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II. Balthasar Aldramin

Kurze Lebensgeschichte aus dem alten Venedig

Ich habe Signor Balthasar Aldramin zu seinen Lebzeiten wohl genug gekannt, daß er durch meinen Mund hier zu euch reden kann. Der seine wird sich nie mehr öffnen, weder zum Lachen noch zum Singen, noch um den Wein von Genzano zu trinken, noch um die Feigen von Pienza zu essen, noch um sonst etwas zu tun, denn er ruht unter den Kirchenfliesen von San Stefano, die Hände auf der Brust über der Wunde gefaltet, die seinem jungen Leben am dritten Tage des März im Jahre 1779 ein rasches Ende setzte.

Er zählte fast dreißig Jahre. Wir kannten uns von unsrer Kindheit an, wie unsre Väter sich von der ihren her kannten. Wir verloren sie fast zur nämlichen Zeit und nahezu im gleichen Alter. Unsre nachbarlichen Paläste stießen aneinander, und ihr Widerschein verschmolz in dem Wasser desselben Kanals, ihre verschobenen Farben vermischend. Die Fassade des der Aldramins war ganz weiß und mit zwei Rosetten von rosa Marmor in ungleicher Größe geschmückt, die wie versteinerte Blumen aussahen. Die des unsren, des der Vimani, war rötlich. Die zwei oberen Stufen des Wassertors waren durch den Gebrauch abgeschliffen und glatt, die dritte dagegen schlüpfrig und feucht, weil die Flut sie abwechselnd bedeckte und freiließ.

Fast jeden Tag geschah es, daß Aldramin sie betrat, sei es am Morgen, am Mittag oder am Abend beim Scheine der Fackeln. Seine Gondel erzitterte, wenn er sie mit dem einen Fuße zurückstieß, um den andern auf meine Schwelle zu setzen. Ich vernahm seine Stimme, die mich vom Rande der Treppe aus anrief, denn er sprach viel und lachte gern, und wir genossen unsre Jugend in aller Freiheit. Gewöhnlich war er es, der mich zu den Vergnügungen mit fortriß. Er lag ihnen mit ungewöhnlichem Eifer und in mannigfaltigstem Sinne ob, und er brauchte nichts weniger als den weiten Raum des Tages und die Stunden der Nacht, die er zu einer einzigen Dauer verband, um die Menge der Genüsse zu kosten, die den Kern seines Lebens ausmachten. Die Liebe nahm unter allen den ersten Platz ein.

Aldramin wurde geliebt, und er liebte mich. Man sah uns fast immer zusammen, auf den Festen wie auf den Spaziergängen. Um noch weniger getrennt zu sein, wählten wir uns solche Geliebten, die einander freund waren und uns darum nicht voneinander trennten, und wenn wir sie verließen, fuhren wir nach den Inseln der Lagune, um Muscheln und Fische zu schmausen. Wir fehlten bei keiner der Vergnügungen, die die Stadt der Wollust bietet, und es gibt deren viele. Wie viele Stunden haben wir nicht in den Sprechzimmern der Nonnenklöster gesessen und zwischen die halboffenen Busenschleier der Klosterfrauen geblinzt oder ihrem Geplauder gelauscht, während wir trockenes Zuckerwerk naschten und Sorbetts schlürften! Wie manche Nacht haben wir nicht an den Spieltischen gesessen und unser Gold verloren oder andern ihre Zechinen abgewonnen! Wie oft sind wir nicht zur Karnevalszeit durch die Stadt getollt und haben lustige Sprünge gemacht! Wenn wir die Maskenfeste verließen, streiften unsre Mäntel die Mauern der engen Gassen. Die Sterne verblichen am dämmernden Firmament, und wenn wir an die Kanäle kamen, blies der salzige Seewind unsre Kleider auf und wir fühlten den Hauch seines morgendlichen Kosens auf unsern erhitzten Wangen unter den buntfarbigen Masken.

So gingen unsre Jugendjahre dahin. Die Töchter Venedigs würzten und vertrieben sie uns durch ihre Liebe. Gleitende Gondeln wiegten uns in unsern müssigen Stunden; Gesang und Lachen erheiterten sie mit sanftem Ungestüm. Der Widerhall klingt noch in meinen Ohren. Die Erinnerungen an diese glücklichen Tage sind noch zahlreicher und spiegelnder als die Windungen der Kanäle. Mir ist, als hätte ich dieses Leben in alle Ewigkeit fortsetzen können, ohne nach etwas anderm Verlangen zu haben. Ich wünschte nichts um mich verändert zu sehen, außer dem Lächeln der Schönen, damit ihre Lippen den meinen stets einen neuen Reiz boten.

Aldramin dachte nicht so. Mein Herz blutete mir, wenn ich die Fenster seines Palastes geschlossen sah, während die Rosetten von rosa Marmor auf der weißen, geblümten Fassade sich nach wie vor sanft zu entfalten schienen. Aldramin war fort zu einer langen Reise: er wollte die Welt kennen lernen. Drei Jahre weilte er in der Ferne, und unvermutet, wie er geschieden war, kehrte er auch wieder heim. Eines Morgens hörte ich seine Stimme, die mich vom Rande der Treppe anrief, und am Abend saß ich ihm wieder gegenüber am Spieltisch. Unser altes Leben begann von neuem, bis zu dem Tage, wo ein unerklärliches Ereignis ihn auf ewig darniederstreckte, und nun ruht er unter den Kirchenfliesen von San Stefano, die Hände über seiner blutigen Wunde gekreuzt ... Und darum bedarf er heute meines Mundes, um sich euch vernehmbar zu machen, und ich, Lorenzo Vimani, ich will euch wiederholen, nicht was ich weiß, wohl aber das, was ich mir über sein Leben ausgedacht habe, um mir seinen Tod zu erklären, und was er mir eines Abends in einem Gehölz rotschäftiger Pinien zu sagen schien, mein Freund Balthasar Aldramin, der Venezianer.

*

»Eines Tages, o Lorenzo, stand ich mit meiner Geliebten, der Signora Balbi, an der Riva degli Schiavoni. Sie liebte es, in der Sonne zu weilen, dieweil sie blond ist und ihre Haare dann einen goldenen Schein annehmen, von dem sie meinte, daß er mir gefiele; denn sie verabsäumte nichts, was mich an ihre Schönheit fesseln konnte. Um so lange wie möglich im Sonnenschein zu bleiben, zeigte sie sich gelaunt, den Tauben, die sie umkreisten, Körner vorzuwerfen. Zu andern Zeiten hätte ich an diesem Spiel Gefallen gefunden. Die Körner entfielen ihrer Hand wie ein goldiger Staubregen, aber ich war fühllos gegen den Reiz ihrer Anmut, und statt diese schöne Dame nach Gebühr zu bewundern, warf ich mein Auge vielmehr auf die kleinen Tiere, die sich zutraulich füttern ließen. Es waren ihr wohl ein Dutzend. Sie hatten glatte Federn und hornschuppige Füße, korallenfarbene Schnäbel und violettrote Kehlen. Sie waren dick und fett, und doch pickten sie begierig die Körner auf und schwellten sich mit dieser niedrigen Nahrung. Neue Gäste wurden angelockt. Sie ließen sich in schwerem, geschlossenem Fluge nieder. In diesem Augenblick erhob ich die Augen nach der funkelnden Lagune. Eine große silberweiße Möwe flog mit heiserem Geschrei vorüber. Kraftvoll und schnell durchschnitt sie die Luft mit ihren scharfen Schwingen, und dieser Gegensatz gemahnte mich an mich selbst. Mir schien, als gäbe mir der Seevogel da eine heilsame Lehre. Heute hier, morgen dort, allzeit lebendig und beweglich, während die Tauben fortfuhren, auf den warmen Steinfliesen um den unverhofften Fund zu hadern. O Lorenzo, ich verstand diese gefiederte Fabel!

