein Kilometer davon eine Handfläche Boden 1000 Dollar kostet. Trifft man dennoch einmal einen Menschen hier an, der so vertrauenerweckend ist, daß man ihn anspricht, so zuckt er entweder die Achseln, ohne eine Auskunft zu geben, oder er gibt einem den Rat, sich aus dem Staube zu machen oder erzählt eine grausliche Geschichte, wie Amerika trotz oder wegen einer Jenseitslosigkeit sie liebt: dort wurde einer überfallen, in jenem Hause sieht man, obwohl doch niemand dort wohnt, in nebelichten Nächten Licht, das dann doch wieder nicht da ist, wenn man sich nähert. Und dort in dem Keller jenes alten Kastens wurde vor zehn Jahren die Hökerin Rosa Salzie ermordet und schreit heute noch nächtlings nach Hilfe, und der Journalist, der daraufhin eine Nacht dort zuzubringen beschloß, hat am nächsten Morgen das Haus als Wahnsinniger verlassen . . . Ja, Herr . . .

Es geschieht in der Pearl Street, an der Grenze dieser verbotenen Stadt, daß sie noch einmal von einem der Agenten gesichtet wird, die seit den Tagen des großen Morgan-Attentates die Umgebung des nahen Finanzviertels überwachen. Dieser Mann kennt Violet Tarquanson ganz genau, er hat sich auf keinen Fall getäuscht, glaubt aber an irgendeinen verschwiegenen Gang einer eleganten Frau, wie er in jeder Großstadtgesellschaft vorkommt, und beschließt, nichts gesehen zu haben. Inzwischen ist sie in den Dachsbau kleiner Gassen eingedrungen und irrt herum und weiß nicht, wie sie Grave Street finden soll. Es ist totenstill hier zwischen den himmelhohen Mauern, morsches Holz flimmert von den Kellerhälsen, die in unbekannte 134 Tiefen führen. Irgendwo schlurfen Schritte; sie drückt sich in den engen Vorplatz, der ein zurückspringendes Haus von der Gasse trennt, sieht ein altes, gebeugtes Weib mit einer rätselhaften Last auf dem Rücken durch den Lichtkreis schleichen, den – sie ist trotzdem in New York – eine Petroleumlampe aus zerbrochenen Scheiben spendet. Es riecht nach Jahrhunderte alten Salpeterablagerungen und fauligem Urin, irgendwo rascheln Ratten. Eigentlich müßte sie sich jetzt fürchten. Sie ist dennoch ganz ruhig; es ist unabwendbar alles, unausweichlich – es hat keinen Sinn, noch einmal fortzulaufen . . . nein, es hat keinen Sinn.

Und so dringt sie tiefer vor in diesem Labyrinth, drückt sich an schmutzstarrenden Mauern vorbei, überklettert die Pfützen, in denen der graurote Himmel des fernen, des anderen New York sich spiegelt. Es ist kein Mensch hier, den sie fragen könnte, die Zeit verstreicht – wie soll sie Grave Street finden? Nach Süden einbiegend nähert sie sich wieder den Piers des Osthafens, man kann die grünen und roten Lichter der Schlepper durch den Nebel streichen sehen von ferne. Und hier, ganz nahe dem Ausgang der gestorbenen Stadt geschieht es dann doch, daß sie plötzlich Schritte hinter sich hört, scharf, schreckhaft deutlich in diesem Dunkel . . . immer näher, unwiderruflich, wie des Todes Schritt. Und wenn auch noch nichts zu sehen ist in dem Dunkel: sie kennt ihn dennoch, diesen Schritt und den unsichtbaren Wanderer. Sie könnte wohl fliehen, sie hätte ja nur fünfzig Meter zu laufen. Sie fände hilfsbereite Menschen, bewaffnete Beamte, die ganze sichere Zivilisation des großen Amerika: sie bleibt dennoch stehen und wartet. Und nun ist es zu spät, und nun biegt es um die Ecke, und da steht vor ihr der Mann, dessen Ruf sie hierher gefolgt ist.

135 Sie ist nicht einmal überrascht, sie ist weit entfernt von jeder Abwehr, sie ist nichts anderes als unbeschreiblich demutsvoll, unterwürfig wie die Dirne, wenn ihr am Gartenzaun des letzten Vorstadthauses der Mörder das Messer in den Leib stößt. Und nun sie weiß, daß sie sich für immer von ihrer Rasse getrennt hat, klammert sie sich plötzlich an den fremden Mann, zittert in seinen Armen, findet kein Wort, keinen Gruß, hat nichts anderes, als diese stumme Hingabe, und läßt sich fortführen.

