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Paris begann sich bereits mit einer außergewöhnlichen Zahl von Fremden aus allen Ländern zu füllen, welche die bevorstehende Eröffnung der großen Weltausstellung herbeigeführt, jener echt napoleonischen Gasconade auf den gewaltigen Druck des Krieges, der die Finanzen dreier mächtiger Staaten zu erschüttern begann. Frankreich hatte bereits über 300 Millionen Franken verwendet, eine neue Anleihe war unabweisbar, und der Transport der Truppen allein hatte seit Beginn des letzten Winters 70 Millionen Franken verschlungen, während England den Unterhalt jedes Mannes im Orient bei der jämmerlichen Verwaltung auf mehr als 200 Pfund Sterling zu stehen kam. Sein Kriegsbudget war in den letzten zwei Jahren von 12 auf 43 Millionen gestiegen. Handel und Gewerbe, die nicht in dem Kriegsverkehr ihre Quellen hatten, stockten in Frankreich, der gewohnte große Abfluß nach Rußland war gehemmt, die englische Freundschaft wenig einträglich und in Paris beliebt, und der Kaufmanns- und Bürgerstand sprach sich ziemlich offen für einen Frieden aus. Die Presse schimpfte im Konzert mit der Times auf Preußen oder illustrierte die ungenügenden Berichte Canroberts, ohne damit die Stimmung zu ändern. Die Lockspeise, welche die Regierung der Bevölkerung von Paris mit jener Ausstellung hingeworfen, gab indeß wenigstens Stoff zum Tagesgespräch und zu jenen hundert kleinen Debatten, Prahlereien und Einbildungen, welche der Franzose liebt, und somit jener ernsten Stimmung vorläufig einen Abfluß.
Der Moniteur hatte die Ordonnanz noch nicht gebracht, welche die Eröffnung verschob. Um den Industrie-Palast, bei dessen Direktion der Prinz Napoleon seine Lorbeeren im orientalischen Kriege vergessen machen sollte, herrschte ein reges Leben und Treiben und im Innern noch die heilloseste Verwirrung, obschon der Tag bereits der 28. April war. Leute aller Stände, Schaulustige, Arbeiter, Aussteller und wichtig tuende Jury-Mitglieder drängten sich nach allen Seiten, und die sonst so luchsäugige pariser Polizei hatte in dieser Zeit nur eine sehr nachsichtige Kontrolle üben können.
Die Avenue des Champs-Élysées entlang, von dem Platz des Ausstellungsgebäudes her kamen zwei Männer, der Eine hochgewachsen, alt, mit zwei tiefen Narben über dem Gesicht, in eine alte Militär-Uniform niedern Grades gekleidet; der Andere klein, gebückt, mit dichtem, struppigem Haar und stechenden, unruhigen Augen, in gutem bürgerlichem Anzug. Die Männer unterhielten sich in italienischer Sprache, obschon nur wenige der Begegnenden dies bemerken konnten, da sie, ohne aufzufallen, doch so viel als möglich allein und abgesondert gingen.
»Sie wissen also gewiß, daß er kommt?« fragte der Kleine.
»Aus derselben Quelle, aus der ich Ihnen vorgestern bereits die entscheidende Nachricht brachte, daß die beschlossene Reise nach der Krim aufgegeben sei. Die Minister hatten eine solche Menge Proteste auf die Beine gebracht, welche das Wohl des Staates an seine Person gefesselt erklären, daß der Rückzug mit Ehren gemacht werden konnte.«
»Man wird bald Gelegenheit haben, sich von der Wahrheit dieser Meinung zu überzeugen!«
»Still,« unterbrach der Aeltere diese spöttischen Worte; »die Luft und die Bäume könnten Ohren haben! Sie sind also entschlossen?«
»Wozu jetzt noch ein Zweifel – im letzten Augenblick? Hier, fassen Sie meine Hand und prüfen Sie meinen Puls, ob er wie der eines Mannes geht!«
»Ich meinte nur in Betreff der Gelegenheit, Signor Pianori.«
»Nennen Sie mich Liverani, wie ich in meiner Wohnung heiße, es ist sicherer. Die erste Gelegenheit ist die beste und ich will sie mir nicht entgehen lassen. Wie viel Uhr haben Sie?«
»Es ist ein Viertel über Vier – in einer halben Stunde spätestens muß er kommen.«
»Und seine Begleitung?«
»Wahrscheinlich nur ein Paar Adjutanten – wie gewöhnlich in kurzer Entfernung einige jener unbeholfenen Dummköpfe von der geheimen korsischen Sicherheitswache, die man gegen die Polizei Pietris eingetauscht. Sie haben also, wenn Sie meinen Rat befolgen, volle Aussicht, zu entkommen.«
»Ich trage einen vollständigen hellen Anzug unter diesen dunklen Kleidern, auch eine Kappe.«
»Ihre Droschke wird an der bezeichneten Stelle halten – links vom Château des fleurs; die Frau ist entschlossen und wird mit einem weißen Taschentuch aus dem Schlage lehnen. Sie laufen durch die Bosquets. Sind Ihre Waffen in Ordnung?«
»Es ist ein Präcisionspistol mit Doppelläufen übereinander und kostete mich in London hundertfünfzig Franks. Außerdem habe ich zwei Terzerole in der Tasche und ein Messer im Gürtel – für mich, wenn es mißlingt.«
Ein Arbeiter, in eine Blouse gekleidet, streifte in diesem Augenblick dicht an ihnen vorüber und der Alte im Soldatenrock winkte seinem Begleiter Schweigen. Erst als der Mann weit genug wieder entfernt war, fuhr er fort: »Dort ist der Triumphbogen und das Château – wir wollen scheiden. Im Namen der Unsichtbaren, Bundesbruder, frage ich Dich zum letzten Male: bist Du entschlossen, Deinen Eid zu halten?«
»Ich bin's!«
»So sei der Genius der Freiheit mit Dir und führe Deine Hand! Leb' wohl, Bruder – was auch Dein Loos sei, die Krone des Siegers oder des Märtyrers – die Rächer werden Dich nicht verlassen!« –
Er drückte ihm die Hand und entfernte sich. Sobald er dem Italiener aus den Augen war, wandte er seine Schritte nach der Rue de Chaillot, erreichte den Boulevard du Banquet und nahm an der Barrière de l'Etoile Platz in einem Kaffeehause, von wo er die Avenue übersehen konnte. – – –
Gegen 5 Uhr kam der Kaiser der Franzosen die breite Allee daher geritten, nur begleitet von einem seiner Adjutanten, dem Grafen Edgar Ney, und seinem Stallmeister, dem Ober-Leutnant Valabrégue. Das Gesicht des Mannes, der, wenn auch nicht an Ruhm, so doch unzweifelhaft an Klugheit und Glück, noch über seinem großen Oheim steht, war ernst und nachdenkend, denn ein Ministerwechsel stand bevor und der Abend war zu verschiedenen wichtigen Konferenzen bestimmt. In einiger Entfernung folgte den beiden Reitknechten ein Wagen, in welchem der Chef jener geheimen korsischen Sicherheitswache, Hirevoy, saß, die, wie bereits erwähnt, der Kaiser sich selbst gebildet hatte, nebst einem ihrer Mitglieder, Alessandrini. Auf der Höhe des Château des fleurs, wo augenblicklich verhältnismäßig wenige Spaziergänger verweilten und nur zwei Arbeiter in der Nähe wie zufällig umherschlenderten, erhob sich von einer der Steinbänke beim Nahen der Reiter plötzlich ein gut gekleideter Mann – derselbe, welchen wir vorhin mit dem alten Soldaten haben sprechen sehen – und trat mit einer Verbeugung dem Reitweg näher, die Hand in der Brusttasche, gleich als wolle er eine Bittschrift überreichen.
Dies schien auch der Kaiser zu glauben, denn, sein Pferd etwa sechs oder sieben Schritt von dem Manne anhaltend, neigte er sich über den Sattel und streckte die Hand aus, als jener plötzlich ein vierläufiges Pistol aus dem Rock zog und auf den Monarchen feuerte. Die Kugel flog unschädlich vorbei und der Kaiser fuhr mit der Hand wie schützend nach dem Kopf. Diese Bewegung rettete wahrscheinlich sein Leben, denn der Mörder feuerte das zweite Mal – das Pistol über den linken Arm gelegt – zu hoch und die Kugel streifte nur den Hut des Bedrohten und machte ihn herabfallen. In diesem Augenblick, ehe der dritte Lauf der Mordwaffe gebraucht werden konnte, warf sich der nächste der beiden Arbeiter, derselbe, der eine halbe Stunde vorher an dem verbrecherischen Paar vorübergegangen war und einige unbestimmte Worte aufgefangen hatte, auf den Italiener und versetzte ihm einen Dolchstich in den Arm, der ihn das Pistol fallen lassen machte. Ein kurzes Ringen entstand, während dessen der Korse Alessandrini aus dem Wagen springen, herbeieilen und die Festnahme des Mörders bewirken konnte. Als dieser sah, daß seine Flucht unmöglich geworden, ergab er sich trotzig in sein Schicksal und ließ sich, von einer schnell sich sammelnden Menschenmenge umringt, binden und von den als Arbeiter verkleidet gewesenen beiden Polizei-Agenten in eine Droschke werfen.
Der Kaiser, etwas bleich, sonst aber gefaßt und ruhig, hatte den Männern, welche sich auf den Mörder geworfen, zugerufen, den Elenden zu schonen, dann aber ruhig seinen Weg nach dem Boulogner Wäldchen fortgesetzt, wo er die Kaiserin treffen wollte. Erst als die erregte Volksmenge sich um ihn drängte, setzte er sein Pferd in Galopp.
Plötzlich am Triumphbogen hielt er es an und fixierte einen Mann, der an einem Pfeiler der Kettenbarriere stand. Die Nachricht des Attentates war noch nicht bis hierher gelangt, obgleich man in der Ferne den Auflauf in der Avenue deutlich bemerken konnte; dennoch starrte der Unbekannte mit einem gewissen Entsetzen auf den Kaiser, und die tiefe Narbe, die von der linken Schläfe des greisen Gesichts quer über den Schädel lief, glänzte weiß in der Röte der Aufregung, welche jenes bedeckte.
Der Kaiser hatte sich zu dem Oberst Ney gewandt und ihm, auf den Mann, der in eine alte Soldaten-Uniform gekleidet war, deutend, einige Worte gesagt, dann aber rasch seinen Weg fortgesetzt. Der Fremde, sobald er bemerkt, daß die Rede von ihm war, kreuzte die Arme und erwartete ruhig die Annäherung des Offiziers, der vom Pferde gestiegen war.
»Ich habe einen Auftrag an Sie, mein Herr,« sagte er artig zu dem Greise, »und bitte Sie, mir einige Schritte zur Seite zu folgen, um die Aufregung nicht zu vermehren.«
»Ich stehe zu Diensten, doch ersuche ich Sie, mir zuvor zu sagen, was jener Auflauf in den Champs Elysées zu bedeuten hat.«
»Es ist soeben ein nichtswürdiges Attentat auf den Kaiser verübt worden, dem Seine Majestät jedoch mit Gottes Hilfe und durch die Wachsamkeit der Polizei des Herrn Balestrino glücklich entgangen ist.«
»Ah! Balestrino,« sagte der Alte mit finsterem Spott, »er ist ein anderer Mann als diese Korsen. Und was ist aus dem Mörder geworden?«
»Man hat ihn ergriffen und er befindet sich in diesem Augenblicke wahrscheinlich auf dem Wege zur Conciergerie.«
Der Greis schwieg einige Augenblicke. »Was – wollen Sie von mir?«
»Der Kaiser, der Sie zu kennen scheint, wünscht Sie zu sprechen.«
»Er hat Sie beauftragt, mich zu verhaften?«
»Nein – er befahl mir blos, Ihr Ehrenwort als Soldat zu fordern, daß Sie sich heute Abend um 10 Uhr bei dem Gouverneur des Invalidenhotels einfinden wollen, von wo man Sie abholen wird.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Dann – allerdings – glaube ich auf meine eigene Verantwortung – aber Seine Majestät haben einen solchen Fall gar nicht vorausgesehen und mir nur aufgetragen, sein kaiserliches Wort für Ihr ungefährdetes Kommen und Gehen zu verbürgen.«
»Ich werde kommen!«
»Ihr Ehrenwort?«
Der alte Soldat sah ihn unmutig an. – »Ihr Vater, der Marschall, hätte an meinem bloßen Ja nicht gezweifelt! – Auf mein Ehrenwort als Soldat eines Größern, – denn er ist – ich werde zur Stelle sein.«
Er wandte dem Obersten ohne zu grüßen den Rücken und entfernte sich langsam. – – –
Ganz Paris war in Aufregung über das Attentat, die Polizei in Bewegung; das diplomatische Korps, die Minister, die hohen Korporationen mit der Familie des Kaisers waren schon vor dessen Rückkehr in den Tuilerien versammelt, um Glück zu wünschen – bis 10 Uhr dauerte die Flut der Audienzen, ehe der Kaiser zur Ruhe kommen konnte. Der Justizminister hatte noch am Abend seine Aussage aufgenommen.
Im Arbeitszimmer des Kaisers, demselben, in welchem vor Jahresfrist Kredit, Krieg und Revolution so wichtige Beschlüsse erfuhren, saß der Gebieter Frankreichs, bequem hingestreckt auf einer Chaise-longue, zur Seite einen vergoldeten Gueridon, auf dem mehrere Papiere ihm zur Hand lagen. Der Kaiser rauchte eine Zigarre, zwei Herren mit hohen Ordensauszeichnungen auf dem Frack standen an dem großen Arbeitstisch: Graf Walewski, der bisherige Gesandte in England, und Persigny, der frühere Minister des Innern. Sie waren bestimmt, ihre Rollen in dem neuen Ministerium zu tauschen.
Die Verhandlung hatte bereits einige Zeit gedauert. – »Eine Ihrer letzten Amtshandlungen, lieber Graf,« sagte fortfahrend der Kaiser, »soll die Stellung der Korsen unter Balestrinos Leitung sein. Ich habe mich überzeugt, daß er der Geschickteste und Tätigste ist.«
»Wann glauben Euer Majestät, daß die Veröffentlichung der Ernennung erfolgen soll?«
»In fünf oder sechs Tagen. Die Demission Drouin de L'Huys muß erst im Publikum ihre Wirkung tun, augenblicklich verdrängt sie der heutige Vorfall. Die Ernennung Thouvenels für Konstantinopel soll den Anfang machen. Lassen Sie einstweilen nur Layard und Roebuck mit ihrem Sebastopol-Komitee für uns arbeiten. Lord Bourgoyens Zeugnis ist noch kompromittierender als das des Herzogs von Newcastle, und das Spiel wird binnen kurzem in unserer Hand sein.«
»Oberst Sibthorp,« sagte Graf Walewski spottend, »beabsichtigt Lord Russell über Spezifizierung seiner Wirtshausrechnungen für die Mission nach Berlin und Wien zu interpellieren. Er meint, die Ausgaben für die weibliche Begleitung müßten gestrichen werden.«
Der Kaiser lachte herzlich. – »Diese Sucht unserer geliebten Alliierten, sich zu kompromittieren, kommt uns sehr zu statten. Palmerstons Eigensinn ist die beste Chance, die wir uns wünschen konnten, und ich prophezeihe Ihnen, die Friedenskonferenzen werden ihrer Zeit nur in Paris stattfinden. Wann glauben Sie, Graf, daß der neue Schlüssel für die Chiffern in London eintreffen kann?«
»Nicht vor dem 6. oder 7. Mai.«
»Das paßt zu dem Ambassadenwechsel. Es ist eine kostbare Idee dieser Engländer – ein einziges Exemplar zurückzuhalten und das so glücklich eskamotieren zu lassen.«
»Und was beschließen Euer Majestät in bezug auf die dadurch erfahrene Absicht der Expedition nach Kertsch?«
»Meine Instruktionen werden zur selben Zeit in der Krim sein, wo Raglans Bericht in London gelesen werden kann. Canrobert oder –« er schwieg einen Augenblick und überging das Wort, »wird demnach vollkommen Zeit haben, seine Maßregeln zu treffen. Lieber will ich wahrhaftig die Russen am Bosporus dulden, als eine englische Festung am Eingange des Asow'schen Meeres. Bei der Gelegenheit fällt mir ein: die Anordnungen wegen der ausschließlichen Beförderung der Briefe nach und aus der Krim durch die Post sind doch wiederholt und werden streng beobachtet? Wir sind nicht solche Narren wie die Engländer, uns selbst zu kompromittieren, und die gestrigen Listen unserer Verluste und der Gefangenen, die wir seit Beginn des neuen Bombardements gemacht, lauten wenig günstig.«
»Die Lagerpolizei ist sehr aufmerksam, und die Kapitäne aller Transportschiffe haben strenge Instruktionen, Sire. Man täuscht sich übrigens im Publikum wenig über den Zweck der Anordnung, und die Post hat manchen Spott zu erleiden. Die alte Herzogin von Beaufrémont z. B. gibt alle ihre Briefe nur mit einer Nadel zugesteckt auf die Post und schreibt darunter: Remettez l'épingle, s'il vous plaît!«
»Lassen Sie dem Faubourg Saint-Germain den Spaß; dergleichen Beschäftigungen unterhalten ihn und schaden mir herzlich wenig. Wirken Sie nur für Beschleunigung des Besuches der Königin Viktoria, Persigny, ich will den Parisern für die 750 Millionen Franken der neuen Anleihe wenigstens ein Schauspiel geben, während die Regierung Ihrer Majestät für 16 Millionen Pfund nichts tut, als Stoff für Blamagen aus der Krim zu liefern.«
»Sire, Sie sind heute bei Humor!«
Der Kaiser lächelte mit einem feinen Spott. »Bah! glaubst Du, die Affäre auf den Champs Elysées habe mir den Appetit verdorben? Frankreich muß heut empfunden haben, wie viel an meiner Person liegt – und dieser Bericht Pietris über des Nichtswürdigen Vergangenheit und Herkunft beruhigt mich über die einzige Besorgnis, die ich aus dem seltsamen Zusammentreffen hätte ziehen können.«
»Ich verstehe Euer Majestät nicht!«
»Der Herr Ambassadeur muß seine Wißbegierde schon für London aufsparen, wo sie mir hoffentlich recht gute Dienste leisten wird. Für heut genug, meine Herren. Sie, lieber Graf, habe ich noch um einen vertraulichen Dienst zu bitten. Bleiben Sie nur, Persigny, es ist kein Geheimnis. – Wissen Sie, wen ich heute am Triumphbogen wieder erkannte?«
»Ich bin begierig, Sire!«
»Unsern Bekannten aus dem Invalidendom – vor zwei Jahren.«
»Dem die ganze Polizei so lange vergebens nachspürte? Und Euer Majestät ließen ihn nicht verhaften, wo sein Erscheinen offenbar in Rapport zu dem Mordanfall steht?«
»Lieber Freund,« sagte der Kaiser mit dem vorigen geheimnisvollen Lächeln, »es sind wahrscheinlich gegenwärtig viele merkwürdige Fremde in Paris, ohne daß sie gerade mit Herrn Pianori in Verbindung stehen. Doch ist meine Absicht eben, mich in dem vorliegenden Falle davon zu überzeugen, auch ohne daß ich in die Funktionen meiner Polizei eingegriffen habe. Ich bitte Sie, von hier sich zu dem Gouverneur der Invaliden zu begeben; Sie werden den Mann, von dem wir eben gesprochen, dort finden, wenn ich seinen Charakter recht beurteile, ihm dieses Papier geben« – er warf rasch einige Worte auf ein Blatt – »und ihn hierherführen. Ney ist anderweitig beschäftigt und Sie sind ihm bekannt.«
»Und was soll ich mit ihm tun?«
»Sie führen ihn hierher – durch die Terrasse du Bord und den Pavillon Marsan. André wird Sie dort abholen. Sie bleiben dann im blauen Salon im Bereich meiner Stimme. Adieu bis dahin!«
Die beiden Minister zogen sich zurück. Der Kaiser blieb einige Zeit allein, bloß mit seinen Gedanken beschäftigt und mit den Augen den Zeiger der großen Uhr auf dem Kamine, ein Meisterwerk Delacours, verfolgend. Mit dem Schlage halb Elf hörte man ein Kratzen an der mittleren, durch eine schwere Portiere bedeckten Seitentür, die der Kaiser sogleich selbst aufschloß.
Zwei Männer traten herein, der Eine war der Graf Ney, der andere ein zierlich gebauter Mann von etwa 28 bis 30 Jahren in einem einfachen Zivilanzug.
Der Kaiser erwiderte die Verbeugung des Unbekannten und sagte dann zu seinem Begleiter: »Verlassen Sie uns, lieber Graf, und verhindern Sie jede Störung, bis ich Sie rufe.«
Der Adjutant verließ das Gemach, der Kaiser selbst schloß hinter ihm die Tür und ließ die Portiere fallen. Dann wandte er sich zu dem Fremden und sagte einfach: »Wir sind allein, mein Herr!«
Einige Augenblicke betrachteten beide Männer einander mit offenbarem Interesse. Der Fremde war, wie gesagt, fein gewachsen und jung, seine Gesichtsbildung hatte den tatarischen Ausdruck in edleren Formen; das durch eine Brille bedeckte feurige Auge verkündete Mut und Energie, und eine Falte zwischen den Brauen einen gewissen Zwang, den er sich antat. Seine Manieren waren die der besten Gesellschaft, und seine Haltung war frei von jedem Zwange und der Devotion, die gewöhnlich die Nähe des Trägers einer Krone auferlegt.
Indem der Kaiser nach seinem früheren Platz zurückging, nahm er zwei kleine, in englische Leinwand gebundene Bücher aus seiner Handbibliothek und legte sie neben sich auf die Causeuse. Sein Benehmen gegen den Fremden war übrigens artig, wie das eines feingebildeten Privatmannes bei einer Konversation, nicht wie die Haltung des mächtigen Monarchen bei Erteilung einer Audienz. Mit einer leichten Handbewegung nach einem danebenstehenden Lehnsessel einladend, sagte er höflich: »Ich bitte, nehmen Sie Platz, unsere Unterhaltung kann vielleicht lange dauern. Ich hoffe, Sie haben alle Anordnungen für die Geheimhaltung dieser Audienz Ihren Wünschen entsprechend gefunden?«
Der Fremde verneigte sich. »Euer Majestät sind meiner – Bitte auf das Freundlichste entgegengekommen und ich danke Euer Majestät dafür.« Das Wort »Majestät« schien wie durch Zwang unwillig über diese stolz aufgeworfenen Lippen zu kommen, und ein dunkles Rot überschoß das Gesicht des Sprechenden, als er den leisen Triumph bemerkte, der einen Augenblick lang um den Mund des Napoleoniden zuckte.
»Sie haben den Auftrag,« sagte der Kaiser, »die vertraulichen Unterhandlungen zu Ende zu bringen, die nach dem Tode des Kaisers Nikolaus meines Herrn Bruders Liebden in Petersburg wegen des künftigen Friedensschlusses mit mir im Geheimen eröffnet hat. Sie werden höchstwahrscheinlich – da mir die Bürgschaft Ihrer unbekannten Person fehlt – eine Vollmacht besitzen?«
Der seltsame Unterhändler überreichte ein Blatt, das der Kaiser auseinander schlug. Es enthielt nur die Worte:
» Pleins pouvoirs!
Alexandre«
Der Herrscher der Franzosen machte eine zustimmende Bewegung mit dem Kopfe, gab das Blatt zurück und sagte: »Dies genügt vollständig. Kommen wir zur Sache.«
»Die Chancen des Krieges in der Krim stehen in diesem Augenblick günstiger für uns, als bei Beginn des Feldzuges. Wir haben eine starke Festung und eine zahlreiche, entschlossene Besatzung, wo wir früher nur eine unvollständige Verteidigung hatten. Ihre Armee, Sire, hat bei allem militärischen Ruhm, mit dem sie sich durch ihre Ausdauer bedeckt, doch während des Winters viel gelitten. Ihre Belagerungsarbeiten haben nur geringe Fortschritte gemacht.«
»Ich täusche mich nicht darüber, doch habe ich einen mächtigen Verbündeten!«
»Welchen, Sire? – England? – Sardinien?« Die Frage klang voll bittern Hohnes.
»Nein, mein Herr! – Das Frühjahr und nötigenfalls noch den Sommer!«
»Wir haben die gleiche Chance, obschon ich zugeben will, daß der Winter unser besserer Alliierter war. Die Werke Sebastopols – –«
Der Kaiser, der mit den Almanachs spielte und sie wie zufällig durchblätterte, unterbrach ihn lächelnd: »Lassen wir das alles – das war Sache der Präliminarien und wir haben Wichtigeres. Ich will mit Offenheit Ihnen vorangehen und aussprechen, daß ich den Frieden so gut brauchen kann wie Rußland.«
»Sire, Sie erklärten den Krieg!«
»Ich habe dem Kaiser Nikolaus den Krieg erklärt, nicht dem Kaiser Alexander. Ich brauchte damals den Krieg, denn es galt, meinen jungen Thron zu befestigen. Jetzt gilt es, meiner Nachkommenschaft diesen Thron auch zu sichern. Das kann die Diplomatie besser wie der Krieg. Sie sehen, ich bin aufrichtig.«
»Euer Majestät danke ich dafür. Was Rußland dazu tun kann – – –«
»Nein, mein Herr, das sind vague Versprechungen. Ich muß die ganz bestimmte Erklärung haben, daß Rußland die Bourbonen für alle Zeit fallen läßt. Mit den Orleanisten und den Republikanern werde ich schon allein fertig. Das Einzige, was meiner Familie entgegen stehen kann, ist die Tradition – und mit dieser muß Rußland freiwillig – merken Sie wohl – freiwillig und offen brechen, wenn ich meinerseits Opfer bringen soll.«
Der junge Unterhändler schwieg; auf seiner kräftigen Stirn lagen schwere Wolken.
»Die Romanows,« fuhr der Kaiser streng fort, »haben ebenso gut ihren Anfang gehabt wie die Bonapartes. Ich bin nicht einmal der Erste, sondern bereits das dritte Glied meines Hauses auf dem Throne. Sie werden mir zugestehen, daß die Bourbonen ihre Glanzzeit überlebt und ihre Restauration nicht haben aufrecht halten können. Dies würde auch künftig der Fall sein. Die Orleans sind ein Geschlecht von Unruhestiftern und Gelegenheits-Spekulanten. Sie haben also keine Bürgschaft für die Zukunft als in mir, und wenn je ein Mann das Wort wahr gemacht, daß er mit der Revolution gebrochen, so bin ich es!«
»Euer Majestät legen, ich erkenne es im Namen meines Gebieters an, die Notwendigkeit klar dar, aber nicht die Mittel.«
»Hören Sie mich an, ich fordere keine Erniedrigung der legitimen Höfe von Europa, wie mein Onkel törichter Weise, um seinem Stolz zu schmeicheln, tat; aber ich fordere anerkennendes Entgegenkommen. Ich wiederhole Ihnen, die Person des Kaisers Nikolaus war dasjenige Element, was meinen Ansprüchen in Europa bisher entgegenstand. Er war es, der den Weg, den ich zur Einbürgerung meiner Rechte versuchte, abschnitt. So lange er lebte und unbesiegt war, blieb ich ein geduldeter Emporkömmling und in zweiter Reihe. Gott selbst hat entschieden und Rußland die neue Auffassung der Zeit leicht gemacht. Ich bin kein Eroberer wie mein Onkel, ich will nicht in Europa gefürchtet, aber ich will gesucht und nötig sein. Wir werden den Frieden schließen unter Bedingungen, die für unsere beiderseitige Stellung notwendig und nützlich sind. Dann wird die Zeit neuer Bündnisse und diplomatischer Konjekturen eintreten. Die erste Notwendigkeit hierzu war die Sprengung der sogenannten heiligen Allianz.«
»Sie ist faktisch bereits tot – durch Oesterreichs Dankbarkeit.«
»Ja, aber Rußland muß sich verpflichten, auch nicht einmal für die Wiederherstellung des Scheines etwas zu tun.«
»Unsere Staatsmänner haben die erste Forderung Euer Majestät erkannt, und Rußland verpflichtet sich dazu.«
»Das ist mir lieb. Es wird, um der allgemeinen Stimme willen, notwendig sein, daß bei dem Friedensschluß Rußland einige Konzessionen am Schwarzen Meere macht, vielleicht die Abtretung einer unwesentlichen Landesstrecke zur sogenannten Regulierung der Grenze und der Donaumündung. Wir sind die letztere Oesterreich schuldig für seine Rolle, werden aber dafür sorgen, daß es keinen festen Fuß am Schwarzen Meere faßt. Das Protektorat der Donau-Fürstentümer wird unter die gemeinsame Diplomatie gestellt.«
»Das ist ein wichtiger Verlust für Rußland.«
»Eine bloße verführerische Gelegenheitsmacherei. Nach dem Verlust Ihrer Flotte und Arsenale im Süden ist Ihnen die Sache ohnehin nutzlos.«
»Aber unsere Flotte ist noch nicht verloren!« Das Auge des Russen blitzte stolz und feurig.
