Fritz Reck-Malleczewen
Die Dame aus New York
Fritz Reck-Malleczewen

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Wer lange genug und mit offenen Augen in den Tropen gelebt hat, weiß ganz genau, daß bei Naturvölkern sich große seelische und politische Erschütterungen durch Anzeichen verraten, an denen, der Naturnähe eines exotischen Volkes entsprechend, manchmal sogar die Natur teilnimmt. Bei dem großen afghanischen Aufstand in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, bei einer der letzten Revolutionen Südamerikas fanden sich an Ort und Stelle Riesenschwärme von Aasgeiern ein, bevor es an Ort und Stelle noch Leichen gab. In anderen Fällen sind es unscheinbare Abzeichen, ein lange nicht mehr gesehener Haarschmuck der Nigger, und man weiß es dann später, daß es das Symbol einer von der einheimischen Klerisei fanatisierten europafeindlichen Sekte gewesen ist. Oder man findet, wenn man rechtzeitig die Augen auftut, auf Termitenhaufen farbige, faustgroße Steine in bestimmter Anordnung aufgepflanzt: geheime, blitzschnell durch gigantische Entfernungen fliegende Depeschenzeichen, die noch stummer für den Uneingeweihten sind wie das Signalbuch der englischen Flotte oder irgendein Chiffreschlüssel der europäischen Diplomatie.

Der Europäer mag über diese Dinge lächeln: der Tropenroutinier kennt sie und denkt sich beizeiten das seine, wenn er auf diese geheimnisvollen Seismographen stößt, die vor den europäischen Instrumenten gleichen Namens den Vorzug haben, daß sie ihre Erdbeben im voraus verkünden. –

218 Hier aber, in dieser Kolonialkrise der weißen Rasse, haben alle Vorzeichen gefehlt. Gewiß sind in Indien schon vor einigen Monaten ein paar mißliebige Beamte erschlagen worden, hier am Jantse sind ein paar Farmen angezündet und die üblichen Missionare geschlachtet. Aber man hat eben in allen europäischen Kolonialministerien an lokale Ereignisse und nie und nimmer an einen auf der ganzen Linie losbrechenden Aufstand des gesamten riesigen Asiens gedacht. Man hat ein paar Kreuzer hierhin und ein Kanonenboot dahin geschickt und seine Kräfte gründlich verzettelt. Und plötzlich, urplötzlich ist die Katastrophe da gewesen, und in Indien haben die Shikbataillone tatsächlich gemeutert, und ihre Offiziere nach allen Regeln asiatischer Kunst geschlachtet, und die Fürsten, die noch neulich als Vasallen der britischen Majestät zur Krönung des letzten Königs erschienen sind – diese Fürsten liegen wirklich, wie der Earl of Hensbarrow es verkündigt hat, unwiderruflich tot in ihren Palästen.

Die großen, ostasiatischen Geschwader können daran nichts ändern: die Depesche, die der englische Resident in Singapoore erhalten hat, ruft die Schiffe nicht zur Unterdrückung des Aufstandes, sondern zur Beobachtung der seit dem Weltkrieg riesenhaft angeschwollenen japanischen Flotte herbei, die trotz aller Friedensversicherungen Tokios im Indischen Ozean und an der amerikanischen Westküste sich zeigt. Daß ein paar Kreuzer die asiatischen Viertel von Bombay und Pondicheri in Brand schießen, ändert nichts an der Tatsache, daß ganz Indien in Flammen steht, daß Siam seine europäisch infizierte Dynastie zum Teufel jagt, daß in Syrien, in Persien, in Afghanistan England definitiv tot ist.

Gleich darauf müssen Holland und Frankreich zum Tanz antreten: diese Tabak- und Gummifarmer auf den Sundainseln haben schon lange keinen Grund mehr gehabt, sich sehr sicher zu fühlen auf ihren 219 Besitzungen. Aber sie sind doch sehr überrascht gewesen, als urplötzlich den weißen Gästen der Lunapare von Soerabaya und Palembang und Batavia von ihren Kebsen Messer in den Leib gestoßen wurden; als man die anderen, die man aus ihren Häusern holte, bis an den Hals in die glutheiße Schlammerde eingegraben hat, mitten in der prallen Aequatorsonne, und ihre Kulis und Sänftenträger stehen herum und haben ihre Freude daran, wie der weiße Herr mit den Augen gebettelt hat um Gnade, und wie dann diese Augen aus ihren Höhlen getreten sind und noch lange nach dem Tode die unaussprechliche Qual des Sterbens an zu viel Sonne herausgeschrien haben . . .

Es ist auch nicht zu bezweifeln, daß gestern noch in Saigon ein Korso stattgefunden hat, daß die Kellner im Café Metro noch immer Kokainschnäpse an französische Damen gereicht haben, daß die hierher verpflanzten Pariser ihre dünnen Modebärte und ihre gallischen Gesten unter den rotblütigen Lackbäumen spazieren geführt haben. Auch Cholon, der Venusberg von Cochinchina, hat in dieser Stunde noch seine von allen Weltlastern und Reizmitteln komponierte Melodie fröhlich in die Welt hinausgeschmettert. Aber auch hier haben die Venuspriesterinnen aller Farben haarscharfe, allerliebste Messer bei sich gehabt, und ihre Schärfe ist den Liebhabern nicht gut bekommen.

In Saigon selbst hat man das schreckliche Verfahren befolgt, daß man die zerbrechlichen, eleganten Kavaliere mitten im Korso zu den Melodien Massenets in die Kanalisationsschächte hinabbefördert hat, zu ihrem eigenen Unrat und den unüberwindlichen Heeren scharfzähniger Wasserratten hinab. Und daß die Batterien vom Kap St. Jacques ihre Eisensplitter in den rasenden, farbigen Mordpöbel geworfen und die ganze elegante Rue Catinat mit Schichten zerrissener Menschenleiber bedeckt haben . . . das alles hat ebensowenig geholfen wie die Kanonenschüsse der englischen 220 Kreuzer an der indischen Küste: Europa ist in den Tropen eine sterile, durch spärlichen Nachschub ergänzte, dünne Oberschicht, und die Weiberschöße Asiens sind unerschöpflich. Und beim letzten Schuß lernen die europäischen Kanoniere die heute in Europa zu wenig beachtete Wahrheit, daß die Maschinerie Creusotscher Kanonen zum Teufel geht vor dem Jahrhunderte alten Haß einer gedemütigten, unzählbaren Menschheit . . .

Und während in diesen Tagen die Welle von Brand und Mord und Gewalttat von Süden nach Norden durch ganz Asien rast, rast durch Europa und Amerika der moderne apokalyptische Reiter des wirtschaftlichen Zusammenbruches. Die Finanzkrise, die New York vor zwei Monaten als Vorboten der großen Weltwende erlebt hat, ist nur eine harmlose Börsenflaute gewesen gegen diese Katastrophe, die nun über die ganze zivilisierte Erde braust. Es ist überall der gleiche, unaufhaltsame, schreckliche Prozeß: auf den Krach der Börsen, auf den Zusammenbruch der meisten Industriewerte folgt der Zusammenbruch der Großbanken, die ja der Motor für alle Unternehmungen in Uebersee gewesen sind. Der Zusammenbruch der Banken aber zieht naturgemäß zwei Dinge nach sich: den Zusammenbruch der Privatvermögen, deren Besitzer nach acht Tagen des Banksturmes vor geschlossenen Schaltern stehen – und, nachdem die Kesselfeuer einmal erloschen und die Webstühle leblos geworden, den Hunger des Proletariates. Und da man nicht hungern will, erscheint zunächst einmal Belleville plündernd in dem Viertel um die Rue Rivoli und Südost-London in der Gegend der Oxfordstreet, und da eine auf bequemes Gewinnen gestellte Zeit auch aus der englischen Armee eine Versammlung von bewaffneten und nun durch die Krise rabiat gemachten Börsenspekulanten gemacht hat, so läßt sich die Garnison des Lagers von Aldershot wohl alarmieren, aber sie erscheint auch nur, um zu plündern. Und das 221 behäbige London erlebt Greuelszenen, die man bisher nur für die nichtangelsächsische Menschheit reserviert glaubte.

Im nordwestlichen Deutschland, in Bukarest, rasen die Maschinengewehre, und in den Industriestädten Frankreichs, wo auch der Arbeiter noch etwas von den abgründigen Instinkten des Urmenschen hat, ereignen sich Dinge, von denen hier, wo ich an sich nicht viel Freundliches zu berichten habe, lieber nicht die Rede sein soll.

Am glimpflichsten kommt zunächst Amerika davon, das einer anderen und vielleicht noch schwereren, späteren Katastrophe vorbehalten zu sein scheint. Daß man mit Ekrasit ein paar von den Turmhäusern demoliert, und daß man die neuen, großen Tanks der seit einem Jahrhundert unbeliebten Standard-Oil-Company in den Hudson laufen läßt und ein Freudenfeuer anzündet, in dem ein paar Europadampfer mit den obligaten Zwischendeckpassagieren verbrennen, daß man am Zentralpark und in der Peripherie ein paar Villen plündert, ist zunächst alles. Gewiß, man hat auch die Börsenpanik, die sich an den Namen des verstorbenen Percyval Tarquanson knüpft, noch in guter Erinnerung: man demoliert also auch die Tarquanson-Werke in Ost-New York, und es ist bemerkenswert, daß man hierbei versehentlich auch Frederic William Parker totschlägt. Und wenn man es tut, so geschieht es nicht aus einer Animosität gegen diesen rotbackigen Jungen, sondern es geschieht, weil er in einer atavistischen Anwandlung von Vasallentreue eine Fabrik mit einer gothischen Ritterburg verwechselte und sich in den Höfen den Leuten entgegenstellte. Man erledigt diese Angelegenheit übrigens mit einem Mindestmaß an Brutalität und schlägt ihn sozusagen schmerzlos tot und findet eine Befriedigung der eigenen Sentimentalität in dem Umstande, daß der Tote das Bildnis jener vor soundso viel Wochen 222 aus New York verschwundenen und trotzdem populären Violet Tarquanson bei sich trägt. Woran dann in den Kabaretts gesungene, zuckersüße Songs anknüpfen und für welchen Fund man Frederic William Parker in einem Riesenbegräbnis zu Grabe trägt, und dieses Begräbnis kostet zwei zertretenen Kindern und einem ausgewachsenen Nigger das Leben, der es gewagt hat, in Sichtweite des Leichenzuges ein fröhliches Lied zu pfeifen.