Wohin diese Wanderung geht, weiß sie nicht, sie sieht ja dieses Elendsviertel nie wieder. Sicher ist, daß sie sich vom Strom wieder entfernen, wieder in die Tiefe der dunklen Gassen. Auf einem engen Platz endlich, wo eine verdorrte Pappel ihr Skelett in den Nachthimmel reckt, bleibt er stehen. Irgendwo gähnt ein Haustor, ein leiser Pfiff tönt, eine kleine Gestalt – sie erkennt nun den Boten von gestern – taucht aus dem Dunkel. Das Tor vor ihnen öffnet sich geräuschlos, schließt sich wieder, unwiderruflich. Sie steht, verwirrt von all dem Dunkel. »Wohnst du hier?« fragt sie, und schmiegt sich an ihn.

»Hier und anderwärts.«

Da blitzt ein Lichtschein auf, ein schmutziges altes Weib, großkiefrig, einäugig, verkommen, schlurft heran, leuchtet ihnen mit einem elenden Kerzenstummel. Sie passieren einen engen Gang, unter den morschen Dielen quillt Unratwasser auf, die Alte verschwindet wieder in einem seitlichen Schmutzloch, einer verkommenen Pförtnerloge. Eine neue Tür vor ihnen öffnet sich, Matten heben sich, bunter Lampenschein flammt auf um die Gestalt eines riesengroßen Shiks. Zwei Meter groß, die blauschwarzen Bartwulste zusammengeflochten unter dem adeligen Gesicht, hält Indien Wache an der Schwelle Asiens, das sich so tief verbirgt hier in 136 Amerika unter Elend und Verkommenheit. Hinter ihnen schließt sich abermals der Riegel. Alles, was davor liegt, ist unerreichbar für sie für immer. –

Dann tut der Sesam sich auf: Vorhänge heben sich zur Seite, in dem halbdunklen Vorgemach zwitschern die Stimmen zwerghafter Boys und werden aufgesogen von den kniehohen Teppichen des Bodens. Schreckhafte, gepanzerte Bronzegötzen mit leuchtendem Gebiß blitzen im Hintergrund auf vor dem Farbenreigen der Wandmatten. Fein und scharf duftet der Orient, beizend und süß, als stünden Wälder vorweltlicher Farne in Brand, und Steppenwind trüge den Duft ihrer Flammen über die Ebene.

Da steht sie in dem bunten Schein und fröstelt, weiß nichts anderes, als sich an den großen, den schrecklichen Mann da zu klammern.

»Nimm andere Kleider und komm wieder.« Eine junge Mongolin taucht auf aus den Wandteppichen und führt sie fort. In dem heißen Bad, das auf sie wartet, fühlt sie das Leben wiederkommen, dehnt wohlig die erstarrten Glieder und schließt die Augen. Aber mit dem Leben will die Erinnerung an den Tag, der hinter ihr liegt, kommen. Sie glaubt plötzlich Tarquansons Hand zu fühlen, sieht das schlaffe Gesicht mit den hängenden Fettpolstern und dem blutigen Riß in der trockenen Unterlippe, zuckt zusammen und fährt auf. Da sehen die Augen der farbigen Dienerin auf ihre Nacktheit, und ihr Gesicht ist voll der unsäglichen Verächtlichkeit, mit der die Chinesin dem weißen Menschen begegnet. Gewiß, sie kennt diesen Blick – man muß ihn wohl ertragen lernen! Sie richtet sich auf und läßt ihren Leib pflegen und nimmt die weiten Seidenhosen des chinesischen Frauenkleides und den Chignon mit den bunten Glasperlen. Dann geht sie in das Zimmer zurück, in dem ihr Freund wartet.

137 Sie findet ihn ausgestreckt auf der Matte, die Boys, zwischen denen er liegt, mühen sich mit dem Rauchgerät. Der blaue Seidenmantel hat den Europäer verschwinden lassen: auf die Ellenbogen gestützt, mit den eiskalten, bernsteingelben Augen jede Bewegung des Weibes verfolgend, hat er die statuarische Ruhe einer großen, wartenden Katze.