»Sie ist es; – wir können natürlich nicht über den Bosporus wieder zurückgehen, bevor die russische Flotte zu existieren aufgehört. Uebrigens ist sie ja zur Hälfte bereits vernichtet. Doch das wollen wir später erörtern. Seien Sie versichert, daß ich gar keinen Einspruch erhebe gegen jede Verstärkung Ihrer Flotte im Norden, eine solche kann nur mein Wunsch sein, und ich werde Ihnen mit Bereitwilligkeit die französischen Werfte für diesen Zweck öffnen.«
Der junge Diplomat sagte langsam und feierlich: »Wir sind bereit, unsere Angriffsstellung im Süden zu opfern, natürlich unter Vorbehalt unserer Rechte bei einer künftigen Regulierung der türkischen Frage – aber unter der Bedingung, daß England keine weiteren Erwerbungen am Mittelmeere macht und nicht am Schwarzen Meere festen Fuß faßt.«
»Ach, dafür lassen Sie mich sorgen; Sie werden in kurzem ein Pröbchen davon hören, wie ich meinen spekulierenden Verbündeten in Ihrem Interesse auf die Finger sehe! Möge Rußland zusehen, wie es sich den Weg nach Indien bahnt und sich nach China ausdehnt, ich werde gar nichts dawider haben. Asien ist das Land der nächsten fünfzig Jahre.«
»Sire – ich will Ihre Offenheit erwidern – Sie wünschen das Mittelmeer?«
»So ist es – und es ist nicht mehr als billig, daß Frankreich dort herrscht. Seine natürliche Lage berechtigt es dazu und ich hoffe es noch zu erleben, daß jeder kecke Eindringling auf sein natürliches Gebiet zurückgewiesen wird. Sie taten Recht, mein Herr, geradezu auf den Hauptpunkt unserer Verständigung loszugehen. Hier ist das Bündnis der Zukunft für Rußland und Frankreich. Vorläufig verlange ich nur, daß Sie meine Politik und meine Festsetzung in Italien nicht beschränken; ich werde dafür mit Ihnen in der dänischen Hand in Hand gehen. Dies sprengt das österreichisch-englische Bündnis, und Preußen in Schach zu halten ist Ihre Sache.«
»Wir sind einverstanden. Preußen ist ein Staat, dessen Hauptaufgabe seine innere Entwickelung und seine Verteidigung gegen Oesterreich bleibt.«
»Dies erkenne ich an und wünsche dringend mit ihm ein freundliches Verhältnis. Weiter können wir uns nicht viel nutzen, doch muß ich darauf bestehen, und dafür sorgen, daß es nach dem Frieden sich der Anerkennung meiner Berechtigungen anschließt. Dafür werde ich sein Recht der Teilnahme an den Friedensverhandlungen trotz seiner angenommenen Neutralität gegen alle englischen Einwendungen unterstützen. Die öffentlichen Friedensverhandlungen müssen natürlich in Paris stattfinden.«
»Sollte nicht Brüssel oder Berlin – –«
»Nein, mein Herr – keinen Rückzug! Das ist das erste und natürlichste Zeichen jener Anerkennung und Sicherung, die eben unser Hauptbedingnis ist.«
»Wir überlassen Euer Majestät die Wahl.«
»Und nun, da wir mit der Zukunft fertig sind, lassen Sie uns zur Regelung der Nebenfragen übergehen, ich meine die ehrenvolle Beendigung des Krieges selbst und die Entscheidung über Sebastopol.«
»Sire, Sie werden nichts verlangen, was die Waffenehre Rußlands beleidigt! Wir wünschen den Frieden, aber wir sind nicht besiegt, und – ich muß es wiederholen, – Sebastopol ist fester denn je!«
Der Kaiser sann eine Weile nach. – »Die Verständigung ist vom militärischen Standpunkt schwieriger, als vom politischen. Sie sind wahrscheinlich selbst Offizier oder haben wenigstens gedient?«
Der Fremde verbeugte sich.
»So werden Sie desto leichter einsehen, daß ich die Armee schonen muß. Sie kann ohne einen Erfolg oder eine große Niederlage nicht zurückkehren, und die letztere würde alle unsere diplomatischen Pläne vernichten oder in weite Ferne schieben. Der Franzose lebt von der gloire und ich darf die Armee nicht verletzen. Vielleicht eine ehrenvolle Kapitulation?«
»Sire, Sie haben die britische und türkische Armee zu Alliierten!«
»Ei, die könnte man sich vom Halse schaffen – geben Sie den Burschen in Kleinasien eine Lektion, dort ist mir Ihr Sieg ganz recht. Doch machen Sie selbst einen Vorschlag, Sie werden ohne einen solchen nicht hierher gekommen sein.«
»Lassen Euer Majestät uns den Kampf um Sebastopol gleich einem Turnier des Mittelalters betrachten. Welches dann auch der Ausgang sei, die politischen Folgen sind durch die eben erfolgte Verständigung über die Zukunft geregelt; – unsere Armeen kämpfen nur noch um die Ehre. Euer Majestät mögen selbst den Zeitpunkt bestimmen, bis zu welchem Tage dies Tournier dauern soll. Jeder tue das Mögliche für den Ruhm seiner Waffen. Die Einnahme der Südseite oder der von Ihnen festgesetzte Termin endet den Kampf und läßt einen Waffenstillstand eintreten, während dessen der Friede geschlossen wird. Auch im Fall das Glück uns begünstigt, wird Sebastopol ein Schutthaufen und – ich gestehe es zu – unsere militärische Herrschaft auf dem Schwarzen Meere für längere Zeit vernichtet sein. Man stampft weder Arsenale, noch eine Flotte, noch ihre Equipagen aus den Gräbern.«
Das Auge des jungen Mannes mit dem stolzen, ernsten Gesicht schaute finster und voll Schmerz – es war, als läge diese stolze Flotte, diese Riesenschöpfung nicht auf dem Grunde des Meeres, sondern in der Tiefe seines Herzens begraben.
Es folgte eine Pause. Endlich schrieb der Kaiser einige Worte auf ein Blatt und reichte es dem Unterhändler. – »Ist Ihnen dieses Datum genehm?«
»Ja, Sire, obgleich alle Chancen dann für Sie sind. Überlebt Sebastopol diesen Tag, so wäre – ja, es wäre Wahnsinn, Ihre brave Armee noch einem Winter wie der vorige auszusetzen. Der Waffenstillstand beginnt demnach auf jeden Fall von diesem Tage an?«
»Ich bin es zufrieden! – Wenn Sebastopol fällt, selbst im Sturm, sollen sich Ihre Truppen unangefochten zurückziehen dürfen. Wir werden den Sieg nicht verfolgen.«
»Ich danke Ihnen, Sire, obgleich ich hoffe, daß er auf unserer Seite sein wird. Die Einschiffung der Franzosen wird von uns durch keine Feindseligkeit gefährdet werden.«
Beide Parteien lächelten unwillkürlich bei diesem Wettstreit des Nationalstolzes.
»Ihr Turnier, mein Herr, wird Ströme von Blut kosten. Können wir auch die Menschenleben verantworten?«
Der Russe sah ihn erstaunt an. – »Elihu Burrit, Sire, ist ein Narr. Fürsten können keine Philanthropen sein, wie teilnehmend auch ihr Herz dem einzelnen Leiden schlägt. Wir Russen machen Politik mit den Soldaten, nicht um der Soldaten willen.«
»Sie sprechen kühn,« sagte lächelnd der Kaiser, indem er sich erhob, »und sind überhaupt ein seltsamer Unterhändler, mit dem man sehr rasch zu Ende kommt. Walewski und Nesselrode hätten sicher zu dem, was wir in einer halben Stunde erreicht, Monate gebraucht, was allerdings wahrscheinlich noch mehr Blut gekostet haben würde. Doch – wir haben bei alledem einen Hauptfaktor aus dem Spiele gelassen – Seine Herrlichkeit Lord Palmerston und meine intimen Verbündeten!«
»Euer Majestät Flotte – ich mache Ihnen mein Kompliment über Ihre Marine – und die russische hätten vereint England vom Erdball peitschen können! Euer Majestät mögen es mit England einrichten nach Ihrem Belieben. Wir unterhandeln mit Frankreich.«
Ein selbstzufriedenes, stolzes Lächeln lag auf dem Gesicht des französischen Herrschers. – »So wären denn alle Punkte geordnet – aber in welcher Form wünscht Seine Majestät der Kaiser Alexander einen Austausch unserer Stipulationen?«
»Sire, mein – der verewigte Kaiser hat uns die Lehre von dem blauen Buch hinterlassen. Mein Souverän ist zufrieden mit dem Versprechen Eurer Majestät, das ich die Ehre habe, hiermit anzunehmen. Ich habe Ihnen freilich dagegen nichts zu bieten, als eben diese Vollmacht.«
»Ihr Wort genügt mir gleichfalls,« sagte sein Gegner artig. »Es soll mich freuen, Eure Kaiserliche Hoheit nach geschlossenem Frieden offiziell in Paris zu empfangen und das bewiesene Vertrauen dann zu vergelten.«
»Sire – –«
Der Herrscher Frankreichs überreichte dem überraschten Gast das kleine aufgeschlagene Buch, in welchem er mehrfach geblättert, indem er zugleich auf die Feder der Glocke drückte. Es war der Gothaische Alamanach vom Jahre 1850.
Die Tür hinter der Portiere öffnete sich augenblicklich und Oberst Ney trat ein.
»Leben Sie wohl,« sagte der Kaiser, indem er seinem Besuch die Hand reichte, »und reisen Sie glücklich. Ich hoffe, das Turnier fällt zu unserer beiderseitigen Zufriedenheit aus und wir sehen uns recht bald wieder. Lieber Graf, Sie werden die Gefälligkeit haben, sich ganz zur Disposition – dieses Herrn zu stellen.«
Er geleitete den Besuch, der seit jener Anrede ein bedeutsames Schweigen beobachtet, mit auffallender Artigkeit bis an die Schwelle des Gemaches. Als er zurückkam, warf er sich auf die Ottomane und bedeckte, tief aufatmend, das Gesicht einige Augenblicke mit der Hand.
Als er sie zurückzog und wie an jenem Abend – vor Jahresfrist – vor das Porträt seines Oheims trat, war sein Antlitz marmorfest in den stolzen Zügen und das Auge ruhte mit einem gewissen selbstzufriedenen Hohn auf dem Bilde. – »Die Sühne ist gebracht, – meine Schuld an Dich abgetragen und die Beleidigung, die mir selbst geworden. Jetzt kommt die Zeit, die mein allein ist!«
Der Kaiser schritt gedankenvoll einige Male auf und nieder. »Ich bin müde von all dem«, sagte er endlich, »und muß zu Ende kommen. Sehen wir, ob Walewski meinen Mann gefunden hat.«
Er klatschte in die Hände und sein vertrauter Kammerdiener André trat sogleich durch die entgegengesetzte Tür ein.
»Ist der Graf im Salon – allein oder in Begleitung?«
»Seine Exzellenz harren seit einer Viertelstunde. Es ist ein alter Herr bei ihm.«
»Laß beide eintreten.«
Der Gebieter hatte wieder auf der Causeuse Platz genommen, der große Arbeitstisch trennte ihn von den Eintretenden.
Diese waren der Graf Walewski und der Mann, den der Kaiser am Triumphbogen getroffen, diesmal in einer seinem Alter entsprechenden vornehmen Zivilkleidung, mit dem Kreuze der Ehrenlegion geschmückt.
»Ich danke Ihnen, mein Herr, daß Sie Wort gehalten haben,« sagte der Kaiser. »Es ist lange her, daß wir uns nicht gesehen, dennoch erkannte ich Sie sogleich – trotz der Verkleidung. Beabsichtigen Sie auch jetzt noch, Ihr Inkognito beizubehalten?«
»Sire – ich bin der Graf Lubomirski, Eskadronchef der polnischen Lanziers unter Ihrem Oheim, zuletzt Oberst in der Armee der polnischen Republik.«
»Ah! ich kenne den Namen, einer der Helden von Somosierra mit Niegolewski – wenn ich nicht irre?«
Der Greis verbeugte sich.
»Mein Herr,« fuhr jener fort, »unsere Bekanntschaft ist seltsamer Art und ich gestehe Ihnen offen, daß ich es bedaure, einen Mann Ihres Namens in Verhältnissen und Verbindungen zu treffen, deren Natur nur geheimnisvoll und verbrecherisch sein kann. Dennoch habe ich Vertrauen zu Ihnen und habe Sie unter Verpfändung meines Ehrenwortes zu dieser zweiten Zusammenkunft eingeladen, um einige Fragen an Sie zu richten.«
»Sire – meine Anwesenheit zeigt Ihnen, daß ich Ihnen antworten werde – so weit es mich betrifft – aber nur, – wenn ich die Ehre einer geheimen Audienz habe.«
»Ich bat Sie schon früher, lieber Walewski – –«
»Eure Majestät verzeihen – aber ich muß mich weigern, Sie mit einem Manne allein zu lassen, der zu dem Bunde Ihrer gefährlichsten Feinde gehört.«
»Der Herr war Offizier meines Oheims,« sagte der Kaiser ruhig. »Sie hörten es selbst, lieber Graf; ich entbinde Sie aller Verantwortung und nehme diese auf mich. Bleiben Sie im Nebenzimmer.«
Der Minister entfernte sich schweigend, nicht ohne noch einen besorgten Blick auf den Polen geworfen zu haben.
Der Gebieter Frankreichs und der Sektionschef der revolutionären Propaganda waren allein. Erst nach einigen Augenblicken brach der erstere das Schweigen.
»Sie sind ein Mitglied der sogenannten Marianne, oder vielmehr ein Mitglied des Bundes der Unsichtbaren?«
Ein spöttisches Lächeln zuckte unter dem grauen Schnurrbart des Polen. – »Euer Majestät sind gut unterrichtet durch den Baron Ripéra.«
»Sie haben das unbedingte Versprechen Ihrer eigenen Sicherheit in der Hand. Wollen Sie mir deshalb aufrichtig eine sonst gefährliche Frage beantworten?«
»Ich erklärte mich schon bereit dazu – da es ohnehin wohl die letzte Unterredung sein wird, mit der Eure Majestät mich beehren.«
»Das wird von Ihnen abhängen,« bemerkte der Kaiser, ohne auf den Doppelsinn zu achten. »Sagen Sie mir offen und ohne Besorgnis: wußten Sie um den heutigen Mordanfall gegen mich?«
»Ja, Sire!«
»Also doch – ein politisches, wohlüberlegtes Attentat, nicht der Wahnsinn eines einzelnen! Das ist abscheulich!«
»Sire – Sie sind uns im Wege – Sie haben sich aus unserer Stütze zu unserem Herrn gemacht. Sie, der Republikaner auf dem Throne, sind der bitterste Feind der sozialen Republik geworden – Sie müssen sterben, Sire!«
»Alter Tor! wissen Sie nicht, daß das Leben der Männer, die Gott auf einen Thron gesetzt, unter seinem Schutz steht?«
»Aber die Königsmörder, Sire, sind oft die Rächer in der Hand Gottes.«
»Das ist Blasphemie! Hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe und hinterbringen Sie es den Häuptern Ihrer Verbindung, wenn Sie nicht, wie ich vermute, selbst eines – bitte« unterbrach er sich, denn der Graf war dem breiten Tisch einen Schritt näher getreten – »bleiben Sie an Ihrem Platz, ich wünsche nicht eine allzugroße Nähe. Also hören Sie oder berichten Sie jenen meinen festen Entschluß. Ich habe nicht Lust, meine Person politischen Fanatikern oder Schurken länger zur Zielscheibe dienen zu lassen, weil ich ihren Plänen unbequem geworden bin. Ich erkenne an, daß die revolutionäre Propaganda so gut eine bestehende Macht ist, wie die legitimen Throne oder die Throne de facto, mit der man unterhandeln kann. Möge sie daher England, Italien, Ungarn – meinetwegen auch die Türkei zum Schauplatz ihrer Tätigkeit machen – ich werde sie gewähren lassen und bewillige ihr ausdrücklich dies Feld. In Frankreich aber dulde ich sie nicht mehr, in Frankreich bin ich Herr, ich allein! Ich habe sie mit offenen Waffen bisher bekämpft, aber ich schwöre Ihnen, bei dem geringsten Versuch von Meuchelmord, der noch einmal gegen mein Leben oder ein Leben der Familie Napoleon gemacht wird, soll Cayenne ein Eldorado sein, und ich will sie verfolgen wie giftiges Gewürm bis in die geheimsten Schlupfwinkel. Also persönliche Sicherheit bei allem Prinzipienkampf, oder ein Vertilgungskrieg auf's Äußerste!«
Das Gesicht des Herrschers war dunkel geworden bei den heftigen, entschlossenen Worten – der alte Propagandist aber hatte ihnen anscheinend unbewegt zugehört.
»Jetzt, mein Herr,« fuhr der Kaiser fort, »ist der Zweck erledigt, wegen dessen ich Sie hierher bemüht. Ich wollte sicher sein, daß meine Worte, mein Entschluß zuverlässig zu den Leitern jener Bündnisse kämen, und benutzte den Zufall, der mich Ihnen endlich wieder begegnen ließ. Gehen Sie also zurück nach England, woher Sie mit dem feigen Meuchler gekommen und wo Lord Palmerston Ihren Freunden seinen Schutz gewährt. Sie haben mein Geleit, und niemand wird Ihre Abreise hindern. Aber hüten Sie sich, zurückzukehren nach Frankreich, – um der Erinnerungen von Somosierra willen wünsche ich dies, Herr Graf!«
»Sire, ich komme nicht aus England!«
»Woher sonst? – Diese Ermittelungen der Polizei« – er zeigte auf ein Papier – »ergeben bereits, daß der Mörder, ein Italiener, ein ehemaliger Genosse Garibaldis aber vor acht Tagen aus England gekommen ist.«
»Ich widerspreche dem nicht – ich jedoch, Sire – komme direkt aus Rußland.«
Der Kaiser fuhr empor. – »Aus Rußland sagen Sie? – das ist seltsam! wäre es möglich – – –?«
»Sire – es wird Ihnen beweisen, daß Sie mit einigen Präsumtionen Unrecht haben. Von wem Pianori ausgeschickt ist, mögen Ihre Gerichte ermitteln, wenn sie dazu im Stande sind. Ich aber kann Ihren Auftrag an die Häupter der freien Verbindungen nicht ausführen. – Ich lege den Schutz, den mir Ihr eigenhändiger Befehl gewährt, in Ihre Hände zurück. Sie werden mich auch nicht wiedersehen; denn, Sire, es gibt noch einen anderen wichtigen Grund, weshalb – –« er legte das Papier, das Graf Walewski ihm übergeben, auf den Tisch – plötzlich fuhr er zurück – der entschlossene, finstere Ausdruck des narbigen Gesichtes verschwand in einer unendlichen Angst. –
Der Kaiser hatte sich halb erhoben und die Linke an die Feder der Glocke gelegt, während die rechte Hand einen Gegenstand zwischen den Kissen der Causeuse erfaßte. – »Was beabsichtigen Sie, mein Herr? – hüten Sie sich!«
»Halten Sie ein, Sire – um Gotteswillen – verzeihen Sie diese Indiskretion, aber – ich sehe hier einen Namen – ich beschwöre Sie, wie kommt der Name dieses Knaben in Ihr Kabinett?« – Er hatte ein Papier, auf das zufällig sein Auge gefallen war, aufgerafft und hielt es zitternd dem Kaiser hin – große Schweißtropfen brachen aus seiner Stirn.
»Es ist die Liste der russischen Offiziere,« sagte dieser kalt, »die in den nächtlichen Gefechten seit Wiederbeginn des Bombardements vor Sebastopol zu Gefangenen gemacht wurden. Interessiert es Sie, so lesen Sie immerhin.«
»Sire« – der Greis taumelte nach der Lehne eines Sessels und stützte sich darauf, noch immer das Papier fest in der Hand – »erlauben Sie – aber ich bin ein alter Mann, und was mir soeben begegnet, hat mich überwältigt.«
Er unterlag sichtbar der höchsten Aufregung. Der Kaiser war freundlich näher getreten und nötigte ihn zum Sitzen. – »Nehmen Sie Platz, Herr Graf! Vielleicht haben Sie auf der Liste einen Ihnen bekannten Namen gefunden?«
»Es ist der Name meines Enkels Michael Lasaroff – Fähnrich; – Sie – Sie sagten vorhin mit Recht, Gott bewahre das Leben derer die er auf einen Thron gesetzt! Der Name dieses Knaben hat Ihr Leben gerettet – denn in diesem Augenblick schon hätte Frankreich keinen Herrn gehabt!«
Der so seltsam bedrohte Monarch konnte ein Gefühl des Schauders und Widerwillens nicht unterdrücken, doch gewann er sogleich die Fassung wieder und entgegnete: »Sie fiebern, Herr Graf – und schreiben sich eine Absicht zu, an die ich zu Ihrer eigenen Ehre nicht glauben kann.«
»Nein, Sire,« sagte mit festem Tone der alte Propagandist, »was ich sage, ist Wahrheit; nicht die Beschlüsse der republikanischen Gesellschaften allein drohten Ihnen den Tod – Ihr Leben war einem entschlossenen Manne notwendig, um das Teuerste zu retten, was er besitzt. Ihr Tod hätte die Belagerung von Sebastopol beendet, auf dessen Wällen mein Enkel als Verteidiger stand. Gott hat es anders gewollt; als Gefangener der Franzosen ist sein Leben gesichert – machen Sie also mit mir, was Sie wollen.«
Der Kaiser ging einige Male in dem Kabinett auf und ab und schien einen Entschluß zu überlegen. Dann blieb er vor dem Polen stehen und sagte: »Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß mein Wort giltig bleibt. Wollen Sie jetzt meinen Auftrag an die Führer Ihrer Verbindung ausrichten? – Ich biete Ihnen Leben für Leben.«
»Wenn ich Euer Majestät recht verstehe,« sprach erschüttert der Greis, »so bin ich überwunden. Gott hat zu mir gesprochen! Ich stehe zu Ihrer Verfügung, wie ich einst der Soldat Ihres großen Oheims war. Sie werden nichts von mir fordern, was nur ein Ripéra leisten konnte.«
»Ich bin damit einverstanden und freue mich dieses Resultats. Der Auftrag, den ich Ihnen gegeben, muß von Ihnen persönlich ausgeführt werden, ich verlange nicht zu wissen, wo und wie, aber die Sache selbst ist für mich zu wichtig. Sobald dies geschehen, mögen Sie nach der Krim abreisen, ich brauche eine Person für die Ausrichtung von Aufträgen dort, die ich keinem Offiziere meiner Armee anvertrauen will. Eine offene Ordre wird Sie ermächtigen, über die weitere Gefangenschaft und das Schicksal Ihres Enkels selbst zu verfügen.«
»Sire, zählen Sie auf mich! – eine Festung für ihn, bis dieser Krieg zu Ende ist!«
»Arrangieren Sie das, ganz wie Sie wollen, Herr Graf. – Gehen Sie jetzt, denn ich bedarf der Ruhe – ich behalte ein Pfand, daß ich Sie bald wiedersehe. Wenn Sie eine geheime Audienz wünschen, so wenden Sie sich an meinen Kammerdiener André.«
Er gab das Zeichen und der Minister, der es längst erwartet, öffnete sogleich die Tür.
Am 19. Mai hatte General Pelissier das Oberkommando der französischen Armee übernommen – der Kaiser hatte seinen Kämpen zum Turnier gewählt.
Die Stärke der verbündeten Truppen betrug zu dieser Zeit durch die bedeutenden Nachsendungen aus Frankreich, die Ankunft des türkischen Korps unter Omer-Pascha und der Sardinier unter General La Marmora: 174 500 Mann, von denen 100 000 allein auf die Franzosen kamen. Auch die Zahl der Russen in der Krim war auf zirka 200 000 Mann angewachsen, sodaß fast eine halbe Million Krieger auf diesem Fleck der Erde einander gegenüber stand.
Am 9. April hatten die Verbündeten ein zweites Bombardement auf die Festung eröffnet, das, in anbetracht seiner riesenhaften Vorbereitung, einzig in der Geschichte dasteht. Die Kosten des Vorbereitungs-Materiales betrugen nicht weniger als sieben Millionen Franken. – Fünfhundertundacht Geschütze schweren Kalibers bildeten die Armierung der Demontier-Batterien von der Quarantäne-Bucht bis zum östlichen Ende der Reede. Vierzehn Tage dauerte dieses furchtbare Feuer mit beinahe gleicher Heftigkeit ununterbrochen fort und mehr als zweimalhunderttausend Kugeln verschiedener Art wurden während dieser Zeit auf Sebastopol geschleudert.
Dennoch hatte dieser entsetzliche Eisenhagel nicht den gehofften Erfolg. Obschon die russischen Batterien dem Feinde nicht mit gleicher Heftigkeit antworteten und durchschnittlich alle 24 Stunden 15 bis 20 russische Geschütze demontiert wurden, lieferten die ungeheueren Vorräte des Arsenals und die Artillerie der versenkten Schiffe doch hinreichenden Ersatz und mit jedem Morgen sahen die Verbündeten die jenseitigen Batterien in demselben Zustande, wie vor Beginn des Bombardements. Alles, was am Tage die feindlichen Geschosse zerstört hatten, war in der Nacht, trotz des heftigen Bombenfeuers, wieder ausgebessert. Keine der Festungsbatterien wurde zum Schweigen gebracht, wogegen dies mehrfach bei englischen und französischen der Fall war. Schon am zweiten Tage waren hier 50 Geschütze demontiert. Die Flotte – eingedenk der erhaltenen Lektion – hielt sich außer dem Bereich der Seeforts. In der Festung machte jeder Tag des Bombardements gegen 500 Mann kampfunfähig, die Verbündeten verloren etwas über 200.
Während der nächtlichen Bombardements wüteten zugleich die Kämpfe um die Logements fort.