Und trotzdem geht die in Asien entflammte Krise ihren Gang und kehrt in allen von der weißen Rasse bewohnten Ländern das Unterste zu oberst. Und am Tage, an dem die Telegramme das Verschmelzen der indischen mit einer nationalen, chinesischen Bewegung melden, sitzt in Italien, in Unitrusttown, wo man aus den vor dreißig Jahren dort gefundenen, ungeheueren Tantallagern das herrliche Threegas herstellt, das alle Kohlen der Welt überflüssig macht . . . Ja, dort sitzt das Haupt der Weltindustrie, der alte, gelähmte und blinde Elihu Grant in seinem Rollstuhl und beginnt zum erstenmal in seinem Leben an seiner Welt zu zweifeln. Diese Welt war einfach und man war ihr Herr: Europa ist eine einzige, ungeheuere Industriestadt geworden. Gewiß verpesten die Schlote die Luft und die Menschen verkümmern. Es gibt um Unitrusttown Erinnerungen an gigantische Grubenkatastrophen, verlassene Stollen, in denen kein Arbeiter schaffen mag, weil diese Stollen ausgestopft sind mit dem Fleisch ungeborgener Toter. Ja, die Rasse verkommt, sie wird immer schlechter, Elihu Grants Maschinen fressen die Menschen. Aber er stellt eben neue Menschen her, er läßt sie in seinen Industriezentren hecken, die Welt überzieht sich mit einem Einheitsgeschlecht, das in Einheitshäusern von Einheitsnahrung lebt. Was schert diese Verkommenheit den alten, blinden Mann, der ewig zu leben scheint? Hat er nicht diese ganze verfluchte, von ihm bitterlich 223 gehaßte Welt in sein System gezwungen, hat er nicht alle Krisen, hat er nicht zweiundzwanzig Mordanschläge, hat er nicht den großen, beinahe geglückten Riesenputsch des wahnsinnigen Mönches Joannes überstanden? Ja, Europa ist ein Wald von Fabrikschloten, der letzte Bauer steht ausgestopft in einem Museum, die ganze alte Welt ist sterilisiert, Europa kann nicht den hundertsten Teil seiner Menschen selbst ernähren, es lebt von indischem Weizen, von chinesischem Reis, von argentinischen Konserven, die es gegen seine Industrieprodukte eintauscht.

Und nun? Weshalb wollen die Nigger mit einem Schlage nicht mehr Fabrikarbeiter werden? Weshalb wollen sie Europa und Amerika nichts mehr abkaufen? Weshalb wollen sie den Ueberfluß ihrer Erde nicht mehr hergeben? Warum? Warum?

Der alte Mann läßt sich von seinem Lakai eine neue Importe in den Mund – das einzige seiner Organe, in dem noch Leben ist – schieben. Warum? Gut, da man aus tausend Maschinenmenschen noch keinen einzigen Bauern machen kann, wird Europa verhungern. Und wenn es hungert, wird es wahnsinnig werden. Und wenn es wahnsinnig wird, werden alle Maximgewehre, alle Privatsöldner, alle Betonmauern, in die er sich verkriecht, nichts helfen. Nun gut, er haßt das Leben, wie er die Liebe, die Freude, das sprießende Grün und die Vogelstimmen gehaßt hat, die in dem Giftnebel von Unitrusttown längst verstummt sind. Elihu Grant wird sterben. Inzwischen finanziert er mitten im allgemeinen Chaos weiterhin die Bahn, die Afrika von Norden nach Süden durchmessen soll, er stützt durch Riesenkäufe die Londoner, die New Yorker Börse, als ob nach einem Monat von der afrikanischen Zentralbahn, von der Londoner und der New Yorker Börse noch etwas übrig geblieben sein wird. –

Da ich aber von dem Untergange der alten Welt nur einen flüchtigen Schattenriß zu zeichnen, da ich 224 von dem bescheideneren Schicksal einer einzigen Frau zu berichten habe, so bleibt mir nur noch zu erzählen, was in den Millionenstädten Hankou und Wutschang nach dem Erscheinen des Stromgottes, nach dem Bekanntwerden von dem allgemeinen, dem großasiatischen Aufstand geschah.

Um die Mittagstunde ist der Reiter mit der Nachricht von dem Zusammenbruch der britischen, der holländischen, der französischen Kolonialherrschaft erschienen. Eine halbe Stunde später wird sie von der ganzen wahnsinnigen Anbeterschaft des Stromgottes nebst Sänfte und Begleiterin den Hügel hinabgeschwemmt. Schreie, die nichts mehr Menschliches haben . . . Gesichter mit hängenden Bärten, Messer zwischen den Zähnen . . . verzückte, gelbe Knochenarme, Schüsse nach unbekannten Zielen: man hat Furcht, man kann getroffen, hinausgezerrt werden, man zieht den Vorhang der Sänfte zu und drückt das Gesicht in eine Ecke, damit das alles ringsum nicht da ist.

In dem Yamen, in dem sie zunächst wieder landet, wird sie wieder in ihr Zimmer gesperrt. Die Alte ist nicht bei ihr. Dafür tost die ganze, verfluchte Mordarbeit dieses Tages von Hankou zu ihr herüber. Nein, nein! Nichts davon sehen und hören! Sie liegt wieder zitternd in einer Ecke, sie hält sich die Ohren zu, und nur dieser Qualm kommt zu ihr, dieser Brandgestank von explodiertem Benzin und gebratenem Fleisch . . .

Es ist vier Uhr, als sie von der Alten wieder aufgerüttelt wird. Wohin? Gleichgültig! Heraus mit ihr, wieder in den Tragstuhl, es ist befohlen so. Es sind noch mehr solcher Sänften mit verhüllten Frauen in den Höfen zu sehen: der Earl of Hensbarrow legt vielleicht Wert darauf, daß alles, was er von lebenden Weißen in seiner Hand hat, die Niederlage der eigenen Rasse mit eigenen Augen mit ansieht.

225 Wie sie zum Kai, über den Strom kommt, weiß sie später nicht mehr. Sie sieht nur einzelne Bilder: die Gassen sind voller asiatischer Truppen . . . weiß Gott wo sie herkommen, sie quellen aus allen Straßenmündungen. Ihr Tragstuhl muß sich zwischen ihren Gewehrpyramiden, zwischen den Barrikaden hindurchwinden, schlitzäugige Offiziere erlauben sich bisweilen, die Vorhänge der Sänfte zu heben.

Weiter . . . weiter . . . Da ist die schwarze Wolke drüben, die alles verhüllt, der kochende Strom mit seinen Wirbeln, schwarze Barken, gelbe Gespenster an den Rudern, Gluthauch von drüben, von den riesigen Bränden . . . Unten in dem rasenden Wasser treibt ein Leichnam vorüber, sie sieht ein zerfetztes Gesicht, Leichenaugen, die noch immer das jähe Entsetzen offen hält, Totenarme, die kerzengerade aus dem Schlammwasser ragen, als flehte die gemordete Kreatur um Gnade. Sie hält sich in jähem Entsetzen an den Arm der alten Mongolin, die noch immer stumm wie die Pagode des Todes neben ihr hockt. Dann ist es vorüber, und der Rauch verhüllt wieder alles; sie gleiten durch ruhigeres Wasser dem Ufer zu.

Da wo die von dem Strom weit abwärts getriebenen Boote landen, steht, mitten in Asien, von Amerika gebaut, das moderne Hankou: Fabrik bei Fabrik, lange Straßen, schnurgerade wie der Scheitel eines europäisierten Chinesen. Mietkasernen für gelbe Proletarier, ungeheuere Wohnmaschinen mit Wasserleitung und Zentralküche, ein Kasten wie der andere, alles darauf berechnet, dem Chinesen allmählich das ordentliche, mechanisch arbeitende Hirn des Europäers zu geben. Und wenn der Earl of Hensbarrow in dem ehrwürdigen Wutschang mit Dämonen, mit Stromgöttern und den Pfaffen aller Sekten gearbeitet hat, so hat er hier den an Europa geschulten Pöbelinstinkt 226 des chinesischen Proletariers auf Europa losgelassen, bis an eben dieser Stelle zu eben dieser Stunde beide Ströme zusammenfließen und Europa fortschwemmen in einer einzigen Springflut von Brand und Blut und Gewalttat. –

Da, wo sie landen, schlägt ihnen Gluthauch entgegen. Wenn der Wind in den Qualm fährt, sieht man hier, wo noch vor wenigen Tagen die Zehntausendtonner luden und löschten, den ungeheuren Brand der alten Welt: Peking Street brennt und in New Chelsea, wo amerikanische Gesellschaften sentimentale Films für China fabrizierten, schießen explodierende Zelluloidstreifen durch den Rauch und zerspritzen zu Brandraketen. In Nanking Road hat man in der Mittagstunde die Petroleumtanks auslaufen lassen, der Feuerstrom kommt die asphaltierte Straße herab. Das Feuer brennt unterirdisch weiter in den Betonkanälen, es schießt in haushohen Garben zu den Abflußschächten hinaus, es wälzt sich singend näher, es erfaßt ganz oben in den Straßen Menschen, die wie betrunkene Motten von einer Flammenwand zur anderen taumeln und schließlich im Feuer verschwinden. Was noch höher in den Bergen geschieht, wo in sorgfältig gepflegten Heliotropgärten sich die Villen der Europäer verbergen, verhüllt gnädig der Rauch: Schüsse auch dort und Lachsalven und irrsinniges Kreischen, eine höllische Musik von Wahnsinn und Sterben.

Die Glut kommt näher, die Menge drängt heulend weiter, die Sänfte, in der sie sitzt, wird umgeworfen. Sie liegt am Grunde des Menschenstromes, fühlt die Tritte nackter Füße, wird vom Arm der Alten hochgerissen und ist im nächsten Augenblick wieder an der Oberfläche, eingekeilt in die Menge. Und dann wieder der beizende Rauch und das fahle Licht, das jetzt, bei 227 sinkender Nacht, das alles noch mehr zum Teufelsspuk macht. Und schließlich dort irgendwo vorn eine gewaltige Detonation und mit dem riesigen Luftdruck ein plötzliches Halt.

Wie es geschehen ist, weiß sie nicht. Sie steht plötzlich am vorderen Rand der Menge, an einem freien Platz. Jenseits des Platzes stand vor einer Stunde noch eine chemische Fabrik, man sieht hinter den geborstenen Mauern die herabgestürzten weißglühenden Maschinen, die im Feuer verbogenen Rohre, ein trauriges Konvolut von eisernen Darmschlingen. Dunkle Leiber liegen auf dem Pflaster: die Leichen der amerikanischen Werkmeister, die man aufgegriffen und aus den Fenstern auf die Straße geworfen hat. Aus den Fenstern des Seitenflügels nur knallen noch Schüsse, die Gestalten, die die Treppe hinandrängen, kugeln, zu seltsamen Bündeln zusammengerollt, hinunter, und da der Massentod lächerlich ist wie ein Puppenspiel, heult das Lachen des Pöbels ringsumher über den Tod der eigenen Volksgenossen. Bis da oben der Ingenieur, der sich bis zur letzten Patrone verteidigt hat, heruntergeholt und an die Mauer des brennenden Gebäudes gestellt wird. Er hat gestern, als es hier begann, sich von einem gehorsamen Kuli zum Tennisplatz karren lassen wollen, der Sportanzug hängt ihm noch zerfetzt um den Leib. Er hat an die Allmacht Europas, an die Zivilisation geglaubt, er wahrt in der Sekunde, in der man sein Gesicht noch sehen kann, unter Speichelregen und Mißhandlungen noch die Würde des überwundenen Mannes und weiß als Brite zu sterben und ist im nächsten Augenblick in Atome zerrissen.

