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Henri de Régnier, ein Schüler Mallarmés, wird von einer kleinen Elite von literarischen Feinschmeckern schon lange gekannt und geschätzt, doch ist er erst durch seinen Roman » La double Maîtresse« der allgemeinen Aufmerksamkeit teilhaftig geworden. Die innere Entwicklung, die er durchgemacht hat und deren Niederschlag seine Gedichte, Novellen und Romane sind, läßt sich bei ihm wie bei wenigen zeitgenössischen Dichtern verfolgen und ist auch bei wenigen so typisch für die verschiedenen Phasen des jüngsten Literaturprozesses. Vom Romantiker, der Lebensflucht und Weltentsagung in rätselvollen Liedern besang und müde Stimmungen in märchenhafte Novellen hineingeheimniste, hat er sich Schritt für Schritt zur Lebensbejahung und Wirklichkeitskunst durchgerungen, ganz ähnlich wie der große belgische Symbolist Maurice Maeterlinck.
Henri de Régnier ist 1864 in der träumerischen Weltferne der französischen Provinz geboren, die er in seiner Novelle » Jours heureux« so herzbewegend geschildert hat. Die Eltern waren legitimistische Edelleute, die ein müdes, zurückgezogenes Aristokratendasein führten. Müde und melancholisch tritt er selbst ins Leben; Enttäuschung und Entsagung folgen ihm auf seinem Wege; nur ein letzter Wunsch bleibt ihm: nach Einsamkeit und Stille ... »Die Lampe brennt in einer Ecke des weiten, hochfenstrigen Saales,« heißt es in der Novellensammlung » La Canne de Jaspe«. »Ich stehe am Fenster und drücke die Stirn gegen die beschlagenen Scheiben. Die Blätter sehe ich nicht mehr fallen, aber jetzt fühle ich etwas in mir sich ablösen und langsam abbröckeln. Mich deucht, ich höre in der Stille den Fall meiner Gedanken. Sie fallen von hoch herab, einer nach dem andern, und zergehen langsam, ich aber folge ihrem Fall mit allem Ernst, der in mir ist. Ihr dumpfer, leichter Schall hat nichts mehr von der Schwere dessen, was sie im Leben wollten. Der Stolz entblättert sich, der Ruhm vergilbt ...« Gegenwart und Wirklichkeit versinken ihm in nächtliches Dunkel, während die Bilder der Vergangenheit in seiner Erinnerung aufleuchten und seine Träume erfüllen. Das Einst folgt ihm wie ein Schatten, als sein Schatten ...
Aus diesem zurückgewandten Leben entsteht allmählich eine letzte Freude für den Einsiedler: die am Nachbilden, am Schaffen, ja, am Leben selbst. Das Ideal, das der Träumer im Busen trägt, aber im Leben nicht zu verwirklichen vermag, soll wenigstens im Spiegel der Kunst ein schönes Scheinleben führen. Alle Figuren der ersten Prosawerke zeigen diese Neigung zu Spiegeln; sie gehen an die Quellen, um sich darin zu schauen, und die »Weisen« der großen Stadt in der Novelle »Hermokrates« gehen mit einem Spiegel in der Hand, um sich in ihrem Getriebe nicht zu verlieren. Régnier läßt auch die Natur, den Wald, den Sonnenuntergang, sich im Spiegel sehen, abgekühlt, verkleinert, »frei von dem zu großen Pathos da draußen.« Daher auch die Neigung zu Symbolen. Der Philosoph Eustasius ist der schönen Humbeline ewig dankbar, daß sie ihm »die abgekürzte Formel der Welt« ist. Er will die Welt als Ganzes sehen, ohne die ermüdende Fülle ihrer Einzelheiten, ohne ihre scharfen Ecken und Kanten. Und er stilisiert sie, um sie sich menschlich näher zu bringen. Er leiht ihr idyllische Züge; er schmückt sie mit Abendröten von Claude Lorrainscher Kristallklarheit, er belebt sie mit dem wild dahinbrausenden bacchantischen Treiben Böcklinscher Fabelwesen; und wenn er jetzt wieder dem verzitternden Nachhall der Vergangenheit in seinem Innern lauscht und die Erinnerungen der Kindheit reden läßt, so geschieht dies nicht mehr in symbolischen Liedern, sondern in der liebenden Kleinmalerei eines Schalcken und Mieris. Die Novelle » La Côte verte« offenbart diesen Stilbruch, dieses fortwährende Verlassen eines alten Stilprinzips und das fortwährende Hineinklingen von etwas Neuem, noch halb Unbewußtem, in typischer Weise und verleiht ihr dadurch einen eignen Zauber. In der nächsten Novelle » Jours heureux« ist der Umschwung zur Wirklichkeitskunst bereits vollendet. Die Brücke aus dem Traum- und Fabelland, aus der toten Natur ins Menschenleben, ist ganz abgebrochen. Es ist schlichter Wirklichkeitsstil, den schlichten Kindheitserinnerungen angepaßt, aber von einer Tiefe und Zartheit des Empfindens, bereit ein konsequenter Naturalist nicht fähig wäre.