»An diesem Tage war es, o Lorenzo, wo ich den Vorsatz faßte, in die Welt zu gehen und mein Vergnügen in ihrer wechselvollen Mannigfaltigkeit zu suchen. Ich schloß dich in meine Arme, dich, den ersten und liebsten meiner Freunde; dann nahm ich Abschied von der Signora Balbi und ging zu den Bankiers. Ich legte in ihre dienstfertigen Hände so viel, als ich bedurfte, um überall, wohin ich gehen wollte, hoch zu spielen, mich nach der Mode des Landes zu kleiden und manche Ausgabe zu machen, die mir gefiel.

»Dann reiste ich ab. Meine Gondel trug mich ans Festland. Ich empfand eine große Freude bei dem Gedanken, daß ich gerade vor mich hingehen könnte, ohne zu gewärtigen, daß ich wieder auf dieselbe Stelle zurückkäme, wie es so oft in den Straßen und Kanälen Venedigs geschieht, deren Biegungen uns unversehens wieder dahin zurückführen, von woher wir gekommen sind, so daß es einem am Ende ihrer krummen Pfade dünkt, als begegnete man sich in eigner Person. Das sollte fortan also anders sein, und ich war sicher, daß mein Weg mich zu etwas Neuem führen würde. Schon meine Karosse belustigte mich. Sie war breit und fest gebaut, und ich machte es mir bequem darin. Ich empfand eine ungekannte Freude, die bei jeder Drehung des Rades und jedem vorbeifliegenden Baume zunahm. Ein kleiner Hund lief unermüdlich neben den Pferden einher und bellte sie wütend an, und ich mußte Tränen lachen; so konnten mich die geringsten Kleinigkeiten unterhalten.

»Ich hatte mir vorgenommen, bei der Villa meines alten Anverwandten Andrea Baldipiero anzuhalten. Sie liegt nur fünf Stunden von Mestre, und ich wollte Abschied von ihm nehmen. Diese Villa ist ein Wunder der Baukunst, und ihre Gärten sind herrlich. Der Senator pflegt sie selbst und läßt beständig in ihnen arbeiten. Er lebt die meiste Zeit dort. Die Luft ist gesund, und der alte Baldipiero verdankt ihr die Kraft seines rüstigen Alters, denn er kennt keine der Krankheiten eines langen Lebens, obwohl das seine das gewöhnliche Maß weit überschritten hat. Seine Tage waren reich an glänzenden Taten. Er hat die Welt gesehen. Er ist ein derber und ein zarter Mann, der viele Frauen geliebt hat, und in allen Landen. Er ist noch schön von Ansehen, wiewohl er sich wenig zeigt und ziemlich abgeschlossen in der Villa lebt, oder in der duftigen Einsamkeit seiner Gärten.

»Gleichwohl empfing er mich mit Wohlwollen, aber ich las eine gewisse Unruhe in seinen Zügen. Er nagte im Sprechen am Ende seiner langen weißen Perücke und schien kaum stillsitzen zu können, während ich ihm meine Abreise und das Ziel meiner Fahrt mitteilte. Er billigte beides und bot mir einige Briefe an, die mir von Nutzen sein könnten. Dann verließ er mich, um sie zu schreiben, und ich sah seine geblümte Robe im Hintergrunde der Galerie verschwinden. Der Zipfel streifte sacht über den Marmor hin und ließ einen Duft von Moschus und Ambra zurück.

»Dieser Duft und das leichte Unbehagen, das er bei meinem Erscheinen nicht hatte verbergen können, brachten mich auf die Mutmaßung, daß ich mitten in eine galante Angelegenheit störend hineingefallen war. Der Senator war trotz seines Alters bekannt dafür, daß er sich dieses Vergnügens, das lange Zeit seine Hauptunterhaltung und seine vornehmste Beschäftigung gewesen war, immer noch nicht entschlagen konnte. Es hieß sogar, daß er seinetwegen nicht vor gewissen Verwegenheiten zurückschrak, die ihn allen Gatten und Eltern furchtbar machten. Er unterließ nichts, um zu seinem Ziel zu kommen, weder Gewalt noch List, noch sonst ein mittelbares oder unmittelbares Verfahren. Sogar von Ueberraschungen und Entführungen hatte man gesprochen, aber diese waren stets so geschickt ins Werk gesetzt und so glücklich ausgeführt worden, daß darüber nur ein unbestimmtes Gerücht umlief, ohne bestimmte Tatsachen und Beweise. Vielleicht hatte ich eine dieser Unternehmungen gekreuzt, darum nahm ich mir vor, meinen Wirt nicht länger zu belästigen, sondern alsbald abzureisen, wenn ich die angebotenen Briefe empfangen hätte. Er sollte mir welche für Rom und Paris geben, denn dies waren die beiden Städte, von denen ich noch nicht wußte, welche ich zuerst besuchen sollte. Die Reise nach Frankreich lockte mich besonders, und ich neigte dazu, ihr den Vorzug zu geben.

»Als ich diesen Plan noch erwog, sah ich mich in einem großen Wandspiegel, und ich gefiel mir darin. Mein seidener Rock, die gestickte Weste, die Schuhe mit den Diamantschnallen machten den besten Eindruck und konnten auch dem Verwöhntesten genügen. Meine Augen glänzten in besonderem Feuer. Mir schien, daß ich bei einer so glücklichen Erscheinung die gewagtesten Ansprüche an Fortuna stellen konnte, denn die schönen Damen in Frankreich sind dafür bekannt, daß sie mit ihrer Gunst nicht knausern, sobald es jemand sich angelegen sein läßt, sie durch einige dieser Feinheiten, für die sie sehr empfänglich sind, zu verdienen. Auch hatte ich eine Menge venezianischer Halsketten und Spitzen mit, auch eine Reihe von kleinen Dosen mit Miniaturbildern, die zu Geschenken wohl geeignet waren.

»Als ich so durch die Gärten schritt, träumte ich von tausend Abenteuern, die mir nicht entgehen konnten. Die Frauen bildeten ihren natürlichen Gegenstand. Ich sah den Zauber der Liebe sich vor mir erneuern, ohne daran zu denken, daß er allerorten derselbe bleibt und Länder und Sitten ihm nur sehr geringe Unterschiede verleihen. Ich zweifelte nicht, daß ich tausend neue Wunder und unerwartete Dinge entdecken würde. Ein plötzliches Verlangen ergriff mich, und mir war, als wäre ich bereits ins Romanland versetzt! Und nichts hätte mich mehr verwundert, als wenn man mich plötzlich daran erinnert hätte, daß ich nur einige Meilen von Venedig in den Gärten des Senators Andrea Baldipiero weilte: so erfüllte mich das Gefühl der Lostrennung von meinem gewöhnlichen Leben und den gewohnten Umständen, und ich war überzeugt, daß ich den angenehmsten und unverhofftesten Dingen entgegenging. Diese Erwartung ich weiß nicht welcher Ueberraschung, ließ die einfachsten Dinge in meinem Geiste die seltsamste Gestalt annehmen. Jede Biegung der Wege, über deren feinen, gleichmäßigen Kies mein Fuß schritt, dünkte mir irgend einen ungeahnten Ausblick zu versprechen. Die Kugeln der geschnittenen Buchsbaumhecken schienen mir in ihrem grünen Eirund ein Geheimnis zu verbergen.