In der Nacht zum 2. Mai ließ Pelissier, der damals noch den linken Flügel der Belagerungsarbeiten kommandierte, die Redoute Schwarz und die Logements vor der Bastion 4 und 5 mit 10 000 Mann stürmen; die Logements wurden nach einem großen Verlust genommen, die Redoute Schwarz aber schlug den Angriff zurück.
Die Belagerungsarbeiten waren somit nur wenig vorgeschritten, als Pelissier – gleichgiltiger gegen Menschenleben, als je ein russischer Führer – den Oberbefehl an Stelle Canroberts erhielt, der, sorgsam und aufopfernd, doch selbst fühlte, daß er zu einem solchen Kampf nicht die Energie und Rücksichtslosigkeit besitze, die allein den Sieg verschaffen konnte. Würdig von seinem Posten als Oberbefehlshaber zurücktretend, bewies er den Mut und Gehorsam des Soldaten, indem er sich das Kommando seiner früheren Division zurückerbat.
Der neue Oberkommandant ging sofort zum Sturm der Verteidigungslinien über. Schon in der Nacht zum 22. Mai warf er auf die Linien der Contre-Approchen zwischen der Quarantäne-Bucht und der Mast-Bastion drei starke Kolonnen unter General de Salles, denen Chruleff begegnete. Der blutige Kampf dauerte die ganze Nacht ohne Resultat, beide Teile hatten weit über 2000 Tote und Verwundete. In der nächsten Nacht erneuerte sich die Schlacht.
General Pelissier richtete nun sein Augenmerk gegen die Schiffervorstadt und ging mit seinen Approchen vor; – am 2. Juni waren die französischen Linien so weit vorgedrungen, daß die russischen Logements von der Kamtschatka-Lünette geräumt werden mußten, weil das französische Feuer sie im Rücken faßte. –
Es war Abend; in einem mittelgroßen Gemach des Erdgeschosses – der Fürst und die Fürstin Oczakoff hatten bei der immer größeren Überfüllung der Lazarette den bedeutendsten Teil ihres Hauses für Kranke und Verwundete eingerichtet, die die Fürstin mit ihren Frauen pflegte, – lag, auf einem wohlgeordneten Feldbett, ein verwundeter französischer Offizier im unruhigen Schlummer. An seiner Seite saß die Fürstin selbst, – während an der anderen Wand zwei dunkle Gestalten sich beschäftigten, Jussuf, der Mohr, und Nursädih, seine Schwester.
Der ehemalige Kurier des Sultans und spätere Baschi-Bozuk war hager und abgefallen; die Folgen der schweren Wunden, die er an der Felsenbrücke von Schloß Ayu erhalten, zeigten sich noch in seinem ganzen Äußeren, obschon sechs Monate seitdem verflossen. Nur sein gelbglänzendes Auge hatte den alten, feurigen Blick bewahrt, der jetzt oft mit dem Gefühle der Dankbarkeit die schöne Gestalt der Fürstin suchte, deren Befehl und Güte ihn damals gerettet. Dann wieder kehrte das Auge mit Zärtlichkeit zu seiner Schwester zurück, seine aufgeworfenen Lippen öffneten sich zu einigen freundlichen Worten und er versuchte mit dem etwa drei Monate alten Kinde zu spielen, das diese auf ihrem Schoß hielt.
Die ganze Liebe einer jungen Mutter lag in den Augen, mit denen Nursädih das kleine Mädchen betrachtete, das seiner Farbe nach zum Mulattengeschlechte gehörte, bei der edleren Gesichtsbildung der Mutter aber schon jetzt nur wenig Merkmale der schwarzen Rasse zeigte.
»Klein Piccaninni sein artig Kind heute,« sagte der Schwarze, »wecken Signor Offizier nicht auf, spielen hübsch mit dem schwarzen Onkel.«
»O, Jussuf,« flüsterte das Mädchen, »die Kleine ist so lieb und gut, als verstände sie schon alles, was ich ihr sage. Aber sieh', der französische Aga erwacht und die Fürstin bedarf meiner: hier, nimm Du das Kind.«
Der blut- und kampfgewöhnte Mann nahm den Säugling zart und sorgfältig auf und schaukelte ihn auf seinen Armen, während Nursädih zu der Fürstin schlich.
Diese beobachtete das Erwachen des Kranken mit großer Teilnahme. Auf ihrer leicht gebräunten Stirn lagen Zeichen trüben Sinnens und schweren Kummers, das schöne Antlitz, das sich draußen im Pulverdampf der Schanzen und Redouten, im Jammer der Lazarette nur heiter und tröstend zeigte, war hier düster und gedankenvoll.
Der kranke Offizier trug ihr wohlbekannte Züge – wohlbekannt aus einer glücklichen, freudenreichen Zeit ihres Lebens! – der bleiche Mann mit den hohlen Augen, den feucht an der Stirn klebenden Haaren, war einst der Liebling der Pariser Salons, der kecke Roué am Spieltisch im Ballsaal und Boudoir, der Tonangeber der Mode und der Vertraute der Chronique scandaleuse von ganz Paris, aus dem Reiche der Kulissen, wie aus den Kabinetten der Diplomaten: Alfred de Sazé!
Bei einer der kecken nächtlichen Streifereien der russischen Matrosen und Jäger außerhalb der Festung im Mai war der junge Reiteroffizier, der auch nach der Abreise des Prinzen Napoleon vor Sebastopol zurückgeblieben war, auf einer Feldwache aufgehoben und verwundet nach der Mast-Bastion gebracht worden, wo die Fürstin sich am Morgen befand. Sie hatte ihn sofort erkannt und gebeten, den Gefangenen in ihr Haus aufnehmen zu dürfen, das bereits einer Anzahl Verwundeter und Kranker zur Heilstätte diente. Die an und für sich nicht gefährliche Wunde des lebenslustigen Marquis erregte jedoch bald ernste Besorgnisse, da das verdorbene Blut des pariser Lebens, eine seltsame Aufregung der Nerven, die ihn bald nach seiner Ankunft im Hause der Fürstin ergriff und die Wirkung der eingetretenen Hitze seinen Zustand, trotz aller Sorgfalt, verschlimmerte und fieberhafte Erscheinungen herbeiführte, die jenem furchtbaren Übel ähnelten, das jetzt die Lazarette entvölkerte, rascher als Kugel und Bajonett, und das der Schrecken der tapferen Krieger war: dem Typhus.
Der Sorgfalt des Arztes gelang es zwar, den Ausbruch zu unterdrücken, aber der Tod hatte dabei auf andere Weise sich die Beute gesichert: der Brand hatte die Kniewunde erfaßt und der eitle Franzose verweigerte, sich das Bein abnehmen zu lassen. Pirogoff selbst hatte ihn am Morgen besucht, doch sein Achselzucken kündete, daß auch das äußerste Mittel jetzt zu spät kommen würde.
Der Kranke kannte vollkommen seine Lage; die Schmerzen hatten sich bereits gelegt und sein leichter und doch männlicher Charakter trat wieder ganz in den Vordergrund.
Der kurze fieberhafte Schlaf hatte ihn gekräftigt. Sein Auge schien im Zimmer umherzusuchen und wandte sich dann auf die Fürstin. – »Wie fühlen Sie sich nach dem Schlummer, Herr Marquis,« fragte ihn diese.
» Parbleu. Durchlaucht, als letzte Vorbereitung zum ewigen ganz leidlich! Doch Sie haben sich ja selbst wieder bemüht, – wo ist meine treue Wärterin Annuschka?«
»Sie ruht einige Augenblicke – ich verlangte es von ihr, weil sie ganz erschöpft war.«
»Das ist kein Wunder; denn seit den fünfzehn Tagen, daß Ihre Güte mich hier aufgenommen, hat sie mein Krankenlager kaum verlassen. – Es ist mir lieb, Durchlaucht, daß ich allein mit Ihnen bin: – ich möchte Sie bitten, mir eine kurze Unterredung zu gewähren.«
»Das Sprechen wird Sie ermüden und angreifen,« sagte die Fürstin zögernd.
»Was tut das – eine Stunde eher oder später – ich habe so viel vergeudet in meinem Leben, daß ich jetzt nicht geizen mag darum, wo es vielleicht das beste gilt, was ich im Leben getan habe.«
»Soll ich unsere schwarze Freundin fortschicken?«
»Nein, Fürstin, lassen Sie beide hier, wir werden sie ohnehin vielleicht brauchen. – Ich verstehe zwar nicht russisch, Durchlaucht, aber ich habe wohl begriffen, was Ihr Doktor von heute Morgen gesagt.«
»Beunruhigen Sie sich nicht, Ihr Leben liegt in der Hand des Allmächtigen.«
»Beunruhigen? bah! Als ob das Leben das wert wäre! Ich weiß, ich muß sterben, und werde kaum noch vierundzwanzig Stunden Ihrer Güte zur Last fallen; das ist wenigstens eine Beruhigung auf den Weg.«
»Freveln Sie nicht, Herr von Sazé. Es sollte mich tief schmerzen, wenn irgend etwas Ihnen gezeigt hätte, daß Sie uns zur Last gewesen sind. O, warum haben Sie nicht unseren Bitten und dem Rat der Ärzte nachgegeben und sich einer Operation unterzogen, die sicher Ihr Leben gerettet hätte!«
»Nein, Fürstin, das können Sie mir nicht im Ernst zum Vorwurf machen! Ja wenn es noch ein Arm gewesen wäre, – ein leerer Ärmel an der Brust ziert besser wie zwei Ordenskreuze und hindert nicht! Aber denken Sie sich selbst, Alfred de Sazé an einem Krückstock, auf einem Korkbein – Valga me Dios! ich möchte lachen, wenn ich mir die komische Figur in den Salons des Faubourg St. Germain oder auch nur bei Herrn Mirés oder in den Tuilerien denke. Es wäre ein allzuteurer Handel, ein Bein von gutem Blut für einen Napoleon!«
»Sie sollten ernstere Gedanken suchen und an Gottes Gnade denken, Herr. Ich bedaure, daß wir keinen Priester Ihrer Konfession in Sebastopol haben, aber auch einer der Unsern könnte Ihnen ein nützlicher Freund sein.«
»O, Durchlaucht, ich bitte Sie, nicht so strenge. – Ich beschäftige mich wahrhaftig schon seit heute Morgen mit sehr ernsten Dingen, bei denen ich ohnehin die Hilfe Ihres Popen in Anspruch nehmen muß. Wissen Sie, Fürstin, ich habe so ziemlich alles erfahren auf der Welt bis auf eines: wie einem Ehemann zu Mute ist. Und dieses Vergnügen will ich mir noch vor meinem Ende bereiten – ich will heiraten!«
Die Fürstin wandte sich unwillkürlich von dem Spötter ab und wollte sich erheben. Seine Hand legte sich leise auf ihren Arm, und als sie auf ihn schaute, sah sie einen schmerzlich-ernsten Ausdruck in seinen Augen mit dem frivolen Lächeln seines Mundes kämpfen.
»Bleiben Sie, Fürstin,« bat der Kranke; »was ich Ihnen gesagt, klingt nur wie übermütiger Frevel. O, fürchten Sie nicht, daß ein halbtoter Roué, wie ich, seine Blicke zu der Rose der Krim erheben will – ich ehre die Rechte meines Freundes Méricourt, der für den Verlust eines Beines vielleicht gern an diesem Platz läge. Meine Absichten sind bescheidener und richten sich auf Mademoiselle Annuschka, Ihre Dienerin!«
»Sie reden irre, Herr von Sazé! Annuschka ist meine Freundin, meine Schwester, aber –«
»Hören Sie mich zu Ende, Durchlaucht,« sagte der Kranke und seine Stimme klang jetzt ernst und sanft, ein gewisser feierlicher Ausdruck hatte sich über sein Gesicht verbreitet. »Bei meiner Ehre, ich rede die Wahrheit! In Ihre Brust lege ich ein Geheimnis nieder, was die meine erleichtern möge in jener Stunde, vor der wir alle zagen, wie stark wir auch die Furcht wegzuspotten uns bemühen. Erinnern Sie sich wohl des besonderen Eindrucks, welchen Annuschkas erster Blick auf mich machte, als ich in Ihr Haus gebracht worden?«
»Genau, Herr Marquis!«
»Von dem Fürsten erfuhr ich auf hingeworfene Fragen, daß Annuschka einen Bruder hat, dem sie gleichfalls sehr ähnlich ist. Er war der Diener des Ihren und ich erinnere mich jetzt, ihn in Paris in Ihrem Hotel gesehen zu haben.«
»Er verließ uns nie.«
»Und dennoch ist, wie der Fürst mir, ohne näher darauf einzugehen, mitteilte, dieser Mann, der nach Ihrer raschen Abreise in Paris zurückblieb, dort verschwunden?«
»So ist es!«
»Ich beabsichtigte, dem Fürsten, Ihrem Bruder, mein Geheimnis mitzuteilen,« fuhr der Kranke fort, »aber sein Dienst hat ihn, wie Sie mir sagten, nach der anderen Seite der Stadt geführt und hält ihn dort fest. Es bleibt mir keine Zeit, seine Rückkehr zu erwarten, und ich mußte mich an Sie wenden. Sie halten jenen Mann – Annuschkas Bruder – für tot?«
»Wir sind überzeugt davon – seine Treue ist zuverlässig und wir hätten sicher von ihm gehört.«
»Er ist es!«
»Wie, Herr von Sazé, Sie kennen das Schicksal Wassili's? Sie wissen von ihm?«
»Ich bin leider überzeugt – diese Hand brachte ihm den Tod, wenn auch unabsichtlich.«
Die Dame schauderte zurück. Schrecken, Angst und Aufregung spiegelten sich auf ihrem schönen Gesicht. Der Kranke sah, wie sie mit Gewalt nach Fassung rang, bis sie endlich die Worte hervorstieß: »Um Gotteswillen, Herr, ich beschwöre Sie, reden Sie – erzählen Sie mir alles!«
»Das ist meine Absicht, Fürstin, und mag zugleich meine Rechtfertigung sein – wenn die Tat sich entschuldigen läßt!«
Die Fürstin winkte ihm, fortzufahren.
»An einem Abend des März im vorigen Frühjahr verfolgte mich am Quai des Cours la Reine ein ziemlich derangiert aussehender Unbekannter und fiel mich plötzlich wie ein wütendes Tier an unter Ausrufungen und Beschuldigungen, die mir gänzlich unverständlich waren und zum Teil noch Rätsel sind. Ich sollte ihm Rechenschaft geben über seinen Gebieter, ich sei sein Mörder und dergleichen mehr. Das Gesicht war mir nicht ganz unbekannt, doch so verwildert, daß ich mich auch später nicht darauf besinnen konnte. Ich stieß ihn von mir, und der Unglückliche taumelte so heftig gegen das Gitter des Flusses, daß er darüber hinweg und in den Fluß schlug, wo er sich am Eisenwerk eines Seineschiffes den Kopf zerschmetterte. Als man ihn ans Ufer trug, war er bereits tot.
Ich wußte es nicht, bis ich verwundet hierher kam. Ich hörte am Tage darauf, daß die Polizei in dem Verunglückten einen russischen Spion entdeckt, doch nicht den Namen. Aber obgleich ich absichtslos und nur in der Abwehr den Tod des Mannes veranlaßt und nicht mehr als einen traurigen Duellausgang verschuldet hatte, konnte ich mich nicht über den Tod des Fremden beruhigen und sein düsteres Bild schwebte lange vor meiner Seele und störte meinen Schlaf.«
Die Fürstin weinte leise vor sich hin. – »Armer Wassili – bis zum Tode getreu!«
»Die Ursache des Anfalles und seine Worte sind mir, wie gesagt, noch ein Rätsel. Ich kann sie selbst nicht einmal auf jenes Duell deuten, denn der Diener Ihres Bruders wußte doch zweifellos, daß es nicht stattgefunden und sein ehemaliger Herr unversehrt in Rußland sich befand. Ich trat, um der langjährigen Zivil-Untersuchung über jenen Vorfall und der unangenehmen Erinnerung zu entgehen, in die Armee, und erst die Erscheinung Annuschkas lehrte mich, jenem traurigen und mich noch immer bedrückenden Bilde eine bestimmte Form zu geben.«
»Es war Gottes Schickung – selbst die Schwester wird Ihnen die Tat nicht zurechnen.«
»Dennoch liegt sie mir schwer auf der Seele, und wenn Sie einem Sterbenden den bösen Augenblick erleichtern wollen, Fürstin, so helfen Sie ihm an der Schwester vergüten, was er am Bruder verbrochen. Ich lebte früher in den Tag hinein und hatte mein Vermögen genossen – ich nenne es genossen, sodaß mein Testament mir gerade kein großes Kopfzerbrechen gemacht haben würde. Das Schicksal hat mir aber eine Malice gespielt, denn vor etwa sechs Wochen erhielt der verarmte Marquis, der seit dem letzten Arrangement mit seinen Gläubigern keine Aussicht mehr hatte, als sein Offiziers-Patent, die amtliche Nachricht, daß er ein reicher Mann geworden. Ein entfernter Verwandter, dessen Namen ich kaum gehört, ein Plantagenbesitzer auf Martinique, dessen ganze Familie durch das gelbe Fieber zum Jenseits befördert ist, hat mich zum Erben gemacht, und der Kapitän de Sazé würde in Paris fünfzehnhunderttausend Franks deponiert finden, wenn er nicht so töricht gewesen wäre, sich vor Sebastopol das Bein zerschmettern zu lassen.«
»Gott kann noch alles wenden!«
»Nein, Fürstin, er hat mehr zu tun, als sich mit einem leichtsinnigen Toren zu beschäftigen. Daß Er aber ist, daß Er die zahllosen Fäden dieses wirren Durcheinander, das wir Leben nennen, dennoch in Seiner Hand leitet,« fuhr der Kranke wieder mit ernsterem, fast feierlichem Tone fort, »das zeigt mir die Fügung, welche meine letzten Stunden durch die Sorge gerade des Mädchens erleichtert, deren Bruder ich erschlug. Mein Wunsch und mein Wille ist, bis auf einige Legate, ihr das Vermögen, das mir der Zufall so rechtzeitig in den Schooß geworfen, zu hinterlassen. Dazu bitte ich Sie, mir behilflich zu sein. Das bloße Niederschreiben meiner letzten Verfügungen würde jedoch kaum dazu genügen, und sie jedenfalls in eine Menge Weitläufigkeiten verwickeln. Kein französischer Gerichtshof aber wird der Marquise de Sazé das ihr bestimmte Erbe streitig machen.«
Er schwieg erschöpft; die lange Unterredung begann ihn offenbar fieberhaft zu erregen, wie sein Auge zeigte. Dennoch hielt es die junge Fürstin für Pflicht zu erwidern: »Annuschka ist mit ihrer Lebensstellung zufrieden. Sie wird unter keiner Bedingung dem, der ihren geliebten, zärtlich betrauerten Bruder getötet, ihre Hand reichen wollen.«
»Aber sie braucht es nicht zu wissen, warum sollte sie es je erfahren?« fragte der Offizier dringend. »Wollen Sie einem Manne, der so vieles gut zu machen hat, den leichten Trost durch eine unnütze Bedenklichkeit verkümmern? Sie wissen so gut wie ich, daß diese Ehe nur Schein, und ehe vielleicht der morgende Tag anbricht, sie Wittwe ist.«
»Ich weiß nicht, wie ich sie zu dem eiligen Schritt bewegen soll.«
»Der Tod, Fürstin, gestattet keine lange Bedenkzeit, das wird auch sie begreifen. Sagen Sie ihr, daß ich für ihre sorgsame Pflege auf diese Weise ihr danken wolle, daß es meinen Tod erleichtern werde und« – um seine blassen Lippen schwebte wieder das leichte, spöttische Lächeln des Lebemannes, der so manches Frauenherz an sich gefesselt – »ich glaube, sie wird sich nicht weigern, Alfred de Sazé's Gattin zu werden.«
Er lehnte sich zurück in die Kissen; die Fürstin empfand, daß sie kein Recht habe, eine Sühne zurückzuweisen, die ihrer Milchschwester und treuen Gefährtin vielleicht eine glänzende Zukunft bereiten konnte. Sie erhob sich und sprach: »Ich gehe, um die Erfüllung Ihres Wunsches zu versuchen, Herr Marquis; Annuschka wird nicht erfahren, wessen Hand ihren Bruder getötet, bis – doch sagen Sie mir das eine noch, wann geschah die unglückliche Tat?«
»Ich erinnere mich des Tages ganz genau, Fürstin, es war am Abend des 26. März. Ihre Landsmännin, die Bagdanoff, hatte in der Oper getanzt und ich war zum ersten Male dort wieder mit Méricourt zusammen nach seiner Rückkehr von Algier. Ich gedenke deutlich des Abends und selbst unseres Gespräches – es handelte sogar von Ihnen und Ihrem Bruder, und er erzählte mir zuerst von dem seltsamen Spiel der Natur, die einem armen Marketenderburschen eine wirklich seltsame Ähnlichkeit mit Ihrem Bruder gegeben.«
Die Fürstin war stehen geblieben und hatte sich lebhaft zu ihm gewandt; fliegende Röte übergoß ihr Gesicht. – »Meinem Bruder Iwan gleich? ich bitte Sie, wer? wo?«
»Ein armer Verrückter oder Schwachsinniger. Der Vicomte traf ihn zuerst in Marseille. Ich selbst sah ihn in Varna und muß gestehen, daß diese enorme Ähnlichkeit mich anfangs erschreckte.«
Die Fürstin preßte die Hand auf die heftig wogende Brust, auf ihrem Antlitz wechselte mehrfach die Farbe, während ihr Mund fast keuchend stammelte: »Und lebt – der Mann noch? Wo ist er? Haben Sie näheres über ihn erfahren? Erzählen Sie mir alles, es – wird Iwan so sehr interessieren, von seinem Ebenbild zu hören!«
»Er gehört zur Kantine der Marketenderin Nini Bourdon vom dritten Zuaven-Regiment, bei dem Méricourt steht. Die niedliche Kleine sorgt wie eine Mutter oder eine Geliebte für den verrückten Burschen, den sie für ihren Verwandten ausgibt. Ich versuchte selbst mehrmals, ihn auszuholen, indeß er ist toll wie ein Märzhase, wenn auch ganz unschädlich, und folgsam wie ein Kind, und die stehende Antwort, die man höchstens von ihm erlangt, ist die konfuse Rede: Elf Uhr, der Zug geht ab!«
Iwanowna Oczakoff hatte sich von dem Erzähler abgewandt, ihm ihr Gesicht verbergend. Mehrere Minuten stand sie so da, ihr ganzes Wesen schien dadurch erschüttert, sodaß es selbst dem Kranken auffiel und er danach fragte. Erst dann schien sie ihre Fassung zurückzuerhalten und mit tiefbewegter Stimme sprach sie: »Ich glaube, Sie hatten Recht vorhin, Herr Marquis, als sie sagten, die Hand des Allmächtigen habe Sie auf dies Schmerzenslager und gerade in dies Haus geführt. Ich erkenne seinen Willen und gehe, mit Annuschka zu sprechen. Jussuf wird einen würdigen Geistlichen, den ich kenne, hierher führen, seine Schwester aber unterdeß bei Ihnen bleiben.«
Sie ging und hieß den Mohren, ihr zu folgen, während Nursädih, die junge schwarze Mutter, auf die Bitte des Kranken ein Schreibpult vor ihn legte und ihm behilflich war. – –
Eine Stunde darauf hatte sich die Szene in dem Zimmer, das bald der Schauplatz jenes geheimnisvollen Scheidens von Seele und Körper sein sollte, ein wenig geändert. Neben dem Bett des französischen Offiziers saß in einfachem, schwarzen Kleide, den kleinen Myrthenzweig im Haar, der unter dem Donner der Schlachten fortgegrünt auf dem heimatlichen Boden, und von dem Schleier halb verdeckt das bleiche Mädchen, das bald zur jungfräulichen Frau werden sollte, die Hand des Kranken mit halb scheuem, halb zärtlichem Blick in der ihren: denn das scharfe Auge des Franzosen hatte sich nicht getäuscht, und es weniger Überredung der Fürstin bedurft, als diese gefürchtet. Die Herrin selbst ging unruhig im Zimmer auf und ab, während schweigend und achtungsvoll ein französischer Korporal, gleichfalls Gefangener, den in der Heilung begriffenen linken Arm in der Binde, in der Nähe Nursädihs an der Türe saß.
Diese öffnete sich jetzt und Jussuf führte einen ehrwürdig aussehenden Mann in der Kleidung der russischen Geistlichkeit herein. Seine Rechte hielt in einem Körbchen die heiligen Gefäße, während er auf dem anderen Arme ein kleines Kind von etwa anderthalb Jahren trug.
Die Fürstin eilte ihm entgegen. – »Nehmen Sie unsern Dank, ehrwürdiger Vater Basili Polatnikow, daß Sie unserer Bitte gefolgt sind, und geben Sie uns Ihren Segen.«
Der Pope, die heiligen Gefäße niederstellend, machte das Zeichen des Kreuzes über ihrer Stirn. – »Der Segen des Herrn ist bei Dir und den deinen, o meine Tochter, denn Dein Herz gehört ihm, und wer tut wie Du, ist der Fürsprache der Heiligen sicher.« – Er sah umher, wohin er das Kind auf seinem Arm, einen munteren Knaben, setzen könne, als Annuschka zu ihm trat und ihn bat, es ihr zu geben. – »Es ist eine Waise,« erzählte der Priester auf einen fragenden Blick der Fürstin, »auf dem Meere geboren, inmitten von Kampf und Tod. Die griechische Mutter zahlte sein Leben mit dem ihren und übergab den Knaben sterbend meiner Sorge. Er hat keinen Verwandten mehr, da auch sein Oheim, einer der Kapitanis des Fürsten Marosini, beim großen Ausfall des Generals Chruleff gefallen ist.«
»Aber warum lassen Sie das Kind nicht bei Ihrer Familie, hochwürdiger Vater?«
Der ehemalige Kaplan des »Wladimir« beugte in schmerzlicher Ergebung das Haupt. – »Der Herr,« sprach er traurig, »hat auch mich schwer heimgesucht, wie ganz Rußland, – mein Weib und meine beiden Töchter sind die Opfer der Seuche innerhalb dreier Tage geworden, und mein Haus ist öd und verlassen. Dieses Kind hat niemand als mich, für sein zartes Alter zu sorgen.«
»O, so lassen Sie es mir,« sagte die junge Braut rasch und errötend, »lassen Sie mich dafür sorgen und so die Mutterpflichten erfüllen. Wir wollen es pflegen und warten in diesen Schreckenstagen, bis Gott über uns anders bestimmt.«
»Annuschka tut Recht, ehrwürdiger Vater,« sprach die Fürstin, »und ich vereine meine Bitte mit der ihren. Wie konnten Sie auch uns in Ihrer Not vergessen! Gott gebe den Ihren Frieden und Ihnen ein seliges Wiedersehen – dieses Kind des Unglücks aber gehört hinfort unserer Sorge.«
Sie erfaßte die Hand des Geistlichen und führte ihn zu dem Lager des Kranken, ihn von der heiligen Pflicht unterrichtend, die man von ihm verlangte, und von dem Zustande des Offiziers, der zugleich eines zweiten, noch feierlicheren Sakramentes bedürftig sei. Der Geistliche verstand so viel Französisch, um einige Fragen an den Kranken über die Handlung zu richten, der er die kirchliche Weihe erteilen sollte, und während er einen Tisch zum Altar improvisierte, winkte der Offizier den Anwesenden, näher zu treten.