» II ne s'agit pas d'analyser mais d'evoquer des sentiments«, sagt Régnier einmal, und nachdem er die Realität der Kinderzeit einmal aus sich herausgestellt hat, versucht er mit Glück, seine Gefühle vollends zu objektivieren und in einem Roman, ganz von sich losgelöst, in die Welt der äußeren Tatsachen einzuführen. Er schafft die Gestalt seines »armen« Nicolas von Galandot und transponiert diesen ins ancien régime, das bei einem französischen Aristokraten wohl das nächstliegende ist. Auch hier ist es eine Erinnerung, und zwar eine über sein individuelles Dasein zurückreichende Erinnerung, die ihn dem Leben – oder der Darstellung des Lebens – wiedergibt. Es ist schwer, den Roman » La double Maîtresse« in kurzen Worten zu schildern, da sich um eine sehr einfache Handlung, deren einzelne Phasen nach Art des altfranzösischen Romans freilich sehr ineinandergeschachtelt sind, ein ganzes Gewirr von kleinen Zügen und Tatsachen dreht, lauter angewandte Psychologie, verbunden mit meisterhafter historischer Milieuschilderung und apartem, altmodischem Stil. Der Roman ist getrost als Régniers standard-work zu betrachten und wird in deutscher Ausgabe diesem Bande nachfolgen, bedarf also keiner Inhaltsangabe.
Nach ihm hat Régnier noch eine Gedichtsammlung » Les Médailles d'Argile« verfaßt, anscheinend in dem Bestreben, den einmal gewonnenen Realismus in Sprache und Darstellung auch lyrisch festzubannen. Sie verrät nichts mehr von dem vers libre des einstigen Mallarmé-Schülers, atmet vielmehr die akademische Korrektheit der Versbehandlung seines Schwiegervaters, José Maria de Hérédia. Einen weiteren Fortschritt bedeutet die vorliegende Novellensammlung » Les Amants Singuliers«, deren erste, packendste Novelle unwillkürlich an C. F. Meyers unvergeßliche Renaissanceschilderungen gemahnt. Hier ist auch der letzte Faden zwischen Regniérs Figuren und seinem subjektiven Ich zerschnitten, und der objektiv bildende Künstler schafft mit historischem Sinn alte Kultur-Milieus nach: das italienische Cinquecento mit seinen wilden Leidenschaften und seiner heidnischen Schönheitstrunkenheit, – das Venedig des Rokoko, das so von ungebundenem Glück und sorgloser Zufriedenheit strotzt, daß Stendhal es als das Eldorado preist, in dem er gelebt haben möchte, – und das Zeitalter des Roi Soleil mit seiner stelzbeinigen Würde und seinem, in Allongeperücken daherschreitenden Römertum.
In diesem Zeitalter bewegt sich auch der in der Sprache Saint-Simons gemeisterte Roman » Le bon plaisir«, während Régnier in seiner letzten Schöpfung » Le Mariage de Minuit« den Schritt in die Moderne tut. Freilich ist diese Moderne von ganz besonderer Art; die Menschen, die er schildert, führen eine altmodisch-graziöse Sprache und ein geistreich-frivoles Rokokoleben: es sind die Nachkömmlinge jener alten Noblesse, die von der rohen Faust der Revolution zerbrochen wurde, wie zartes, zerbrechliches Sèvresporzellan. das nur in traurigen Scherben noch überlebt.
Fr. von Oppeln-Bronikowski