Er winkt die Boys fort. »Diener oder Lustknaben?« fragt sie leichthin, als die winzigen Gestalten wie kleine bunte Tropenvögel davonhuschen. Da trifft sie wieder der verächtliche Blick.

»Eine Frage für Europäer.«

»Und die Antwort?«

Er wirft sich hintüber, daß die weiten Aermel seines Mantels den Arm freigeben. »Lust ist alles«, sagt der Earl of Hensbarrow.

»Und was ist hinter der Lust?«

»Hinter der Lust kommt der Tod.«

Sie zuckt zusammen, sieht ihn an. Nun ist in dem Gesicht der Sphinx nichts anderes zu lesen als tödliche Grausamkeit. Da versucht sie, die Furcht durch Koketterie zu betäuben: »Wenn alles Lust ist . . . war ich nicht immer in deiner Gewalt? Wenn alles Lust ist . . . weshalb holte der starke Earl of Hensbarrow nicht die schwache Violet Tarquanson schon am ersten Tage zu sich?«

Er ändert seine Stellung nicht: »Er wußte, daß sie von selbst kommen würde.«

Da steht sie vor seinem Lager, das Vergangene foltert sie: »Ein Tag . . . eine Nacht . . . eine kurze Zeit . . . Wieviel Männern, glaubst du, hat Violet Tarquanson gehört seit gestern?«

Er antwortet nicht, er liegt noch immer ruhig und lächelt. Sie sieht ihn überrascht an: »Du fragst nicht, bist nicht eifersüchtig?«

138 »Ein Ding für Europäer.«

Da schreit sie auf in der Qual ihrer Befleckung. »Willst du mich nehmen und den Geruch des anderen spüren?«

Der Earl of Hensbarrow steht ruhig auf von seiner Matte, bleibt gerade vor ihr stehen. Ihr in die Augen sehend, antwortet er: »Unrein ist, wer nie vergessen kann. Du wäschst deinen Leib, und das Vergangene ist fort.«

Sie sieht ihn ungläubig an: »Und alles ist fort?« Und plötzlich, das große Reinigungsbad des Vergessens begreifend, dehnt sie die Arme in die Höhe und schreit auf in unendlicher Befreiung. Da bricht alles nieder, was zwei Jahrtausende an Hemmungen aufgerichtet haben in ihrem Blut, und des Christenapostels Lehre von dem für immer geschändeten Leib, von Sünde und Buße ist fortgespült von dem Strom der fremden Welt.

Da springt der andere auf, springt sie wie ein Raubtier an. Sie ringen stumm in dem bunten Licht, der Mann und das Weib. Noch einmal macht sie sich los mit verzweifelter Kraft, stößt ihn von sich, daß der riesige Mann zurücktaumelt. Da steht sie mit keuchender Brust, starrt ihm in das eisige Gesicht, das auch die Wollust nicht erwärmt: »Hüte dich, du! Ein Sauhirt kann eine betrunkene Königin umarmen, aber wenn sie erwacht . . .«

»Dann?«

»Dann tötet sie ihn!«

»Und was tust du?«

»Wenn du dich ausgibst für einen, der du nicht bist – wenn du dich nur vermummt hast, werde ich dich töten!«

Er sieht ihr ruhig ins Gesicht: »Nach der Lust kommt der Tod – mir oder dir.«

139 Da läßt sie sich still und klaren Sinnes in seine Arme nehmen; und unter dem bunten Farbenspiel der Laternen fließen sie ineinander, die beiden Welten, die sich ewig umgeben, in ewigem Haß und ewiger Liebe. –

Als sie erwacht, findet sie sich allein. In dem einsamen Gemach läßt sie den Blick herumschweifen, sieht endlich den Lampion zu ihren Häupten: aus dem Farbenkreisel starrt ein Totenkopf ihr entgegen, halb verwest, mit verrotteten Haarbüscheln auf der modrigen Haut, fletscht gelbe Zähne und streckt die skelettierte Hand nach ihr aus. Das alles steht so plötzlich vor ihr, daß sie aufschreit.

Er erscheint geräuschlos hinter dem Teppich. »Was ist?« Sie deutet stumm auf die Lampe. Er lächelt, läßt eine andere Lampe bringen und verabschiedet den Boy mit einem Fußtritt.