»Ich bitte Sie, Kamerad,« sagte er zu dem gefangenen Korporal, »wenn Sie ausgewechselt werden und unser Frankreich wiedersehen, stets zu bezeugen, daß diese Heirat von mir im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte und nach reiflicher Überlegung geschlossen ist. Dieses Papier, Durchlaucht, das ich in Ihre Hände lege, enthält meinen letzten Willen. Er sichert meiner Gattin mein sämtliches Vermögen – mit Ausnahme einer Summe in Gold und Wechseln, die mir von Paris mit der Nachricht des Erbes ins Lager überbracht wurde und die ich – jener Frau bestimmt habe, die ich im November aus Ihrem Schloß Ayu davon führte. Madame Celeste wird sich damit trösten. Haben Sie die Güte, durch Ihren Bruder mit dem nächsten Parlamentär diese Schrift und die begleitenden Zeilen an den Vicomte de Méricourt ins französische Lager zu senden, ich habe ihn zum Vollstrecker meines Willens ernannt und weiß, daß er ihn erfüllen wird. Und jetzt bitte ich Sie – lassen Sie die Zeremonie beginnen, ehe es zu spät wird.«
Der Priester trat mit dem heiligen Buch vor den Altar, während Annuschka weinend an der Seite des Bettes kniete. Die Fürstin und der Korporal bildeten die Zeugen, während die schwarzen Geschwister mit den Kindern, ehrerbietig zurückstehend, ihr beiwohnten. Leise und feierlich klangen die Worte der Weihe durch das Gemach, nur von dem Donner der Kanonen unterbrochen. Als der Priester die Zeremonie des griechischen Ritus geendet und die beiden Ringe, die die Fürstin ihm reichte, dem Paare angesteckt, erhob er seine Stimme im Gebet zu dem Allmächtigen, seinen Beistand zu erflehen für die letzte schwere Stunde des Mannes, der so eben jene beging, die sonst des Lebens süßeste ist. Alle umher lagen auf den Knien, selbst der Mohr mit seinem fatalistischen Glauben vom Sterben fühlte die heilige Bedeutung und wandte sein Haupt gen Mekka, und er, den das Gebet am meisten berührte, er selbst, der dem Tode Geweihte, fühlte das Gebet mit, dessen Worte er nicht verstand.
Er war der erste, der wieder das Wort nahm und die Fürstin und den Popen ersuchte, zur Stelle das Dokument über die vollzogene Trauung auszufertigen, das Iwanowna versprach, von dem Gouverneur, General von Osten-Sacken, selbst ratifizieren zu lassen. Dann bat er, ihn der Pflege seiner nunmehrigen Gattin für eine Stunde zu überlassen.
Der ehrwürdige Geistliche des »Wladimir« schied, von der Fürstin bis zur Tür begleitet, um an dem Schmerzenslager seiner tapferen Landsleute die heiligen Pflichten des Trösters zu üben, indem er versprach, am Abend nochmals zurückzukehren, und empfahl das Kind ihrem Schutze.
Er sollte es nicht wiedersehen! In der Nähe der Wladimir-Kathedrale, als er das Marine-Lazarett verlassen und die Brücke über den Kriegshafen passiert hatte, traf ein Stein sein Haupt, den eine gefallene Bombe von dem Gewölbe des Doms schmetterte. Soldaten trugen ihn an die Stufen des Altars, wo er den Geist aufgab.
Zur selben Zeit eilten die Fürstin Oczakoff und ihre Diener, durch den Hilferuf Annuschkas herbeigelockt, in das Gemach, in dem die Braut bei dem Gatten zurückgeblieben. Annuschka hatte die Tür aufgerissen, ihr Auge blickte verstört und erregt, der Kranz war von den fliegenden blonden Zöpfen gefallen, ihr einfacher Putz derangiert, und schluchzend rang sie die Hände; auf dem Feldbett aber lag, in der geschlossenen Hand noch den Brautschleier der jungen Gattin zusammenkrampfend, der Lion der pariser Salons, der Mann der Mode und des Genusses, mit all den traurigen und edlen Seiten des französischen Charakters begabt – Alfred de Sazé – starr und tot!
Mit dem Wechsel des Oberkommandos der französischen Armee war auch eine andere Stellung der Truppen eingetreten und die Franzosen richteten ihre Hauptstärke jetzt wider die linke Flanke der Festung, gegen die Schiffervorstadt und die diese verteidigenden älteren und neueren Werke. Hier stand das Korps Bosquet mit den Divisionen Canrobert, Camou, Dulac und Brunet, noch immer die Verschanzungen auf dem Sapunberg, als den Haupthalt seiner Stellung, bewahrend. Auf dem rechten Flügel, an der Tschernaja lehnend, befand sich jetzt die sardinische Division Durando mit einem englischen Husaren- und Ulanen-Regiment. Den Zwischenraum nahmen drei türkische Divisionen Omer-Paschas ein.
Am Abhang des Sapunberges, wo derselbe sich gegen den Dokowaga- und Kilengrund senkt, stand das Lager des ersten und dritten Zuaven-Regiments. Mitten zwischen den Zelten und Baracken, mit den seltsamsten Ausstaffierungen, erhob sich auf einem freien Vorsprung eine große und mit besonderer Sorgfalt erbaute Kantine, die offenbar mehrere geräumige Abteilungen hatte, und um welche schon während des ganzen Vormittags ein überaus reger Verkehr geherrscht hatte. Es war die Marketenderbude des ersten Bataillons des dritten Zuaven-Regiments, die Kantine Nini Bourdons, durch die Unterstützung des Vicomte auf das stattlichste hergerichtet und der Hauptsammelplatz der ganzen umlagernden Truppen.
Ein buntes Leben entfaltete sich vor und in dem halb aus Linnen und Segeltuch, halb aus festem Holzwerk gebildeten Bauwerk. Das Genie der in allen Sätteln gerechten und in allen Künsten erfahrenen, berühmten und berüchtigten Soldaten Algeriens hatte sich offenbar aufs Höchste abgemüht, hier etwas ganz außerordentliches zu leisten. Über dem breiten, mit einer jetzt etwas zurückgeschlagenen Leinwandgardine dekorierten Eingang der Kantine wehte die Fahne des Regiments, denn Oberst Maurelhan-Polkes hatte in einer angebauten Baracke sein Quartier genommen. Trophäen von russischen Waffen, von den Schlachtfeldern erbeutet, alte Fezbinden der Zuaven und ein großer ausgestopfter Adler, den ein geschickter Schütze aus den Lüften geholt, schmückten das Portal, dessen gloriöse Schönheit trotz alledem in den Schatten gestellt wurde durch einen höchst seltsamen Nebenbau. Es war dies ein etwa fünfzehn Schritt breites und einige Fuß über dem Erdboden erhöhtes Gerüst, vorn einen viereckigen, von Laubwerk, bemalten Brettern und alten Tapeten und Teppichen gebildeten Rahmen zeigend, der durch eine Art Vorhang geschlossen war. An einer hohen, mit verschiedenen Flaggen gezierten Stange schwebte darüber ein großes Plakat mit der Inschrift: » Théâtre national des Zouaves de Sa Majesté l'empereur Napoléon III. et du Général Bosquet.« Ein geschriebener Zettel, am Vorhang angeheftet, verkündete, daß mit höchster Genehmigung seiner Exzellenz des Generalissimus die Zuaven des ersten und dritten Regiments die Ehre haben würden, nach dem Diner aufzuführen das berühmte und beliebte Vaudeville: » Le retour de Crimée« mit nachfolgenden kosakischen und spanischen Nationaltänzen. Alles gegen beliebiges Entree zum Besten der Verwundeten in den konstantinopolitanischen Lazaretten.
Ein Halbkreis von roh gezimmerten Tischen und Bänken umgab den Eingang der Kantine und das weislich daneben gebaute Theater, so das Auditorium der höheren Stände bildend, während für die unteren Grade des sehr gemischten Publikums eine Reihe von Erdgraben vor dem Theater gezogen waren, in denen die Zuschauer nach Lust und Belieben in hundert verschiedenen Stellungen saßen und lagerten, gleich im Parkett eines Theatersaales. In der Zeit, wo die dramatischen Talente der Zuaven noch nicht beschäftigt waren, dienten Tische und Bänke, wie gegenwärtig, zum gewöhnlichen Versammlungsort, und nicht selten waren selbst kommandierende Generäle die Gäste der hübschen Nini.
Eine bunte Menge füllte jetzt jeden Platz innerhalb und außerhalb der Baracken, vorherrschend freilich die Zuaven mit dem kecken, selbstbewußten Aplomb, der unvergleichlichen Negligence ihrer Haltung, den Fez auf einem Ohr, die Hände in den Taschen, teils umherschlendernd, teils in Gruppen trinkend, spielend, fluchend, prahlend, kochend oder auf hunderterlei Weise beschäftigt. Dazwischen alle Uniformen der französischen Armee und Flotte, die algierischen Scharfschützen, die Mariniers, die kecken, kleinen, prahlerischen Voltigeurs, die Husaren und Dragoner von d'Allonville's Division, einzelne schwere Kürassiere, Matrosen, Schiffs-Offiziere und Artilleristen: daneben neugierig und demütig, von den Franzosen verlacht und bewirtet, einige Türken oder in ihre Burnusse und Kopftücher trotz der Hitze gehüllte Araber – bekannte Erscheinungen für diese tapferen, in der Sonne Afrikas gebräunten Truppen. Ein schwer betrunkener englischer Matrose schwankte auf einem Esel umher; wie eine Fregatte im Sturm. Um den Stamm eines verkrüppelten Feigenbaumes war eine Gruppe von Offizieren versammelt, die dort angeheftete englische Ankündigung eines großen Wett- und Jagdrennens studierend; eine große Zahl von Gesindel, wie sie jedes Lager mit sich bringt, Handelsleute, Tartaren, Hausierer aller Art: – das alles lagerte und bewegte sich in bunten Gruppen umher.
Durch den offenen Eingang zur großen, gleichfalls mit Tischen besetzten, vordern Abteilung der Kantine sah man die Demoiselle de Kontor in ihrem kleinen, mit vieler Zierlichkeit arrangierten Bureau; aber die schlanke, junonische Gestalt, das Cendré des Haares, das mattgefärbte schöne Gesicht mit dem Auge voll Genußsucht und Eitelkeit gehörte nicht der Herrin der Kantine selbst, der zierlichen gewandten Nini an, sondern Celesten, der ehemaligen Lorette, der Bojarenfrau, der Maitresse des Russen Wassilkowitsch! Das Schicksal hatte eigentümlich mit den beiden Freundinnen gespielt, seit jenem verhängnisvollen März-Abend in der rue de St. Joseph.
Nini selbst war in den zwei Jahren eine andere geworden. Ihre noch immer zierliche Gestalt schien doch kräftiger und bedeutender, das kindlich frohe Wesen hatte sich mit einer festeren Haltung gepaart, das Leben mit seinen Sorgen hatte offenbar ihre Erziehung geleitet und, ohne der Naivetät ihres Charakters zu schaden, doch eine größere Sicherheit im Handeln und Auftreten herbeigeführt. Beweglich, gleich einem hüpfenden Vögelchen, war sie bald hier, bald dort, die zahlreichen Gäste zu bedienen, oder mit All und Jedem plaudernd und ein Scherzwort oder eine flüchtige Erzählung wechselnd – bald wieder in der Küche der Restauration, wo eine ältere Marketenderin, deren sich mehrere dem jungen Mädchen angeschlossen und untergeordnet hatten, die Aufsicht führte. Die kokette Marketendertracht in den Farben des Regiments, blau, rot und grün, stand dem Mädchen allerliebst, wie sie so zierlich zwischen den Tischen umher eilte und dabei noch Zeit behielt, ihre liebevolle Aufmerksamkeit zwei Personen besonders zu widmen, zwischen denen sich ihr Herz zu teilen schien.
Der Eine war ein kräftiger, kühn ausschauender Korporal von etwa fünfundzwanzig Jahren, das männlich freie und hübsche Gesicht vom langen, dunklen Bart umschattet, der mit mehreren Kameraden an einem Tisch außerhalb der Kantine saß und häufig, wenn er sich unbemerkt glaubte, einen finsteren, halb spöttischen Blick nach dem improvisierten Kontor und seiner schönen Inhaberin warf, die von einem Schwarm jüngerer und älterer Offiziere umgeben war, mit denen sie sich nachlässig unterhielt. Es war François Bourdon, der Bruder der kleinen Marketenderin.
Die zweite Person, welche die besondere Fürsorge Ninis genoß, war der bleiche, geistesschwache Bursche, dessen merkwürdige Aehnlichkeit mit dem russischen Fürsten schon so vielen Personen aufgefallen war. Still und teilnahmslos schlich er zwischen den Gästen umher, von denen die meisten mit ihm bekannt schienen und verrichtete eben so Alles, wie ihm geheißen ward. Sein leerer Blick belebte sich nicht einmal, wenn Nini ihm einige freundliche Worte sagte oder ihm aufmunternd die hohle Wange klopfte, eine Liebkosung, die mehr als Einer mit neidischem Auge sah und für die mancher Tapfere willig zum Sturm auf eine russische Redoute marschiert wäre.
Nur einmal, als Nini am Kontor Celestens stehen blieb, mit dieser einige Worte wechselnd und der tote Blick des Burschen von François auf die Gruppe der beiden Frauen schweifte, überzog ein flüchtiger Blitz von Gedanken das hagere junge Gesicht; er rieb die Stirn mit der Hand und starrte, wie emsig eine Erinnerung suchend, in's Leere. Wenige Augenblicke darauf schien jedoch die erregte Gedankenfolge wieder unterbrochen und er verrichtete teilnahmslos nach wie vor die Geschäfte der Bedienung, wobei er manchmal auf einige Zeit in einem der hinteren Räume der Kantine verschwand. –
Die Gruppe an dem Tisch, an dem François saß, bestand aus dem Sergeant-Major, der mit dem jungen Kameraden an der Alma und bei Inkerman die Wagnisse ausgeführt, den Aermel seiner Jacke mit Galons bedeckt und Mamsell Minette, die erste Kletterin des Bataillons, neben sich, – aus einigen anderen Soldaten der Kompagnie, zwei Voltigeurs vom 20. Regiment und einem algierischen Scharfschützen. Die Unterhaltung war äußerst lebhaft und drehte sich teils um die Tagesereignisse des Feldes, teils um die inneren Angelegenheiten von Küche und Theater.
»Paßt auf, Kinder,« sagte der Sergeant-Major, »es giebt morgen einen Tanz, wenn auch die Generale noch geheim tun und die Köpfe zusammenstecken. Man hat nicht umsonst seit drei Tagen Kugeln gefahren und die armen Kerle, die Türken, wie Maultiere in den Magazinen arbeiten lassen. Da, Bursche,« fuhr er fort, indem er einem langsam vorüberschreitenden Araber das Glas hinreichte, »trink' einmal, es ist ächter Wermut, von Deinen eigenen Bergen gepflückt, die doch nichts weiter hervorbringen, als das bittere Kraut, und das Gewürm, die Kabylen.«
Der Angeredete war ein junger, schöner Araber, offenbar einer der Führer, und wer ihm näher ins stolze, finstere Auge geschaut, hätte in ihm unmöglich Abdallah ben Zarugah, den Emir der tapferen Reiter der Hedja's, verkannt. Er hüllte sich, mit verächtlicher Geberde den Trank zurückweisend, in seine weiten, weißen Gewänder und schritt weiter, dem Eingang der Kantine zu.
» Peste! Verschmäht der Schuft von einem Koranfresser mit einem Feldwebel der dritten Zuaven zu trinken? Ich will –« er griff nach seiner Katze, um das Tierchen verächtlich auf den Mohamedaner zu schleudern, doch François hielt ihn am Arm fest.
»Ruhe, Papa Fabrice! Es ist der Aga, der den Griechenoffizier im vorigen Monat verwundet und gefangen, und der alle Tage kommt, um nach ihm zu schauen. Laß ihn gehen – Du weißt, daß der Kommandant jede Beleidigung ahnden würde.«
» Maudit soit le butoir! Ich will wegen eines Spitzbuben von Beduinen nicht im Loch stecken, wenn vielleicht ein Gefecht vor der Tür steht. Komm her, Minette, sei ruhig, mein Tierchen, und beiße Dich nicht mit dem gelben Burschen da, die Messieurs Beefsteaks werden Dir Revanche geben und heute seine Kameraden hetzen.«
Minette, die Katze, war nämlich mit dem berühmten Hund des 20. Linien-Regiments, der stets vor der Tête hermarschierte und den die Voltigeurs auf das Apportieren der Kugeln, ja selbst von Bombenzündern abgerichtet hatten, in argen Streit geraten und rasch, mit der leichtsinnigen Teilnahme des französischen Charakters für alle Intermezzos, bildete sich ein Kreis um die beiden Gegner. Ein Fußtritt des Voltigeurs jedoch, welcher den Hund mitgebracht, stellte den Frieden wieder her. – » Sandioux« (Gottes Blut!) wetterte der Gaskogner, »will sich das Vieh mit einander zanken, während die Russen dazu vom lieben Herrgott ganz expreß erschaffen sind! – Nichts da – hierher, Groscanon – Kusch!« und er steckte ihn zwischen seine Beine, während der Zuave die Katze vor sich hinlegte und mit ihr spielte.
»Wem mag es gelten?« sprach der Scharfschütze, kokett seine gelbe Weste ordnend und den Dampf aus der Zigarre in blauen Ringeln vor sich blasend.
» Sacristi! wem anders, als dieser verfluchten Lünette! Sie liegt unserm Dicken im Kopf und wurmt ihn schon lange. Es wird Blut kosten. Wann soll der Spektakel losgehen?«
»Die Kanoniere sprachen von diesem Nachmittag.«
»Ah, Mordioux! deshalb gibt man uns die Theater-Vorstellung zum Kaffee nach Tisch. Ich hörte davon, daß die Schanze des kleinen Fossoyeur Fossoyeur, Totengräber, ein Beiname, den die Soldaten dem General Canrobert gaben wegen eines Bulletins, in dem er die Approchen »Gräber für die Besatzung von Sebastopol« genannt. in Stand gesetzt worden und die schwarzen Batterien. Es ist nobel von dem Kleinen, daß er keinen Anstand nimmt unter dem Dicken zu dienen.«
» Parbleu! kann er sich etwas Besseres wünschen?
»Einen General wie unsern Afrikaner, bekommt er nicht alle Tage wieder.«
»Bei all' dem ist's hübsch. Es hat jeder seine Art und jedenfalls war die seine noch immer besser als die Trägheit des ›Wettermännchens‹ Lord Raglan war wegen seiner eifrigen Witterungsbeobachtungen unter diesem Spottnamen bekannt., das nichts tut, als den ganzen Tag Schach spielen und Zeitungen lesen. Er soll nicht ein einziges Mal die Lazarette besucht haben, und das tat selbst der verstorbene Marschall in Varna.«
»Wißt Ihr, daß der Ober-General heute hinüber geritten ist zu den Engländern?«
»Bah! er wird sehen wollen, wie weit sie mit den Laufgräben am Redan sind.«
Der Voltigeur schüttelte schlau mit dem Kopf. – »Das kümmert den General wenig, er wünscht die ganze Sippschaft zum Teufel. Aber Vitrolles, sein alter Ordonnanz-Zephyr, hat mir gesagt, daß das Barometer auf Sturm steht. Der Bursche kennt seine Mienen.«
»Dann Gnade Gott den Engländern, er bratet sie bei lebendigem Leibe wie die Araber-Familien in der Höhle von Djebel Debbag.«
»Brr!« machte der zweite Voltigeur; »die Geschichte ist zu abscheulich, als daß sie wahr sein könnte.«
Der alte Zuaven-Sergeant sah ihn grimmig an. – »Halt's Maul, Rekrut, nicht räsonniert, was verstehst Du davon! Ich sage Dir, ich, der Sergeant-Major Fabrice Tonton, es ist wahr, wie ich dieses Glas hier trinke. Ich war dabei, und ein abscheulicher Gestank war's, als die siebenhundert Männer, Weiber und Kinder so in dem Rauch erstickten von dem Holz, das man vor der Höhle aufgehäuft.«
»Wie, Du halfst bei der schändlichen Tat?« fragte unwillig der junge Bourdon.
»Wir Zuaven nicht, François,« sagte ernst der Sergeant, »wir sind zwar wilde Teufel und fragen leider wenig genug nach Gott und den Heiligen, aber gegen Weiber und Kinder und unbewaffnete Männer möchten wir doch nicht die Hand erheben. Es war bei der Gelegenheit, als er dem Kommandanten Vergier, der damals Unter-Leutnant war, befahl, seine Soldaten Holz herbeitragen zu lassen, und dieser statt der Antwort seinen Säbel abgab und sich zum Arrest meldete. Der General war außer sich und schimpfte wie eine Dame der Halle von Feiglingen und Memmen mit Weiberherzen, die nicht verdienten, Krieger zu heißen, da – –«
»Nun, Fabrice – weiter?«
»Da sah ich mit diesen meinen Augen den Leutnant auf ihn zuspringen, ihn an den Schultern fassen und schütteln, wie man einen Schulbuben schüttelt, indem er ihm zuschrie, er möge erst Höflichkeit lernen, wenn er französischen Offizieren befehlen wolle.«
»Der Unglückliche! – Und der General?«
»Bah! Er machte sich los und sagte: ›Ist das ein Vieh, aber ich brauche viele solche Kerle!‹ – zum Leutnant aber sprach er: ›Monsieur, ich nehme Sie in meinen Stab; wir wollen sehen, ob Sie andere auch so schütteln werden.‹ – Der Leutnant kommandiert seit zwei Jahren sein Bataillon bei den zweiten Zuaven, und die Teufel, die Zephyrs, erhielten den Befehl, die Höhle auszuräuchern, und befolgten ihn. Wir aber standen dabei, das Gewehr im Arm und – zum Henker mit der garstigen Erinnerung!«
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und pfiff den Zuaven-Marsch vor sich hin.
»Madame Celeste,« warf einer der Kameraden hin, »scheint heute verteufelt unruhig, ihre Augen rollen wie zwei feurige Kohlen, und sie scheint zu suchen, was sie nicht findet. – He, Jean!« rief er dem in die Nähe kommenden Schwachsinnigen zu, »bring mir ein frisches Glas Wasser, mein Bursche – Absynth, echtes Schweizer Gewächs.«
Der junge Mensch nahm gehorsam das Glas, indem er ihn mit den leeren, irren Augen anstarrte. – »Elf Uhr – der Zug –«
»Weiß schon, mein Bursche, kenne das Lied. Mach, fort und bring mir den Absynth und frag' in der Küche nach, ob sie den Truthahn nun bald gebraten haben, den ich heute Morgen eingeliefert.«
Korporal Bourdon war trotz aller Mühe, die er sich gab, ruhig zu sein, das Blut auf die Stirn gestiegen, und er sah finster nach der leichtsinnigen Jugendgeliebten hin. In dem Augenblick wurde der Vorhang der nahe gelegenen Bühne etwas beiseite geschoben und ein merkwürdig ausstaffierter Bursche schaute heraus und suchend umher.
Es war ein bärtiger Zuave mit schielendem Blick, den Kopf in eine abscheulich zerknitterte Weiberhaube gesteckt und um Kinn und Ohren ein Tuch gebunden, um den roten Bart darunter zu verstecken, den er sich nicht hatte entschließen können, der Kunst zum Opfer zu bringen. Den untern Teil des Körpers hatte er in einen langen Weiberrock gehüllt, dessen aufgenommene Falten er um den linken Arm geschlagen trug.
»Pst – François – François Bourdon!«
»Sind sie da?«
»Wer?«
» Maudit! Wen kann ich anders meinen, die Garden?«
»Nein – kein einziger!«
»Das ist schön. – Que le diable les importe! sie mögen bleiben, wo sie sind! Schade nur, daß sie unsere schöne Vorstellung nicht sehen können. Die hochnäsigen Narren hätten sich geärgert zum Schwarzwerden – ich bin göttlich als Fürstin Mulaschpulaschkin! Wir haben soeben meine große Szene probiert.«
Ein schallendes Gelächter der Nächstsitzenden unterbrach die bärtige Actrice, deren Erscheinung man eben erst bemerkt. Der Kopf verschwand eiligst hinter dem Vorhang, und nur Mund und Nase waren noch zu sehen. – »Was habt Ihr da zu lachen, Ihr Narren? Habt Ihr noch keine russische Dame im Negligée gesehen? Fichtre! Erobert Sebastopol, dann könnt Ihr sie im allerdurchsichtigsten haben aus erster Hand, wie unsere Kameraden, die Bulls, in Kertsch! Ihr tätet gescheidter, wenn einer lieber den Saufaus Lebrigaud suchte, der sich noch immer umhertreibt, indes sein Popenkostüm längst bereit liegt. Ich wette drei Flaschen Wein gegen einen gestohlenen Schinken, das Publikum wird abgespeist und seine Plätze eingenommen haben und der Halunke ist noch immer nicht zur Stelle.«
»Dort unten zieht er mit einem betrunkenen englischen Matrosen umher!«
»Ich will ihn holen!« sagte Bourdon und stand auf.
» Ah! – joli garçon! Du verdientest einen Kuß, schöner Korporal, wenn die Fürstin Mulaschpulaschkin nicht schon engagiert wäre. Laß Dir ihn jetzt von anderer Seite geben, mein Junge, das Feld ist rein.«
Während Bourdon unter dem Gelächter der Kameraden sich bereits entfernte, fragte der Sergeant-Major: »Was meinte der Kerl mit den Garden? Morbleu! es ist wahr, ich habe heut noch keinen von den goldbetreßten Narren in der Kantine gesehen, die sie sonst förmlich belagerten.«
Die Umsitzenden schwiegen, indem sie sich anschauten, und ihre bedeutsam gewechselten Blicke verrieten, daß ihnen die Ursache nicht unbekannt war.
» Parbleu! werd' ich Antwort bekommen? Weiß jemand, warum die Garde sich heut nicht blicken läßt?«
»Ei, Papa Fabrice,« sagte eine helle und heitere Stimme neben ihm, »sollten Sie wirklich die große Neuigkeit des Tages nicht wissen, die, wie man sagt, schon drei Duelle gekostet hat?«
Der Sergeant-Major hatte sich rasch und galant zu der hübschen Sprecherin umgewandt, indem er ein süßsaures Gesicht zu der ihm gewordenen Benennung schnitt. »Es ist wahr, Mademoiselle Nini,« sagte er, »daß ich recht gut Ihr Vater sein könnte, aber Sacristi! die verteufelte Gewohnheit der Burschen da, mich Papa Fabrice zu nennen, klingt aus Ihrem hübschen Munde für einen Anbeter noch in den besten Jahren eben nicht angenehm! – Doch – was ist denn geschehen und wissen Sie wirklich die Ursache? Haben die Garden ihre Lager abgebrochen oder was ist passiert?«
»Ei, ei, Papa Fabrice,« lachte die Marketenderin schelmisch, »Sie müssen heute Morgen lange geschlafen haben!«
»Ich gestehe es zu meiner Beschämung, Mademoiselle. Wir sind nicht am Dienst – und Ihr Bruder spendierte gestern Abend noch spät einen Korb mit Brussawein, der so leicht durch die Kehle rollt! Aber der Henker soll die Narren hier holen, daß sie mir nicht längst – –«
»Ruhe im Glied, Papa Fabrice, sonst erfahren Sie nichts! Sie wissen ja, daß die Herren der Garde keinen Dienst in den Trancheen zu tun brauchen!«
» Parbleu! was werd' ich nicht? Die Faullenzer haben drum Zeit genug, zu schniegeln und zu bügeln, von morgens bis abends sich hier umherzutreiben und den wenigen Damen, deren Anwesenheit allein uns hier den Dienst versüßt, die Köpfe zu verdrehen.«
»Wenn Sie auf mich zielen, Papa Fabrice,« sagte Nini lachend, »so geht der Schuß vorbei. Mit meiner Freundin Celeste – das will ich nicht verschwören! Seit der schöne Husaren-Aide-de-Camp getötet oder gefangen ist, geht es ihr schlecht, und sie braucht Zerstreuung. Es ist aber doch ein boshafter Streich, den man gegen die Herren von der Garde verübt hat.«
»Ich bitte, sprechen Sie, Mademoiselle.«
Die hübsche Marketenderin hatte ein Stück Kreide aus der Tasche geholt. – »Da, sehen Sie, Papa, das haben boshafte Hände in vergangener Nacht an die Zelte der Garde geschrieben. Man las es heute Morgen und es ist ein wahrer Aufruhr entstanden.«
Der Sergeant-Major war den kecken Krähenfüßen des Mädchens gefolgt und las:
» LA GARDE deMEURe ici, ET NE SE REND PAS aux tranchées!«
Ein allgemeines Hohngelächter begleitete den Vortrag der Worte; selbst der Sergeant-Major konnte, den bis über den Hals herabfallenden Schnurrbart streichend, ein wohlgefälliges Lächeln nicht unterdrücken, denn das Privilegium der Garden war allgemein verhaßt und hatte schon zu vielen Zänkereien Veranlassung gegeben.