Sie will schreien, aber die Angst um das eigene Leben schnürt ihr die Kehle zu. Und wenn sie fliehen wollte von dieser Schlachtbank – der Menschenwall 228 um sie ist undurchdringlich. Der Pöbel plündert blitzschnell den noch stehenden Teil des brennenden Hauses, Stiefelblöcke fliegen von oben und Pariser Schlafröcke und zuletzt die weiß Gott durch welchen Zufall hierher verirrte Büste von Charles Darwin, der den Glauben an den Fortschritt der Menschheit begründen half und nun auf dem Pflaster zerschellt. Dann dreht man eiligst die Toten wie verreckte Ratten auf den Rücken, speit ihnen ins Gesicht, zertritt ihnen mit dem Stiefelabsatz die Stirn, ist glücklich, noch eine Benzinzisterne zu entdecken, zündet sie an, daß die Stichflamme gen Himmel faucht, und wirft schließlich alles, die Toten samt ihren zerstampften Hausrat, ins Feuer.

Und wie die Flammen die grotesk vergrößerten Schatten der Leichenräuber an die Wand malen und wie dann der für alle Regisseure eines solchen Mordtheaters gefährliche Augenblick eintritt, in dem es wirklich an dieser Stelle nichts mehr zu plündern und zu töten gibt und die Akteure sich zu langweilen beginnen . . . da tanzt von der Höhe, wo die Europäervillen liegen, ein neuer Gespensterzug von Grauen und Irrsinn die Straße hinab. Und wenn es bisher nur der Fallenmacher Yen und der Billardkugelschnitzer Dsin waren, und wenn bisher Altchina das Morden mit der bedächtigen Geste seiner Urväter besorgt hat, so ist es jetzt der schon erwähnte Fabrikpöbel, und es ist nicht zu bezweifeln, daß er die Technik des Tötens noch virtuoser handhaben wird. Weiber kommen voran, ehemalige Dirnen und Latrinenwärterinnen, Petroleusen der Exotik, die wie lebendige Schmutzlappen aussehen. Dann halbnackte Metzger aus den großen Schweineschlächtereien und junge Burschen, die gestern noch für ein Sixpencestück den Mond heruntergeholt hätten, und befreite Verbrecher mit Brandmalen auf der Stirn, und von den Strominseln hergeholte Räuber, deren Metier 229 es ist, ab und zu einen kleinen Flußdampfer zu plündern und mit kaltgemachter Mannschaft stromabwärts zu schicken.

Und mitten eingekeilt in diese Schar, die die Straße verstopft wie eine überfüllte Kloake, gefesselt, bewacht, marschiert das überwundene Europa. Mimosenhafte Frauen, die man in der Abendtoilette gestört hat, mit zerfetzten, seidenen Dessous und Kratzwunden auf den weißen Armen. Eine Französin hat sich nicht von dem Schoßhündchen Mousquiton trennen können, und die Frau des belgischen Generalkonsuls, der ein Faustschlag das Gesicht greulich entstellt, schreit gellend den Namen ihres Mannes, den längst irgendwo in den Büschen seines Gartens eine barmherzige Kugel erreicht hat. Zitternde Zofen mit vielsagenden Spuren übler Mißhandlungen tragen nackte Kinder, die man aus ihren Betten gerissen hat, und Angelsächsinnen mit gesegnetem Leib schreiten stolz in aller Schmach, und ein steinaltes jüdisches Ehepaar, aneinandergeschmiegt nach gemeinsamem Leben, Adam und Eva, gegenseitig sich stützend, hat man aneinander gefesselt.

Und wenn man die Weiber sich zu lustigeren Dingen aufhebt als zum sofortigen Tode, so sind die Männer, die hinterherkommen, jetzt schon ein todgeweihtes Geschlecht. Sie alle zeigen die Spuren des beendeten Kampfes, sie haben alle gewußt, was sie erwartet und haben sich gewehrt . . . oh, gewiß. Aber sie sind jetzt schon eine gebändigte, eine geschändete Schar: sie kommen daher mit blutüberströmten Gesichtern, weil man den Gefesselten, um ihnen einen Vorgeschmack von exotischen Qualen zu geben, mit Schmiedezangen Zahn für Zahn ausgebrochen hat. Der Chef der Central China Mines, der gestern noch der berühmteste Dandy der Kolonie war, preßt brüllend die Fäuste gegen den durchstochenen Leib und wird geschleppt wie ein 230 geschlachtetes Tier. Und der Doktor Figuera, der als obseitig lebender Gelehrter seit zwanzig Jahren altchinesische Inschriften sammelt, reckt in stummer Qual die Arme gen Himmel, weil man ihm Nase und Mund mit Schmutzlappen verstopft hat, gerade so viel, daß er nicht völlig erstickt, gerade so viel, daß er voller Todesangst ein wenig Luft atmen kann: man versteht sein Handwerk und weiß richtig zu dosieren bei dieser Technik. Man hat auch, weil es eben europäische Tiere waren, die Tiere nicht verschont, und hinter den britischen Ingenieuren hinken winselnde Bullterrier, denen man ein Bein im Fesselgelenk abgehackt hat.

Wer noch nicht völlig gelähmt ist von den Henkerhänden, wehrt sich mit matten Faustschlägen gegen die Peitschenhiebe, die auf die fetten, weißen Rücken fallen, daß die Haut unter dem Ochsenleder der Geißeln zerbirst. Und wer überwunden ist, bettelt mit den Augen, die Todesangst aus den Höhlen treten läßt, und die Schreie übertönen schrill die Lachsalven und das Brüllen Chinas. Und durch diesen wahnsinnigen Kontrapunkt von Hohn und Todesschreien klingt der Kantus firmus der spanischen Jesuitenmönche, die mit leeren, mit geblendeten Augenhöhlen, Hand an Hand gefesselt, schreiten, und das Miserere singen.

Es ist zu bemerken, daß deswegen kein gnädiger Gott der Menschenqual sich zu erbarmen schien und daß unten an diesem bluttriefenden Kai der Riesenstrom unentwegt seine Wassermassen mit Treibholz und Schlamminseln und Alligatoren zum Meer schwemmte, so, wie er es seit Jahrtausenden getan hat, unbekümmert um das Menschenleid oder das spärliche und zufällige Menschenglück auf seinen Ufern. Ich weiß, daß das alles unerträglich zu sehen ist, und wenn ich auch weiß, daß einmal die Exotik nicht mit milderen Foltern an dem großen Abendland sich rächen wird . . . so mag 231 ich doch den Schleier von dem Geschick dieser Sterbenden nicht weiter heben und mag mich lieber der Frau zuwenden, der aus diesem Rassenkampf nicht nur das notwendige Schicksal, sondern auch die notwendige Vollendung geworden ist. –

Sie ist erstarrt von dem Jammer ringsum, sie ist gewissermaßen gefroren unter dem Eiseshauch der Bestialität, und wenn auch ihre Augen gesehen und ihre Ohren gehört haben mögen: dies alles ist ihr hinterher nur wie ein lockerer Zug von Schemen vorgekommen. Dann aber geschieht etwas, was sie zur Wirklichkeit erweckt. Eben, als der Zug passiert, geschieht es nämlich, daß über den freien Platz etwas Unerwartetes und kaum hierher Gehöriges rollt. Ein rundes, buntes Ding . . . Ja, nichts anderes als ein Kinderball. Man weiß nicht, woher er kommt, man sieht nur, daß er gerade in einer Blutlache haltmacht; das ist lächerlich und erklärlich. Aber da löst sich von dem Weib, das eben in zerfetztem Hemd an einem Strick gehalten, von einem Kerl mit abgründigem Gesicht vorübergeführt wird . . . Ja, da löst sich von der Mutter ein kniehohes, trippelndes Wesen, das an dem zerfetzten Hemd gehangen hat, löst sich, läuft dem Spielzeug nach, erhascht es, läßt es fallen, holt es wieder und will zur Mutter zurück. Nackte, bloße Füße huschen über den Stein, ein ruhiger, ein königlicher Blick, dem dieser Ball, die Mutter, die ganze Welt gehört, sieht sich im Kreis um. Und wenn der Ball auch blutig ist, so ist es doch ein Spielzeug oder der Weltenball, und niemand wird ihn einem jungen Könige streitig machen.

Und eben, als die Mutter schon fast erreicht ist, da faßt eine lange, gelbe Hand nach dem Kind: man sieht ein altes jodoformfarbenes Chinesenweib, eine Spielhöllenbesitzerin, eine Bordellhalterin letzten Grades, des 232 Teufels Großmutter . . . und sie hat plötzlich das Kind am Rock erwischt. Dort brennt die Benzinzisterne, und es kostet nur einen einzigen kräftigen Wurf: hinein mit der weißen Brut!

Das alles ist ganz schnell in fünf Sekunden geschehen. Und plötzlich, während die Mutter aufheult wie eine verwundete Hündin und vergeblich an ihrem Strick zerrt, da fliegt aus der Menschenmauer heraus ein anderes Weib, hat plötzlich die Alte an der Kehle gefaßt und hat ihr das Kind fortgerissen. Das Kind, harmlos, als ob nichts geschehen wäre, erreicht nun wirklich die Mutter, die beiden kämpfenden Weiber sind zu Boden gestürzt, sie wälzen sich, zu einem beißenden, schnappenden, kratzenden Knäuel verstrickt, auf den Steinen.

Bei Gott, dies ist ein ernsthafter Kampf: diese Violet Tarquanson, die eben aus ihrer Erstarrung erwacht ist, hat den geschmeidigen Leib einer jungen Hirschkuh, aber das Weib, mit dem sie sich da herumbalgt, sieht nicht umsonst wie der Teufel aus. Und wenn die eine von dem dunklen Wunsch ihres Schoßes getrieben wird, der nie ein Kind getragen hat, dann hat die andere vielleicht einen Sohn gehabt, der von einem europäischen Richter gehängt oder von einem tropenkollerigen Werkmeister zu Tode geprügelt worden ist. So ist es ein Ringen auf Leben und Tod, ein verzweifeltes Ringen, mit aller Weiberlist geführt, mit Sand, den man sich gegenseitig in die Augen wirft, und Armbissen und ausgerissenen Haarbüscheln. Für Asien, das diesem Kampfe zusieht, ist es nichts als ein lustiges Satyrspiel zwischen einem Morden und dem anderen, Ermunterungsrufe und Lachsalven beleben ihn. Er ist noch unentschieden, da schreit es plötzlich auf der anderen Seite, und die Knüppel Bewaffneter in Khakiuniformen sausen auf die Menge 233 nieder, daß die Menschenmauer sich teilt und alles, der Gesang der gefolterten Mönche ausgenommen, verstummt. Und plötzlich geschieht es, daß diese Violet Tarquanson, gerade als sie ihre Gegnerin bewältigt hat, hochgerissen wird von einer starken Hand. Sie sieht nicht, daß ihre Gegnerin sich fortstiehlt, sie sieht Sänften, die man vor dem Zug der gefesselten Europäer niedersetzt, und sieht wieder die Hornbrillen weißbärtiger Mandarinen und kann das alles erst begreifen, als sie eine bekannte Stimme hört und dort, bei den Reitern, eine wohlbekannte Gestalt sieht. –

Man muß nicht denken, daß der Earl of Hensbarrow gekommen ist, die Europäer zu retten – o nein, er hütet sich wohl, dem Pöbel, den er in der Hand behalten will, sein Spielzeug fortzunehmen. Aber da die Ordnung, deren Hüter er ist, auch in dem befreiten China nicht aufgehoben sein darf, so ist er gekommen, die Exekution der Gefangenen in die Hand regulärer Soldaten zu legen und vorher ihre Weiber zu entfernen, und er weiß auch, warum und wohin. Er ist abgesessen, er trägt wieder seinen europäischen Straßenanzug, es gibt keine Widerrede gegen seine Befehle, und die Hand, die die Peitsche hält, ist weiß von dem harten Griff.