»Oishi-San, die in der Ampel ihrem Gatten erscheint,« erklärt er, »Hokusai, der Japaner, liebte solche Spielereien.«

»Und weswegen erschien Oishi-San ihrem Gatten?«

»Weil er sie zu Tode gequält hatte.«

»Und weswegen hatte er sie zu Tode gequält?«

»Weil er ihrer überdrüssig geworden war.«

Als sie schweigt, neigt er sich zu ihr: »Fürchtest du dich?«

Da wirft sie sich mit wildem Schrei in seine Arme: »Vor dem Tod kommt die Liebe!« –

Abermals erwachend in tiefer Nacht findet sie ihn halb aufgerichtet, mit dem breiten japanischen Richtschwert spielend, das zuvor zu ihren Häupten gehangen hatte. Sie hört die Schneide durch die Luft pfeifen, fürchtet sich, sucht sanft seine Finger loszubiegen von dem Griff: »Leg' es fort.«

Er sträubt sich, sie ringen stumm um die Waffe, sie fühlt plötzlich einen feinen Schmerz und sieht Blut aus 140 einem Schnitt an der Hand fließen. Sie sieht ihn vorwurfsvoll an. Er beachtet die Wunde mit keinem Blick, starrt noch immer wie ein asiatischer Henker vor sich hin: »Erzähle, was gestern und heute war.«

Da erzählt sie von Whitening und von Tarquanson. Sie schont sich nicht, sie versteckt keine peinliche Einzelheit. Er schleudert, als sie fertig ist, die kostbare Waffe durch den Raum: »Gut, beide werden sie sterben!«

Sie lächelt: »So bist du doch eifersüchtig?«

»Es ist Sitte so, daß sie sterben.«

Sie denkt an Percyval Tarquansons Jammergestalt, an die Hand, die sich hilfesuchend nach der ihren ausgestreckt hat. »Des einen Tage sind gezählt, auch ohne dich. Will der starke Earl of Hensbarrow einen Leichnam töten?«

Er schiebt bedächtig die kleine Opiumpille in den Trichter des Elfenbeinrohres, hebt es gegen das Licht: »Und der andere: Der erste?«

Da preßt sie die Hand um seinen Arm, bäumt sich auf wie eine getretene Schlange: »Ja, er mag sterben!«

Zurücksinkend, zitternd vor Zorn vollendet sie: »Er kauft sich alles . . . Liebe, Vergangenheit . . . Ja, du sollst ihn töten.«

Er hält ihr das Rauchrohr entgegen. »Vergessen ist süß.« Sie antwortet leise: »Ja, gib Vergessen.« Und sie saugt mit langen kräftigen Zügen den Rauch ein. Da versinkt sie in unergründliche Tiefen, findet sich wieder auf bunten Blumengründen, sieht warme Quellen in weißen Marmorbecken sprudeln und Rosen, die den Stein umwachsen. Sommerwind schlägt der Steppe Gras zu hohen Wellen, und über die Ebene weht der Lagerfeuer Rauch. Gefesselte Stuten weiden um die Feuer, und wo die Rinder stehen, bellen unsere Hunde. Ueber die Ebene ganz ferne kommt von der Jagd mein Geliebter, und seiner Beute Tier trägt 141 schon des Herbstes Gehörn. Süß am Feuer ruht mein Geliebter, und mein blühender Leib schmückt sich aufs neue für dich . . .

Es ist fünf Uhr, als sie erwacht. Regenstürme pfeifen durch die erste Dämmerung und irgendwo heulen die ersten Fährboote ihren Morgengruß. Ja, es ist Zeit, daß sie geht.

Als er sie zur Pforte geleitet, reicht er ihr ein zusammengefaltetes Papier. »Du wirst es erst in deinem Hause öffnen. Du wirst tun, was ich geschrieben habe.« Für ihre durchnäßten Kleider, die sie nun wieder hat anlegen müssen, hat er kein Wort, sie nimmt auch keine Zärtlichkeit auf den Weg mit.

Ihr Herz ist dennoch unendlich leicht und frei, als der Shik sie wieder zurückgeleitet aus der Unterwelt.

*

Am Eingang der Brücke hört sie ihren Namen rufen. Es ist nur ein Zeitungsverkäufer mit den ersten Morgenblättern. Gewiß, sie hat es beinahe vergessen, daß sie gestern an ihrem Teil eine Börsenschlacht gewonnen hat und nächst ihrem Gatten der populärste Mensch New Yorks ist. Im Zwielicht sieht sie diese Bilder . . . Percyval Tarquanson, Börsensieger, auf den Schultern exaltierter Menschen reitend . . . sie selbst, von ihrem Wagen aus mit Whitening sprechend . . . Herr und Frau Tarquanson, nach Börsenschluß heimfahrend, von begeisterten Menschen umjubelt . . .