» Peste! Ich glaube wohl, daß ihnen da der Ärger zu Kopf gestiegen, denn der Spaß ist vortrefflich. Aber ich begreife immer noch nicht, warum sie deshalb von der Kantine fortbleiben. Gegen Verdruß ist ein tüchtiger Schluck ein Radikalmittel.«
Nini schien mit der Antwort zu zögern. – »Ich habe gehört,« sagte sie endlich, »daß sie die Zuaven beschuldigen.«
»Ah so, mein Engel. – Sie könnten Recht haben, denn ich versteh' mich auf die Burschen. Nun weiß ich auch, warum Madame Celeste so ärgerlich ausschaut. Sie ist besorgt, daß der reiche Graf von Pontéve's Grenadieren, der ihr den Hof macht, seit sie beim Kontor angestellt, ihr aus dem Garn geht. Parbleu! da kommt einer, dem ich den Streich auf den Kopf zusagen möchte, wenn nicht gar Ihr Bruder selbst mit dabei gewesen ist – das ist ohnehin so ein halber Gelehrter!«
Die Prozession mit dem Maultier und dem betrunkenen Engländer war herangekommen; der Soldat, der das Tier führte, Lebrigaud, der gesuchte Akteur.
Der Mann war der wahre Typus eines Zuaven, ein ausdrucksvollerer, von wilderer Energie strotzender Kopf war kaum denkbar. Wie alle Zuaven trug er den Schädel rasiert, aber auf dem oberen Teil der Stirn, wo der Fez aufsitzt, zeigte sich ein Gürtel von tätowierten Figuren. Auf dem Mittelfinger der rechten Hand hatte er eine Frauenfigur mit griechischen Formen, auf jenem der linken den Kopf einer Römerin eingegraben. Herzen mit Namen und Kränzen waren auf den anderen Fingern ausgestochen, seine muskulösen Arme wahre Bilderrollen, gleich der berühmten Gallerie Leporellos. Die ganze Armee kannte ihn und wußte, daß er schon zweimal zum Tode verurteilt und zu langjähriger Kerkerstrafe und Kugelschleppen begnadigt worden war. 1840 bei der afrikanischen Armee unter den Zephyren eingetreten, verging er sich schon zwei Jahre darauf gegen seine Vorgesetzten derart, daß das Kriegsgericht das Todesurteil fällte. Aber Marschall Bugeaud brauchte einen Mann, dem er eine gefährliche Sendung durch das Land der Kabylen auftragen wollte und Lebrigaud erbot sich dazu. Er führte seinen Auftrag unter tausend Gefahren aus, und der Marschall erließ ihm die Strafe. Im Jahre 1850 wurde er zum zweiten Male begnadigt, nachdem er seinem Korporal im Zank um ein Mädchen ein Ohr abgehauen und aus Eifersucht gegen den Bevorzugten die Geschichte selbst angegeben hatte. Für die Almaschlacht hatte er von Canrobert die Tapferkeitsmedaille erhalten – er gehörte vor Sebastopol zu den enfants perdus und man erzählte hundert waghalsige Streiche von ihm.
Das war der Bursche, den Bourdon herbeiführte. Die Physiognomie des Zuaven hatte durch einen frischen, ziemlich schlecht zusammengeflickten Säbelhieb nicht besonders gewonnen, aber Lebrigaud kümmerte sich wenig darum.
Ein Geschrei und Gelächter empfing ihn, um den sich bald ein bunter Kreis sammelte, und selbst die Schauspieler steckten ihre Köpfe hinter dem Vorhang hervor, um an der Unterhaltung teilzunehmen.
»Wo bleibst Du, Lebrigaud? Willst Du mit uns Truthahn speisen, mein Junge?«
»Zum Henker, wie sieht der Bursche aus? – Du kommst in Arrest, wenn der Kapitän Dich sieht.«
»Pah! Ihr Narren – ich holte mir's bei den Russen; kann man nicht seinen kleinen Krieg auf eigene Hand haben, ohne gerade Napoleon III. zu sein?« Er nickte bedeutsam der Fürstin Mulaschpulaschkin zu.
»Hast Du Händel gehabt?« flüsterte der Zuave.
»Verteufelte – ich glaube, man hat mich erkannt! einer der Grenadiere liegt auf dem Rücken. Es wird Sturm geben.«
Der Sergeant-Major war hinzugetreten. – »Wo hast Du die Schmarre da über Deine Fratze bekommen, Lebrigaud?«
»O, Papa Fabrice, es ist eine alte von damals, als ich Euch bei Inkerman aus den russischen Bajonetten holte, das dumme Ding ist bloß wieder aufgebrochen.«
Die schlaue Antwort entzog ihn einem scharfen Examen, denn der im Dienst sehr strenge Feldwebel drehte sich bei der Erinnerung um und ging brummend nach seinem Platz.
» Goddam, your eyes! I have thirst!« schrie der betrunkene Matrose.
»Wen hast Du?« – »Was sagt er?« fragte es bunt durcheinander.
» O, je le trouvai – c'est mon ami. Car ce John Boule, voyez-vous, ça ne sait pas s'arranger comme nous autres; ça ne sont que des enfants. Puis ça nous zaime! cré nom de chien comme ça nous zaime!« und mit der Gutherzigkeit des echten Bruder Lüderlich hob er mit Hilfe der Nächststehenden den betrunkenen Matrosen, den er wahrscheinlich zum ersten Male in seinem Leben gesehen, von dem Maultier, und eine lebhafte Debatte begann, wie man den Gast am besten amüsieren könnte.
» I have thirst, Johny Crapaud!«
Die mündliche Unterhaltung zwischen den Alliierten dieses Schlages war gewöhnlich für sie selbst und jeden anderen ganz und gar unbegreiflich; sie bestand aus exentrischen aber fruchtlosen Ausfällen des einen in die englische und des anderen in die französische Sprache, wobei der Freund das, was der andere Freund nach seiner Mutmaßung gesagt haben dürfte, verbindlichst in die eigene Muttersprache übersetzte und der erste Sprecher die Richtigkeit der Übersetzung mit dem herzlichsten » Oui, oui« oder » Yes, yes« approbierte.
»Er will das Theater sehen,« schrie Bernaudin hinter dem Vorhang vor. »Gib ihm einen Platz im Parkett, Lebrigaud!«
»Er will uns zum Pferderennen abholen!« riefen andere.
»Er will Würfel spielen, diese John Bouls haben immer Gold!«
»Narren!« sagte lachend der Korporal. »Der Bursche ist ein Schwamm, er hat Durst!«
» Ah! c'est ça, Camarade! Du hast Recht, ich erinnerte mich nicht gleich, daß Du das Kauderwälsch verstehst. Achtung vor Korporal Bourdon, Jungens, er ist ein Gelehrter und der einzige Mensch, vor dem ich Respekt habe.« Lebrigaud, der von kleiner Statur war, die aber ganz Muskel und Lebendigkeit schien, blickte bei den Worten mit einer Art zärtlicher Bewunderung auf den viel jüngeren Mann, der ihn in der Tat einmal windelweich gewalkt hatte, als er seiner Schwester mit Gewalt einen Kuß geraubt. – » Mort de ma vie! ich habe nicht die geringste Eifersucht auf Dich, obgleich Du's bereits zum Korporal gebracht hast, während ich, Narcisse Lebrigaud, seit fünfzehn Jahren den Gemeinen spiele!«
»Mademoiselle Nini! Eine Flasche Wein!«
»Nein – Kognak! Diese Engländer trinken Nichts als Rum!«
»Teufel! Und sie sind doch eine so zärtliche Nation.«
»Zärtlich? wie so?«
»Ei, sie behandeln ihre Weiber wie die Kätzchen. Sagen Sie nicht zu jeder: Mies!?«
Ein brüllendes Gelächter belohnte den schlechten Witz.
»Dafür behandeln ihre Damen sie en Canaille! Sie sagen Mylord, und Mylord …«
»Ist ein Hundename!« – Neues Gelächter, während dessen der Brite, der, ohne eine Ahnung von der Beleidigung seiner Nation, mit grämlichem Blick umherstarrte, in einer der Gruben vor Anker gebracht wurde, die vor der Bühne das Parquet bildeten.
Aus den hinteren Räumen der Kantine kamen langsam im Gespräch drei Männer, denen ein kaum über dem Knabenalter stehender Jüngling, in ein russisches Capôt gehüllt, den linken Arm in einer Binde, die Stirn gleichfalls umwunden, folgte.
Die drei Männer waren der Leutnant-Colonel Méricourt, der deutsche Arzt, jetzt Medizin-Major der dritten Zuaven und Sir Edward Maubridge.
»Es thut mir leid, Monsieur de Lasaroff, daß ich Sie in das Gefangenen-Depôt abliefern muß,« sagte der Vicomte, »aber da Ihre Wunden so gut wie geheilt sind, muß ich meiner Pflicht Genüge leisten, wenn Sie Ihr Ehrenwort verweigern.«
»Mein Herr,« sagte der Jüngling schüchtern, »ich glaube nicht, daß Sie mich deshalb tadeln werden.«
»Nicht im Geringsten, – das ist Ihre Sache. Aber da der Doktor sich heute dafür ausgesprochen hat, daß Ihr Schicksalsgenosse, der griechische Offizier, mit erster Gelegenheit nach Konstantinopel zur bessern Pflege gebracht werden soll, muß ich den Posten einziehen, der Sie beide bewacht, und Sie ins Hauptlager einliefern, damit man über Sie verfügt.«
Der Jüngling verbeugte sich schweigend und setzte sich im trüben Nachdenken an einen der Tische in der Nähe des Verschlages nieder.
Die drei Männer blieben unfern des Komptoirs, an dem jetzt Celeste beschäftigt war, nach Nini's Diktat eine Anzahl Speisekarten auszufertigen, in ernstem Gespräch stehen. Die Strapazen des Winters und des Feldlagers zeigten sich in den gebräunten, festen Gesichtern des Colonels und des Arztes, während die Gestalt des Baronets noch hagerer und gebeugter erschien als da wir ihm zuletzt begegnet, in den Schreckensscenen von Schloß Ayu. Er war in den Farben der Trauer gekleidet, der Flor an seinem Hut galt dem gemordeten Bruder, die eingefallenen Wangen zeigten die hektische Röte, dieses gefährliche Kennzeichen innerlich verborgener schleichender Krankheit. Dennoch lag in seinem Auge, in seiner Haltung eine gewisse Kraft und Entschlossenheit, ein Daransetzen des ganzen Denkens und Lebens an einen bestimmten Zweck.
»So sind Sie also der Ansicht, daß Herr Caraiskakis die Ueberfahrt aushalten kann?« fragte er, zu dem Arzt gewendet.
»Ja, Sir. Lassen Sie mich den unglücklichen Zustand meines Freundes noch ein Mal rekapitulieren, und Ihnen meine Ratschläge geben, denn leicht dürfte dazu in den nächsten Tagen nicht Zeit sein.«
»Ich bitte Sie darum.«
»Als Sie nach unserer merkwürdigen Rettung aus dem Felsenschloß der Yalta, die zwei teure und gute Menschen, gegen welche ich mir leider schweren Undank vorzuwerfen habe, ins Verderben stürzte, – zu mir kamen, Sir Edward, gebeugt von dem Tode Ihres wackern Bruders; – als Sie offen und männlich das begangene Unrecht bekannten und meine Vergebung verlangten, daß Sie mich einem schmachvollen Tode überliefern wollten: – da reichte ich Ihnen aufrichtig die Hand und versprach Ihnen meinen geringen Beistand; denn wir trugen eine gemeinsame Erinnerung an Wesen im Herzen, die Tod und Schicksal von uns gerissen.«
»Aber Ihre Erinnerungen, Sir,« unterbrach ihn finster der Baronet, »waren rein, – an den meinen klebt die Schuld, und das Grab gibt seine Toten nicht wieder!«
»Diona ruhe in Frieden! Ihr seliger Geist möge den bittern Haß zwischen Ihnen und ihrem Bruder sühnen helfen. – Ich begriff, daß Ihr Leben und Denken – zuerst vielleicht aus Eigensinn und Laune, später von der Stimme des Gewissens gefestigt – einzig an der Erlangung Ihres Kindes hing, das Gregor Caraiskakis Ihnen verweigert, ja, von dem Sie nicht mehr als seine Existenz wissen, nicht einmal das Geschlecht. Ich begriff das Gefühl, denn ich empfand, daß ich selbst mein Leben für mein Kind opfern könnte. Ich versprach Ihnen, wie gesagt, meinen Beistand, da Sie nicht von den Mauern Sebastopols weichen wollten, hinter denen Sie Ihren Gegner und vielleicht auch das Pfand seiner Rache glaubten.«
»Der Erfolg hat es bewiesen.«
»Sie haben Recht – Gott selbst hat durch eine seiner wunderbaren Fügungen die Lösung des Rätsels in Ihre Hand gelegt und es dennoch aufs neue verwickelt. Der Handjar des jungen Arabers, der jetzt da drinnen bei seinem Opfer sitzt und dessen Beziehungen zu Gregor Caraiskakis mir selbst fremd sind, hatte den Kopf meines unglücklichen Freundes gespalten bei dem nächtlichen Angriff der griechischen Freischar und der Russen auf die britischen und türkischen Batterien am Mamelon. Es war nicht Zufall, sondern des Allmächtigen Fügung, die Sie am Morgen auf die Kampfstätte führte und den Schwerverwundeten erkennen und aus den Händen der unwissenden Türken retten ließ.«
»Sie, Doktor, waren der erste Gedanke, der mir einfiel; ich wußte, daß Sie mein Freund waren.«
»Ich danke Ihnen für das Vertrauen gegen mich. Sein Fanatismus, der ihn zum Verrat selbst an der Freundschaft führte, hat uns getrennt. Aber ich wäre ein schlechter Mann, hätte sein Unglück nicht jede Erinnerung an seine Verschuldung getilgt und nur das Andenken an unsere frühere Gemeinschaft zurückgelassen. Ich danke es dem Herrn Vicomte hier von Herzen und unserer braven kleinen Bourdon, daß sie mich in den Stand setzten, den Verwundeten nicht seinem Schicksal in einem entfernten Lazarett überlassen zu müssen, sondern ihn hier unter meiner persönlichen Aufsicht und unter steter Pflege behandeln zu können.«
»Aber seine Krankheit – wir sind noch immer so weit vom Ziel wie je.«
»Es ist wahr, die Folgen der Verwundung sind eigentümlich gewesen. Der dicke griechische Fez scheint zwar den Säbelhieb des Arabers aufgehalten und seine tötende Kraft gebrochen zu haben, und die Wunde selbst ist vollkommen geheilt. Dagegen ist hier die in der Chirurgie hin und wieder, doch selten vorkommende Erscheinung einer peripheren Paralyse aller äußeren Nerventätigkeit eingetreten. Der Kranke vermag weder zu sprechen, noch sich zu bewegen. Es läßt sich dies nur durch die Verletzung oder Betäubung gewisser Nervenkomplexe erklären, wie beim Schlagfluß. Wir wissen und sehen alle, daß das volle Bewußtsein und Gefühl ihm längst zurückgekehrt ist, der Ausdruck seines Auges zeigt dies, ebenso ist sein Gehör scharf und unverletzt, der Verstand, das Denken, ist bei ihm in voller Tätigkeit – und ich bin überzeugt, daß die aufopfernde Sorgfalt, die Sie ihm gezeigt, selbst eine Umstimmung seiner Gefühle gegen Sie bereits hervorgebracht hat. Nur daß er gegenwärtig außer Stande ist, sie auszudrücken.«
»Aber Sie sprachen selbst die Hoffnung auf eine rasche, volle Umwandlung, auf eine völlige Genesung aus.«
»Und ich hege sie noch. Es gibt, meiner Ansicht nach, zwei Wege, die dazu führen. Der erste ist ungestörte Ruhe, eine Absonderung von den aufreizenden Ereignissen des Tages, welche die Nerventätigkeit wieder stärken und zu den alten Funktionen zurückführen wird; der zweite ist eine analeptische, mächtige Aufregung der Seele, einer verborgenen Leidenschaft, die mit einem Schlage die ganze Lebenskraft wieder herzustellen vermag. Das Letzte ist ein Mittel, was keine Kunst, nur der Zufall herbeizuführen imstande ist – wir können uns daher nur an das Erste halten, und deshalb habe ich Ihnen geraten, Ihren – Schwager jetzt, wo seine spezifische Heilung vollendet, mit erster Gelegenheit von hier fort und nach einem ruhigeren Aufenthalt zu schaffen.«
»Ich habe bereits meinem Agenten in Konstantinopel Auftrag gegeben, uns alle Bequemlichkeiten zu sichern und werde das nächste Dampfschiff benutzen.«
»Dann bürge ich für die Heilung; – nur an dem Wann? scheitert die Bestimmung der Wissenschaft. Gott helfe dazu und lege Frieden und Versöhnung in Ihrer beider Herzen!«
Der Vicomte war bei der letzten Wendung des Gespräches an das Komtor getreten, wo er Nini und Celeste freundlich begrüßte. »Wir hoffen auf eine gute Mahlzeit, meine Kleine, der Doktor und dieser Herr speisen mit mir.«
Nini salutierte militärisch. »Aufzuwarten, mein Kommandant. Sie wissen, das Beste, was die Kantine vermag, steht zu Ihrem Befehl. Wo wünschen Sie, daß Ihr Tisch gedeckt werde?«
»Ei, mein Schelm, bei den anderen Offizieren – wo sich Platz findet, wir haben hier keine Aristokratie. Sie haben Ihre schönen Hände mit der Tinte geschwärzt, Madame.«
Celeste rieb kokett die zierlichen Finger. »Mein Unstern ist an dieser fatalen Situation Schuld, Herr Vicomte, und dennoch mußte ich das Anerbieten der kleinen Nini, die ich in Paris zufällig kennen gelernt, noch mit Dank annehmen, da Ihre Lagergesetze so unartig gegen Damen sind. Haben Sie noch keine Gewißheit über Herrn von Sazé?«
»Noch immer keine!«
»Fatal! – Aber es ist abscheulich, daß er mich solchen Verlegenheiten aussetzen konnte. Ich wollte, ich wäre in Paris, statt in diesem abscheulichen Wirrwarr!« Sie warf dem Vicomte durch die schmachtend halbgeschlossenen Augenlider einen verführerischen Blick zu, doch die Verlockung prallte an dem gestählten Herzen und dem Unwillen über die selbstsüchtige Gleichgiltigkeit gegen das Schicksal seines Freundes ab. »Sie verstehen sich zu entschädigen, Madame! – Sorgen Sie für den armen Knaben, den Russen, Nini,« sagte er kurz abbrechend zu der jungen Wirtin der Kantine, »Ihre Pflegebefohlenen sollen Ihnen nicht lange mehr lästig fallen.«
»Wie, mein Kommandant, sind Sie unzufrieden mit mir?«
»Gewiß nicht, hübsche Nini – aber der griechische Offizier soll nach Konstantinopel gebracht und der junge Russe muß endlich ans Gefangenen-Depot als gesund abgeliefert werden.«
»O, mein Herr – es ist ein halbes Kind – die armen Leute haben es dort gewiß schlimm, es muß so schrecklich sein in einem Gefängnis!« Tränen standen in ihrem bittenden und mitleidigen Auge, das bei den Worten auf der Gestalt ihres blödsinnigen Vetters ruhte.
»Die Pflicht gebietet, mein Kind, und ich setze mich ernster Verantwortung aus,« sagte freundlich aber bestimmt der Vicomte, »wenn ich noch länger gegen Ihren hübschen Protegé solche Nachsicht übe. Sie wissen, daß er von Tonton und Ihrem Bruder zum Gefangenen gemacht wurde und nach Vorschrift angemeldet ist, nur Ihre Bitten und das Wohlgefallen, das ich für den Knaben selbst fühle, bewogen mich, ihn aus Veranlassung seiner leichten Wunde als krank und in Privatpflege anzugeben. Aber der gestrige Tagesbefehl verordnet aufs strengste die Ablieferung aller Gefangenen ins Haupt-Depot und der Kranken in die Lazarette, und Doktor Welland hat nicht länger zögern können, ihn als gesund zu melden.«
» Fi donc! der abscheuliche Doktor!«
Der Offizier lächelte. »Ich kann jetzt in Wahrheit nichts mehr tun, da der Bursche selbst die Abgabe seines Ehrenwortes verweigerte. Bringen Sie Ihre Bitte bei Oberst Polkes an – vielleicht übernimmt er die Verantwortung.«
»Brrr! Nein, mein Kommandant,« lachte, sich schüttelnd, das Mädchen – »lieber einer Batterie entgegen! Monsieur le Colonel ist ein wilder Bär, und ich weiß sehr wohl, daß nur Ihrem Schutze das arme Kind die Erlaubnis zu danken hatte.«
»Also, Mademoiselle, die Dienstgeschäfte zwischen uns sind erledigt und nun zu Tische!«
»Sie sollen sogleich bedient werden, mein Kommandant, denn Sie sind eine Perle aller Stabsoffiziere.« Ein koketter, galanter Knix, und die hübsche Marketenderin sprang davon.
Die Mittagsstunde war heran gekommen, und die Soldaten lagerten vor ihren Zelten um die Feldkessel, oder waren noch mit der Zubereitung der Menagen beschäftigt. In den Küchengräben loderten lustig ganze Reihen kleiner Feuer, vor den Kantinen und Marketender-Baracken dinierten die Gruppen der Offiziere mit den seltsamsten Tafel-Arrangements, auf Faßböden, rohen Tischen oder dem Rasen. Ueberall Heiterkeit, Gelächter, bunte Unterhaltung – keine Spur des grausigen Kampfes, wenn nicht von Zeit zu Zeit ein dumpfer, ferner Kanonenschlag herübergedröhnt und eine weiße, leichte Rauchwolke die Lage der Trancheebatterien angezeigt hätte. Regelmäßig antwortete darauf ein gleicher Knall, ein gleicher Rauchwirbel aus den lang hingestreckten braunen Erdwerken der Festung. Seit einer Viertelstunde jedoch war auch dieses eherne Frag- und Antwortspiel verstummt, denn es war nachgerade Gewohnheit geworden, außer an Tagen scharfen Bombardements, um die Mittagszeit, von 12 bis 3 Uhr, das Feuer gänzlich einzustellen.
Die Aussicht vom Abhange des Sapun war prachtvoll, und das Panorama der Bucht von Sebastopol lag in voller Ausbreitung vor den Augen. Die Luft war so klar und durchsichtig, daß man auf der Reede selbst mehrere der Takelage und des Spierenwerks beraubte, noch vorhandene russische Dreimaster genau überschauen, die Boote über der Süd- und Schifferbucht kreuzen, ja in den Straßen der Stadt die Soldatenzüge sich bewegen sehen konnte.
Quer über die Südbucht sah man eine Anzahl russischer Linienschiffe in zwei Reihen ankern und ihre furchtbaren Breitseiten dem Einschnitt des Kirchhofes zwischen Redan (Bastion 3) und dem Malachof (Kornilewski-Bastion) über die weißen Häuserreihen der Vorstadt zukehren. Das ganze bot allerdings ein interessantes militärisches Bild, doch nur das Auge eines Genie-Offizieres hätte zu erkennen vermocht, daß in wenigen Stunden einer jener wütenden Kämpfe bevorstand, deren Donner Himmel und Erde erschütterten, die mit Blut und Leichen den Felsenboden der Krim düngten. Einzelne Truppen-Kolonnen, die sich im Schutz der Bergrücken und Schluchten zu sammeln begannen, ein stärkerer Zug der Munitionskarren und Lasttiere nach den Batterien bildeten allein diese Anzeichen für den Kundigen.
Unter einer Korkeiche, deren mageres Schattendach noch durch ausgespannte Leinentücher verstärkt war, saß, um einen niederen, schmalen Tisch von Fichtenbrettern, eine Anzahl französischer Offiziere, meist zu dem hier lagernden dritten Zuaven-Regiment gehörig, dazwischen die Uniformen verschiedener anderer Korps, Artilleristen der auf dem Sapunhügel erbauten Mörserbatterie, und zufällige Gäste, darunter zwei Offiziere der sardinischen Bersaglieri.
Die Unterhaltung flog bald heiter, bald ernst über hundert verschiedene Gegenstände und kreuzte sich in Scherzen und Mitteilungen, bis dazwischen wieder die Erzählung Eines oder des Andern eine allgemeine Aufmerksamkeit für kurze Zeit fesselte. Der seltenste Gegenstand, der berührt wurde, war auffallender Weise das bevorstehende Bombardement.
»Sie trafen gestern in Kamiesch ein?«
»Die Veloce warf vorgestern Abend Anker. Wir brachten die Nachrichten, die das Bülletin gestern veröffentlicht hat.«
»Man hört schöne Geschichten von Kertsch, Herr Kamerad von der See! Wenn nur die Hälfte wahr ist, muß es verteufelt locker dort zugegangen sein.«
Der Marineoffizier sah sich vorsichtig um. »Sind Engländer hier am Tisch?«
»Daß ich nicht wüßte! Nein – wir sind zufällig noch unter uns!«
»Dann, meine Herren, muß ich Ihnen sagen, daß unsere werten Verbündeten, die Engländer und Türken, sich auf das Abscheulichste benommen und Dinge in einer unverteidigten Stadt begangen haben, die uns der Schmähung von ganz Europa aussetzen werden.«
» Mordioux! um das zu sagen – warum braucht man da die Anwesenheit der Beefsteaks zu fürchten!« rief ein Offizier.