Und als er so den Platz betritt, auf dem zwei Weiber um das Leben eines Kindes kämpfen, da geschieht es plötzlich, daß die eine der beiden, die man unter den zerfetzten Schleiern jetzt erst als Weiße erkennt, sich losreißt von dem Manne, der sie von der anderen getrennt hat, ja . . . und daß sie den Earl of Hensbarrow mit grimmigem Griff an die Kehle faßt: ihn, den zur Stunde mächtigsten Mann von Hankou und Wutschang, ihn, der für alle diese Greuel, für die Qual dieser Menschen, für das Leid des Kindes da verantwortlich zu machen ist.

234 Was in dieser Minute von diesem Weib mit dem zerkratzten Gesicht und den zerrauften Haaren dem Earl of Hensbarrow ins Gesicht geschrien wurde auf offenem Platz, wird nie ein Mensch erfahren: die Anwesenden, die dieses rasende Englisch hätten verstehen können, waren wohl zu sehr mit ihren eigenen Qualen beschäftigt. Der Pöbel aber verstand es nicht, und die Beamten und Offiziere erkannten das als die Privatangelegenheit eines sehr mächtigen Menschen und hörten nicht hin, weil sie nicht hinhören wollten, und wahrten mithin ihr Gesicht.

So vollzog sich denn hier vor der ungeheueren Oeffentlichkeit der Abschluß einer Liebesepisode, die letzte Auseinandersetzung zweier Menschen, die einmal zueinandergestrebt hatten und sich jetzt mit einem letzten, wütenden Ausbruch ihres Hasses gegenüberstanden: das geschändete Weib und der Mann, der sie fortgeworfen hatte, sowie sie ihm lästig geworden war und der sie nun haßt, weil sie noch immer seinen Weg kreuzt.

Auch das währte nur wenige Sekunden. Aber die Stimme des rasenden Weibes überschreit allen übrigen Jammer dieses Platzes, und wenn diese Frau, wie eine andere von einem fremden Manne Geschändete, in dieser Stunde eine Waffe gehabt hätte, vielleicht würde sie noch jetzt wie Judith die Rächerin eines ganzen, plötzlich zerschmetterten Volkes geworden sein. Da sie aber wehrlos ist, so vollzieht sich alles Weitere ganz selbstverständlich: der Earl of Hensbarrow hebt die Peitsche und zieht einen einzigen, klaffenden Hieb über dieses einstmals so begehrte Antlitz, einen Hieb, der die Haut spaltet und dieses Gesicht für immer verunstaltet. Da schreit sie auf, und der wütende, körperliche Schmerz macht sie blind für alles, was hier noch geschieht. Und dann schallen bellende chinesische 235 Kommandos und dann schieben sich Bewaffnete zwischen Männer und Weiber, und der ganze Jammer dieses Tages ballt sich noch einmal zusammen in dieser Trennung. Dann wird auch diese Frau, die ihren letzten Kampf gekämpft hat und die das über das Gesicht rinnende Blut blind macht, in den Zug der gefangenen Weiber gestoßen, der sich langsam nach dem Fluß zu in Bewegung setzt.

Sie weiß wenig von den Stunden, die nun folgen. Sie sieht sich wieder auf einem der sargähnlichen Boote. Fremde, weiße, verstumpfte oder verzweifelte Frauen sind ringsum . . . das ist verschwommen und gleichgültig. Die Fahrt endet wieder irgendwo auf dem anderen Ufer . . . sie hat dort einmal vor tausend Jahren eine grüne Kreatur mit Hornstacheln auf den Augenlidern in einem Käfig gesehen, ein Geschöpf, das man den Stromgott nannte . . . Dann kommt ein langer Marsch den Kai entlang, der Wind bläst die Funken des Brandes bis hierher . . . vom anderen Ufer schallen wieder Schüsse . . . die Weiber ringsum kreischen auf . . . irgend jemand stürzt von der Mauer in den kochenden Strom . . . das ist alles unwirklich und gleichgültig.

Aber dann kommt man wieder vor das Yamen, in das man sie vor zwei Tagen von dem Schiff gebracht hat, das schreckliche, uralte Holzyamen, in dessen Fundamenten eine tote Frau eingemauert ist. Sie wird von den übrigen getrennt; das Yamen hat viele Zimmer für viele Weiber, es ist das Yamen eines reichen Mannes, der seine Weiber wechseln kann, so oft es ihm beliebt. Sie liegt wieder in dem großen chinesischen Himmelbett, das Blut von dem Hiebe ist geronnen, das Fieber beginnt sie heftig zu schütteln.

Von fern, vor dem Fenster, von dem Hafen hört sie Rufen, Singen, Lärmen, Brüllen. Vielleicht ist 236 auch eine ihr wohl bekannte Stimme dabei . . . man kann sich später nicht mehr daran erinnern. Man liegt da und wird von dem alten Chinesenweib gepflegt. Das Blut wird vom Gesicht gewaschen, es riecht nach scharfem, chinesischem Essig. Es wird auf den Gängen vor der Tür wieder lebendig, man merkt die Nähe von vielen Männern. Man wird angezogen und bekommt neue chinesische Kleider, man wäre sehr schön, wenn man nicht so verprügelt wäre und nicht diese Wunde im Gesicht hätte. Man ist doch recht schwach, man ist weinerlich und kann nicht recht stehen und fällt immer wieder um wie die Puppe, die man selbst als Kind vor tausend Jahren angekleidet hat. Da kommt das alte Weib mit einer langhalsigen Flasche, man weiß nicht, ob das Weib barmherzig oder ein alter Teufel ist. Aber man trinkt doch gierig den Reisschnaps, und wenn man nun auch betrunken ist und lallt, so kann man doch wieder gehen und auch der Wundschmerz läßt nun nach.

Und wieder fallen Schleier um sie, und nur wie bunte Gobelins ziehen die Dinge an ihr vorüber. Sie geht am Arm der Alten durch die Höfe, sie kommt in eine große, alte Veranda, in der Lampions brennen. In der Veranda sitzen Männer mit Hornbrillen und Totenschädeln, weiße Frauen hocken allesamt in chinesischen Gewändern neben ihnen, und wenn diese Frauen auch apathisch sind wie Leichen, es ist doch lustig hier. Und wenn man auch selbst verprügelt und zu häßlich geworden ist, um noch die Geliebte eines farbigen Mannes zu sein, so hat man doch immer noch einen schönen Körper. Und plötzlich hebt man den Mantel mit den Händen und schnellt in seiner Betrunkenheit tanzend über den Teppich und johlt plötzlich nach der Melodie eines New Yorker Gassenhauers ein Zotenlied . . . man weiß nicht, woher man 237 es kennt und wundert sich nachher selbst, daß man inwendig eine solche Kloake ist. Ja, man lacht darüber, daß die Chinesen auf den Teppichen nicht alle Zweideutigkeiten verstehen und daß einer dem anderen die Obszönitäten einer weißen Frau erklären muß, und daß sie dann lachen oder einen verächtlich anschauen, oh . . . mit den höhnischen Totenaugen, die man schon irgendwo einmal an irgendwem gesehen hat.

Aber da geht mit einem Male durch den Luftzug ein Lampion in Flammen auf, und man hält das für ein brennendes Kind und hört plötzlich mitten in einer Cochonnerie zu singen auf und läuft schluchzend aus dem Zimmer.

Draußen in der Nachtluft wird sie dann etwas nüchterner. Sie sieht den Brand der großen Stadt drüben wieder in schrecklicher Röte am Himmel stehen und hört die Schüsse, mit denen man drüben die letzten, sich noch in den Weinbergen versteckenden Europäer tötet. Sie irrt durch viele Gänge und kommt an vielen Türen vorüber, und hört überall die gleiche Musik: das Lallen betrunkener Männerstimmen, und leises Weinen und Wollustgestöhn und Grammophonkrächzen und Fluchen, und das Zirpen chinesischer Zupfgeigen. Und wenn sie das alles auch nicht voll begreift, so ahnt sie doch, daß dieses Yamen mit seinen unübersehbaren Höfen zur Stunde ein Zuchthaus erzwungener Freuden ist, in dem siegreiche Asiaten den Hunger nach weißem Frauenfleisch stillen, diesen Hunger, der sich zuerst in den Liebesverhältnissen chinesischer und japanischer Studenten mit Pariser und Stockholmer Schreibmaschinenmädeln schüchtern dokumentierte und in dieser Noche trista der weißen Frau endet.

238 Irgendwo an einem der trüben Teiche begegnet sie unter einem einsamen Lampion betrunkenen Männern – Chinesen und zwei Menschen, die auch hier die weiße Haut unter der Ledermaske bergen. Die Erinnerung an Edward taucht auf, die Bilder von Singapoore, von dem Küstendampfer fliegen an ihr vorüber, von jener Fahrt, mit der dies ungeheuerliche Elend begonnen hat. Sie fühlt einen Arm, der sie festhalten will, reißt sich los und ist trotz der Trunkenheit schneller, und läuft durch lange, einsame Gänge davon.

Lichter brennen fahl und riesige Ratten huschen über modriges Holz. Sie will sich in einer Ecke verstecken, verkriecht sich zwischen altem Gerümpel und verstaubten Wandschirmen. Aber da weht es sie eisig an, sie glaubt den Atem der Verwesung zu wittern. Dort ist es, dort . . . eine grünlich, schimmernde Gestalt, und das ist gewiß die tote Frau, die aus ihrer Fundamentgruft gestiegen ist. Sie fliegt davon, fällt über zerbrochene Bambuszäune, rafft sich auf, hört wieder in der Nähe das Singen und Grölen der Orgie und fühlt dann, wie jemand sie am Aermel hält. Da hält sie still wie ein gefangener, zitternder Vogel und erkennt erst nach einer Weile in ihrer Trunkenheit die alte Chinesin.