Zehn Meter weiter bietet man Whitenings Morgenblätter an. Gewiß, das ist das, was zu erwarten war: ein eleganter Rückzug, ein dialektisch meisterhaft verbrämtes Eingeständnis der eigenen Lüge, und dazwischen, eingebettet in Moral und Sanftmut, die ersten 142 Ankündigungen der angekündigten Rache: zunächst nur ganz harmlos klingende Bemerkungen über die ungeheueren Dienste, die Violet Tarquanson ihrem Gatten geleistet habe, Dienste, die einer weiteren, einer eingehenderen Erörterung würdig erscheinen . . .

Gewiß, das ist Ward Whitening, und wie er sich alles erschleicht, wird er sich durch irgendeinen bezahlten Zeitungsschreiber seine Rache erschleichen. Und wieder schließt sie die Augen zu messerschmalen Schlitzen: »Du wirst sterben . . . oh, gewiß, du wirst trotzdem sterben . . .«

Das Billett ihres Freundes knistert in der Tasche, ihre ganze Weiberneugier plagt sie, zu wissen, was darinnen steht. Aber er hat es ja wohl verboten, es vor Blythbourne zu öffnen, und wenn sie es dennoch tut, wird sofort einer seiner Spione – dort der schwarze Lastträger zum Beispiel – es ihm sagen: sofort fährt zur Strafe ein breites Asiatenschwert in ihren Hals und sie darf, wie die ermordete Oishi-San, ihm nur als Lampenbild erscheinen, dort in dem verborgenen Lasterwinkel der Grave Street, ja doch, ja . . .

Aber als sie sich Flatbush nähert, kann sie die Neugierde nicht mehr bezwingen, schleicht ängstlich in ein Haus und reißt das Kuvert auf. Eine kurze Aufforderung, heute mit dem Abendzug nach San Francisco abzureisen und ihn im Pacifichotel zu erwarten. Nun, mein anspruchsloser Herr, sonst nichts? Nicht weiter als San Francisco? Und alles im Bulletinstil? »Du wirst . . . Du sollst . . .« Und daß sie in aller Heimlichkeit abreist, niemandem von ihrem Ziel, ihrem Reisegefährten etwas sagt, ist selbstverständlich . . .

Nun gut, hätte er eine Südseeinsel, Alaska oder ein Negerdorf in Zentralafrika angegeben, sie würde 143 ebenso unbedenklich gehorchen. Und sie fliegt nach Hause, schnell, sie hat noch viel zu schaffen heute.

In ihrem Hause herrscht wieder das Chaos, das sie vor zwei Tagen vorgefunden hat. Gewiß, nun Mallison fort ist und sie geht, wird es zerfallen, selbstverständlich! Geht sie das vielleicht noch an? Hat sie ihre Schuld an dieses Haus, an die Vergangenheit nicht bezahlt in den letzten Tagen?

Da ist die kleine Zofe. »Zelimene, wir reisen!«

Die andere schlägt die Augen nieder: »Es geht Herrn Tarquanson nicht besonders gut heute.«

Die Herrin wirft den Kopf in den Nacken. »Trotzdem reisen wir.«

Sie gibt ihre Befehle für ihr Gepäck, verbrennt den Inhalt ihrer Schreibtischschubladen, die harmlosen Briefe eines englischen Vetters, der sie einmal angeschwärmt hat, die drei oder vier anderen Billetts, die ebensoviel stecken gebliebene Abenteuer bedeuten: wie arm ihr Leben gewesen ist! Wie es reich geworden ist durch einen mutigen Schritt!

Auf ihrem Schreibtisch liegt ein grüner, behauener Stein: die Steinaxt, die Parker in den Blanca Hills für sie ausgegraben hat. Ein Zettel ist dabei von seiner Hand: »Erinnerung an einen glücklichen Tag.« Sie lächelt, beginnt ein paar Abschiedsworte für ihn zu schreiben, bricht mitten im Satz ab und reißt den Brief in Stücke. Die Vergangenheit oder eine unbeschwerte Zukunft! Was geht Parker sie noch an?