»In solchen Gedanken kam ich an eine Felsgrotte. Wilde Weinreben verdeckten den Eingang. In jedem andern Augenblick wäre ich nur der unterirdischen Kühle wegen hier eingedrungen, denn es war heiß draußen, obwohl der Tag schon weit mehr als die Hälfte seines Weges zurückgelegt hatte; aber diesmal wagte ich mich nur klopfenden Herzens hinein, wie wenn die Windungen dieser ländlichen Höhle mich an einen Ort führen müßten, von dem eine Reihe unberechenbarer Abenteuer, wo nicht mein Lebensglück abhängen würde.

»Im Innern der Grotte war es kühl und angenehm. Die feuchten Felswände schwitzten Wasser aus, das sich in zwei Becken sammelte. Am Deckengewölbe waren verschiedene Vogel- und Tierarten in Bronze angebracht, die der Träumerei des einsam Dahinwandelnden Gesellschaft leisteten. Hinter dem vordersten Raum dehnte sich ein zweiter, noch dunklerer Saal, und dahinter ein völlig dunkler. Man hörte nichts als den Tropfenfall des Wassers, das auf dieser natürlichen Wasseruhr die eintönigen Stunden der Stille anzeigte. Der Boden war so uneben, daß ich mir fast die Knöchel verrenkte, als ich mich im Finstern zurechtzufinden suchte. Ich kroch also durch einen engen Schlupfgang, in dem ich bald tief gebückt gehen mußte. Felsspitzen streiften meine Schultern, und das gebückte Gehen begann mich zu ermüden. Aber diese Schwierigkeit hatte gewiß ihren absichtlichen Zweck; es war ein Kunstgriff, um beim Verlassen dieser Finsternis die Freude zu steigern, daß man dem Tageslicht zurückgegeben ist und wieder leichte Himmelsluft atmen kann. Ich täuschte mich nicht. Beim Verlassen der Grotte eröffnete sich ein wundervoller Ausblick über die ganzen Gartenanlagen, und zwar von der vorteilhaftesten Stelle aus, desgleichen auf die Hauptfront der Villa und die Anordnung ihrer Kolonnaden. Das Dachgeländer hob sich scharf vom reinen Himmel ab. Ich atmete den bitteren Buchsbaumgeruch und den zuckersüßen Duft der Orangenbäume.

»Indem ich diesen doppelten Balsam einsog, gewahrte ich zufällig, daß alle Fenster der Villa offen waren, nur ein einziges war sorgfältig geschlossen. Diese sonderbare Ausnahme rief meine Aufmerksamkeit wach und lenkte meine Blicke auf die beiden schweren, fest verschlossenen Fensterläden. Auf der ganzen übrigen Front ließ die Sonne die Scheiben erglühen. Warum nur hier die hermetische Abschließung? Ich war noch ganz in diesen Gedanken versunken, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. Es war die des Senators Baldipiero. Mit der andern reichte er mir die für mich geschriebenen Briefe. Ich bedankte mich und sprach die Absicht aus, unverzüglich weiter zu reisen. Es war noch hell genug, um in Noletta Nachtquartier zu nehmen. Zu meiner großen Verwunderung wollte er nichts davon wissen und hielt mich für die Nacht zurück. Ich nahm seine Einladung schließlich an, und wir setzten unsern Gang durch die Gärten fort. Er zeigte mir verschiedene Teile, die ich noch nicht gesehen hatte. Der Senator ließ die Zipfel seiner langen geblümten Robe auf dem Sande schleifen und stützte sich im Gehen auf einen hohen Spazierstock, an dessen Griff er bisweilen nagte.

»Gewiß bedurfte Andrea Baldipiero der Stütze dieses Stockes nicht. Er war noch gesund und kräftig, obwohl weiße Stoppeln die Haut seiner glattgeschorenen Backen mit harten Spitzen durchdrangen. Vor einer Statue, die das Grün eines Bosketts zierte, blieben wir stehen; er rühmte ihre Nacktheit in Ausdrücken, die seinen Sinn für schöne Formen bekundeten, und ich bewunderte namentlich die Art und Weise, wie er die Gestalt der Waldnymphe auf dem Griff seines Stockes pries, dessen Gold zwischen den Fingern seiner starken, rauhen Hand funkelte.

»Die Zeit der Mahlzeit kam. Sie war lang und erlesen. Wir saßen in einem großen runden Spiegelsaale und wurden von Mohren bedient, die schweigend um uns herum gingen und kamen. Ihr Bild wurde von den Spiegeln seltsam vervielfältigt und narrte die Augen mit ihrer unwirklichen Menge. Ihre krausen Haare waren von gelbseidenen Turbans bedeckt, auf denen bewegliche Reiherfedern nickten. Goldene Ringe hingen an ihren Ohren. Ihre schwarzen Hände schenkten den Wein von Genzano, den ich so liebe. Je mehr wir davon tranken, desto mehr wuchs meine Zufriedenheit, während das Gesicht des Senators zusehends düsterer ward. Er ließ mich schmausen und zechen, ohne Teller und Glas anzurühren. Mein Hunger verdiente gleichwohl die Nachahmung. Die Reise hatte ihn noch geschärft. Muß man sich nicht stärken, um den tausend Gelegenheiten gewachsen zu sein, die jederzeit eintreten können und die von größter Mannigfaltigkeit sind, wenn anders man den Berichten derer, die die Welt sahen, Glauben schenken darf? Nie also hatte ich mich aufgeräumter gefühlt. Der Wein stieg mir zu Kopfe und färbte mein Gesicht mit einer gesunden, üppigen Röte, die der Senator mit Neid zu betrachten schien, obwohl er, was vollständiges Frischerhalten von Körper und Geist betraf, niemand etwas zu neiden hatte.

»Gleichwohl glaubte ich, als ich ihn bei Lichte genauer betrachtete, sichtbare Spuren von Ermüdung auf seinem Angesicht zu lesen. War es unser langer Spaziergang durch die Gärten oder ein andrer Grund? Sah der alte Baldipiero besser aus, als er sich wirklich befand? Er war in einem Alter, wo die Kräfte sich darauf beschränken, das Leben zu unterhalten, und dazu können sie oft noch lange ausreichen, wofern man nichts von ihnen verlangt, als was ihnen zukommt. Aber der Senator galt freilich dafür, daß er sich schwer an den Gedanken gewöhnen konnte, nicht mehr jung zu sein, und man sagte, daß er stets die Gelegenheit wahrnähme, es wieder zu werden, und dies mehr als gut war, wenngleich vielleicht weniger, als er wünschte.

»Allmählich kam er im Laufe der Unterhaltung auch selbst dahin, über das, was ich ahnte, offen Klage zu führen. Er pries mein Glück und stellte ihm das Elend des Alterns gegenüber. Er drückte sich dabei mit besonderer Bitterkeit aus. Ich hörte übrigens nur zerstreut zu, denn mir schien das eine natürliche Sache, der wir alle unterworfen sind, und die uns durch ihr mehr oder minder nahes Bevorstehen gemahnen sollte, die Gegenwart so gründlich wie möglich auszukosten. Darum trank ich auch, während ich sprach, den Wein von Genzano tapfer weiter und ließ mir etliche Früchte munden. Die Mohren reichten köstliches Obst in Körben aus geflochtenem Silber herum, und ich benutzte ihren Wohlgeschmack, um meines Wirtes Gastfreiheit zu rühmen. Er entschuldigte sich sehr galant, daß ich ihn durch mein plötzliches Erscheinen außer stände gesetzt hätte, mir andre Unterhaltungen zu bieten als die seiner Tafel und seiner Gärten, denen er nichts hinzufügen könnte als die Gesellschaft eines mürrischen Greises, ohne irgend ein Zubehör von Gästen und selbst ohne Begleitung von Musikanten. Ich antwortete ihm, daß mir weder nach den einen noch nach den andern der Sinn stände, und daß mir die Einsamkeit in seiner Gesellschaft sehr angenehm wäre, wenn ich mir nicht vorwerfen müßte, die seine gestört zu haben, und daß ich Umstände, die mir das Gut seiner Unterhaltung eintrügen, wohl zu schätzen wüßte. Er ließ mich ausreden, dann hob er den Kopf und erwiderte, daß meine Höflichkeit höchst schmeichelhaft für ihn wäre, und daß er auch glauben wollte, daß ich im Augenblick die Wahrheit spräche, daß ich aber in kurzem anders denken würde, wenn ich mich nämlich ganz allein zwischen zwei Tücher ins Bett legen müßte, was bei jungen Leuten im allgemeinen nicht Sitte sei, zumal wenn sie die Frauen liebten.