»Wenn Sie die Güte haben wollen, mir Ihre Zeit zu bestimmen, Kapitän Parquez,« sagte der Marine-Leutnant höflich, »so hoffe ich Sie zu überzeugen, daß es der Mannschaft der Veloce in keiner Weise an Mut fehlt.«
»Unsinn! Estais en vuestra camisa? Davon kann keine Rede sein! Kapitän Parquez hat nicht daran gedacht, an dem Ruf der Männer von der Veloce zu zweifeln. Außerdem – Sie sind mein Gast.«
Der gascognische Offizier murmelte einige Worte. »Kommandant de Narbonne Lara hat vollkommen meine Meinung ausgedrückt.«
Der See-Offizier verbeugte sich freundlich. – »Auch tat ich die Frage nur, weil ich nicht Unbeteiligte verletzen wollte. Die Art und Weise aber, wie unter den Augen des Admirals Brown und Vize-Admirals Lyons von den englischen Soldaten und Matrosen verfahren wurde, war empörend.«
»Man hörte doch von einem Befehl des britischen Generals Brown,« bemerkte ein Offizier der Chasseurs d'Afrique, »daß jeder Mann, der nach dem Dunkelwerden in der Stadt betroffen würde, gepeitscht werden solle?«
Allgemeines Gelächter. »Der Befehl existiert,« bestätigte der Leutnant der Veloce, »aber er galt nur in Jenikale und patzt übrigens für englische Soldaten und Matrosen. Unter uns – eine große Verteidigung der Küste und des Zugangs zum Asow'schen Meer fand nicht statt, die wenigen Batterien wurden von der Flotte bald zum Schweigen gebracht und Kertsch ohne Widerstand übergeben.«
»Die Russen sollen Hals über Kopf sich auf allen Punkten zurückgezogen haben.«
»Das ist ihr System. Die Geschütze wurden unbrauchbar gemacht, die Magazine geleert oder gesprengt. Die ganze Küste glich in der Nacht, nachdem wir bei Ambalacki gelandet, einer Reihe lodernder Vulkane. Dennoch fand die verbündete Armee noch kolossale Vorräte, nicht allein in den Schiffsarsenalen, sondern namentlich an Getreide in den Magazinen.«
»Ei, so hoff' ich, werden uns die Kommissäre bald ein besseres Brod liefern, als das hier auf meinem Messer.«
»Täuschen Sie sich nicht, Leutnant Brande,« lachte der Schiffsoffizier. »Bei meinem Abgang hatte die Flotte bereits 248 Schiffe mit Getreide vernichtet und in Kertsch allein wurden über 2 Millionen Kilogramm verbrannt.«
»Aber doch blos Vorräte der Regierung?«
»Ich glaube nicht – man hat keinen Unterschied zwischen dem Privateigentum der Kaufleute und den Vorräten der Regierung gemacht. Selbst das große Magazin des österreichischen Konsuls, das geschickt unter der Form einer Villa versteckt war, wurde angezündet. General d'Autemarre schlug zwar vor, die Getreidemassen nach Konstantinopel und unsern Lagern zu schaffen, oder wenigstens allen französischen und englischen Kauffahrern in Kamiesch und Balaclawa zu gestatten, hier umsonst Ladung zu nehmen, aber unsere Verbündeten eilten, ihren Hauptzweck zu erfüllen, den Russen möglichst viel materiellen Schaden zuzufügen.«
»Sie wollten uns die Zerstörung von Kertsch erzählen, Kamerad,« sagte der Kommandant des zweiten Bataillons, du Moulin.
»Wir rückten am Freitag, den 25. ein, marschierten aber sofort nach Jenikale weiter, indem nur eine kleine Abteilung Franzosen, dagegen ein Regiment Engländer und der größte Teil der Türken unter Reschid-Pascha zurückblieb. Außerdem war eine Zahl britischer Matrosen und Marinen gelandet und hatte den Auftrag, die Regierungsfabrik und eine Privatfabrik zur Verfertigung von Miniékugeln und Patronen zu zerstören. Viele der wohlhabenderen Bewohner und die Beamten hatten mit der russischen – wie ich hörte, wenig über 200 Mann starken – Besatzung die Stadt verlassen. Die Zurückgebliebenen aber kamen den Truppen an den Toren nach ihrem Landesgebrauch mit Brot und Salz entgegen, und es wurde ihnen Schutz des Lebens und Eigentumes zugesagt. – Wie gesagt, unsere Truppen rückten noch an dem Vormittag weiter, kaum aber hatten sie die Stadt verlassen, so begannen die abscheulichsten Szenen der Plünderung. Die Türen der verschlossenen Häuser wurden erbrochen – was nicht fortgeschleppt werden konnte, mutwillig zertrümmert. Mord und Notzucht wüteten in allen Straßen, die Horden der Zigeuner und der Tataren machten bald mit den Soldaten und Matrosen gemeinschaftliche Sache und führten sie von Haus zu Haus der russischen Kaufleute und Handwerker, ihnen dort neue Opfer der Habsucht und Wollust zeigend. Die Bevölkerung unterlag, völlig wehrlos, der viehischen Brutalität und es wurden Taten verübt, deren sich Karaiben schämen könnten!«
»Und geschah Nichts, dem zu steuern?«
»Kapitän Fontain schickte täglich Patrouillen aus, so lange wir auf der Rhede ankerten – aber was halfen die Wenigen, die nicht einmal das Recht hatten, gegen die Engländer einzuschreiten! Ich selbst schoß einen türkischen Marodeur nieder, der betrunken die Straße daher taumelte, auf seinem blutigen Säbel einen Säugling gespießt. (Eigener Bericht der Times!!) In fast allen Häusern waren Fenster und Türen zertrümmert, die Möbel zerschlagen, die Betten und Matratzen aufgeschlitzt aus bloßer Zerstörungslust. Die Plünderung dauerte noch fort, als wir am 3. zurücksegelten. Wäre sie nicht von so abscheulichen Szenen begleitet gewesen, man hätte lachen müssen über die Unvernunft dieser Raubsucht. Ich sah Matrosen sich müde schleppen an einem alten Lehnstuhl, an schweren Federbetten oder an einem hölzernen Heiligenbild mit einer Glorie von Blech um den Kopf. Einzelne machten freilich vorzügliche Beute. Ihrer Majestät 79. Regiment zum Beispiel stahl eine große Quantität Silberzeug aus einem der Häuser.«
»Ich hörte, daß das berühmte Museum von Kertsch mit den Altertümern klassischer Vorzeit zerstört worden?« fragte Kapitän Stahl.
»Bis auf die letzte Scherbe! – Wilde hätten nicht ärger hausen können! Man begreift nicht, wie die Wut weniger Menschen in so kurzer Zeit eine solche Verheerung anrichten konnte. Ich fand den Fußboden des Museums fußhoch mit zerbrochenem Glas, Bruchstücken von Statuen, Vasen, Urnen, dem kostbaren Staub großer Erinnerungen, den sie einschlossen, und halbverkohlten Stücken Holz und Knochen bedeckt. Kein Stückchen von Etwas, das sich zerbrechen oder verbrennen ließ, war vom Feuer oder Hammer verschont geblieben. Die Schränke und Regale waren von den Mauern gerissen, das Glas in Atome zerschmettert, die Statuen in Stücke zerklopft; es war kaum möglich zu erraten, was sie früher gewesen waren. Eben so barbarisch hatte man an dem Grabmal des Mithridates gehaust.«
»Und Sie konnten nichts dagegen tun?«
»Als ich hinkam, war bereits das Werk vollendet. Wenige Schildwachen vor alle diese Gebäude gestellt, hätten sie vor der jämmerlichen Zerstörung gerettet. Wie naiv unter solchen Szenen blutigen Schreckens es auch klingen mag – ich mußte wenigstens meiner Entrüstung Worte geben und schrieb sie mit Bleistift auf den weißen Thorflügel des Eingangs.« –
»Das ist das Los des Krieges,« murrte Kapitän Mongin. »Wozu uns um das alte Gerümpel ärgern, wir haben wichtigere Dinge in der Nähe. Sie haben also gleichfalls noch keine Ordre beim Zweiten, Blanchet?«
» Parbleu – nein! – ich glaube, man wird die Garden beschäftigen und uns in den Laufgräben lassen.«
Der alte Kapitän lächelte hämisch: »Unsere Jungen sollen ihnen einen empfindlichen Streich gespielt haben,« flüsterte er – »es ist gut, daß Polkes seit heute Morgen fort ist.« –
Sein Nachbar nickte lächelnd. »Geht heute Jemand zu den Briten? Wann beginnt das Rennen?«
»Méricourt wollte hinüber. Ich wette, die Narren jagen den Hund mitten zwischen die Batterien hinein. Man sollte ihnen die Spielereien verbieten.«
»Lassen Sie ihnen immerhin das Vergnügen, Kommandant,« bemerkte lachend der Chasseur-Offizier. »Ihre Prahlerei, besser zu reiten als wir, hat ihnen höchstens bei Balaclawa Vorteil gebracht, als die russischen Ulanen sie jagten.«
»Haben Sie Mistreß Duberly reiten sehen?« fragte ein Leutnant.
»Ei, die Méricourt gestern besuchte und zu heute einlud? Der Teufel soll mich holen, eine hübsche Frau, aber doch nicht so interessant und noch lange keine so kühne Reiterin, wie die schöne Sardinierin. Wie heißt sie doch, Herr Kamerad?«
»Sie meinen die Gräfin Pisani,« sagte höflich der Bersagliere. »Sie ist eine Ungarin und ich sah nie eine schönere und festere Hand ein Pferd regieren.«
»Dabei sieht sie sehr blaß und leidend aus. Es ist Thorheit, eine Dame den Strapazen dieses Feldzuges auszusetzen.« –
»Der General, ihr Gemahl, soll sehr eifersüchtiger Natur sein,« berichtete der Sarde. »Er soll sie im vorigen Jahre während des Donau-Feldzuges geheiratet haben und ein famoses Vermögen mit ihr.«
»Jedenfalls ist Ihr Oberst besser daran, wenn sie unfreiwillig gefolgt ist,« sagte lachend Leutnant Rouet, »als unser armer Delorny vom Genie, der nach Depuis' Tod hierher kam. Sie haben doch von der pikanten Geschichte mit seiner Heirat gehört?«
»Nein! – Was ist's? – Erzählen Sie.«
»Ei, der Charivari und mehrere andere Journale teilten schon vor einem halben Jahre den Prozeß mit.«
»Pah – wer findet in den Laufgräben den Charivari, oder die Gazette des Tribuneaux? – Die Engländer sind in dieser Beziehung besser bedient.«
»Ja – in dieser einzigen. Kannte Jemand von Ihnen Madame d'Alembert?«
»Bedenken Sie, Rouet, daß wir aus Afrika kommen!«
»Nun – man ist auf Urlaub in Paris. Ueberdies war Herr von Alembert ehemals ein wackerer Offizier und Madame die Tochter des Generals Valpré aus der Kaiserzeit. D'Alembert war gelähmt und brachte seine letzten Lebenstage im Spital zu Val de Grace zu, Madame aber wohnte bei der Gattin eines unserer Generale und lernte dort Delorny kennen. Die Dame war 40 Jahre, als ihr Gatte im März des vorigen Jahres starb, und verliebte sich in den jungen Kapitän, der sich die Sache Anfangs gefallen ließ, ohne jedoch von Heirat zu sprechen.«
» Caramba! Da hatte er Recht!«
»Aber Madame d'Alembert sah die Sache nicht von dieser Seite an. Sie nahm im vorigen Sommer Opium – zwei Mal sogar – und wollte sterben! Der Arzt erklärte wenigstens, sie werde die Nacht nicht überleben, und Delorny fühlte ein menschliches Rühren in seinem Gewissen und ließ sich mit ihr – wie man sagt – in extremis trauen.«
»Und dann wurde die Dame plötzlich gesund? Kap de Bioux – ich wittere den Braten.«
»Richtig – nur nicht ganz so rasch. Delorny soll sich dann haben bewegen lassen, die Trauung in der Kirche St. Thomas zu wiederholen, doch heimlich ohne Zeugen und Ausweis der Kirchenbücher. Madame behauptet zwar, die sei vollzogen trotz ihrer vierzig Jahre – Delorny weigerte sich jedoch, ohngeachtet der gerichtlichen Klage, irgend einen Schritt zur Legitimation zu tun, hielt sich von ihr entfernt und verschwand endlich. Erst vor einem Monat erfuhr die zärtliche Gattin, daß er sich zur Orient-Armee hatte versetzen lassen und machte sich auf, ihm zu folgen. Vorgestern traf sie in Begleitung des Feld-Almosenier Tenelli und des Obersten Brancion, von Konstantinopel hier ein und überraschte gestern den ungetreuen Flüchtling, der sich nichts weniger träumen ließ, als diesen Besuch.«
»Ich kann mir die Szene denken!«
»Vielleicht doch nicht, wie sie in Wirklichkeit war. Delorny wurde grob, so daß Brancion ihn fordern wollte, die zärtliche Frau aber brachte sich mit einem Dolche, den sie im Kleide verborgen trug, zwei Stiche in der Nähe des Herzens bei.« –
»Hol' der Teufel die Tollheit der Weiber!«
»Namentlich der alten, Kapitän! Man hat ihr zwar glücklich die Waffe entrissen, ehe sie sich wirklich töten konnte, was für Delorny wohl das Beste gewesen wäre, aber die Geschichte hat das ganze Hauptquartier in Alarm gebracht und General Pelissier wütet noch ärger gegen allen Frauenbesuch, als bisher, und hat geschworen, daß, mit Ausnahme der Marketenderinnen, der Profoß alles aus dem Lager spediren soll, was einen Unterrock trägt.«
»Der General scheint demnach kein so galanter Verehrer des schönen Geschlechts zu sein, wie sein Vater,« sagte lachend der deutsche Medizin-Major, der eben mit Méricourt und dem Engländer zum Tisch getreten war und Platz nahm.
»Ah, sieh' da, Doktor! Setzen Sie sich hierher. Was wissen Sie denn von dem Vater des Generals? – ich denke, die Familie ist ziemlich unbekannt.«
»Der Zufall machte mich mit Umständen vertraut,« erzählte der Arzt, »die vielleicht dem General selbst ganz fremd sind und er ahnt wahrscheinlich gar nicht einmal die Existenz einer Schwester.«
»In Frankreich?«
»Nein – in meiner Heimat; einige von Ihnen wissen wohl, daß ich aus Berlin bin.«
»Und dort lebt eine Schwester des Generals?«
»Nicht in Berlin selbst – aber doch in der Nähe. Es ist eine sehr achtbare Dame, die Gattin eines angesehenen Kaufmanns, Namens Martens in Mittenwalde, einem kleinen Städtchen unfern der preußischen Hauptstadt. Ihre Mutter war eine Mademoiselle Dutertre in Berlin und hatte ein Verhältnis mit dem Kapitän François Pelissier vom 18. Voltigeur-Regiment, der als Adjutant Oudinot's 1808 in Berlin sich aufhielt. Die Familie besitzt noch ein Porträt dieses Kapitän Pelissier, des Vaters der Madame Mertens, in der Uniform seines Regiments, und einen Brief an seine Geliebte, in dem er seine Freude über die Geburt der Tochter ausspricht. Später hat jedoch weder Mutter noch Kind je von ihm gehört.«
»So würde dies eine ältere Schwester des Marschalls sein, denn so viel ich weiß, ist er erst 44 Jahre.«
»Er gehört zur jüngern Schule der Afrikaner,« bemerkte der Vicomte. »Pelissier, Bosquet, Changarnier, Lamoricière, Mac-Mahon – sie sind Alle aus Bugeauds Erziehung hervorgegangen. Er wurde frühzeitig nach Algier gesandt, weil er in Paris ein ziemlich wildes Leben führte und Schulden machte.«
»Bah – wer täte das nicht! Man liebt, man trinkt, man spielt! wozu wäre das Leben da?«
»Wissen Sie denn, daß Letour, der berüchtigtste Grec von Paris, sich in Kamiesch eingefunden hat?«
»Der Doktor?«
»Ja, ich sah ihn gestern – die Lagerpolizei wird ihm hoffentlich bei Zeiten den Weg weisen.«
»Warum nennt man ihn Doktor?« fragte Welland, – »ist er ein Arzt?«
»Das nicht – er gab der Fakultät blos eine kleine Lektion. Sie müssen die Geschichte in Paris vernommen haben.«
»Ich bin nicht so glücklich.«
»Nun, so hören Sie. Letour ist, wie gesagt, einer der gewandtesten Grecs und äußerst schlau der Polizei gegenüber. Er wußte, daß Herr Duport, eine der medizinischen Celebritäten von Paris, sehr reich und gleichzeitig ein leidenschaftlicher Spieler war, aber es gelang ihm weder, den Doktor in ein Spielhaus zu locken, noch sich in den Salons Zutritt zu verschaffen, die jener besuchte. Er mietete deshalb ein komfortables Logis, legte sich zu Bett und ließ den Doktor Duport rufen. Dieser kommt, fühlt den Puls, verordnet einen Trank und verspricht, Abends wiederzukommen. Dies erwartet man. In der Tat, als er eintrat, fand er im Zimmer des Kranken einen Tisch, an welchem mehrere Herren, wie sie sagten, um ihren Freund zu zerstreuen, spielten. Der Tisch war mit Gold bedeckt. – »Es geht mir viel besser, Doktor,« sagte der vorgebliche Kranke, und fügte nach einigen Worten über seinen Zustand bei: »Sie haben eine glückliche Physiognomie, möchten Sie wohl die Güte haben, einige Partieen für mich zu machen? – »Gern,« erwiderte der Arzt. Der Grec gab ihm 10 Louisdors und der Doktor fing an zu spielen. Er war sehr glücklich, gewann 100 Louisdors, zählte sie dem Kranken hin und meinte, daß er öfter Lust gehabt, halbpart mit ihm zu machen. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben,« meinte der Grieche. »Wenn Sie morgen einige Augenblicke Zeit haben, so kommen Sie. Ich werde diese Herrn einladen und wir machen eine Partie.« Doktor Duport stellte sich pünktlich ein und associierte sich mit seinem Kranken, der sich ziemlich wohl befand. Zuerst ließ man ihn einige Louis gewinnen, aber bald drehte sich die Chance und in drei Besuchen verlor der Doktor nicht weniger als 25 000 Franken. Zu spät sah er ein, daß er betrogen sei; denn als er das vierte Mal wieder kam, um Revanche zu nehmen, war das Nest ausgeflogen.«
»Was kommt dort für eine Kavalkade?« fragte ein Offizier, der zufällig aufgestanden.
»Wie? – dort? – ich glaube es ist Feverrier – der Bursche muß es eilig haben.«
»Nein – ich meinte da nach der andern Seite – die Staubwolke?«
Der Brigade-Adjutant war herangesprengt. »Meine Herren, der Oberst läßt Sie wissen, daß der General en chef sogleich mit dem ganzen Stabe hier sein wird. Die Leute sollen aber in ihrer Beschäftigung bleiben – wie ich sehe, also bei der Mahlzeit. Sie wissen, der General liebt es nicht, sich zu genieren und ist heute ohnehin nicht besonderer Laune.«
»Wie so, was giebt es, erzählen Sie, Feverrier!« Die Offiziere umdrängten ihn.
»Ei, unter uns, es hat einen verteufelten Sturm gegeben. Der Ober-General war bei Lord Raglan in Kamara und, wie mir General Wimpfen vertraut, ist es zu einer Szene gekommen, wegen der Befestigung, welche die Engländer bei Kertsch und Pavlowskaja verstärken wollen.«
»Doch wohl, um sich dort festzusetzen? Ein neues Korfu oder Gibraltar am Asow'schen Meer.«
»So scheint es! Doch reichen Sie mir einen Becher Wein – meine Kehle ist so trocken wie die Sahara. – General Pelissier,« fuhr er fort, nachdem er getrunken, »hat dem Lord erklärt, er werde d'Autemarre den Auftrag senden, sich mit Gewalt jeder Fortifikation an der Küste zu widersetzen, die einen andern Zweck habe, als die Expedition zu sichern. – Wahrhaftig – da sind sie schon, der Teufel traue dem Dicken!«
Der Kreis der Offiziere zog sich zurück, während die Anhöhe herauf der zahlreiche Stab des französischen Ober-Feldherrn, begleitet von mehreren Divisions- und Brigade-Generalen, Ismael-Pascha und dem General La Marmora, kam. –
Zwei Araber, in weißen, wehenden Gewändern, ritten dem General Pelissier voran, der auf einem kräftigen Grauschimmel saß. Er war ein starker, fast fetter Mann, was ihm das anhaltende Reiten sehr erschwerte, mit fast weißem, kurz abgeschnittenen Haar. Die Gestalt war nicht groß, das Gesicht von einem gutmütigen Ausdruck, von dem ganz verschieden, den man nach seinen Antecedentien in Afrika erwarten sollte. Nur um die Nasenflügel verkündeten einige Falten den harten, festen und eigensinnigen Charakter. Der General trug eine mit Orden geschmückte Uniform und darüber, trotz der Hitze, einen weißen Mantel, ähnlich denen der arabischen Häuptlinge.
»Guten Tag, meine Herren,« sagte Pelissier. »Wir müssen Sie hier kurze Zeit stören, weil man von Ihrer Höhe eine Aussicht hat, die ich brauche. – Das Glas, Selim.«
Der arabische Leibdiener überreichte dem Feldherrn das Perspektiv.
»Kommen Sie her, Bosquet,« fuhr der Kommandierende fort, »wir werden uns hier leichter verständigen. Wenn Sie Bergé mit seiner Brigade die linke Parallele bis zu den Steinbrüchen, auf die Flanke der Engländer, besetzen lassen, kann Wimpfen im Dokowaja-Grund sich aufstellen, von Brünet unterstützt. Ich hoffe jedoch, es wird der Reserven nicht bedürfen. Am besten ist's, Sie lassen den Mamelon gleich von drei Seiten her angreifen, so teilt sich das Feuer. Wenn Oberst Shirley mit den Briten seine Schuldigkeit tut, wird er den Kirchhof zu dieser Zeit besetzt haben und die Kanonen des Malachoff zur Genüge beschäftigen.«
General Bosquet verbeugte sich schweigend, – er und Pelissier waren keine besonderen Freunde und häufige Rivalen.
»Ich glaube, Camou wird hier ein leichteres Spiel haben als Mayran und Dülak vor den Redouten,« fuhr der General fort. »Dennoch wird die Wegnahme des Mamelon für uns von größter Bedeutung sein. Der Teufel soll das Nest holen, dessen Bau man gar nicht so weit hätte gedeihen lassen sollen!«
»Ich danke Eurer Exzellenz für die Ehre, die Sie uns mit dem Befehl erzeigt haben,« sagte General Camou.
»Eigentlich wären freilich die Garden an der Reihe gewesen,« meinte der Feldherr, »und Pontéves wird mir's gewaltig übel nehmen. Indeß ist er der Jüngste von uns und hat Zeit. Wer kommt dort?«
Er deutete nach der Bergseite, die nach Südosten führte und auf deren Abhang eine Reitergruppe von den entfernten Lagerplätzen der Garde herkam. » Parbleu – ich glaube, daß ist Mellinet, der mich zu quälen kommt. Vorwärts, meine Herrn, zur Victoria-Redoute!«
Ehe jedoch der Stab sich in Bewegung setzen konnte, sprengte der Kommandeur der Garde-Division General Mellinet, mit seinen beiden Divisionärs, den Generalen Ulrich und Pontèves, und mehreren Offizieren der Garde-Regimenter herbei und schnitt dem Ober-Kommandanten gleichsam den Weg ab.
Als General Pelissier sah, daß er nicht mehr entkommen konnte, blieb er, verschiedene Verwünschungen murmelnd, auf der Stelle halten. Es war bekannt, daß er mit den oberen, seinem Kommando untergebenen Offizieren häufig nicht besonders höflich umsprang und weit eher den Soldaten und unteren Graden etwas nachsah; namentlich erfreuten sich die Garden nicht gerade besonderen Vorzugs.
Um diese Tatsachen schien sich General Mellinet jedoch wenig zu kümmern, als er gerade auf den Ober-General zuritt und kalt salutierte.
»Es freut mich, daß Sie kommen, Mellinet,« sagte dieser, offenbar irgend einem Anliegen vorbeugend, »ich vermißte überhaupt heute die Herrn von der Garde bei dem Besuch im britischen Hauptquartier; Sie können mich nach der Viktoria-Redoute begleiten.«
»Verzeihen Euer Exzellenz,« sagte der Angeredete kalt und fest, »ich muß um einige Augenblicke Gehör bitten und bin dazu hierher gekommen, da ich hörte, daß der Stab diesen Weg genommen.«
»Nun, sprechen Sie unterwegs, ich habe Eile – Sie werden wissen, daß das Feuer in drei Stunden beginnen muß.«
»Ich habe nicht die Ehre, Euer Exzellenz Anordnungen schon zu kennen,« beharrte der General, der wohl merkte, daß der Ober-Kommandant zu entkommen suchte, »aber ich muß bemerken, daß die Sache sich am besten hier an Ort und Stelle entscheiden lassen wird.«
»Meinetwegen denn! bitte, was wünschen Sie?«
»Ich komme, im Namen der Garde Beschwerde zu führen, über Beleidigungen und Verhöhnungen, die man sich fortwährend gegen sie erlaubt.«
»Ach, Larifari, die alte Leier von den ewigen Zänkereien,« schrie der Ober-Kommandant. »Lassen Sie mich endlich damit ungeschoren, wenn Sie keine bestimmten Beschwerden anführen können. An Streitigkeiten hat ein Teil so viel Schuld als der andere.«
General Mellinet schien im Voraus entschlossen, Ruhe und Gelassenheit zu behalten, obschon die Behandlung ziemlich impertinent war und sein Gesicht sich zu röten begann; er begnügte sich daher, dem Ober-Befehlenden ein Papier mit den Worten zu überreichen: »Ich bitte Eure Exzellenz, dies zu lesen.«
Pelissier entfaltete das Blatt – es war eines der Plakate, welche man während der Nacht an die Zelte der Garde angeheftet hatte.
Der künftige Marschall las das Pamphlet und brach dann in ein schallendes Gelächter aus. – » Mort de ma vie! Gestehen Sie, Mellinet, der Witz ist nicht übel. Ich bitte, Rivet, lesen Sie das Dings da!«
Er reichte mit baucherschütterndem Lachen das Blatt dem Generalstabs-Chef, aus dessen Hand es die weitere Runde machte, während die Offiziere der Garde bleich und rot vor Zorn wurden.