Dann geht sie durch ihr Haus. Im Kabinett ihres Gatten stößt sie auf die Spuren der gestrigen Szene: die Residuen eines Frühstückes, Gläser mit schalen Weinresten: ihr ist, als hätten längst verstorbene Gäste hier getafelt! Sie schlägt die Augen nicht nieder vor diesen Erinnerungen: es ist eine fremde Frau, die in diesem Zimmer gedemütigt worden ist! Dort die Tür 144 führt in Tarquansons Schlafzimmer, dort liegt eine arme Gliederpuppe, die gestern noch ein geiler, brutaler Affe gewesen ist. Wie unsäglich gleichgültig das nun alles ist!

Als sie sich zum Gehen wendet, schiebt der Marchese da Bisticci seinen Kopf durch die Tür. »Es geht nicht gut, schöne Frau, es geht leider nicht ganz gut . . .«

»Sie werden also dafür sorgen, daß es besser geht.« Er verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. »Der gestrige Tag ist dem Herrn Gemahl nicht gut bekommen.«

»Das ist wohl Ihre Sache, mein Herr!«

Er starrt sie verständnislos an, er zieht die Schultern hoch, als sie ihn fragt, wie lange es noch dauern könne. »Unmöglich, schöne Frau, unmöglich. Bei diesem Leiden . . . eine Erkältung . . . ein Exzeß . . . der Tod ist plötzlich da, wir werden es nicht verhüten können.«

»Gut, ich werde Ihnen Gelegenheit geben, mir Ihre Nachrichten zu übermitteln.«

Er tritt einen Schritt zurück. »Sie reisen?«

Sie nickt. Da ereifert er sich. »Aber das ist unchristlich gehandelt, schöne Frau, das ist fast unmoralisch . . .«

Sie bringt ihn mit einem Blick zum Schweigen und geht. Ihre Ehe liegt, auch äußerlich, nun hinter ihr.

Als am Abend ihr Wagen vor der Central-Station hält, schließt sie in plötzlichem Impuls die kleine Zelimene in ihre Arme. »Du wirst doch wieder umkehren müssen, Zelimene, nein, du wirst mich nicht begleiten.« Und sie liebkost sie zärtlich, als sie das dunkle Gesicht in fassungslosem Entsetzen sieht. »Es geht nicht, nein, es geht wirklich nicht, und wohin ich gehe, da muß ich allein gehen.«

145 Die Kleine wehrt sich schluchzend, sie beteuert, die Herrin nun und nimmer verlassen zu wollen. Da löst sie mit harten Griff die beiden schwarzen Hände von ihren Knien. »Geh jetzt!« Und die Kleine, fassungslos über die plötzliche Brutalität der Herrin, bleibt wie ein verstoßener Hund zurück. So liegt New York auf immer hinter ihr. – – –

Die ersten Schneestürme jagen über die Union, die weiten Ebenen Nebraskas liegen nun schon unter weißen Decken. Im Gebirge heult das Unwetter in himmelhohen Schneewirbeln um den Expreß; sie liegt wohlig hingestreckt in den Nächten, sieht den Funkenregen der Mammutmaschine vorüberziehen in der Oede, genießt, durch eine Fußbreite nur von dem eisigen Tod dort draußen entfernt, wie ein Kind Wärme und Luxus, schließt die Augen und schläft wohltätig und lange.

Auf der Westseite des Gebirges zerrinnt der Schnee zu Regenböen, die sich in Bottichgüssen auf die braunen Felsen draußen stürzen. Sie öffnet die Fenster in der milderen Luft und saugt wohlig den fernen Tauatem des Meeres ein, den Duft des Abenteuers, der Exotik, der sie entgegenfährt.