»Bei dem Worte Frau mußte ich unwillkürlich und ohne zu wissen, warum, an das geschlossene Fenster denken, dessen Anblick mich noch eben beschäftigt hatte. Ich blickte den Senator an. Wir waren jetzt allein in dem Spiegelsaale. Die Negerbedienung war verschwunden. Mir war, als wiegte der Kronleuchter sich leicht hin und her, und sein funkelndes Beben wiederholte sich in den Spiegeln mit vertausendfachtem Lichterglanz. Ich hatte viel Genzano getrunken und zog eben eine der Feigen von Pienza ab, deren saftiges rotes Fleisch ich so liebe, während ich der Stimme des Senators Gehör gab. Man hätte meinen können, daß sie von weit her kam und nicht mehr ihm, sondern jedem dieser Baldipieros angehörte, die ich ringsum in den zahlreichen Spiegeln gewahrte. Ich erstaunte nicht wenig, wenngleich ich mir dieses Staunens nicht klar bewußt ward, ob des seltsamen Anerbietens, das mir gemacht wurde. Denn ich erfuhr plötzlich, daß ich nur aufzustehen hätte, um in jenes Zimmer mit den verschlossenen Läden geführt zu werden, das mich vordem so beschäftigt hatte. Dort sollte ich auf einem Lager eine schlummernde Frau finden. Ich verpflichtete mich auf Ehrenwort, daß ich nicht versuchen wollte zu erfahren, woher sie kam und wer sie war. Mir wurde im voraus gesagt, daß ich ohne Zweifel einigem Widerstand begegnen würde, aber daß man mich für Manns genug hielte, um die Oberhand zu gewinnen. Und das war ich auch. Ein plötzliches, wildes Verlangen überkam mich. Ich war aufgestanden. Alle die einzelnen Baldipieros in den Spiegeln erhoben sich zu gleicher Zeit, aber nur einer nahm mich bei der Hand und verließ mit mir den Spiegelsaal.

»Draußen war alles dunkel in der einsamen Villa. Der Senator führte mich eine Treppe hinauf. Die lange Robe meines Wirtes schleifte mit sanftem, gedämpftem Geräusch über die Marmorstufen. Meine Hacken hallten darauf wider. Nachdem wir mehrmals eine andre Richtung eingenommen, blieben wir stehen. Ich hörte Schlüssel klirren. Ein Schlüssel ging in einem Schloß; auf geölten Angeln glitt eine Tür sanft auf, und ich wurde an den Schultern vorwärts gestoßen.

»Ich befand mich allein im Dunkeln. Ringsum herrschte tiefes Schweigen. Ich horchte. Mir war, als hörte ich leise, regelmäßige Atemzüge. Die Dunkelheit war warm und duftig. Ich näherte mich der unsichtbaren Schläferin. Als ich ihr ganz nahe war, streckte ich die Hand aus und berührte einen zarten, nackten Körper, der schaudernd zusammenfuhr. Als ich die andre Hand auf gut Glück ausstreckte, fühlte ich ein Gesicht und einen warmen, halbgeöffneten Mund ...

»Es war eine seltsame, ungewisse Nacht, ein stummer und furchtbarer Kampf. Ihr Körper entglitt und erwehrte sich meiner Umarmung mit einer wunderbaren Kraft und Geschmeidigkeit und ohne einen andern Laut als den unsers keuchenden Atems. Der Kampf währte lange, aber schließlich ließen die Kräfte der Unbekannten nach, ihre Hüften wurden schmiegsam, ihre Arme erschlafften und ihre Knie preßten sich nicht mehr zusammen. Feuchter Schweiß netzte ihren Leib, und ihre nassen Haare klebten an meiner Wange. Ich hatte gesiegt. Stundenlang blieb ich mit diesem Körper vereinigt. Ich berührte ihn und atmete seinen Duft, ohne etwas zu sehen, mein Antlitz an das dunkle Antlitz geschmiegt. Eine wütende Lust überkam mich, zu wissen, wie es aussah, und ein ebenso wütender Grimm, daß ich dies nie erfahren würde, nur weil ich einen stumpfsinnigen Schwur getan, durch den sich mein dumpfes Verlangen nach einem gleichgültigen Körper rächte. Ich weiß nicht genau, wieviel Zeit über diesen Liebkosungen und diesen Gedanken verstrich. Endlich befand ich mich an der Tür. Ich stieß sie mit der Schulter auf. Sie leistete Widerstand, als stemmte sich einer von draußen mit aller Gewalt dagegen. Ich hörte ein Rauschen von Gewändern und leichte Schritte, die sich entfernten. Ich stieß abermals dagegen. Die Tür ging auf. Ich machte einige Schritte vorwärts. Dann wollte ich wieder zurück; die Dämmerung sollte mit mir in das Zimmer eindringen ... Aber mein Schwur fiel mir ein, und ich lief von dannen. Ich lief durch den ganzen Korridor und kam nach der Treppe. Das Vestibül war leer. Ich trat unter die Kolonnade. Die Morgenluft war mit Orangenduft gewürzt. Meine Karosse stand angespannt im Hofe. Ich stieg ein, und als sie sich in Fahrt gesetzt hatte, fiel ich in tiefen Schlummer.

»Die Unterhaltung, die mir die Reise bot, rüttelte mich allmählich aus der Träumerei auf, in die mich die Erinnerung an das seltsame Abenteuer versetzt hatte. Ich wußte nicht recht, was ich davon halten sollte, und es erschien mir unerklärlich. Wer war dieses unbekannte, schweigsame Weib? Was bedeutete das rätselhafte Benehmen des Senators Baldipiero? War ich das Werkzeug seines Hasses und seiner Rache gewesen? Hatte er mir einfach ein Vergnügen bieten wollen, dem er durch das Mysterium, mit dem er es umgab, einen doppelten Reiz zu verleihen gedachte?

»Ich kam nach Mailand. Mein Aufenthalt zog sich in die Länge. Ich spielte und lebte in der besten Gesellschaft. Mehrere Frauen zeichneten mich aus, vor allem eine, derentwegen ich länger als einen Monat blieb; denn sie gab mir die angenehmsten Gelegenheiten, sie im Theater, auf der Promenade oder bei sich zu sehen. Sie empfing mich des Nachts bei Kerzenschein und verbarg mir nichts von ihrem Gesicht und ihrem Körper. Die Erinnerung an meine Unbekannte verblaßte darob so völlig, daß ich sie fast ganz vergessen hatte, als ich nach Frankreich reiste.