»Gottes Blut,« sagte endlich der General Pontèves, dessen Gesicht dunkelrot zu glühen begann, »wir sind hier nicht, um Ihr Gelächter zu hören, meine Herren, sondern um Genugthuung für die Beleidigung zu fordern.«
»Ah, sieh da, Pontèves,« rief der Ober-General, »sei verständig und lache über den Scherz. Das ist das Beste, was die Herren tun können, denn – die Angelegenheit der Tranchées ist doch nun ein Mal Wahrheit.«
»Exzellenz,« sagte General Mellinet mit scharfem und erhobenem Tone, »wie dem auch sei, wir kommen nach gepflogener Beratung mit unserm Offizier-Korps, um zwei Dinge zu verlangen. Das Erste ist, daß Sie den Garden gestatten, auf ihr Vorrecht Verzicht zu leisten und in dem Trancheendienst abzuwechseln, wie jeder andere Teil der Armee; – das Zweite ist eine strenge Untersuchung wegen des angetanen Schimpfes, der bereits Blut gekostet hat und noch mehr kosten wird, wenn Eure Exzellenz uns Ihr Einschreiten verweigern.«
Der Ober-General sah den Redner von der Seite an, doch mochte er sich der Sache vor dem sardinischen Ober-Kommandanten schämen, denn er sagte ärgerlich: »Was ist's damit? reden Sie deutlich und klar, Herr General!«
»Es haben in Folge dieses Schimpfes heute Morgen bereits drei Duelle stattgefunden und ein Sergeant der Grenadiere ist dabei erstochen worden,« sprach der Ankläger. »Die Soldaten der ganzen Division sind wütend, außer sich, – und ich kann Euer Exzellenz nicht für ausgedehnte Exzesse einstehen, wenn die Täter nicht sofort bestraft werden.«
Die Falte zwischen des Ober-Generals Brauen hatte sich vertieft, in den Krähenfüßen um die Augenwinkel lag Hohn mit aufsteigendem Zorn gemischt, als er fragte: »Das sind alles allgemeine Anschuldigungen, General Mellinet, aber wer ist der Täter?«
»Es sind Zuaven vom dritten Regiment,« sagte Pontèves barsch. –
Der Oberst des dritten Zuaven-Regiments, de Bonnet-Maurelhan- Polkes, drängte im Augenblick sein Pferd aus den hinteren Reihen. – »Erlauben Sie, Herr General, das ist – –«
»Still!« sagte der Ober-Befehlshaber mit gebietender Stimme und Handbewegung. »Ueberlassen Sie das mir, Oberst. Wo sind die Beweise für Ihre Behauptungen, Herr General?«
»Die Schildwachen haben Zuaven in der Nähe unserer Zelte bald nach Mitternacht umherschleichen sehen, ein Korporal der Grenadiere behauptet, zwei von ihnen erkannt zu haben. Den einen bezeichnet der Name dieser Brieftafel, die man an einer Stelle fand, an welcher jene Nichtswürdigkeit angeheftet war, der andere hat sich durch das Duell verraten, indem er heute den Korporal des ersten Grenadier-Regiments, der ihn beschuldigte, tötlich verwundete.«
General Pelissier hatte das Notizbuch geöffnet, seine Stirn war finster wie eine Gewitterwolke, weniger aus Aerger über den Unfug, als aus Groll über die direkten Beweise. – »François Bourdon,« las er, »– wie heißt der andere Bursche, den man gesehen haben will?«
»Lebrigaud!«
»Lebrigaud? – der Name ist mir nicht unbekannt, ein toller Taugenichts, wenn ich mich recht erinnere. In welcher Kompagnie stehen die beiden?« – Sein Blick heftete sich auf den Kreis von Offizieren und Soldaten, der sich in einiger Entfernung um die Generale gebildet hatte und in gespanntem Schweigen der Entwickelung harrte. Der Kommandant des ersten Bataillons, Vicomte de Méricourt, trat salutierend aus der Reihe.
»Euer Exzellenz zu Befehl, die beiden Leute stehen beim ersten Bataillon, das ich zu kommandieren die Ehre habe, aber ich glaube, für Korporal Bourdon bürgen zu können, der einer der bravsten und ordentlichsten Soldaten ist.«
»Ich habe Sie um Ihr Zeugnis noch nicht gefragt, Herr,« sagte grämlich der General. »Lassen Sie die beiden Männer hierher kommen.«
Der Befehl lief schnell durch die Menge, die sich näher herandrängte, und einige Augenblicke darauf trat der Korporal Bourdon in den Kreis und blieb in dienstlicher Haltung vor den Generalen stehen. Ihm folgte Lebrigaud, in den Talar und die Mütze eines polnischen Juden gekleidet, die als das Kostüm eines russischen Popen gelten sollte, an der Hand nicht ohne einiges Sträuben die noch skandalöser ausgeputzte Figur seines Kollegen Bernaudin hinter sich her zerrend.
Ein unterdrücktes Lachen lief durch die ganze Kavalkade des Stabes bei der Erscheinung dieses seltsamen Kleeblattes, während die Offiziere der Garden ihre Lippen wund bissen.
»Was soll die Mummerei heißen, – wer sind die Kerls?« fragte der Ober-Kommandant, bemüht, eine strenge Miene anzunehmen.
»Exzellenz halten zu Gnaden,« nahm der verkleidete Pope mit einer tiefen Verbeugung das Wort, »ich bin für heute Nachmittag der ehrwürdige Vater Basilius Papodorowitsch und das da ist Ihre Durchlaucht die Fürstin Mulaschpulaschkin, die Besitzerin verschiedener Goldbergwerke im Uralischen Gebirge oder am Kasperschen See, die sterblich in einen Offizier von Euer Exzellenz getreuen Zuaven verliebt ist und mit des Himmels Hilfe und meinem Beistand seine eheliche Gattin werden soll.«
Das Gesicht des Generals wurde jetzt im Ernst finster. »Nimm Dich in Acht, Bursche, und bedenke, vor wem Du stehst! Wie heißt Du?«
»Lebrigaud, Exzellenz, und das ist mein Kamerad Bernaudin,« sagte der Lüderjahn unbesorgt, »wir haben heute mit Erlaubnis des Obersten, eine kleine Theatervorstellung, zu der wir Euer Exzellenz und die Herren Generale gern einladen möchten, wenn es der Respekt erlaubte; – Euer Exzellenz wollen das Kostüm entschuldigen, – wir durften es nicht wagen, Sie warten zu lassen.«
»Es ist gut! – Dein Name kommt mir bekannt vor?«
»Möglich, General. Wir haben beide einen großen Teil unserer Zeit in Afrika zugebracht.«
»Du warst unter den Zephyren beim Angriff auf die Verschanzung der Beni-Yassan?«
»Ja, General – es sind fünfzehn Jahre her und ich bin seitdem nicht schöner geworden. Ich half Sie damals über die Schanze werfen. Sie waren da noch nicht so stark und schwer wie heute P. hatte als Bataillons-Kommandant der Zephyre Befehl, eine Schanze wegzunehmen, aber die Araber verteidigten sie tapfer. Da befahl er: » Jetez moi à travers; mes hommes me suivront alors!« Gesagt, getan; drei Mann warfen ihn hinüber, er erhielt vier Wunden, aber seine Soldaten folgten ihm. – ich erinnere mich genau.«
»Richtig, Du warst einer von den dreien, aber ich habe ein eben so gutes Gedächtnis und erinnere mich, daß Du der erste bei mir warst. Ich kenne jetzt auch Dein Gesicht, trotz des Bartes.«
»O,« sagte der Zuave höflich, indem er den falschen Bart entfernte, »da kann ich dienen, General!«
Jedermann sah jetzt, wie die Untersuchung enden würde, denn Pelissier nahm bei jeder Gelegenheit seine alten Zephyre in Schutz, obschon sie die berüchtigtsten Taugenichtse der afrikanischen Armee waren. Trotzdem konnte sich der General Pontèves nicht enthalten, noch einen Versuch zu machen, indem er auf die breite Schmarre des Zuaven wies. »Da steht der Beweis auf seinem Gesicht, daß er derjenige ist, welcher sich heute Morgen geschlagen hat.«
» Fichtre! ich denke, ich habe es noch nicht geläugnet! – Es kam wegen einer Beleidigung, die mir die Garden angetan haben.«
»Dir, Kerl?«
»Ja, General, sie haben mir meine Brieftafel, die mir mein Freund und Korporal Bourdon hier zu meinem Namenstag als Andenken geschenkt hatte, gestohlen! Der Henker weiß, zu welchem Zwecke!«
Unaufhaltsam, trotz der Gegenwart des Ober-Befehlshabers, war das Gelächter, das nach dieser frechen Anschuldigung hervorbrach. Der Spitzbube hatte offenbar die vorhergegangene Anklage und Verhandlung hinter der Bühne versteckt angehört und parierte auf diese Art den Beweis, da er seinem jüngeren und ehrlichen Kameraden nicht mehr trauen mochte.
»Und Euer Exzellenz gestatten diesem Schuft eine solche Infamie?« schrie wütend General Mellinet.
»Ich begreife nicht,« fuhr der Zuave mit derselben stoischen Ruhe fort, »wie man sich darüber ärgern kann. Wir müssen uns doch gefallen lassen, daß die Herren von der Garde uns nicht anders, als Hühnerdiebe nennen, während sie die ganze Zeit doch ihre Eier in unsere Nester zu legen bemüht sind.« Er wies mit der Hand nach dem Eingang der Kantine, wo man einen Adjutanten des Generals Pontèves, heimlich vom Pferde gestiegen, die Gelegenheit benutzen sah, sich so eifrig mit Mademoiselle Celeste zu unterhalten, daß das Pärchen nicht einmal die Aufmerksamkeit bemerkte, die der Zuave schlau hierauf gewandt.
»Sie werden dem Grafen Bretanne drei Tage Arrest dafür geben, Herr General,« sagte der Oberkommandant – kein besonderer Freund des schönen Geschlechts – barsch, »daß er seiner Liebeleien wegen die Achtung vor seinen Vorgesetzten aus den Augen setzt. – Was die Beleidigung anbetrifft, so stehen Anschuldigungen auf beiden Seiten. Hast Du dies geschrieben, Bursche? – Sprich die Wahrheit!« – Er zeigte dem Zuaven das Plakat.
Der Hallunke spielte wie die Katze mit der Maus mit seinen Gegnern. Er besah das Blatt hinten und vorne, zeigte es kopfschüttelnd seinem Gefährten und sagte dann, die Augen listig zusammenkneifend: »Aber General, die ganze Kompagnie weiß, daß ich kein Gelehrter bin und nicht einmal meinen Namen schreiben kann, sonst müßte ich ja längst mindestens Oberst sein, abgesehen von den paar kleinen Verurteilungen. Außerdem kann hier Bernaudin, mein Kamerad, der die Fürstin Mulaschpulaschkin darstellt, bezeugen, daß ich die ganze Nacht nicht von seiner Seite gekommen bin!«
»So wahr alle neunhundertneunundneunzig Heiligen meiner Seele gnädig sein mögen, ich will mein Leben lang nichts als saure arabische Milch fressen,« schwor die Fürstin geläufig, »wenn das nicht alles die reine Wahrheit ist, Euer Exzellenz, Herr General-Oberkommandant! – Ich will verdammt – –«
Eine Handbewegung und ein einziger Blick des Generals unterbrach und scheuchte ihn einige Schritte zurück. – »Kannst Du einen ähnlichen glaubwürdigen Zeugen für Dein Alibi stellen, Korporal?« fragte er, zu Bourdon gewendet.
Der junge Mann war blutrot und scheute sich offenbar, eine Lüge vorzubringen, obschon er Zuave war. Lebrigaud sprang ihm jedoch eifrig zu Hilfe und sagte: »Der Sergeant-Major Fabrice war bei ihm.«
»Fabrice Tonton? – Das ist ein Braver – ich kenne ihn. Laßt ihn vortreten.«
Papa Fabrice wurde sehr gegen seinen Willen in den Kreis gedrängt und schien sich ziemlich unbehaglich und verlegen zu fühlen.
»Nun, mein Alter,« sprach freundlich der General, »die Sache hier muß ein Ende nehmen. Sprich also frisch heraus, ob Dir bekannt, wo dieser Mann hier die Nacht zugebracht!«
Der Sergeant-Major drehte sich noch immer verlegen den langen Schnurrbart und rückte den Fez von einer Seite auf die andere und kraute sich verlegen hinter dem Ohr.
»Nun, wird's?«
» Peste! – Es ist freilich nicht ganz recht, General,« murmelte der Angeredete endlich, »daß so ein alter Esel, wie ich, sich verführen läßt – aber die Wahrheit muß heraus! – Wir haben zusammen getrunken, mein General – es war so, wie ein Namenstag, ich weiß nur nicht genau welcher! – aber wir saßen die Nacht beisammen, das ist wahr, nur …«
»Das ist genug,« sagte der Oberkommandant. »Tretet zurück, Bursche. Sie sehen, General Mellinet, daß sich nichts hat ermitteln lassen. Was Ihr Verlangen betrifft, so bewillige ich dasselbe, und die zweite Garde-Brigade soll bei der heutigen Ablösung den Dienst in den Trancheen beziehen. Treffen Sie die nötige Änderung in den Bestimmungen, Rivet.«
»Aber das Duell – der erstochene Sergeant?«
»General Wimpffen möge ein Kriegsgericht anordnen – Sie hören ja, daß der Bursche behauptet, der beleidigte Teil zu sein.«
Der Kommandant der Garden wandte sich zum Kommandeur des Regiments. »Da mir hier jede Genugtuung verweigert wird,« sagte er, bleich vor unterdrücktem Ärger, »so habe ich Sie, Oberst Maurelthan, nur noch darauf aufmerksam zu machen, daß, läßt sich einer von Ihren Schuften noch einmal im Bereich des Lagers der Garden blicken, die Wachen Order haben werden, ihn wie einen Hund niederzuschießen!«
»Wenn Sie hierher gekommen sind, General,« schrie der alte Polkes heftig, »um mich zu beleidigen, so …«
»Halt da, meine Herren,« unterbrach die strenge Stimme des Oberbefehlshabers, »keinen Streit! Meine Entscheidung ist gefällt und Sie mögen bedenken, General Mellinet, daß ich wegen eines Witzwortes doch unmöglich brave Soldaten erschießen lassen kann. Begleiten Sie uns weiter, Mellinet, wenn es Ihnen genehm.«
»Eure Exzellenz werden mir erlauben, nach meinem Quartier zurückzukehren,« sagte der Garde-Divisionär, kurz und kalt salutierend, und wandte, ohne Antwort abzuwarten, sein Pferd.
»Oberst Maurelhan-Polkes,« fuhr der Obergeneral fort, »das Regiment scheint mir allerdings etwas außer Zucht, und ich muß Sie bitten, eine größere Strenge eintreten zu lassen. Um den Übermut etwas zu dämpfen und zu bestrafen, soll das Regiment morgen die Spitze nehmen beim Sturm auf den Mamelon. Lassen Sie daher die Brigade Bergé die Stellung im Dokawaja-Grund einnehmen und die erste Brigade den Angriff machen, Camou!«
Ein donnerndes » Vive l'Empereur! Vive le général Pelissier!« erschütterte bei dieser Strafpredigt rings umher die Luft. Die Zuaven geberdeten sich wie wahnsinnig; sie umringten vorstürzend den General, sie umarmten und küßten die Füße seines Pferdes, sie schwenkten die grünen Schals ihrer Kopfbedeckung durch die Luft und trieben tolle Possen.
»Das ist unbillig, General Pelissier,« sagte ernst Pontèves, der von der Garde-Suite allein noch zurückgeblieben war. »Diese Genugtuung hätte zum mindesten den Garden gebührt, und ich halte Ihr Versprechen für meine Brigade bei dieser Gelegenheit und mahne Sie jetzt daran.«
Der Ober-General klopfte ihm freundlich auf die Schulter. »Sei vernünftig, Pontèves, wenn es Ernst gilt auf den Malachof, sollst Du mit Deinen Grenadieren nicht fehlen, auf mein Wort. Der Mamelon ist ein Vorposten, und den zu nehmen das Gesindel da gerade gut, das tolle Blut wird dabei genug dezimiert werden, und nach dem Gefecht die Freundschaft wieder hergestellt sein. Ich kenne das und schicke deshalb Deine Brigade in die Trancheen, damit heute Ruhe bleibt. – Ist es gefällig, meine Herren, wir haben viel Zeit verloren! Adieu, Kinder, beeilt Eure Vorstellung, damit Euch die meine nicht stört!«
Er galoppierte unter dem Zuruf der Menge in weit besserer Laune davon, als er hergekommen, gefolgt von der ganzen Suite. – – –
Der Ober-General und sein Stab waren noch nicht in der Schlucht verschwunden, als das ausgelassenste Leben und Treiben in dem Lager dieser Männer begann, die Narren und Kinder in ihrem Müßiggang, Löwen und Helden im Gefecht sind! Die Nachricht von dem bevorstehenden Kampf fiel wie ein Blitz durch die Zeltreihen der ganzen Brigade und schien, trotz der brennenden Mittagshitze, alles zu elektrisieren. Selbst die Offiziere waren von dem allgemeinen Taumel angesteckt. Überall waren Kreise und Gruppen in lebhafter Demonstration, vor dem Theater sammelten sich dichte Massen, nahmen die Plätze bunt durcheinander um den eingeschlafenen britischen Matrosen ein und schrien nach dem Beginne des Schauspiels und nach Musik, die Lieblingslieder und den Sturmmarsch zu spielen. In der Tat wurde auch die Ruhe erst einigermaßen hergestellt, als die Musiker in einem Erdloch vor der Bühne postiert, den Zuavenmarsch begannen, der Vorgang in die Höhe ging und die sämtlichen dramatischen Künstler in den absurdesten Aufzügen in einer Reihe gruppiert erschienen, während Lebrigaud an ihrer Spitze mit einer entsetzlichen Stimme den Text des Liedes brüllte, in dessen Chor bald die ganze Versammlung einfiel, daß die Melodie weithin durch die von der Sonnenglut zitternde Luft erklang.
Während dieser Szenen, die so wechselnd und belebt das allgemeine Interesse in Anspruch nahmen, hatten sich – gleichfalls hinter den Kulissen – mehrere Auftritte abgespielt, die nicht minder wichtig und fesselnd waren für die einzelnen Personen unserer Erzählung.
Michael Lasaroff, der gefangene Unterfähnrich, war bei dem Erscheinen der Kavalkade des Ober-Kommandanten neugierig, wie es die Jugend ist, an ein offenes Fenster der Kantine getreten, die Feldherren zu sehen, während Nini, mit der Anklage gegen ihren Bruder noch unbekannt, neben ihm stand, und ihm die Namen der Generale nannte. Plötzlich fuhr der Jüngling zurück – sein Blick war auf eine ihm wohlbekannte Gestalt gefallen, einen alten Mann in Zivilkleidung, die aber den früheren Krieger nicht zu verbergen vermocht hätte, auch wenn das Kreuz der Ehrenlegion auf der Brust und zwei tiefe Narben im Gesicht, von denen die eine sich am Schädel verlief, darüber im Zweifel gelassen hätten.
Der Greis ritt in der Suite des Generals en chef. Sein Auge musterte traurig und ernst die bunten Kriegergruppen. Eine kurze Wendung weiter – und es hätte gefunden, was es so sehnsüchtig suchte.
Der junge Unterfähnrich war lebhaft bewegt – Blässe und fliegende Röte wechselten auf dem von dem Wundlager noch angegriffenen Gesicht. Dann schien er seinen Entschluß gefaßt zu haben und zog sich hastig, wie vor einer Entdeckung fliehend und zur Verwunderung seiner Beschützerin Nini, in die ihm angewiesene Abteilung der Kantine zurück.
Die kurze Unterredung, welche der zum Arrest befohlene Grenadier-Offizier mit Mademoiselle Celeste gepflogen, hatte doch genügt, dem Schicksal der Eitlen und Leichtsinnigen eine neue Wendung zu geben. Die Anwesenheit von Frauen im Lager ohne bestimmten, militärischen Einrichtungen entsprechenden Beruf war zwar von beiden Oberfeldherren untersagt, das Verbot wurde aber vielfach und unter allerlei Vorwänden umgangen.
In dieser Weise war auch Madame Bibesco von ihrem Entführer, dem Kapitän de Sazé, während des Winters im Lager von Kamiesch untergebracht worden und hatte dort die Leiden und die Not der Armee weniger empfunden. Erst als ihr Beschützer und zeitweiliger Geliebter gefallen oder wenigstens verschwunden war und sie dadurch in allerhand Verlegenheit geriet, hatte sie den Vicomte de Méricourt aufgesucht und dabei Nini Bourdon in ihrer neuen Lage wiedergetroffen. So peinlich und unangenehm in vieler Beziehung ihr auch die Begegnung mit ihrer früheren Freundin und deren Gefährten sein mochte, hatte die Klugheit ihr doch geboten, das gutherzige Anerbieten derselben und eine Stelle als Demoiselle de Comptoir in der Kantine anzunehmen, die sie seit einer Woche bekleidete und die ihr reichlich Zerstreuung und Gelegenheit bot, mit den Offizieren zu kokettieren und ihre Netze auszuwerfen. Die fortwährenden Intriguen, in denen sie sich bewegte, waren es auch, die ihre Aufmerksamkeit von der Ähnlichkeit des armen Blödsinnigen mit dem früheren Geliebten Ninis in Paris abwandten und sie nicht näher und schärfer nachforschen ließen, als daß sie ein seltenes Spiel des Zufalls darin sah. Irgend eine Geschichte, die ihr die ehemalige Grisette von dem armen Verwandten erzählt, genügte ihr daher wenigstens scheinbar, da sie sorgfältig und aus ihr wohlbekannten Gründen vermied, auf die Szene jenes Abends in der Rue St. Joseph zurückzukommen, und sich auch wohl gehütet hatte, Nini von ihrem späteren Zusammentreffen mit dem Fürsten Iwan Oczakoff zu erzählen. Dennoch blieb ihr das Verhältnis zu Nini Bourdon und deren Umgebung höchst unbehaglich und sie ergriff daher die erste sichere Gelegenheit, sich ihm zu entziehen, indem sie die Anerbietungen des reichen Garde-Offiziers annahm. – – –
Während ihres Gesprächs mit dem Grafen Bretanne und den draußen vorgehenden lebhaften Szenen war daher auch der Eintritt eines englischen Offiziers wenig beachtet worden, der unfern des Einganges Platz nahm und Kaffee bestellte.
Der Fremde trug die Interims-Uniform eines englischen Linien-Regiments mit allen Nebenerfordernissen der feinsten Toilette. Ein rötlicher Schnurr- und Backenbart rahmte sein offenbar noch sehr jugendliches Gesicht ein, eine blaue Brille bedeckte die Augen.
Dennoch schien dies Gesicht einen eigentümlichen Eindruck hervorzubringen, denn Nini, bei der der britische Offizier im Vorübergehen Kaffee bestellt, betrachtete ihn mit halb erstaunter Miene und ging zweimal an ihm vorüber, ihn neugierig anschauend, ehe die Wendung des Verhörs vor General Pelissier all ihre Aufmerksamkeit und ihre Besorgnis fesselte.
Der schwachsinnige Jean brachte, da alle Bedienung sich außerhalb der Kantine befand, das Getränk und setzte es in seinem träumerischen Wesen achtlos vor dem fremden Offizier nieder.
Nicht so spurlos ging die einfache Begegnung bei diesem vorüber. Der Anblick des armen blödsinnigen Burschen durchzuckte ihn gleich einem elektrischen Schlage; er machte unwillkürlich eine Bewegung, aufzuspringen, die Arme erhoben sich – doch ebenso schnell schien er seiner Bewegung Meister zu werden und jedes Zeichen der Aufregung zu unterdrücken, außer, daß seine Blicke von diesem Moment an unverändert allen Bewegungen des Schwachsinnigen folgten, der das empfangene Geld zum Kontor trug und den Rest dem Offizier zurückbrachte.
Dieser berührte hastig dabei die Hand des armen Burschen – es schien, als ob er sie drückte. Wer in diesem Augenblick ihn näher betrachtet hätte, würde bemerkt haben, daß zwei große schwere Tropfen unter den blauen Gläsern der Brille langsam hervor und über seine Wangen flossen.
General Pelissier hatte bereits den Platz verlassen und verschiedene Gruppen der Offiziere und Soldaten hatten, während der Lärm und Jubel draußen tobte, sich um das Kontor Celestens oder in der Kantine selbst versammelt, der jungen Marketenderin die komischen Szenen des Verhörs schildernd, von dem bevorstehenden Kampf plaudernd, oder sich gemächlich zum Einnehmen ihres Kaffees anschickend. Die britische Uniform war eine zu gewöhnliche Erscheinung, als daß sie irgend hätte Aufmerksamkeit erregen können, als höchstens einige flüchtige Blicke, da der fremde Offizier sich abgesondert hielt und, den Kopf in die Hand gestützt, dadurch einen Teil seines Gesichts verbarg.
Zwei Männer nur hatten ihm eine schärfere Beachtung gewidmet, ohne daß er dies bemerkte. Es war der Korporal Bourdon, der seinen sehr grämlichen und ärgerlichen Sergeant-Major in eine Ecke gezogen, um sich dort gegen die Vorwürfe zu verteidigen, die der Alte für seinen Aufruf zum Zeugnis ihm machte.
»Den Teufel über Euch, Hallunken,« schmähte der Feldwebel. »Konntet Ihr Euch nicht herauslügen aus der Geschichte, ohne einen alten Kerl, wie mich und seine kleinen Sünden vor den General zu bringen? Wenn er mich nun degradiert hätte, Ihr Schufte, bloß weil ich mich verleiten ließ, mir in Gesellschaft solcher Laffen einen kleinen Haarbeutel zu trinken? He – was hätte man dann in der ganzen Armee vom Sergeant-Major Fabrice gesprochen? – Welche Schmach wäre damit auf die sämtlichen Zuaven gefallen! Fichtre!«
» Il n'est pas si diable qu'il est noir, Papa Fabrice!« beruhigte ihn der Korporal. »Ihr habt nichts von einem Haarbeutel gestanden und nur die Wahrheit gesagt, daß Ihr mit uns ein wenig gebechert. Wie sollte das Eurem Ruf schaden? Oder wolltet Ihr vielleicht lieber, daß wir in eine arge Klemme kamen, wo es galt, ein paar Worte Wahrheit zu sprechen? – Parbleu – laßt das meine Schwester nicht hören!«
»Na ja,« brummte der Alte, »es hätte mir freilich leid getan, aber …«
»Ich schwöre Euch überdies, Papa Fabrice,« fuhr der Korporal fort, »Ihr war't auch nicht im geringsten betrunken. Ich weiß ganz bestimmt, daß Ihr uns alle zu unserem Lager gebracht habt und der letzte waret, der einschlief.«
»So – na, wenn das ist! – ich habe auch so eine dunkle Erinnerung! – Aber der Ärger vor dem General hat mir die Kehle ganz trocken gemacht – ich muß mich wahrhaftig umsehen –«
»Bleibt ruhig sitzen, Papa Fabrice, und seht Euch unterdes den Engländer an, von dem uns Nini gesprochen und der Jean so ähnlich sein soll, indes ich uns eine Flasche hole.«
Er kehrte bald darauf zurück und schenkte ein. Von dem Platz, den sie gewählt, konnten sie unbemerkt den britischen Offizier beobachten.
» Peste!« murmelte der Sergeant-Major, »es ist wunderbar, wie ähnlich er dem blödsinnigen Jungen schaut. – Erinnerst Du Dich noch des Russen, der bei Inkerman mit seiner Pistolenkugel mir die Wange schlitzte? – Es ist, als ob der Teufel das verhenkerte Gesicht in alle Nationen der Welt hineingehext hätte!«
» Morbleu – Du hast recht, Papa Fabrice, mich daran zu erinnern! Ob der Bursche am Ende gar ein falscher Engländer ist? – Ich will mich doch gleich überzeugen!«
Er erhob sich, nachdem er die Flasche geleert, und schlenderte bei dem Tisch des Briten vorüber, wo er wie zufällig stehen blieb.
»Wollen Sie nicht unser Theater mit Ihrer Gegenwart beehren, mein Offizier?« fragte er auf Englisch. »Es wird ein prächtiges Stück aufgeführt, und ich werde für einen guten Platz sorgen.«
Der Fremde fuhr bei der unerwarteten Anrede zusammen, antwortete aber sogleich: »Später, mein Tapferer. Im Augenblick bedarf ich einer kleinen Erholung, denn es ist eine ziemliche Strecke von Kadikoi bis hierher.«
»Ach, Sie kommen gewiß, das Bombardement mitanzuschauen. Man wird es prächtig von hier sehen, das französische und britische in einem Ueberblick.«
»Und wann soll es beginnen, mein Freund?« fragte der Engländer, aufmerksam geworden, mit einiger Unruhe.