Sie taumelt, auf den Arm des alten Weibes gestützt, in ihr Zimmer, sie verlangt wieder zu trinken und reißt die Flasche an sich und trinkt und versinkt in schnarchenden Schlaf. Sie schläft und weiß nicht wie lange. Sie glaubt die Stimme vieler Menschen in dem Raum zu hören; sie hat später eine vage Erinnerung an viele mongolische Gesichter, taumelnde Gestalten in Uniformen, in blauen Mänteln. Sie glaubt Streiten zu hören und eine erregte Balgerei an der 239 Tür ihres Zimmers. Erwacht . . . vergessen . . . sie hat niemals hinterher gewußt, was von alledem Wirklichkeit gewesen ist.

Es ist dunkel ringsum, als sie von ihrer Wächterin aufgerüttelt wird. Sie rafft sich auf mit einem Schädel, der zum Zerspringen schmerzt; der Fusel ist noch in ihren Gliedern, sie ist schwindlig zum Erbarmen, sie muß erbrechen und fällt schließlich von dem unsauberen Bett auf den schmutzigen Boden. Die Alte übergießt sie mit Wasser, sie fährt auf in der Kälte des Gusses. Sie sieht beim trüben Ampelschein im Spiegel zufällig ihr Bild: der Peitschenhieb spaltet ihr ganzes Gesicht, das Gesicht ist zur Fratze verquollen, sie ist nur ein häßliches Gespenst ihrer selbst, sie ist unsauber, übelriechend . . . ach, ach, ein fortgeworfener, besudelter Schmutzlappen. Da sinkt sie zusammen und muß mit einem Male kläglich und ohne Halt weinen.

Sie erhält einen zweiten Wasserguß, sie hört rauhe, halblaute Pidgeonworte. Das ist die Alte, die mit ihren Kleidern in ihren Koffern hantiert. Sie kann verstehen, daß sie fort soll, sie versteht nicht, wohin – irgendwo nach dem Norden, wo sie sicher ist. Sie würde hier nicht am Leben bleiben, nein . . . Die Alte fährt mit der Hand nach der Kehle und macht die Gebärde des Halsabschneidens, die Alte ist brutal und rüttelt sie wieder und flucht. Aber als die weiße Frau noch immer weint, da neigt sie sich doch über sie und streicht leise über ihr Haar: die Menschenmutter der Menschentochter. –

Es ist leicht zu sagen, daß der weiße Mensch gemütvoll und der farbige gemütlos ist. Es ist sehr bequem, die Welt einzuteilen in einen Bezirk, der für Engel von einer bestimmten Hautfarbe oder gar von einer 240 bestimmten Nationalität reserviert ist, und einen anderen, von Zuchthäuslern bewohnten. Und es ist mitunter überraschend und bis zu einem gewissen Grade beschämend, zu erkennen, daß Feigheit und Heldenmut, Schelmerei und Ehrlichkeit, Schweinehündigkeit und ihr Gegenteil ziemlich gleichmäßig verteilt sind über die Menschen und sogar in einem und demselben Individuum sich unentwirrbar mischen. Diese hier war ein altes Chinesenweib, eine Fischhändlerin oder gar Agentin für schlimmere Dinge und hätte vielleicht auch unter anderen Umständen ein europäisches Kind uns Feuer geworfen, und folgte doch hier ihrem verschollenen Muttertrieb und half der weißen Frau, ihren Weg bis zu Ende zu gehen, und die zünftigen Chinakenner mögen damit anfangen, was sie wollen. –

Sie sitzt noch immer halb betäubt auf dem Bett. Die Alte wirft mißhandelte, europäische Reisekleider, den Kasten mit dem Karait, das silberne, ihr von Percyval Tarquanson geschenkte Reisenecessaire durcheinander in den Koffer und schiebt sie schließlich zur Tür hinaus . . . leise, leise; sie flucht verstohlen über das Knarren des alten Holzes. Sie schleichen den langen Gang entlang, dem fahlen Licht zu über den Hof. Sie hören es ab und zu wimmern, und man kann nicht wissen, ob das eine liebeshungrige Katze oder ein verendendes menschliches Wesen ist. Eine Wasserkunst plätschert im Hof, man stolpert über einen schnarchenden Betrunkenen, man findet sich endlich aus dem Dachsbau heraus in den vordersten großen Hof. Eine Gestalt löst sich aus dem Dunklen, in der Hand der Alten klingen gute, englische Münzen, der hierher bestellte Torwächter beladet sich mit dem Gepäck.

241 Dann das Außentor mit den geschnitzten Holzgespenstern und dann der Kai und das Boot und der kochende, rasende Strom. Verglimmende Glutaugen auf den Brandstätten Hankous, beizender Qualm von heißem Oel und gebratenem Fleisch. Man ist zu apathisch, um das zu beachten, und da setzt auch schon das Boot auf dem anderen Ufer auf. Und da ist wieder die verwüstete Fabrik, der Platz, der eimerweise europäisches und amerikanisches Blut getrunken hat. Und da sind sie auch alle, alle wieder, die blutigen Larven dieser Krämer und Ingenieure und Großhändler und Missionspriester, und sie sind nun sehr stille und nachdenkliche Herren geworden, die sich ganz und gar nicht für die Frachtraten zwischen Hankou und Liverpool interessieren, und auch die Notizen der New Yorker Börse haben nur noch einen sehr bedingten Wert für sie. Sie wissen auch nichts mehr von ihrer Todesangst und blicken ganz gottergeben aus ihren zerfetzten Gesichtern. Oder sie grinsen im Tode über den Humor, den China bei der Anordnung ihrer toten Leiber bewiesen hat: daß der englische Generalkonsul, der Modemacher Ostasiens, im Tode nun ein strahlendes Kleid aus Teer und bunten Federn trägt, daß bitterböse Konkurrenten sich wie Liebespaare in den Armen liegen, und daß der dicke Russe Oscherow, der nie ein Meter Weges anders als in seinem Tragstuhl zurückgelegt hat, seinen Dreizentnerleib auf einen verkohlten Baumstumpf geschleppt hat – ach, und mit festen Stricken angeschnürt ist dort oben, wo er als Scheibe für fröhliche Schützen hat dienen müssen.

Und wenn man das auch alles nur mit stumpfen Augen sieht und nichts haften bleibt in dem müden, vergifteten Hirn, so stolpert man doch über etwas 242 Dunkles, Weiches und erinnert sich plötzlich, obwohl man alles andere vergessen hat, eines jungen, mit dem blutigen Weltapfel spielenden Menschenkindes; und beugt sich nieder und findet doch nur eine auf dem Rücken liegende, jammervolle Kinderleiche, mit weit ausgebreiteten Armen und einem krampfhaft gehaltenen Gummiball und der klaffenden Wunde im Hals: »Hier liege ich und klage die Welt an und kann ihn in meinen Armen nicht fassen, den großen Jammer der Kreatur!«

Und nun bleibt sie stehen und zittert und schluchzt und wird doch gleich mit harten Worten weitergetrieben. Auf dem Bahnhofe, über den vor wenigen Tagen noch die eleganten Trains der Nord-Süd-Bahn liefen, steht ein kurzer, dunkler Zug mit drei oder vier chinesischen Viehwagen, wartet auf die, die Grund haben, Hankou zu verlassen: Eingeborene, die die Taschen voller amerikanischer Hundertdollarstücke haben, und spärliche Europäer, die ihre Taschen geleert haben, um ihr nacktes Leben nach Norden, nach Tschili zu retten, wo kombinierte europäische Truppen die Ordnung noch notdürftig aufrecht erhalten.

Alles ist geheimnisvoll und still, und der Lokomotivführer wird ein reicher Mann werden, wenn er den Zug wirklich noch durch die Wälder im Norden bringt, die schon voller Banden stecken. Man hat es sehr eilig, die Nacht auszunützen. Die Alte verhandelt leise mit einem kleinen, gestikulierenden Japaner, der die Uniform der Schlafwagenboys trägt. Dieses ist kein Schlafwagen . . . o nein, es ist ein Hühnerwagen, der in der vorigen Woche noch chinesisches Federvieh von Ku-Kiang nach den beiden großen Städten gebracht hat. Sie kommt in ein Behältnis zu liegen, das nicht 243 größer als ein Sarg ist. Da liegt sie zwischen den Gitterstäben des Wagens auf stinkendem Stroh und weiß nichts mehr von der bluttriefenden Stadt, die hinter ihr liegt, und schläft und schläft.

Einmal erwacht sie, als der Zug hält. Sie hört draußen Asiaten einander anbellen mit ihren Kreischlauten und weiß nicht, daß der Zug von irgendeiner Bande angehalten ist und nur mit neuen erpreßten Geldern wieder in Gang gebracht werden kann. Sie hört nicht neben sich das Schnarchen des chinesischen Schiffskoches, der mit dem Diamantenkollier der Frau Generalkonsul de Souza sich nach Peking echappiert, um dort ein solides Bordell für Regierungsbeamte zu begründen. Und sie hört auch nicht, daß über ihr die kleine Engländerin, deren Gatten man in ihren Armen geschlachtet hat, immerfort reden und immerfort und immerfort dieselben asiatischen Worte plappern muß, die sie vor Jahren unten an der afghanischen Grenze, als ihr Gatte im britischen Kolonialdienst stand, aufgeschnappt hat: »Marf karo... marf karo...« Gebt uns Gnade . . . Gebt uns Gnade . . .

Da es aber keine Gnade gibt außer der des Schlafes, so liegt sie ohne Bewußtsein und verschläft es auch, daß es kälter und kälter wird in diesen sechsunddreißig Stunden ununterbrochener Fahrt nach Norden. Erst in Pau-ting erwacht sie ein wenig aus ihrer Erstarrung. Der Zug hält. Britische Kolonialdragoner, der erste europäische Vorposten gegen den brennenden Süden, halten den Bahnhof besetzt. Ein winziger Korbwagen mit einem Orlowtraber schnurrt wie eine Mühle heran, über die trockene Ebene jagen Sandstürme. Sie friert jämmerlich, die kalte Luft bringt sie nach langen Stunden endlich zur Besinnung. Sie 244 erinnert sich nun wieder der Fahrt nach Wutschang und des alten Yamens und der eingemauerten Frau und des Stromgottes. Sie fühlt auch den Peitschenhieb auf dem Gesicht und weiß auch, wer ihn geschlagen hat. Aber dazwischen sind nur lose schemenhafte Bilder, und sie bemüht sich vergebens, sie aneinander zu reihen. Sie erfährt, daß man in Sicherheit ist und in vier Stunden in Peking sein wird. Und sie freut sich über die laute, ehrliche Stimme des russischen Bahnhofsdieners, der den Reisenden Tee reicht, und versucht zu lächeln und fühlt doch plötzlich einen wehen, tiefen Schmerz und schläft wieder ein und wird erst in Peking von der Schwester des amerikanischen Hilfskomitees aufgerüttelt, das die Flüchtlinge in Empfang nimmt.