San Francisco freilich empfängt sie mürrisch mit einem verregneten Spätherbsttag, das Meer liegt tintenschwarz und böse in den Buchten. Die Stadt selbst zittert seit Wochen in verhaltener Erregung. Die Kriegsgerüchte finden hier, wo man den japanischen Schiffsgeschützen ausgesetzt sein wird, einen noch lauteren Widerhall als in New York. Am Horizont steigen die Rauchsäulen amerikanischer Patrouillenboote auf, die Linienschiffe im Hafen liegen unter Dampf, in der Stadt raunt man sich zu, daß draußen auf den Inseln Tag und Nacht geschanzt würde. Als sie am zweiten Tag an den Kai geht, hocken dort in 146 langen Reihen vor ihrem Gepäck seltsame Gestalten: Hindus, Malayen, Japaner, die ganze Palette des ungeheuren Asien, und alles will plötzlich Amerika verlassen und wartet auf die heimatlichen Schiffe, die diese Leute eiligst zurückschaffen werden. Die Presse der Weststaaten hetzt, sie fragt jeden Tag, warum die Regierung soundso viel hunderttausend asiatischer Soldaten und Spione aus dem Land lasse, jetzt, wo es auf den Philippinen, in China, in Indien immer heftiger zu gären beginne . . . Das nervös gemachte Publikum umlagert die Auswandererkais, droht die Schranken zu durchbrechen, wirft mit Steinen nach den fremden, unbeweglich wie gelbe Statuen sitzenden Menschen – man muß sie durch die bewaffnete Macht vor der Wut Amerikas schützen.

Die Tage vergehen . . . der Earl of Hensbarrow läßt lange auf sich warten. Statt seiner erreicht sie ein mit der Post zugestellter Ausschnitt einer New Yorker Zeitung. Der mit rotem Stift angestrichene Artikel enthält die lange erwartete Schilderung ihres Besuches bei Ward Whitening; er fragt höhnisch, ob sich in Zukunft noch weitere Kurse der Börse nach den Schäferstunden einer schönen Frau richten werden. Das ist vor drei Tagen in einem ihr unbekannten New Yorker Winkelblatt erschienen, das sich Ward Whitening zu diesem Zwecke gekauft hat. Und merkwürdig ist nur, daß man ihr diesen Fetzen von San Francisco aus zugesandt hat, von hier, wo sie unter dem Namen ihres Freundes wohnt.

Am nächsten Tage bemerkt sie, daß der goldbetreßte Mensch in der Pförtnerloge sie frech angrinst, als sie nach Telegrammen fragt: man kennt also auch hier schon die Skandalgeschichte Violet Tarquansons, aus deren Hand in Zukunft kein amerikanischer Hund, sofern er etwas auf sich hält, ein Stück Brot nehmen 147 wird. Beim Mittagessen hört sie eine bekannte Stimme, bemerkt an einem der Nebentische Lilian Hasford, die mit ihrem Vater dessen ungeheuere, für New Yorker Zeitungspapier bestimmte Wälder bereist. Sie winkt dem jungen Geschöpf, das bisher eine kleine Backfischschwärmerei für Violet Tarquanson gehabt hat, animiert zu und begegnet einem eisigen Blick. Sie ist kompromittiert überall, sie wird zur Halbkaste hinabsinken.

Nun gut, sie wirft den Kopf in den Nacken, beginnt, was man in Amerika nicht tut, mit dem Rauchwerk verkaufenden Neger ein animiertes Gespräch, sie freut sich, daß alle Anwesenden sich darüber ärgern, sie würde am liebsten, wenn es dergleichen gäbe, von der Musikkapelle die hypothetische Nationalhymne eines hypothetischen Negerstaates spielen lassen. Da wird ihr ein Telegramm gereicht: der Earl of Hensbarrow wird in dieser Nacht noch eintreffen, die Schneestürme haben seinen Zug aufgehalten im Gebirge, die Stunde seiner Ankunft ist ungewiß. In derselben Minute bietet man die letzten New Yorker Blätter an. Ihr Blick wird eingefangen durch den breiten Trauerrand der »Tribune«: ah, da steht zu lesen, daß Edward Cecil Hektor William Whitening plötzlich sein irdisches Dasein mit dem himmlischen vertauscht hat. Sofort greift sie nach dem Telegramm ihres Freundes, vergleicht die Daten: nein, er kann nicht mehr in New York gewesen sein, als der andere nach kurzer Krankheit starb. Trotzdem kauft sie alle erhältlichen New Yorker Blätter zusammen, läuft klopfenden Herzens auf ihr Zimmer, durchfliegt die Zeilen: »Herald«, »World«, »Evening Post« . . . nichts als die Erwähnung eines vernachlässigten Stecknadelstiches, einer rapide verlaufenen Blutvergiftung. Dann die Reklame für den Marchese Bisticci, der sehr früh die 148 Hoffnungslosigkeit der Erkrankung vorausgesehen habe, ein langer Lebenslauf des Toten mit dem langen Register seiner Verdienste um den Staat, um die Hebung der öffentlichen Moral, die Bekämpfung der Schlafkrankheit in Südabessinien . . . nirgends die Spur eines Verdachtes, den dieses plötzliche Sterben erweckt haben könnte.