»Die Annehmlichkeiten der schönen Stadt Paris schienen mir sowohl an Zahl wie an Erlesenheit alles zu überbieten, was man sich denken kann. Meine Zeit verging mir in Unterhaltungen aller Art. Es waren nicht nur Bälle, Konzerte und Komödien; die Briefe des Senators Baldipiero waren mir äußerst nützlich gewesen und verschafften mir den Zutritt zu mehreren bedeutenden Persönlichkeiten. Der Taumel, in dem ich lebte, benahm mir alle Sehnsucht nach Venedig und meinen Freunden. Ueberdies schienen sie mich ja vergessen zu haben, du wie sie, Lorenzo. So verging fast ein Jahr. Ich hatte zur Geliebten die Peronval. Sie war klein und lebhaft und tanzte entzückend. Ich folgte ihr nach London, wohin sie ihres Berufes wegen ging und wohin sie mich ihres Vergnügens halber mitnahm. Als aber Lord Brockball das seine zu offenkundig bei ihr zu suchen begann, und sie verlangte, daß das meine sich ihm anbequemte, trennten wir uns. Bei meiner Heimkehr fand ich ein großes Briefpaket aus Italien vor. Es enthielt ein langes Schreiben des Senators Baldipiero. Er sprach darin von verschiedenen Dingen und erinnerte mich an den Wein von Genzano und die Feigen von Pienza; auch berichtete er mir vom weiteren Verlaufe des Abenteuers, in das er mich zu seinem Leidwesen hineingezogen hätte, wenn auch in einer Weise, die mir nur angenehm sein konnte. Ich hätte jedoch eine sonderbare Meinung von ihm bekommen müssen, denn es ist im allgemeinen nicht gebräuchlich, seinen Platz derart einem andern einzuräumen.

»›Ach, mein teurer Neffe, eines Tages werdet auch Ihr das Ungemach des Alters erfahren. Ich gab mich über das meine zu vielen Vorurteilen hin, als ich jenes schöne Mädchen, dessen Antlitz Ihr nicht gesehen habt, von dem Orte, wo es lebte, mit unendlicher Vorsicht insgeheim entführen ließ. Es war schon mehr als zwei Wochen bei mir, und ich fühlte mich nicht ein einziges Mal im stande, ihm so zu begegnen, wie es nötig war. Daher die schlechte Laune, in der Ihr mich fandet. Euer Anblick reizte mich erst recht. O wie beneidete ich Euch um Eure Jugend! Und darüber kam mir der Gedanke meines nächtlichen Vorhabens. Als wir uns im Spiegelsaal zu Tische setzten, war ich fest entschlossen, Euch das geheime Gemach, in dem meine schöne Gefangene lag, zu öffnen. Ich wollte ihr dadurch zeigen, daß ich Herr ihres Schicksals war. Auch hoffte ich, daß die Begier nach ihrem Leibe im Gedanken an einen glücklichen Nebenbuhler leichter von mir weichen würde. Schon oft hatte mich von geliebten Frauen das Bewußtsein gelöst, daß sie von einem andern besessen würden. Es ist bisweilen das beste Gegengift gegen die Liebe, wenn man seine Geliebte untreu weiß, und ich erwartete mir von dieser Unterschiebung eine heilsame Erleichterung, die Ihr mir leichten Kaufs verschaffen konntet.

Darum stieß ich Euch an den Schultern in jenes dunkle Gemach, aber ich weiß nicht, welche Neugier mich trieb, das Ohr an die Tür zu legen. Ich hörte Euer Ringen, ihr Nachgeben und ihr Gestöhn. Dann fing der Kampf von neuem an und mit ihm das dumpfe Geräusch und das unsichtbare Getöse. O Ueberraschung! Eine unsägliche Eifersucht raste durch mein altes Fleisch und peitschte es aus seiner Starre auf. Zwanzigmal war ich nahe daran, einzudringen, und als Ihr die Tür aufstießet, da entfloh ich über die Gänge, denn ich hätte Euren Anblick nicht ertragen, ohne Euch zu töten, und das hatte ich bedauert, denn Ihr habt mir eine Wohltat erwiesen. Die Eifersucht hat erstaunliche Wirkungen; die meine gab mir meine alte Kraft wieder, und ich gebrauchte sie seit jener Stunde.

Meine Gefangene schien mit ihrer Lage so zufrieden, daß ich sie auf freien Fuß setzte. Der Spiegelsaal vertausendfachte ihre Anmut und Schönheit in seinen unzähligen Spiegeln. Die Gärten hallten von ihrem leichten Schritt wider. Es waren reizende Tage, die mein Alter Euch zu verdanken hat. Bisweilen stiegen wir in die Felsgrotten hinab, in denen ihre Stimme frischer und melodischer hallte als das Wasser, das aus den Felsspalten klangvoll in die Wasserbecken fiel. Ich war glücklich. Meine Geliebte schien mir ihre Entführung und die Sorgfalt, mit der ich mich ihrer Schönheit versichert hatte, verziehen zu haben. Ihr neues Leben schien ihr zu gefallen. Sie erlangte eine so unumschränkte Macht über meinen Geist, daß ich ihr schließlich Euren Namen gestand. Sie weiß, wer Ihr seid. Sie haßt Euch, wie sie mich haßt.

Jeden Abend kredenzt sie mir einen Becher Genzano. Wie schön ist ihr Anblick, wenn sie die dunkle, gebauchte Flasche mit ihren seinen Fingern hebt. Der Wein rinnt in den Becher, ein altmodisches, leichtes, bläuliches Glasgefäß, das die Lippen kühl berührt. Ich führe es mit Wonne an die meinen. Ich weiß, daß der Wein, den ich trinke, sorgfältig mit Gift versetzt ist. Sie selbst mischt alltäglich einen unmerklichen Purpursaft hinein. Und ich fühle die Wirkungen; mein Blut erstarrt allmählich in den Adern, aber mein Leben ist es nicht wert, verteidigt zu werden, wenn sein Ende nur um so weniges beschleunigt wird. Warum einem Mädchen das Vergnügen versagen, sich zu rächen? Abend für Abend trinke ich den verhängnisvollen Becher mit einem Lächeln. Aber Ihr, mein teurer Neffe, Ihr seid jung und verdient gewarnt zu werden. Nach mir ist die Reihe an Euch; ich habe die Gefahr, die Euch droht, in den Augen dieses seltsamen Mädchens gelesen. Und ich möchte Euch vor dieser Gefahr, die Ihr laufet, warnen, um das Unrecht, das ich Euch zufügte, wieder gut zu machen. Es ist vielleicht nicht so schlimm, wie Ihr denkt. Diese unsichtbare Drohung, die stets über Eurem Haupte schwebt, wird Euch helfen, alle Dinge mit mehr Kraft und Glut auszukosten. Die Jugend vertraut zu sehr auf den kommenden Morgen. Dankt es mir also, daß ich Euren künftigen Freuden den Stachel gegeben habe, der ihnen fehlte. Lebt wohl. Meine Hände werden starr. Heute abend hat der alte Baldipiero vielleicht seinen letzten Becher geschlürft.‹«

»Der Senator hatte recht. Von diesem Tage an entstand ein neues Gefühl in mir. Ich fühlte mich in einem Geisteszustand, an den ich früher nicht im Traum gedacht hätte. Also jemand stellte meinem Leben nach und trachtete danach, wenigstens in Gedanken, seinem Laufe Einhalt zu tun. Die Natur allein sollte nicht mehr das Recht haben, meine Todesstunde festzusetzen; jemand hatte es sich zur besonderen Aufgabe gemacht, den Zeiger vorzurücken. Für jemand war mein Tod kein gewöhnliches Ereignis mehr, sondern eine erwünschte und erlangte Gunst von einer mir unbekannten Art, deren Tücken mich ein zufälliger Umstand plötzlich aussetzen konnte. Mehr noch: ich hatte kein Mittel, diese unsichtbare Drohung abzuwenden, noch ihrer Wirkung vorzubeugen. Die einzige Tatsache, daß ich lebte, machte mich verletzlich.