Sie blickt um sich: auch dieser Bahnhof ist voll von Europäern, die aus dem Süden ihr Leben gerettet haben. Finstere britische Pflanzer aus Kwang-si und fischblütige Holländer, die sich auf Küstenseglern für den Rest ihres Vermögens an die Tschiliküste gerettet haben, und schnatternde Französinnen, die zwar den Brand von Tonking mit angesehen haben, nun aber schon lachend ein Modejournal für eine Mode der Flucht improvisieren. Außerdem ist der Bahnhof vollgestopft mit Soldaten aller europäischen Mächte, enghosige Reiteroffiziere flirten eindeutig mit geschminkten Krankenschwestern, ein General in umgelegtem grauen Mantel, massig und rund wie ein Backofen, läßt sich von seinem Adjutanten pikante Anekdoten über die russische Tänzerin Suchotzkaja erzählen. Daneben Kokotten, Intendanturbeamte, die im feindlichen Feuer unentwegt Staatsgelder unterschlagen werden, sibirische Felltrapper und resignierte alte Juden, eine 245 ältliche amerikanische Dame, die wie eine Krähe nach ihren Koffern schreit, französische Sprachlehrer und Schweizer Missionare und Berliner Eisenbahningenieure – es brodelt durcheinander wie ein überhitzter Hexenkessel. Nach zwei Tagen soll auch Peking geräumt werden – der Druck chinesischer Regierungstruppen im Süden wird zu stark, die spärlichen Bataillone, die Europa zur Verfügung hat, räumen eine Paßstellung nach der anderen. Aber das ist in den Hirnen dieser Leute nur etwas Vorübergehendes, ein Aufstand größeren Stiles, nichts weiter: nach fünf Wochen ist man wieder zur Stelle, wird wieder an Asien Maschinen, Chemikalien und Liebe verkaufen, wie bisher. Und niemand ist imstande, die große Weltenwende zu begreifen. –

Als sie den Gepäckboy entlohnt, sieht sie, daß noch fünf Pfund in ihrer Börse sind: ihr gesamtes Geld. Sie weiß nicht, wo alles übrige geblieben ist, und noch viel weniger denkt sie darüber nach, wo sie neues Geld hernehmen soll. Sie sitzt im Esplanadehotel neben dem behäbigen Gebäude der britischen Botschaft und wartet auf das Fertigwerden ihres Zimmers. Eine Pflegerin kommt und sieht ihre zerschundenen Arme und fragt, ob sie aus dem Süden käme, und der französische Militärattaché, der ihr gegenüber im Klubsessel liegt, horcht auf und möchte gern wissen, ob es wahr sei, daß die chinesischen Banden weiße Führer hätten. Sie sieht die Frager teilnahmslos an und antwortet nicht. Sie verkriecht sich hinter den hohen Papierwänden des ostasiatischen »Lloyds«. Da steht in zollhohen Buchstaben von der amerikanisch-japanischen Spannung zu lesen, von Gärungen unter den Asiaten der amerikanischen Westküste, von Yankeepogroms in den südamerikanischen 246 Republiken, über die Japan die schützende Hand hält, von Flottenbewegungen bei Panama und einem Massenaufstand der Neger in Südgeorgia.

Und da wäre auch eine alte Nummer von »World« und da ist auch ein Bild mit bekannten Zügen, und sie könnte sehen, daß es der Chefingenieur Frederic William Parker ist, der bei den Unruhen in Ost-New York erschlagen wurde; sie könnte aus den ellenlangen Berichten von der Plünderung ihres Hauses hören, und daß der Reichtum, der sie nun seit zehn Jahren als selbstverständliches Ding begleitet hat, nun ein Konglomerat von schön lithographierten Papieren ist wie der Wohlstand aller Abendländer. Aber sie sieht die Zeilen nur mit teilnahmslosen, erloschenen Augen an, sie weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat.

Sie folgt mechanisch dem Mädchen auf das Zimmer, sie merkt es nicht, daß draußen das Gesinde ihr nachflüstert wie einer Geisteskranken. Sie packt auch mechanisch ihre Sachen aus, die mißhandelten Kleider einer vormals eleganten Frau, von der sie nichts mehr weiß, das ledergefaßte Bild eines Gentlemans mit asiatischen Zügen, von dem ihr krankes Hirn kaum noch den Namen kennt . . . sie wirft alles auf die Erde. Und flüchtige Erinnerungen kommen ihr erst, als sie das Kästchen mit dem Giftwurm am Boden des Koffers findet. Ja, nun erinnert sie sich der Terrasse in Singapoore und schlanker, angelsächsischer Monokelträger und der wirbelnden Schlangenleiber und eines großen, geliebten Mannes neben sich, der den Stock so unbarmherzig schwingen kann, wenn die Welt sich nicht nach seinem Willen dreht. Aber dann ist dieser Mann verschwunden und sie sieht nur das geschnitzte Kästchen und hebt den Deckel ein wenig. Da zischt die Schlange, 247 die die kalte Luft Tschilis erweckt haben mag, leise auf; sie schlägt den Deckel zu und bricht, ohne zu wissen, warum, in ein irrsinniges Gelächter aus, und wirft sich, ohne sich auszukleiden, auf die Ballen ihrer beschmutzten und verwüsteten Kleider.

Zuerst schläft sie abgrundtief, wer weiß wie lange. Aber dann knallen draußen vereinzelte Schüsse . . . die üblichen Ueberfälle auf die europäischen Wachen in den Vorstädten . . . und fortan sieht sie seltsame, lächerliche Traumbilder: sie fährt im Automobil nach Wallstreet, Percyval Tarquanson sitzt neben ihr und Parker sitzt ihr gegenüber . . . Als aber der Wagen vor dem Gebäude der Börse hält, haben die beiden an ihren tadellosen Gehröcken schäbige, meterhohe Flügel aus Silberpappe, und die Reporter knipsen ihre Apparate, und der Pöbel johlt, und beide wollen davonfliegen und kommen nicht hoch und fallen in die brüllende Menge und werden in Fetzen gerissen und flattern als große, zerknüllte Silberpapierballen im Novemberwind über den Asphalt.

Und dann dreht die Hand des Wahnsinns die Kurbel weiter und sie sieht die heiße, dampfende Ebene rechts und links des Yangtsekiang, und die Erde ist allenthalben bedeckt mit großen, roten Flecken, einem häßlichen, weichen Schorf, aus dem riesige Schwämme vor ihren Augen emporschießen. Die Schwämme werden zu weichen, großen Höckern, die Pilze spalten sich und lassen seltsamen Samen zu Boden fallen: nackte Männer mit Vogelschnäbeln statt der Münder, und ihre Hände greifen nach den Hängebrüsten breithüftiger, fetter Weiber. Hündinnen mit skelettiertem Schädel und trächtigem Unterleib ziehen hinter sich einen Schwarm geiler Tiere und werden erreicht und 248 umklammert in atemloser Begattung. Kopflose Affen mit bärtigen Menschengesichtern mitten auf der Brust strecken obszön ihre Blöße gen Himmel, und Millionen von Eidechsen und Konvolute fetter, weißbäuchiger Würmer wälzen sich paarend im Schlamm, überziehen die ganze Erde mit einem gräulichen Gallert der Wollust. Und allenthalben schießen neue Pilze auf und schütten ihren animalischen Samen über die Erde: die ganze Welt ist ein einziges, tierisches Sichumklammern, ein Schmatzen und Stöhnen und Wollust. Und immer wieder die dampfende Brunst und allenthalben in dem heißen Schlamm die roten, roten Flecken . . .

Als sie in dem trüben Licht des mürrischen Nachmittages erwacht, in den sie nach der ungeheuren Ermattung der letzten Tage hineingeschlafen hat, da bemerkt sie an der Hand, die sie träge ausstreckt, einen roten Fleck, der nicht dorthin gehört. Und als sie näher hinsieht, da ist es noch einer und noch einer, und als sie in plötzlicher Furcht den Arm ausstreckt, da ist der ganze Arm, ihr ganzer schöner, und nun so vernachlässigter Körper, bedeckt von Tausenden und aber Tausenden solcher merkwürdiger roter Flecke. Und als sie mit einem Schrei (sie weiß selber nicht, warum sie so erschrocken ist) vor den Spiegel tritt, da ist es nicht nur die Wunde im Gesicht, die ihr Geliebter ihr geschlagen hat . . . nein, nein, da ist es noch etwas anderes, unsäglich Schreckliches, was dieses Gesicht gedunsen und wüst macht. Sie gleitet mit zitternden Händen durch ihr Haar . . . ach, ihr schönes, kupferiges Haar . . . wer hat solches Haar wie Violet Tarquanson? Aber als sie durch dieses Haar streicht, da bleiben Strähnen, ganze Büschel dieses Haares in ihren Händen . . . da und da und überall, und sie wird 249 kahlköpfig dastehen, wenn sie noch mehr in ihr Haar greift . . .

Es ist nicht zu erwarten, daß eine verwöhnte und bislang so behütete Frau weiß, was diese häßlichen Symptome zu bedeuten haben. Wie aber in der Hetäre, in der Vagantin, in der Dame großen Stiles stets die Angst vor den Wunden zittert, die ihr Weiberleben vernichten, so weckt Weiberinstinkt die nämliche Angst in dieser Frau, eine Angst, die auch ohne Ultramikroskope blitzschnelle Diagnosen stellt. –

Und nun erwacht sie mit einem Schlage aus dem Nebel der letzten Tage zu schrecklicher Klarheit. Ja, nun spürt sie den Atem dieses verkommenen Europäers, dem ihr Leib als Bestechungsgabe gereicht wurde, sie sieht gelbe Hände, die sich alle nach dem weißen Weibe ausstrecken, hundert lüsterne Schlitzaugen, die sie begaffen. Sie sieht sich selbst als betrunkene Dirne hin und her taumeln und hört sich Zotenlieder singen und begreift, daß sie nichts anderes ist als ein Beuteweib, das eine andere Rasse davongetragen hat . . . nackt über den Sattelbug eines Pferdes gelegt und verteilt unter die Männer und in den Schmutz geworfen.

Gut denn. sie will nicht länger blinde Augen haben! Ist sie gedemütigt, so will sie wissen, wie tief sie gedemütigt ist! Und nun kleidet sie sich sehr ruhig und so sorgfältig wie möglich an und geht aufrecht und stolz unten an dem Manager vorbei – nach Wochen wieder so etwas wie eine korrekte und unnahbare Dame. Sie geht den verfallenen Graben entlang mit den tausendjährigen Mauerresten und dem tausendjährigen Schmutz. Sie passiert die englische Gesandtschaft mit dem gemütvollen Biedermeierdach, das eigentlich nicht hierher gehört. Ein Offizier, der die 250 Vorposten im Südgelände kontrollieren will, schaut lange hinter der verschleierten Frau her, und auch Tommy Atkins, vor dem Gebäude Posten stehend, huldigt ihr mit einer respektvollen Zote.