Gewiß, er mag an einem Kobrazahn gestorben sein, der in dem Schweißleder seines Hutes saß, an einer mit Starrkrampf vergifteten Nadel, die ihn zufällig, im Theater, im Straßengedränge geritzt hat . . . an irgendeiner grausamen, asiatischen Rache, gewiß. Weswegen aber kann sie auch nicht die Spur eines Mitleides in sich entdecken, weswegen sucht sie vergeblich in sich, um so etwas wie Erbarmen zu entdecken?

Aber in der Nacht sieht sie in qualvollen Träumen diese arme Puppe, und wenn sie auch noch mit einem Renaissancemantel angetan ist, so kriechen doch Maden um die Glieder, die einmal ihren Leib umfangen haben, und statt der Augen hat Ward Whitening nun große grüne und rote Halbedelsteine im Kopf, wie in den Kirchen romanischer Länder schreckhaft geputzte Märtyrerskelette sie tragen.

Sie fährt auf mit einem Schrei, liegt erstarrt in einem ganz merkwürdigen Grauen. Sie weiß nicht, was es ist . . . ein metallischer Hauch wie von altem Messing . . . ein Gefühl leichenhafter Kälte kommt aus der Wand neben ihrem Bett, es ist, als spielten dicht in ihrer Nähe geheimnisvolle Kräfte. Als sie das Licht andrehen will, bläht vor dem Windhauch des offenstehenden Fensters die Gardine sich ihr wie ein Leichentuch entgegen, Wind faßt sie eisig an, heult durch das Treppenhaus draußen. Sie eilt nach der Tür, hört erleichterten Herzens Stimmen dort draußen und die Tritte von Menschen. Aber als sie die Tür öffnet, 149 tragen Hausdiener leise, leise . . . die Gäste dürfen es nicht merken . . . aus dem Nebenzimmer einen Sarg die Treppe hinunter.

Der Manager, der sie sieht, ist untröstlich: der Ingenieur eines der im Hafen liegenden Kriegsschiffe hat Staatsgelder unterschlagen und ist taktlos genug gewesen, sich hier im Hotel zu vergiften, hier, wo man durch seinen Selbstmord andere im Genuß von fünf Lunchgängen stören kann!

Sie sieht dieses Sterbezimmer: der Tisch mit der angebrochenen Giftflasche, ein verwühltes Bett dicht an der Wand, neben der sie schläft. Der Tod ist schrecklich und stark, durch die Wand ist die Eiseskälte dieses Sterbens, der Todesnot bis zu ihr gekommen! Sie fürchtet sich, sie bittet den Manager um einen Dienstboten für diese Nacht. Der Mann sieht sie mit dem erfahrenen Blick seines Metiers an und schickt ihr Hilfe: eine alte Negerin, sonst dazu bestimmt, die im Hotel übernachtenden Babys zu bewachen, ruhig, grau, mit den runden, weichen Bewegungen der Mütterlichkeit.

Im Bette liegend bittet sie leise: »Komm her zu mir, ganz nah.« Die alte Frau setzt sich an den Bettrand, fühlt, wie die Hände der anderen sie suchen. Dann zieht die Weiße die Negerin an sich, schmiegt das Haar dicht an den großen Busen, der so viel kleine, über die ganze Erde als Liftboys, Goldgräber, Heilsarmeeprediger und Raubmörder verteilte Nigger ernährt hat, läßt von der dunklen Hand sich liebkosen, lächelt und schläft ein.

In den letzten Stunden der Nacht hört sie Stimmen und Tritte von Männern, sieht schließlich, als es still wird, eine riesenhafte Gestalt im Morgengrauen vor ihrem Bett stehen. Und nun ist er es wirklich, ja, endlich ist er gekommen und man kann Zuflucht suchen bei ihm. Er schiebt mit hartem Griff die Alte hinaus, 150 die noch immer bei ihr wacht; und nun ist sie ganz wach und streckt die Arme nach ihm aus: »Ja . . . Ja, du bist das Leben!«

Er nimmt sie wortlos in seine Arme, einen selbstverständlichen Besitz. Von den nächtlichen Buchten her spielen durch ihr Zimmer die lautlosen Leuchtarme der fernen Meerschiffe.

*


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