»Welch ein Umschwung! Bis dahin hatte ich sozusagen mit der Zustimmung aller gelebt. Es bestand rings um mich ein Einvernehmen, mir im Leben zu helfen. Alle, die mich umgaben, erboten sich zu dieser Aufgabe. Wie viele Leute, bekannte und unbekannte, arbeiteten nicht mittelbar oder unmittelbar daran, mir das erstaunliche Gut des Lebens zu verschaffen! Der Bäcker, der mein Brot knetete, und der Schneider, der meine Kleider nähte, kannten gar kein andres Verlangen, kein andres Ziel. Für mich wurde geerntet und Wein gekeltert. Wer nennt die unzähligen Handwerker eines einzigen Menschenlebens? Der Mensch steht im Mittelpunkt eines Kreises von Anstrengungen. Und wenn man vom Nötigen zum Ueberflüssigen übergeht: war der Barbier und der Tanzmeister nicht darauf bedacht, diesem selben Leben, dessen notwendige Bedürfnisse andre sicherten, Schmuck und Vergnügen zu verleihen? Ich war gewissermaßen das gemeinsame Werk aller. Stieß mir zufällig etwas Schlimmes zu, so zeigten sich der Arzt und der Apotheker sofort willfährig, dessen Dauer zu regeln oder seinen Folgen Halt zu gebieten. Wir scherzen gern über diese ehrbaren Leute, und wir vergessen doch, welchen Mühen sie sich unterworfen haben, bis sie im stande sind, uns dienlich zu sein. Es ist wahrlich keine leichte Arbeit, den menschlichen Körper kennen zu lernen und der Natur zu seiner Wiederherstellung abzuzwingen, was sie allmählich zerstört.

»Kurz gesagt, ich lebte von einem allgemeinen Einverständnis, das mich bis zu einem gewissen Grade den Gefahren und der Ermüdung enthob, die das Leben mit sich brächte, wenn man über das seine allein zu wachen und für sich selbst zu sorgen hätte. Man sah alle meine Bedürfnisse voraus und befriedigte sie reichlich, und man ließ mir nur so viel Begierde, als gut ist, um den Menschen in heilsamer Bewegung zu erhalten. Und nun widersetzte sich eine Unbekannte plötzlich dieser allgemeinen Gefälligkeit! Mehr noch, sie wollte im umgekehrten Sinne handeln. Sie erklärte sich als meine Feindin. Von all den guten Einzelwillen löste sich einer ab und stellte sich beiseite. Dieser Wille wollte was? meinen Tod. Und er wollte ihn zur Genugtuung für eine Beleidigung, der ich nur als blindes Werkzeug gedient hatte. Sie würde ohne Zweifel ihr Ziel erreichen, vielleicht schon morgen, zumal ich weder Namen noch Gesicht dieses Weibes kannte.

»In alledem lag genug, um meine Sicherheit zu stören. Ich muß gestehen, daß dieses Gefühl mich zuerst beängstigte, aber es ging ziemlich rasch vorüber, und bald empfand ich eine eigentümliche Befriedigung. Der alte Senator Baldipiero hatte wahr gesprochen. Diese Drohung, die über meinem Haupt schwebte, war fern genug, um nicht lästig zu werden, und doch half sie mir durch die Ungewißheit meiner Zukunft, die Gegenwart besser auszuleben! Das Antlitz der Frauen bekam in meinen Augen eine ganz neue Anziehung: ich suchte darin das meiner Unbekannten. Obgleich wenig dafür sprach, daß ich sie hier treffen würde, so lag doch in dieser ganzen Geschichte zu viel Zufall, als daß man nicht hätte annehmen können, daß er fortfahren würde, sich in meine Angelegenheiten einzumischen und mich schließlich meiner Feindin Aug in Auge gegenüberzustellen. Die Nachricht vom Tode des alten Baldipiero, die bald danach eintraf, bestärkte mich einige Zeit lang in diesen Gedanken. Der Greis hatte mir im Sterben seine Villa und die darin befindlichen Gegenstände vermacht. Ich hatte keine große Eile, mich in den Besitz dieses schönen Landgutes zu setzen. Denn ich liebte gerade eine Dame von Rang und zollte ihr beharrlichen Tribut. Ihre Liebe ließ mich alles vergessen, sowohl das Vermächtnis des Senators, wie meine lange Abwesenheit und die Drohung, vor der ich gewarnt war. Was kümmert einen Gift oder Dolch, wenn die Liebe einen mit ihren grausamsten Spitzen durchbohrt und mit ihren tödlichsten Giften quält? ...

»Ungefähr nach Verlauf eines Jahres, das ich teils auf Reisen zubrachte, um mich über diese unglückliche Leidenschaft hinfortzusetzen, ergriff mich ein plötzliches Verlangen, mein Vaterland, insbesondere unsre Stadt Venedig wiederzusehen. Ich befand mich damals in Amsterdam, das mit seinen Kanälen an sie gemahnt, aber ihr weder an Schönheit noch in der Färbung des Himmels gleichkommt. Ich saß an einem Spieltisch und gewann und verlor abwechselnd, als ich unter den über das grüne Tuch verstreuten Münzen eine Goldzechine fand. Ich hob sie auf und drehte sie zwischen meinen Fingern herum. Das Metall der Republik trug die Prägung des geflügelten Löwen. Unwillkürlich sah ich unser Venedig mit seinen unzähligen Wasseradern und seinem Himmel, mit seinen Palästen und Campaniles, mit den Rosetten von rosa Marmor am Hause der Aldramin und der rötlichen Fassade des deinen, o Lorenzo, mit seinen drei Wasserstufen ... Ich stand plötzlich wieder auf der Riva Schiavoni, wie an dem Tage, der meine Abreise bestimmte, und neben mir stand die Signora Balbi. Die große weiße Möwe flog in der durchsichtigen Luft der Lagune vorbei. Die Signora Balbi warf den Tauben Körner vor. Sie waren fett und wohlgenährt. Mir war, als nähme ich eine in meine Hände; sie war weiß und warm und trug an ihrer wie von einem Dolchstoß durchbohrten Kehle einen blutroten Flecken.

»Einige Wochen später war ich auf dem Heimweg nach Italien. Meine Reise ging ohne Zwischenfall von statten, und ich nahm unterwegs in der Villa Aufenthalt, die mir der Senator Baldipiero vermacht hatte. Es war ein schöner Tag, und die Gärten atmeten Wohlgeruch. Ich ging mit den Negern durch alle Zimmer und ließ mir von ihnen alle Türen öffnen, aber das eine unter allen, wo ich jene gefährliche und wollüstige Nacht verbracht hatte, vor deren verderblichen Folgen mich der alte Senator in seinem Briefe gewarnt hatte, konnte ich nicht wiederfinden. Ueberall drang die Sonne durch die Fensterscheiben; überall herrschte Ordnung und Friede. Ich ließ mir das Mahl in dem Spiegelsaale reichen. Ich fragte mich, ob diese ganze Geschichte nicht eine nächtliche Einbildung war, die ich dem Wein von Genzano verdankte. Selbst der Brief des Senators konnte die Fortsetzung eines Scherzes sein. Der Biedermann war nun freilich tot, aber in seinem Alter war der Tod ein zu natürliches Ereignis, als daß es eines Menschen bedurft hätte, der ihn beschleunigte. Ueberdies verschob ich die Aufklärung über alle diese Dinge auf später.