Sie bemerkt das nicht und sie bemerkt auch nicht die Erregung, in der in Ha-Ta-Man alles zittert, was nicht Uniform trägt. Da sind neue grellrote Telegrammfetzen an den Tafeln des Ostasiatischen Lloyd und Europa drängt sich vor der neuen Hiobspost aus dem Süden, die da angeschlagen ist. Sie geht daran vorüber und macht erst oben bei der anglikanischen Kirche halt. Drüben ragt eine modische Mietskaserne in den grellen Farben, wie China sie liebt, und sie ist bereits mit dem ehrwürdigen Schmutz überzogen, den China ebenfalls liebt. An dem schäbigen Portal mit dem abgestoßenen Mörtel ist ein Schild mit einem chinesischen Namen und einem europäischen Doktortitel befestigt, und das Schild verkündet, daß der Inhaber zu Breslau und in Paris und weiß Gott wo zu den Füßen sehr gelehrter Männer seines Faches gesessen hat.

Gewiß, das ist ein Berater für europäische Handlungsgehilfen, die schlimme Erfahrungen mit Asien gemacht haben, ein Kontrolleur für die aufgetakelten Dirnen, ein Berater der europäischen Soldaten aus dem Gesandtschaftsviertel; aber sie fühlt, daß es nun sehr gleichgültig ist, wer ihr das Urteil spricht. Und sie geht eine schmierige Treppe hinauf und sitzt in einem einsamen Wartezimmer auf einem verschmutzten Diwan, und blättert mechanisch in Pariser Broschüren, die extra für die Wartezimmer solcher Aerzte hergestellt zu sein scheinen, und sie sieht kaum auf den fettigen Blättern diese Zeichnungen, über die ein südamerikanischer Fletero erröten könnte.

251 Der gelehrte Mann da drinnen läßt sie antichambrieren, und das Zimmer ist seit zweitausendfünfhundert Jahren nicht gelüftet, es ist mit seinen dichten, staubigen Stores eigentlich schon eine Gruft. Aber dann geht die Tür da drüben denn doch auf und sie sieht wieder so einen peinlich europäisch gekleideten Asiaten mit einem tintenschwarzen Pomadescheitel, und den höhnischen Blick, den sie nun kennt. Dann hört sie sich sprechen und dann reißt sie sich die Kleider herunter und sieht, wie dieser Blick auf ihrer Nacktheit ruht, und dann fühlt sie wieder, zum letzten Male, ja, zum letzten Male, eine gelbe Hand auf ihrem beschmutzten Fleisch. Dann spricht der Mensch da ein Wort, das eine Wort, das ihr in den Ohren klingt, seit sie die Flecken da auf ihrer ehedem so schneeweißen Haut gesehen hat, und sie kleidet sich an und sieht noch, wie der andere Worte auf ein Papier malt. Aber als sie geht, hört sie noch die Frage, ob sie unten, in dem Aufstandsgebiet gewesen sei. Das ist eine sachlich berechtigte Frage und sie klingt ganz schüchtern; aber es klingt doch ein gottverfluchter Spott da hinein, die Ironie eines Volkes, das Rache genommen hat . . .

Sie wirft dem gelehrten Manne ihre letzten Pfundstücke hin und geht. Es ist schon später Nachmittag draußen, das Licht ist schon trübe, und der kalte, trockene Steppenwind des nordchinesischen Herbstes ist aufgesprungen und treibt haushohe Staubtromben vor sich her, die wie Reiter des Weltunterganges durch die Straßen jagen. Sie sieht vor sich die Scharten des Tatarentores, immer eine Etage über der anderen in dem Gemäuer, dessen Alter kein Mensch kennt; sie verläßt Ha-Ta-Man und verliert sich vollends in der fremden Stadt. Sie geht durch endlose Gassen mit 252 kleinen Lehmhäusern, die vollgestopft sind mit fremden, habgierigen, feilschenden Menschen – geht und geht und weiß nicht, wo sie ist. Einmal trifft sie ein Steinwurf . . . weiß Gott, woher er kommt . . . ein Europäer sollte sich nicht mehr sehen lassen in diesen Vierteln des alten Peking, das seine Befreiung ahnt. Einmal begegnet sie einer berittenen Patrouille bewaffneter, langschädliger Gentlemen, und der Führer hält es für seine Pflicht, der Europäerin zu sagen, daß sie nicht gut tue, weiter zu gehen. Aber sie sieht ihn teilnahmslos an und versteht ihn nicht, und geht weiter. Und dann enden schließlich diese engen Straßen mit dem verdorrten Gebüsch auf den Dächern in einer wehrhaften, barbarischen Mauer mit verfallenen Wachttürmen, und dahinter kommt die graue, graue Steppe und wieder die Sandstürme, die über die unendliche Ebene rasen.

Und nun sieht sie schlanke Zypressenbüsche, dicht an eine häßliche neue Ziegelmauer gelehnt, und Akkorde einer Blechmusik sind zu hören. Und wie sie den Tönen nachgeht, sieht sie wieder britische Soldaten und erfährt, daß sie einen Kameraden zu Grabe tragen, den draußen in den Vorstädten eine asiatische Kugel erreicht hat. Sie sieht den Sarg und das tiefe schwarze Grab und Soldaten mit ernsten Gesichtern, und einen rosigen Feldgeistlichen mit polierten Nägeln, und hört eine salbungsvolle Stimme, wieder, wie einmal vor langer Zeit: »I am the life and the resurrection...« Da muß sie grell auflachen und stört abscheulich die Andacht und läuft davon.

Dann heult wieder der Steppenwind um sie und hinter ihr kracht die Salutsalve, und sie geht weiter die Mauer entlang. Und nun geht sie zwischen winzigen, 253 kahlen Erdhügeln, die sich endlos aneinanderreihen zu unabsehbaren Kolonnen und die ganze ungeheuere Ebene füllen. Auf den Hügeln ist nirgends ein Schmuck, kein Stein und nirgends eine Erinnerung an die Toten, und sie weiß, daß in jedem seit soundso viel Jahrhunderten ein Asiate schläft: jeder dem anderen gleich im Tode . . . Mandarin, Gelehrter, Ackerbauer, Weiberhändler, totgeborenes Kind . . . ein einziges, ungeheueres, schweigendes Volk. Und da irgendwo, wo die kaiserlichen Gärten an die Ebene grenzen, hebt sich Gemäuer aus den Büschen und bewachsene Stufen führen hinauf zu einem verlassenen Tempel. Zwischen den vielarmigen Steingötzen, die sie angrinsen, regen sich zusammengekrümmte graue Gestalten, und sie sieht in gelbe Gesichter, die der Tod bis auf die Knochen abgezehrt hat. Sie kennt China nun genug und weiß von diesen Sterbenden, die sich noch bei Lebzeiten hierher, in die Nähe ihres Grabes schleppen, um ein paar Taels für den Transport ihrer Leiche zu ersparen und mit sich selbst kein Erbarmen haben, wie sie nie in ihrem Leben Erbarmen mit einer anderen Kreatur gehabt haben. Und hinter diesen lebenden Toten klafft der leere Raum des dunklen Tempels, und wenn sie auch nun selbst schon mit dem Tode verkehrt, sie wendet sich doch ab von der Leere und dem Grauen, und geht wieder der Stadt zu.

Und dann, wie ihre Füße sie durch diese Stadt tragen, die kein Europäer jemals ganz erforschen wird und die über ihren dunklen Geheimnissen brütet, da ist es ihr, als balle es sich im Halbdunkel neben ihr zusammen, und das sind die Gestalten ihres Lebens, das solange ein dunkles Dämmern war und sie nun in 254 einem einzigen Taumel fortgerissen hat bis zu ihrem Ziel . . . Und die Gestalten kommen aus dem Nebel, werden zu einem langen, klagenden Zuge, der mit ihr gleitet. Da sind ausgemergelte Proletarier aus East Side, die auf die Wunden ihres maschinenzerrissenen Leibes zeigen und nicht wissen, wofür sie eigentlich starben, wenn das Leben doch nichts anderes war als soundso viel Hammerschläge, immer auf den gleichen, tauben Nietenkopf. Percyval Tarquanson, der armselige Taldurchdringer, der die Welt betrog, um selbst betrogen zu werden und in seinem Kote liegend zu sterben . . . Joe Mallison mit dem kleinen Loch in der Stirn . . . William Parker mit dem zerschmetterten Kindergesicht . . . Ismael Prym mit gräßlichen Wunden in einer behaarten Affenbrust . . . Ward Whitening mit den vergifteten, ausgemergelten Gliedern unter dem Renaissancemantel . . . alle, alle . . .

Und alle sehen sie sie an mit den leeren Totenaugen, fragen, wozu das Leben war . . . ein Tanz wahnsinniger Narren um einen Wald von Schornsteinen, einen Weiberschoß, ein Bankkonto . . . Ja und dort die Toten von Hankou, von Singapoore, von Saigon . . . die Halbmänner, die man vom Korso in den Tod geschickt hat . . . fette Latifundienbesitzer, wie hilflose Schweine geschlachtet . . . geschändete Weiber, wie nutzlose Lumpen nach einer Orgie mit einem Stein um den Hals ins Wasser gestürzt . . . der Schlamm des Stromes schweigt für immer. Und auch er, der sie immer wie der Tod anschaute, und der ihr doch einmal zum Leben verhalf, der Asiatenbastard, dessen trauriges Auge so um die Menschenseele flehte, wenn sie ihn in den Armen hielt . . . Ja, da ist auch er und muß im Leben noch mit den anderen ziehen . . .

255 Und an der Spitze von allen, den vielen, den Endlosen, dem Weh der ganzen Welt, da zieht eine kindliche und schon zerfließende Gestalt, und die Todeswunde ist in dem durchschnittenen Hälschen. Und wie es jammernd die Hände hebt, so heben die Schemen alle die verwesenden Arme, und nun ist ein einziger, schriller Schrei, der Jammer der gepeinigten, geschändeten, gemordeten Kreatur . . . »Erbarmen . . . Gnade . . . Gnade . . . Erbarmen . . .«

Die tauben Steinmauern, die Jahrtausende asiatischer Greuel mit angesehen haben, hören ihn nicht, und die geschorenen Chinesenköpfe, denen sie begegnet, sehen nichts davon. Der Schrei verhallt wohl in den Gassen der uralten Lehmhäuser und wird verweht von den Sandstürmen, die durch die Nacht rasen. Aber die Frau, deren Leben erfüllt, und deren Leib zerbrochen ist, hört ihn. Und da tritt sie in tiefer Nacht vor die kleinen, erleuchteten Chinesenfenster, sieht die Zimmer mit Schmutz tapeziert, sieht Asiatenfamilien um den Tisch hocken – grausame Schlitzaugen starren und gelbe Hände arbeiten im Halbdunkel an irgend etwas Heillosem. Sie sieht chinesische Metzgerläden, wo man nächtlings Schlachtschafen die Eingeweide aus dem aufgeschlitzten Leibe zerrt, ohne sich die Mühe zu nehmen, das Tier vorher zu töten, sieht die in wehrloser Qual sich drehenden Augen des sanften, gemarterten Gottesgeschöpfes, und die blutige Foltererhand und wieder den leeren, erbarmungslosen Asiatenblick. So verirrt sie sich tief in Seitengassen, hört aus Kellerhälsen Klagerufe und Wollustgestöhn, und aus dunklen Häusern zankende Ehepaare, die ihren Haß sich durch die Nacht zukreischen, daß es gellend widerhallt an den Holzgiebeln. Dann hört sie Schüsse und 256 sieht über den Platz fliehende Gestalten, Reiter der überfallenen Wache hinterher, und diese fliehenden Figürchen, die übereinanderpurzeln und daliegend den Verfolger noch einmal um Gnade anflehen mit erhobenen Händen, und dennoch ihren Schuß empfangen und daliegen mit weitaufgerissenen Augen. Sie wird, als sie an einer Kneipe vorübergeht, selbst am Aermel festgehalten und fühlt wieder den heißen Atem eines Mannes, und wird erst losgelassen, als man im Laternenschein ihr zerfetztes Gesicht erkennt und einsieht, daß man sie zur Wollust nicht mehr gebrauchen kann.