»Mein erster Besuch in Venedig, o Lorenzo, galt dir. Wie ehedem sprang ich aus meiner bebenden Gondel und stieg die drei Stufen deiner Schwelle herauf, die durch die Bewegung des Wassers abgeschliffen waren. Wie ehedem rief ich dich vom Rande der Treppe beim Namen, und du antwortetest auf meinen Ruf. Ich gestehe, daß ich damals eine unerwartete Eifersucht verspürte. Du warst nicht allein, sondern in Gesellschaft eines jungen Edelmanns, der sich bei meinem Erscheinen erhob. Er war anmutig und von edler Gestalt; in der Hand hielt er ein Musikinstrument, das er mit zerstreuter Miene nachlässig auf den Tisch warf, indem er dich mit den Blicken eines vertrauten Freundes ansah. Seine Gegenwart verursachte mir anfänglich einiges Mißbehagen. War er nicht dein Freund, und verdrängte er mich nicht von einem Platze, auf den ich ein ausschließliches Anrecht zu haben glaubte? Aber ich überwand diese erste Laune. Ich dachte an meine lange Abwesenheit und wie unrecht ich getan hätte, so lange von dir fern zu bleiben, und anstatt ihm zu zürnen, dankte ich dem jungen Manne, daß er dich in der Zeit meines treulosen Landstreichertums getröstet habe. Er nahm meine Artigkeiten mit viel Würde und Höflichkeit entgegen, und du legtest unser beider Hände in die deinen.

»So geschah es, daß ich gleich dir Leonellos Freund wurde. Ich erfuhr die Einzelheiten eurer Bekanntschaft. Leonello war aus Palermo. Seine Eltern hatten ihn, wie er sagte, nach Venedig geschickt, um sich in den Sitten des Jahrhunderts zu bilden. Er weilte schon gegen ein Jahr hier und schien seine Heimat in der unsern vergessen zu haben. Seine Schönheit war ganz sizilianisch, seine Augen lebhaft und ausdrucksvoll, die Nase fein, der Mund reizend und ohne einen Flaum, und sein Gang war anmutig. Die Kleinheit seiner Hände fiel mir auf. Bei näherer Bekanntschaft wurde mir sein Charakter ebenso lieb wegen seiner Sanftmut, wie wegen seiner Zurückhaltung. Er war kein Verehrer der Frauen und hielt sich mit Fleiß von ihnen zurück; ich glaube, er war fromm. Aber er leistete uns in unsern Vergnügungen gerne Gesellschaft, ohne sich daran zu beteiligen.

»Wir begannen die schönsten Freuden der Jugend von neuem zu genießen. Die unsre ging schon bald zu Ende, und die seine, die in ihrem vollen Glanze stand, gab uns vergebens eine Lehre der Mäßigung. Wie ehedem setzten wir uns in den Kasinos der Inseln zu Tische, nicht minder an den Spieltisch. Die Papiermaske bedeckte unsre Gesichter. Wir waren fröhlich. Es ist unmöglich, in Venedig etwas andres zu sein, und du und ich sind Venezianer! Leonello lächelte ernst über unsre Torheiten.

»Der Karneval des Jahres 1779 war besonders glänzend und lebendig. Unterhaltungen gab es im Ueberfluß, und einen Tag wollten wir auch in meiner Villa verbringen. Dies verabredet, reiste ich zuerst ab, um einige Vorbereitungen zu treffen. Du, Leonello und einige Freunde sollten mir am nächsten Tage folgen, und am übernächsten sollte eine zahlreiche Gesellschaft sich dort vereinigen. Die Jahreszeit war ausnehmend mild und erlaubte, ein nächtliches Gartenfest zu veranstalten, das recht schön zu werden versprach.

»Du kamest pünktlich zum Stelldichein. Ich sah dich zur besprochenen Stunde mit fünf meiner Freunde ankommen. Ihr waret maskiert und bildetet einen schönen Wagen voll. Ich führte euch überall herum, um euch die Vorbereitungen zum Fest zu zeigen. Ein Ball sollte bei Kerzenschein in der Felsgrotte stattfinden, und das Festmahl sollte im Spiegelsaale gereicht werden. Wir betraten ihn, um die Beleuchtung einer Probe zu unterwerfen. Ich hielt Leonello am Arm. Er lachte und fächelte sich mit seiner Maske Luft zu. Ich befahl den Dienern, die Fenster zu schließen und die Vorhänge herunterzulassen, damit die Dunkelheit vollkommen wäre und man ein Urteil über die Helligkeit der Kronleuchter hätte. Wir standen im Dunkeln, denn es war pechschwarz in diesem Augenblick. Ich rief meinen Leuten zu, schnell anzuzünden, denn wir konnten nicht länger so bleiben. Plötzlich fühlte ich etwas Kaltes und Spitzes in meine Brust dringen und mich im Mittelpunkt meines Lebens erfassen, und ich hatte den Mund voller Blut ...«

*

Als wir Balthasar Aldramin bei Licht wieder aufhoben, sahen wir, daß er einen Dolch tief in der Brust trug. Die Spitze hatte wohl sein Herz getroffen, denn Aldramin war tot. Wir standen alle sieben starr und verblüfft herum. Er waren Ludovico Barbarigo, Nicola Voredan, Antonio Pirmiani, Julio Bottarol, Octavio Vernuzzi, Leonello und ich, alle Freunde Aldramins, alle bereit, unser Leben hinzugeben, um das seine zu retten, denn wir liebten ihn, und er liebte uns. Niemals war ein Neid, ein Streit unter uns entstanden; wir waren nur vom Gefühl der Achtung und Freundschaft erfüllt.

Folglich hatte sich Balthasar Aldramin selbst getötet! Seine eigne Hand hatte den mörderischen Dolch gezückt! Aber warum hatte er sich derart den Tod gegeben? War er nicht jung, reich und glücklich? Welchen Kummer hatte er uns also insgesamt verborgen? Wir blieben starr und düster; unsre Gesichter waren weiß wie die Gipsmasse der Masken, die wir noch in den Händen hielten. Gewiß, Aldramin hatte sich selbst getötet. Wir blickten noch immer starren Auges auf seinen rätselhaften Leichnam, und derselbe ungeheuerliche und unvermeidliche Verdacht stieg gleichzeitig in jedem von uns auf. Hatte nicht doch einer von uns die Finsternis benutzt, um Aldramin den Todesstoß zu geben? Die Seelen haben ihre Geheimnisse, und es gibt so viele verborgene Dinge. Aber dann, wer war dann der Täter? Wer hatte diese dunkle Schurkentat vollbracht? Dieser oder jener? Wer?

Ein stilles Unbehagen keimte in uns auf, und wir wagten uns nicht ins Gesicht zu sehen. Wir warfen bereits spähende Blicke in die Spiegel, die unsre Gesichter und den entseelten Körper des Balthasar Aldramin widerspiegelten und vervielfältigten, und alle diese Leichname, die in jedem der Spiegel anders aussahen, schienen jeden von uns der Tat zu zeihen.

Aldramin ward in der Kirche San Stefano beigesetzt, die Hände über der roten Wunde gefaltet. Uns beunruhigte immer noch derselbe Verdacht. Barbarigo, Voredan, Pirmiani oder Bottarol: wir konnten uns nicht mehr begegnen, ohne ein unfreiwilliges Mißtrauen gegeneinander zu hegen. Kaum daß wir uns die Hände zu geben wagten.

Dieses peinliche Empfinden verbitterte uns derart, daß Bottarol und Barbarigo in Streit gerieten. Sie schlugen sich unter einem frivolen Vorwand, der den wahren Grund ihres Streites decken mußte. Bottarol wurde tödlich verwundet, Barbarigo mußte nach dem Festland fliehen.

Ich versank in eine tiefe Traurigkeit, denn ich konnte mich über den Verlust Aldramins nicht hinfortsetzen. Leonello suchte mich zu zerstreuen. Er spielte meisterhaft verschiedene Instrumente und versuchte meine Schwermut durch ihren Klang zu verscheuchen. Wir sahen uns immer noch jeden Tag. Ihm gegenüber kam mir nie der geringste Verdacht in den Sinn. Er wußte mich mit Sanftmut und Freimütigkeit stets von diesem Gedanken abzubringen, so daß ich nie ein Wort von dem sagte, was mich doch so schmerzlich beschäftigte. Eines Tages begegnete ich Voredan. Er erkundigte sich nach Leonello, der seit einiger Zeit ein Zimmer in meinem Palaste bewohnte. »Hüte dich vor der Dunkelheit!« rief er mit bösem Lachen aus. Die Ungerechtigkeit dieses Verdachtes zerriß mein Herz in seiner Freundschaft für Leonello.

Da er meinen Schmerz von Tag zu Tag zunehmen sah, riet er mir zu verreisen. Er behauptete, in Rom Geschäfte zu haben, auch hätte er Briefe aus Palermo erhalten, die seine schleunige Rückkehr erheischten. Ich tat, als ob ich diesem Vorwand Glauben schenkte, denn es war in der Tat nur ein Vorwand, um den Aufenthaltsort zu wechseln. Das Leben in Venedig war mir verhaßt. Die Glocken der Kirche San Stefano, die meinem Palast so nahe war, ließen mein Herz erzittern und belebten die grausame Erinnerung an Aldramin stets von neuem. Ich ging also auf seinen Vorschlag ein. Nach kurzer Zurüstung stiegen wir die drei Stufen der Schwelle hinunter, die durch das durchsichtige Wasser abgeschliffen waren. Mehrmals drehte ich mich nach der weißen Fassade des Palazzo Aldramin um. Der Regen hatte die beiden Rosetten von rosa Marmor aufgefrischt, und sie sahen aus wie zwei zarte vernarbte Wunden.

Wir fuhren in demselben Wagen, Leonello und ich. Wir wollten unser Nachtlager in Pienza nehmen, aber der Abend überraschte uns noch weit vor der Stadt inmitten eines Pinienwaldes, in dem es sehr dunkel war. Als wir uns seinem Saume näherten, hörten wir lautes Geschrei. Eine Räuberbande umringte den Wagen. Die Kecksten schwenkten Fackeln vor den Nasen unsrer aufbäumenden Pferde, während die andern mit ihren Pistolen auf uns eindrangen. Unsre Diener hatten das Weite gesucht.

Vergebens suchten wir uns herauszuhauen. Unsre Degen waren machtlos. Im Handumdrehen wurde ich ergriffen und geknebelt, eine Binde legte sich auf meine Augen. Das letzte, was ich sah, war, daß Leonello sich mit den Banditen herumschlug. Dann ergriffen mich zwei Männer, der eine am Kopf, der andre an den Füßen, und ich wurde ziemlich weit fortgeschleppt. Als ich wieder auf den Füßen stand, trieb man mich mit Schlägen auf die Schultern zum Vorwärtsgehen an. Der Boden war mit Fichtennadeln wie mit Filz bedeckt und glitt unter meinen Füßen. Als wir Halt machten, wurde ich meiner Kleider beraubt und dann an einen Pinienschaft gebunden. Die Borke scheuerte meinen Rücken, und meine Haut klebte an dem Harz.

Ich hörte Schritte um mich her. Bald entstand ein Lärm wie bei einem Kampfe. Man ließ Leonello ohne Zweifel dieselbe Behandlung angedeihen wie mir soeben, aber er ließ sie sich nicht so willig gefallen, wie das dumpfe Geräusch, das mir zu Ohren drang, zu beweisen schien. Ich zitterte, Leonello möchte bei seiner Widersetzlichkeit einen gefährlichen Streich erhalten. Ich hätte ihm am liebsten zugerufen, daß man bei solchen Händeln am besten tut, alles über sich ergehen zu lassen, und daß man nichts dabei gewinnt, wenn man dem Unvermeidlichen trotzt; aber der Knebel verschloß mir den Mund und machte mich stumm. Endlich wurde es still. Ich dachte mir, daß die Briganten ihr Ziel erreicht hätten, als plötzlich ein schallendes Gelächter ertönte, von lärmenden Rufen begleitet. Das dauerte einen Augenblick. Dann schwieg alles. Unsre Angreifer hatten sich wohl aus dem Staube gemacht und waren mit ihrem Erfolge zufrieden. Der Wind rauschte sacht in den Baumwipfeln. Nachtvogel zogen schnellen, dumpfen Fluges vorüber. Von Zeit zu Zeit fiel ein Pinienzapfen auf den feuchten Boden.

Wir befanden uns also inmitten eines einsamen Waldes, Leonello und ich, ein jeder an eine Pinie angebunden. Unsre Lage war nicht gerade ersprießlich, aber anstatt über ihre Unzuträglichkeit nachzudenken, suchte ich sie zu verbessern. Die Binde über meinen Augen hatte sich etwas gelockert, und es gelang mir, sie nach und nach zum Abgleiten zu bringen. Ich sah mich um.

Eine Fackel verflackerte auf dem Boden, in den sie gesteckt war. Sie erleuchtete die rötlichen Stämme; an den einen sah ich eine nackte Gestalt angebunden. Es war Leonello. Ein Windstoß entfachte die Fackel von neuem. Ja, er war es. Sein weißer Körper hob sich licht von dem dunklen Hintergrund ab; aber war es ein nächtlicher Trug oder ein seltsamer Zauber? Dieser Körper war ein Frauenkörper, und doch war es Leonello. Er hatte das Gesicht abgewandt, und ich sah nur seinen Nacken und seine kurzen Haare, trotzdem war es Leonello. Ich erkannte ihn an seiner Hand, seiner kleinen, seinen Hand, die sich an die Baumrinde krampfte.

Eine Frau! Eine grausame Ueberraschung ergriff mich, und ein schrecklicher Verdacht stieg in mir auf. Eine Frau! ... Aber wozu dann diese Verkleidung, dies Geheimnis? Eine Frau? ... Leonello war eine Frau! Der Dolchstoß, die rote Wunde, Aldramin ...

Die Fackel verlosch allmählich. Der Knebel verschloß mir den Mund, aber die Gedanken jagten sich in meinem Hirn. Sie waren wirr und ungewiß, als sie entstanden, aber sie wurden allmählich klarer. Die Wahrheit trat zutage, und mir war, als erzählte mir Aldramin dasselbe, was ich euch eben wiederholt habe.

Am Morgen kam ein Holzhauer vorbei und befreite mich, indem er meine Fesseln zerschnitt. Ich war vor Schmerz und Ermüdung ohnmächtig geworden. Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Boden. Ich versuchte zurückzudenken. Mein Blick schweifte nach dem Baume, an den die Gestalt, die ich für Leonello hielt, gefesselt war. Der Fleck war leer. Ohne Zweifel war es der Unbekannten gelungen, sich zu befreien und das Weite zu suchen. Ich ging nach dem Fichtenstamme. An einer Stelle hatte der Strick die Borke abgescheuert. Ich hob ihn auf, er war zerrissen. Der Holzhauer tat ihn in seinen Sack, um seine Holzbündel damit zusammenzuschnüren, und wir gingen schweigend nach seiner Hütte, wo er mir grobe Kleider gab. In ihnen erreichte ich Venedig ohne Zwischenfall. Die Glocken von San Stefano läuteten in der purpurnen Luft, und die alte Fassade des Palazzo Aldramin spiegelte ihre blutfarbenen Marmorscheiben in der Flut des Kanals.

*


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