Und dann endlich im Europäerviertel, das sie im Morgengrauen erreicht, die brüllenden Soldatenkneipen und die Laternen der Freudenhäuser, Gestank von Schweiß und schlechtem Puder . . . elegante Bars daneben . . . noch einmal vor dem verzweifelten Kampf überfüllt mit uniformierten Gentlemen . . . blasiert tuende Spieler mit dem Betrug im Gesicht . . . Huren aller Hautfarben, aus dem Süden mitgeschleppte Lustknaben, vor grünen Schnäpsen dünnbärtige Franzosen, und zwischen Chansonetten und Offizieren nach getaner Pflicht der Feldgeistliche mit den polierten Nägeln . . . Ja, ich bin das Leben und die Auferstehung . . .

Und wieder lacht sie irre auf und mit ihr lachen gellend die Schatten, die sie sieht. Da ist diese ganze Welt ohne Götter, ein Konglomerat von organisiertem Kot – alles betrügend und mordend, ein trüber Nebel von Wollust und Habgier und Ratlosigkeit, eine Rasse wie die andere, heillos jede und dennoch jede, jede wartend auf Erbarmen und Liebe . . .

Und plötzlich geschieht es, daß sie stehen bleibt, und plötzlich wird es sehr klar in ihr. Das ist es . . . ja, 257 das: wenn die Welt ohne Götter ist und ohne Sinn und ohne Erbarmen, so muß man eben von neuem den Gott empfangen und gebären. Und jede Mutter hofft im geheimen, daß sie den Held trage, und wenn man nie darauf hoffen kann, so ist es sinnlos, zu leben, und man muß sterben. Da muß sie an ihren verwüsteten Leib denken, und daß er nun weder einen Gott, noch ein lachendes Menschenkind empfangen wird; und sinkt nieder auf eine Bank und weint sehr bitterlich.

Ein riesengroßer Wachtmann der amerikanischen Gesandtschaft leuchtet ihr mit der Laterne ins Gesicht: man darf hier nicht sitzen. Sie sieht auf: nun ist der graue Morgen da. Der Platz vor der Gesandtschaft ist von Bewaffneten abgesperrt, Maschinengewehre stecken allenthalben den Hals zum Fenster hinaus. Im Süden grollen dumpfe Kanonenbässe: nun rüstet sich die alte Welt zum letzten Streit.

Auch sie ist gerüstet für ihren Kampf, ganz gewappnet. Wie sie den unreinlichen Graben entlang geht, weht der Schleier ihr nach wie hinter einer ganz großen Dame, und sie hat noch immer die Haltung einer Königin. Irgendwo verkünden nagelneue Plakate, daß man an die Räumung der Stadt denke, daß aber Grund zur Beunruhigung nicht vorliege. Und weiter ist da irgendwo zu lesen, daß Japan offen an Asiens Seite getreten sei, daß japanische Geschütze seit gestern an der amerikanischen Küste donnerten . . .

Mögen sie, mögen sie . . .

Vor ihrem Hotel kauern neueingetroffene Flüchtlinge, belgische Reisfarmer mit schnatternden Weibern und quäkenden Säuglingen, Leute, die kein Unterkommen gefunden haben in der überfüllten Stadt. Sie 258 tritt an eine Gruppe heran und sagt, daß ihr Zimmer frei werde im Hotel, noch heute, nach einer Stunde. Sofort drängt die nächste Gruppe heran, streitet mit der ersten um das frei werdende Zimmer. »Uns hat es die Dame angeboten . . . Wir waren die Ersten hier, bitte . . .«

Weiber kreischen, Männer tasten nach dem grifffesten Messer im Gurt. Es ist immer dasselbe.

In der Pförtnerloge fährt ein verschlafener, goldbetreßter Chinese auf, versichert, daß er sich äußerste Sorgen um ihren Verbleib gemacht habe, und hält die offene Hand hin. Sie hat kein Geld. Sie geht die Treppe hinauf.

Sie sitzt wieder in dem Zimmer zwischen ihren zerstampften Kleidern, inmitten des elegant scheinenden Plunders billiger Möbel. An dem wackligen Tisch hier hat ein ertappter Bankdefraudant sich vielleicht durch den Schädel geschossen, ein durchgebranntes Liebespaar sich in jenem Bett vergiftet. Es riecht nach dem Tode hier, es wird gut sein, hier zu sterben.

Sie nimmt den Behälter mit der Schlange, legt das Ohr an das Holz: ja, es regt sich wieder, es schürft mit den Hornringen über den Boden, ja . . . nun kostet es wirklich nur einen Griff.

Sie sieht das Bild des Earl of Hensbarrow am Boden liegen, denkt wieder an das unerweckte Leben, das sie vor ein paar Monaten noch geführt, an die Wirbel, die dann gekommen sind . . . Whitening, Tarquanson . . . Blut und Schuld, alles so jäh auf sie geworfen. Sie bereut nicht, o nein, sie weiß wie alle Sterbenden, daß das Leben ein Prozeß ist, der vom Menschen das Unwesentliche ablöst und daß zum Schluß erst das Wesentliche daliegt, und daß dann 259 alles Weitere Gnade sein mag. Gnade und Erbarmen, das sich ein zweites Mal ans Kreuz schlagen lassen mag um der blutenden Liebe willen, ein Starker . . . Ja du, du, den ich nicht mehr gebären kann.

Da reißt sie den Deckel ab, und da ist es geschehen. Aber da liegt die Schlange in der Häutung und ihre Pupillen glotzen entsetzlich, opalfarben, blind. Der Kopf züngelt wütend, aber das Auge sieht die Frau nicht. Die Frau muß den Entschluß noch einmal fassen, sie muß den Tod doppelt schmecken und seine bitterliche Angst. Sie sieht das Entsetzen und zögert. Ja, ja, es muß ja sein, und da stößt sie die Hand vor den zischenden Kopf.

Die Schlange faucht auf, der Leib windet sich – das geschieht blitzschnell – um den Arm. Sie fühlt den kalten, klebrigen Leib . . . das ist entsetzlich . . . oh, oh, entsetzlich . . . und sie möchte den Tod wieder von sich werfen und schreit kläglich in ihrer großen Angst. Da spaltet sich das Schlangenhaupt . . . zwei klaffende Kiefer . . . scheußlich aufklappende Haken. Und da ist es geschehen, und dann noch einmal und noch ein drittes Mal. Sie schreit wieder, sie schwingt in rasender Angst den Arm, der Arm wird frei, die Schlange fliegt mit dumpfem Laut auf den Boden, sie windet sich blitzschnell unter den Wust zertretener Kleider. Auf dem Arm sind dreimal je zwei blutende, kleine Wunden. Da ist es geschehen.

Sie wirft sich auf das zerwühlte Bett und fühlt nun schon das Gift durch den Körper schleichen, von den Armvenen zu den Lymphgefäßen.– der Arm schwillt an, der Arm wird unförmlich, große Blutbeulen blähen die Haut, das Gift erreicht langsam das Herz, das Herz geht blitzschnell, mit feinen, wehen 260 Schlägen. Die Schläge werden qualvoll, sie schütteln den ganzen Körper, sie strecken ihn plötzlich in furchtbarem Krampf, daß der ganze Leib bretthart wird. Das Haupt biegt sich starr in den Nacken zurück. Nun ist es da . . . große Sonnen scheinen und blaue Funkenregen . . . feuriger Himmel und schmerzliches Fließen . . . nicht mehr atmen können und Angst, und nicht mehr atmen brauchen und stille stehen. Langsames Stillestehen und tiefes, müdes Schlafen.

Es ist ungewiß, wie lange es nun noch dauert. Zuletzt liegt man in dem weichen, weichen Schoß einer großen, gütigen Mutter. Es ist gut so, es ist gut.

Die Schlange verkriecht sich in den verwüsteten Kleidern und friert in der kalten Luft und erstarrt.

Das Weib liegt still und schläft, und wenn sie auch den verunstalteten Arm in die Luft streckt in jähem Entsetzen: das Gesicht ist doch eine Maske mit dem Widerschein der großen Ruhe. Und es ist die Totenmaske, auf die es ankommt. Ja, es ist die Totenmaske.

Draußen fechten zwei Rassen ihren Endkampf. Die Frau, die den ihren durchfochten hat, wird am Nachmittag gefunden und als merkwürdig zusammengeschrumpfte, winzige Puppe in einen unförmlichen chinesischen Lacksarg gelegt und in der kalten Stauberde Tschilis begraben. Dort liegt sie und verfault.

Ich weiß nicht, was Gott ist und was er will; und wer es weiß – Theologieprofessor oder Raubmörder – der trete vor und sage es.

Aber ich glaube doch, daß das große Wesen, das ich hinter der Welt weiß, sie aufnehmen wird in seine große Vollendung.

Und der Winter kommt, und wieder ein Frühling, und die Jahreszeiten der Erde wechseln, und es wechseln die Rassen, die sie beherrschen.

261 Aber in einem Frühling irgendwo, vielleicht hier, vielleicht in den großen Ebenen Rußlands, stößt ein Bauer die Tür seines Hauses auf und sieht die erste Lerche steigen und riecht den Frühling und denkt daran, daß es nun bald Zeit ist, nach dem Pflug zu sehen, und ruft sein Weib, daß auch sie sieht, wie es Frühling wird.

Und die ist schwanger.

Und da die Welt sinnlos und ohne Liebe dahinrast durch Blut und Elend und dennoch sich sehnt nach Sinn und Erbarmen; so wird diese den gebären, der sie durch seine Liebe zur Liebe zwingt.

Und wenn diese es nicht ist, so ist es ein anderes Weib. Aber es ist gewiß, daß eine Mutter es sein wird.

 


 


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