»Ah, General Pelissier ist von noblem Charakter. Er wird uns nicht in unserem Vergnügen stören. Unsere Landsleute am weißen Berg müssen ja auch zuvor ihre Steeple-Chase abhalten, wie sie ihre Hundejagd nennen. Ich denke so gegen fünf Uhr, Sir. Aber das wird gar nichts sein gegen unseren Sturm morgen. Sie wissen doch, daß das dritte Zuaven-Regiment die enfants perdu bilden wird?«
»In der Tat – ich wußte es nicht!«
»O, dann müssen Sie morgen wieder hierher kommen oder hier bleiben und den Spaß ansehen, wenn der Dienst Sie nicht bindet. Auf Wiedersehen, mein Offizier – ich höre meine Kameraden rufen, aber ich komme, es Ihnen zu sagen, wenn der zweite Akt beginnt!«
Er entfernte sich nach dem Ausgang der Kantine, wo Fabrice sich mit der Marketenderin Nini unterhielt, während daneben das Publikum eben einem Couplet der Fürstin Mulaschpulaschkin donnernden Beifall klatschte. »Wir haben uns getäuscht, Papa Fabrice, der Herr ist ein veritabler Engländer, der aus reinem Zufall dem armen Jean so ähnlich sieht.«
Eben traten der Vicomte, der Arzt und der Baronet zu der Gruppe.
Der schwachsinnige Bursche, der Gerät von den Tischen der Kantine fortgeräumt, schlich wieder zurück nach dem hinteren, für die beiden Kranken und Gefangenen bestimmten Raum, wo er den größten Teil seiner Zeit zubrachte.
Er war kaum durch die Tür verschwunden, so erhob sich der britische Offizier, nachdem er einen raschen Blick in der Kantine umhergeworfen und sich unbemerkt gesehen hatte und folgte dem Blödsinnigen.
Er legte die Hand auf den Drücker der Tür und horchte einen Augenblick – im nächsten schloß sie sich hinter ihm.
In dem halb von Segeltuch, halb von Holzwerk gebildeten Seitenbau der Kantine lag auf einem Feldbett, den Kopf in eine Binde gehüllt und von einem hohen Kissen gestützt, regungslos die abgezehrte Gestalt von Gregor Caraiskakis.
An seinem Bett saß stumm, die dunklen Augen fast bewegungslos auf sein Gesicht geheftet, Abdallah ben Zarugah, der Emir aus der Hedjas, und am unteren Ende der stumpfsinnige Schützling Ninis.
Auf der anderen Seite des Gemachs stand Michael Lasaroff, seinem kranken Leidensgefährten von dem Besuch des General Pelissier und dem bevorstehenden Angriff auf die Festungswerke erzählend.
Weder die Anwesenheit Jeans, der sich mit sichtlicher Vorliebe an den jungen Unterfähnrich angeschlossen und aufmerksam den russischen Liedern lauschte, die dieser manchmal zum Zeitvertreib sang – noch die des Arabers schien den Erzähler zu stören. An beide war man gewöhnt, denn der Emir erschien, wie bereits in dem Gespräch der Zuaven erwähnt worden, fast täglich in der Kantine, um nach seinem Gefangenen zu sehen, dessen Genesung er sehnsüchtig zu erwarten schien, obschon die stolze Würde seines Volkes ihm Ruhe und Geduld gab. So pflegte er, wenn der Dienst ihn nicht abhielt, ein bis zwei Stunden neben dem Kranken zuzubringen, die Augen auf sein Gesicht geheftet.
Auch dieser selbst schien sich an den Besuch gewöhnt zu haben, dessen Ursache gleichwohl jedermann ein Rätsel war. Doktor Welland hatte an diesem Nachmittag dem Krieger der Wüste mitgeteilt, daß der kranke Grieche nach Konstantinopel, behufs seiner besseren Heilung, geschafft werden solle, und der Araber saß seitdem in ernstem Nachsinnen über die gewöhnliche Zeit seines Besuchs hinaus.
Zwei Augenpaare waren aufmerksam auf die erzählenden Lippen des jungen Russen geheftet, gleich als wollten sie jedes Wort verschlingen. Wir wissen, daß die einzige Lebenstätigkeit in dem fast völliger Apathie unterlegenen Körper des griechischen Kapitäns in den Augen lag, durch die sich das volle Seelenbewußtsein aussprach. Diese Augen drückten jetzt deutlich die Teilnahme des vielgeprüften Mannes, des treuen Bundesgenossen der Russen, an der Gefahr aus, welche die Festung bedrohte und den Schmerz, hilflos hier liegen zu müssen.
Im seltsamen Gegensatz schien die innere geistige Tätigkeit des zweiten Aufhorchenden gleich Null, während er körperlich im vollen Besitz aller Lebenstätigkeiten war. Nur der Klang der russischen Worte, in denen der Fähnrich erzählte, schien seine Aufmerksamkeit zu erregen und sein Ohr wohltätig zu berühren.
»Und wir müssen hier gefangen sein,« schloß Michael Lasaroff seine Rede, »wir können ihnen keine Nachricht geben von der drohenden Gefahr. Die Lünette ist das Vorwerk unseres Bollwerks, – das erkennen und wissen diese Fremden gut genug und daß, wenn der Malachof fällt, Sebastopol verloren ist! O, möchte immer an seinen Wällen ihr Stolz und ihr Übermut sich brechen!«
Eine klare, feste Stimme gab die Antwort auf den Wunsch des tapferen Knaben!
» Dai Bosche!«
Erstaunt schaute der Fähnrich nach dem Eingang. Dort stand der britische Offizier, die Hand zum Himmel gehoben. Die Linke hatte die Mütze und die entstellende blaue Brille entfernt – seine Augen waren fest und innig auf den Irren geheftet, während er nochmals die Worte wiederholte:
» Dai Bosche!«
War es der Klang dieser Stimme – waren es die zwei Worte selbst, mit denen der Russe häufig auf ein Gebet oder einen Segensspruch antwortet – sie wirkten wie ein elektrischer Strom auf die Seele des Irren, wie eine plötzliche Erinnerung aus der Kindheit und Jugend, wie ein Strahl von Licht auf die Nerven seines Denkvermögens. Er war emporgesprungen, seine Hände an die Schläfe gepreßt, seine großen braunen Augen hafteten weit geöffnet auf der fremden Erscheinung, die mit magischer Gewalt ihn anzuziehen schien. Denn Schritt vor Schritt, sie unverrückt anstarrend, schwankte er auf sie zu.
Ebenso fest hielt der britische Offizier seine Augen auf ihn geheftet, aus denen Trauer und Zärtlichkeit sprach. Langsam senkte sich sein Arm, und seine Hand streckte sich nach dem armen Schützling Ninis aus – seine Lippen öffneten sich wie zu einem Wort, einem Ruf, den wogende, kämpfende Gefühle in seiner Brust noch erstickten.
Aber noch ehe er die Lippen überschritten, hatte sich die Szene verändert.
Mit Staunen hatten die stummen Zuschauer das seltsame Naturspiel betrachtet, das die beiden einander so fremden Wesen boten. Wie sie so dicht aufeinander zugetreten, war die Ähnlichkeit zwischen ihnen deutlich, ja wahrhaft erschreckend. Das blasse, krankhafte Antlitz des Irren trug unverkennbar die Züge des schönen, kräftigen Gesichts des fremden, jungen Offiziers – Augen, Nase und Mund boten dieselben Formen. Die merkwürdige Ähnlichkeit, dies Spiegelbild schien eben so auffallend auf den Irren zu wirken und den Eindruck der Stimme und der Worte des Fremden fortzusetzen. Er kämpfte und rang offenbar in seinem Geist, gleich als wolle er eine schwere Last von sich schütteln. Seine Hände wühlten krampfhaft in dem lockigen Haar – in dem Spiegel der Augen schien Erinnerung zu dämmern.
Der Gang der Ereignisse verhinderte die Katastrophe. Der Auftritt hatte noch andere Zeugen gehabt, auf welche der Anblick des nicht mehr durch die Brille entstellten Gesichts des Offiziers seine Wirkung geübt.
Die Hand Michael Lasaroffs zeigte nach der Tür; seine Miene schien verwirrt nach der Bedeutung der seltsamen Szene zu fragen.
Eine andere faßte zugleich des Briten Arm. »Keine Bewegung, Fürst – um des Himmels Willen schauen Sie nicht zurück, oder Sie sind verloren,« flüsterte eine Stimme an seinem Ohr. »Geschwind die Brille vor die Augen.«
Neben dem englischen Offizier stand der Vicomte de Méricourt, gefolgt von dem Arzt und dem Baronet, und durch die geöffnete Tür schauten der Sergeant-Major und das Geschwisterpaar Bourdon.
»Willkommen, Leutnant Talbot!« fuhr der Vicomte mit Geistesgegenwart laut fort, »es freut mich, sie hier zu treffen – die Ähnlichkeit des armen Burschen da mit Ihnen hat gewiß auch Ihr Interesse erregt!« Er war zwischen den Offizier und die Tür getreten, sein Auge traf zugleich bittend und verständigend den Arzt, und dieser trat zu Nini und ihrem Bruder, ihnen erzählend, daß der Fremde ein ihnen längst bekannter Offizier sei. Fabrice und der Korporal zogen sich sogleich respektvoll zurück.
Der Leutnant-Colonel atmete tief auf, als er die nächste Gefahr so glücklich beseitigt sah. »Welche thörichte Verwegenheit führte Sie hierher, Fürst?! General Pelissier läßt ohne Ansehen jeden als Spion erschießen, der in Ihrer Lage betroffen wird. Sprechen Sie – was kann ich – was können wir alle tun, Sie zu retten; denn wir alle danken Ihrer edlen Schwester Leben und Freiheit.«
Fürst Iwan Oczakoff, denn dieser war allerdings der verkleidete Russe, nahm, ohne ein Wort zu entgegnen, ein versiegeltes Briefpacket aus der Brusttasche und reichte es dem Vicomte.
»Für mich?«
Der Fürst nickte bejahend.
Méricourt riß die Emballage auf, ein Dokument, mit dem Siegel des Gouverneurs von Sebastopol bescheinigt, und ein an ihn adressierter Brief waren darin. »Von de Sazé – demnach ist er gefangen in Sebastopol?«
Das Auge des Fürsten wies traurig nach dem Brief, den der Vicomte rasch überflog. »Der Unglückliche – so hat er geendet?«
Der Fürst entfaltete eines der Papiere – es war der amtlich beglaubigte Totenschein.
»O mein Gott – in seiner Blüte, als ihm das Glück lächelte!« Der Colonel preßte traurig die Hand an seine Stirn. »Sein Vermächtnis, sein Wille soll mir heilig und all' meine Tätigkeit dem Recht seiner Gattin geweiht sein. Aber er starb in Ihrem Hause, Fürst, gepflegt in seiner letzten Stunde von Ihrer hochherzigen Schwester, die ich mit Entsetzen jetzt in den tausend Gefahren jener Stadt sehe! Das muß uns ein neuer Sporn sein, Sie zu retten – welcher Grund Sie auch immer zu diesem verwegenen Schritt bewogen hat. Kommen Sie her, Doktor – Sir Edward, ich beschwöre Sie, helfen Sie uns ein Mittel ersinnen, diesen Unbesonnenen einem schmählichen Tode zu entziehen und glücklich über die Linien hinaus zu bringen.«
»Von welcher Seite gelangten Sie in das Lager, Fürst?« fragte der Arzt.
Iwan Oczakoff deutete ruhig nach Osten. Es war offenbar, daß er nicht Rede stehen wollte.
»Es ist unmöglich, ihn dort wieder hinauszuschaffen,« erklärte der Colonel. »Die Wachen sind, seit der Sturm beschlossen, verstärkt. Niemand darf unter irgend einem Vorwand die Linien verlassen, ich selbst kenne das Paßwort noch nicht.«
»So müssen wir versuchen, ihn auf der Seite der Engländer entfliehen zu lassen – die Aufsicht ist dort fahrlässig.«
»Denken Sie an das Rennen,« mischte der Baronet zum ersten Mal sich ein. »Die Gelegenheit ist unbedingt günstig – die Tollköpfe setzen oft bis in die russischen Linien hinein, und wenn der junge Mann Mut, Geistesgegenwart und ein gutes Pferd hat – ist seine Rettung leicht. Ich selbst will ihn so weit als möglich begleiten. Meine Nähe wird ihn vor jedem Verdacht sicher stellen.«
»Der Gedanke ist vortrefflich,« sagte überlegend der Arzt, »und muß aufs schnellste ausgeführt werden, denn« – er sah nach der Uhr – »es fehlt nur noch eine halbe Stunde zur Rennzeit. Aber wo nehmen wir ein Pferd her?«
»Das meine steht gesattelt,« fiel hastig der Vicomte ein, »erinnern Sie sich, daß ich Sir Edward begleiten wollte!«
Der besonnene Arzt schüttelte den Kopf. – »Das geht nicht,« sagte er, »Ihr Pferd trägt das französische Sattelzeug und ist überdies ein schwerer Normann, der hinter den flüchtigen Rennpferden der englischen Offiziere zurückbleiben würde. Wir müssen ein Pferd haben, was ihm die Chancen des Entkommens sichert. Außerdem bestehe ich darauf, Vicomte, daß Sie als Offizier ganz aus dem Spiel der Hilfeleistung bleiben.«
Eine leichte Hand berührte leise seinen Arm. Es war Abdallah, der Araber, der, obgleich er nur einige Worte französisch verstand, doch mit der scharfen Beobachtung seines Volkes der Unterredung gefolgt war.
»Mein Freund, der die Heilkräfte der Kräuter und Metalle so gut kennt,« fragte er sanft in türkischer Sprache, »braucht ein Roß?«
»So ist es, Emir – ein Pferd, schnell wie das Deine!«
»So nimm Eidunih, meine geliebte Stute, den Schatz der Zarugah – ich gebe sie Dir unter einer Bedingung.«
»Welche – sprich!«
»Laß mich diesen Mann begleiten, wenn sie ihn, wie ich hörte, nach Stambul bringen wollen.«
»Was hast Du mit ihm, edler Emir – er ist Dein Gefangener, aber bedenke, er ist ein Unglücklicher, den Gott getroffen.«
»Der Mann hat Abdallah ben Zarugah nie ein Leid zugefügt – er kennt ihn nicht! Aber Abdallah muß das Erwachen seiner Lippen belauschen, um ihn zu fragen, wo Der ist, dessen Züge er trägt und dessen Bruder er sein muß. Ich habe gesonnen und gesonnen, bis der Prophet Licht in meine Seele gesandt und mir zugeflüstert hat, daß der Moskow, den ich fing an den Ufern der Katscha und den die blutige Rose von Skadar von mir forderte, der griechische Verräter ist, den sie liebte.«
»Ich weiß es,« sagte der Araber, auf den Capitano deutend, »denn jener trug das Antlitz seiner Familie. Er soll mir Kunde geben, wohin Fatinitza, die Rächerin, verschwunden ist, ob sie meiner Hilfe bedarf oder ob sie treulos geworden am Glauben ihrer Väter um eines Feigen willen.«
»Ich wiederhole Dir, ich verstehe Dich nicht – doch ich nehme Dein Anerbieten an, und Du sollst diesen Kranken begleiten, wenn Du das Heer verlassen darfst und mir schwörst, diesem Manne kein Leides zu tun.«
Der junge Emir legte die Hand auf sein Haupt. – »Ich gelobe es Dir, weiser Hekim-Baschi. – Abdallah ist ein freier Mann und kann gehen und kommen, wann und wie er es für gut findet. – Wohin soll ich die Stute Dir führen?«
»Bringe sie hinter das Lager dort rechts und harre unserer an den beiden Cypressen. Sei rasch, Emir Abdallah, ich bitte Dich, und wenn es angeht, entstelle das Aeußere Deiner Stute, damit man sie nicht erkennt.«
Der Araber nahm seine Gewänder zusammen, warf noch einen Blick auf seinen Gefangenen und verließ das Gemach. Doktor Welland teilte eilig den Freunden das Anerbieten mit, und sie beide kannten genugsam die edlen Eigenschaften des Pferdes, um zu wissen, daß es die Flucht des Russen sichern würde.
»Sie, Vicomte, müssen hier bleiben,« fuhr der Arzt fort, »und die scharfen Augen derer abwenden, denen bereits die unheilvolle Aehnlichkeit aufgefallen ist. Der Baronet und ich werden unsern jungen Freund oder Feind begleiten, und Gott und seiner Geistesgegenwart muß das Weitere überlassen bleiben.«
»Einen Augenblick noch,« sagte der Colonel. »Ich kann es mit Ehre und Gewissen vereinbaren, Fürst, Sie von einem schmählichen und unedlen Tode zu retten, aber ich darf nicht ganz meine Pflicht als Soldat und Franzose vergessen. Was auch der Grund war, der Sie hierher geführt – dieser Brief oder ein unbesonnener Diensteifer: Sie müssen mir Ihr Ehrenwort geben, nichts von den militärischen Vorbereitungen zu verraten, welche die Festung bedrohen und von denen Sie vielleicht Kenntnis genommen. Sie werden als Soldat und Edelmann meine Forderung würdigen.«
Iwan Oczakoff legte beteuernd die Hand auf die Brust; es war seltsam, daß er selbst in diesem Augenblick zu sprechen vermied. Aber sein Auge traf zugleich mit bedeutungsvollem Ausdruck auf das des jungen Unterfähnrichs.
»So bin ich zufrieden, Gott schütze Sie, und sagen Sie der Fürstin, Ihrer Schwester, daß es eine kleine Zahlung auf unsere große Schuld an sie sei.«
Fürst Iwan lächelte, indem er zwei Finger in die Höhe hob, als wolle er andeuten, daß der Franzose ihn zwei Mal gerettet. Dann, indem jener das Gemach verließ und am Eingang der Kantine mit der Marketenderin, ihrem Bruder und Celesten ein Gespräch begann, machte er sich bereit, dem Arzt und dem Baronet zu folgen.
Dies schien ihm, trotz der Gefahr, in der er schwebte, nicht leicht zu werden, denn er war auffallend bewegt, während seine Augen mit ängstlichem, zärtlichen Ausdruck auf dem Irren ruhten.
Der Arme hatte sich bei dem Dazwischentreten scheu in einen Winkel zurückgezogen, das Gesicht mit den Händen bedeckt und schien gleichfalls lebhaft erregt und von einem Ringen in seinem Innern gequält.
Der Arzt betrachtete erstaunt und nachdenklich diese kurze Szene.
»Eilen wir!« sagte der Baronet, an dessen Melancholie dies Zwischenspiel bedeutungslos vorübergegangen war.
Iwan Oczakoff faßte sich mit einer raschen Anstrengung, indem sein Auge dabei dem fragenden Blicke des Arztes begegnete. Er trat mit raschem, elastischem Schritt auf den Irren zu, schlug mit dem Daumen der rechten Hand ein Kreuz über ihn und küßte ihn nach russischer Sitte auf die Stirn. Dann wandte er sich schnell ab und verließ mit seinen beiden Begleitern das Gefangenen- und Krankengemach.
In der Kantine geleitete sie der Arzt durch einen hintern Ausgang ins Freie, während das brüllende Gelächter des Publikums über die tollen Späße der Fürstin Mulaschpulaschkin dicht neben ihnen erscholl. Indes Sir Edward sein Pferd von einer nahen Baracke holte, geleitete der Arzt seinen jungen Schützling rasch weiter.
Er gedachte des ähnlichen Auftritts in Widdin und wie seltsam das Schicksal spielte, daß es ihn hier zum zweiten Mal als Retter des Feindes auftreten ließ. Er konnte sich nicht enthalten, den Fürsten zu fragen, ob er den Stabs-Kapitän Meyendorf kenne und dieser sich in Sebastopol befinde.
Fürst Iwan nickte bejahend.
»Dann,« sagte der Arzt, »bitte ich Sie, den Namen eines Freundes, den meinen – Doktor Welland – zu nennen und ihm zu sagen, daß Graf Pisani mit seiner edlen Gemahlin sich in der sardinischen Armee auf den Höhen der Tschernaja befindet.«
Sie waren nur wenige Schritte noch von der Cypressengruppe entfernt, in deren Schatten Emir Abdallah bereits die Stute Eidunih – das Roß des Windes – bereit hielt, als der Russe stehen blieb und plötzlich sein Schweigen brach.
»Doktor Welland,« sagte er feierlich und aufgeregt, »ich weiß von einer, deren Leben und Denken Ihnen gehört, daß Sie das Herz eines Ehrenmannes haben. Wollen Sie dem Dienst, den Sie mir in diesem Augenblick erweisen, noch einen wichtigern, heiligern hinzufügen, der mich Ihnen ewig verpflichten wird?«
»Sprechen Sie, Fürst!«
»Geloben Sie mir zuerst auf Ihre Ehre, was ich Ihnen vertraue, in Ihrer Brust zu bewahren, bis meine Lippe oder der Tod es löst?«
»Auf meine Ehre!«
»So beschwöre ich Sie, all' Ihre Kunst, Ihr menschenfreundliches Herz dem armen Irren zuzuwenden, den ich in jenem Gezelt verlassen mußte; ich binde ihn auf Ihre Seele, denn – –« der junge Fürst trat dicht an ihn heran und flüsterte einige Worte, bei deren Anhören der Arzt erschrocken und staunend zurücktrat. Im nächsten Augenblick schon war Iwan Oczakoff bei dem Araber und im Sattel. Zugleich galoppierte Sir Edward herbei. Einen flüchtigen Gruß noch, dann flogen beide Reiter dahin nach dem Labordonaja-Grund und der englischen Stellung.
Die britischen Offiziere hatten zu ihrer Unterhaltung eine eigentümliche Art des Wettrennens erfunden, die Jagd auf die wilden Hunde, die sich in der Nähe der Lager und der Schlachtfelder mit ihren Genossen, den Geiern, sehr zahlreich aufhielten. Die Tiere, Wolf und Schakal ähnlich, zeigten sich gewöhnlich ziemlich furchtlos und schlau, indem sie – gleich als wüßten sie, wo sie Schutz finden könnten, – den Weg nach den russischen Festungswerken nahmen. Die Hetze wurde hierdurch und durch das wechselnde, unbekannte Terrain ein sehr gefährliches Spiel, bei dem Unglücksfälle nicht selten vorkamen.
Die schon mehrere Tage vorher in Folge einer Wette für diesen Nachmittag angekündigte Jagd hatte eine bedeutende Anzahl von Offizieren und Gentlemen aus dem Administrations-Personal auf dem Plateau des weißen Berges versammelt. Man hatte sich genötigt gesehen, trotz der Hitze die Jagd auf eine frühere Nachmittagsstunde anzusetzen, da das angekündigte Bombardement sie später unmöglich gemacht hätte und der Wortlaut der Wette das Niederhetzen einer bestimmten Anzahl von Hunden in bestimmten Tagen, deren Datum am Abend ablief, erforderte.
Der Kreis der militärischen Sportsmen und Jäger war jetzt ziemlich gut beritten; denn viele Offiziere hatten im Laufe des Frühjahrs von England sich treffliche Pferde nachkommen lassen, zum Teil auch unter den türkischen gute Einkäufe gemacht. Es befanden sich jedoch nur wenige französische Kavallerie-Offiziere in der Gesellschaft, da im Ganzen bei diesen Wettrennen die Franzosen sich als weit schlechtere Reiter bewiesen hatten und ihren Verbündeten nicht gern diesen Triumph über sich einräumten. Als der Baronet und sein Schützling auf dem Platz des Rendezvous ankamen, fanden sie die ganze Reitergruppe bereits in Bewegung und langsam dahin reitend, um den Gegenstand der Verfolgung aufzusuchen. Dies war ein sehr günstiger Umstand, der jede Aufmerksamkeit von ihnen ablenkte, und sie schlossen sich unbemerkt der Kavalkade an.
Die Jäger trugen am rechten Handgelenk herabhängend eine schwere Hetzpeitsche von Riemen aus Büffelleder, in deren drei Spitzen Büchsenkugeln eingeflochten waren und es galt, mit dem Schlag der Peitsche das Tier, so bald es erreicht worden, zu Boden zu strecken.
Unter den vordersten Reitern des Zuges konnte man eine Dame bemerken, die fest im Sattel mit großer Sicherheit ihr schönes braunes Pferd lenkte und mit ihren Nachbarn sprach. »Das einfältige Bombardement,« bemerkte sie eben, »wird uns am Ende ganz die Jagd verderben. Die Munitionskarren, die unaufhörlich in Bewegung sind, und die Herren vom Genie haben alle Tiere verscheucht, und ich wette wir bekommen kein einziges zu sehen.«
»Dann würde der Preis unentschieden bleiben,« sagte galant der Infanterie-Kapitän an ihrer Seite, »und Mistreß Duberly, trotz ihrer schönen Aussichten, ihn verlieren.«
»Dasselbe geschieht, wenn ein Anderer als wir Drei heute das Wild niederschlägt,« entgegnete die Amazone. »Wie viel trafen Sie doch in diesen Tagen, Kapitän Cavendish?«
»Und ich und Herr O'Mallay hier, ohne daß er den Hals gebrochen, eben so viele, während die anderen nur zwei zählen. Was haben Sie da in der Hand, Sir?«
»O – nichts, Mylady, nur eine Dose von indischer Elfenbeinschnitzerei. Ich hatte sie in meine linke Gilettasche gesteckt und bemerkte, daß sie mich dort geniert. Sie ist mit getrocknetem Ingwer gefüllt – darf ich Ihnen davon anbieten?«
»Nein, Sir – ich danke! Aber bitte, zeigen Sie mir die Dose selbst, die Arbeit scheint ausgezeichnet.«
Kapitän Cavendish überreichte sie ihr. – »Ich kaufte sie im Augenblick, als ich an Bord gehen wollte, um nach Europa zurückzukehren, von einer indischen Händlerin, die mich mit seltener Aufdringlichkeit plagte. Ich hatte die Dose ganz vergessen, da ich mein Gepäck nicht wieder nachgesehen, seit ich an der Wunde von Inkerman ins Lazarett von Balaclawa kam. Ich fand sie heute zufällig beim Kramen und nahm sie zu mir.«
»Die durchbrochene Elfenbeinarbeit ist ausgezeichnet, ich habe sie selten so schön gesehen,« meinte die Dame, die Dose zurückreichend.
»Waren Sie mit dem Fähnrich O'Malley verwandt, Sir?« fragte der Offizier den Dragoner, »der bei unserem Regiment stand und bei Inkerman fiel?«
»Er war ein Vetter, von der Linie der O'Malley von Timberary, Kapitän. Warum?«
»Es kam mir in den Sinn, weil in den letzten Stunden, die ich mit ihm verlebte, zufällig auch die Rede von meinen Erinnerungen aus Indien war.«
»Ich will nicht hoffen, daß Sie mir ein ähnliches Schicksal daraus vindizieren,« lachte der Dragoner-Leutnant. »Hollah ho! – da haben sie etwas entdeckt – vorwärts, Mylady, sonst kommen wir zu spät!«
Er gab seinem Pferde die Sporen und sprengte, von der Dame und dem Kapitän begleitet, dem Orte zu, wo mehrere Reiter plötzlich angehalten.
Dort kauerte allerdings ein großer, gelbbrauner Hund, den spitzen Kopf weit vorgestreckt, die Ohren zurückgelegt, gleich als wisse er recht gut die Annäherung der Feinde und wolle doch voll Selbstvertrauen nicht eher von dem Pferdeknochen weichen, den er zwischen den Vorderpfoten hielt, als bis es die höchste Not erfordere. Die Reiter, die rasch näher kamen, während der Hund sie anbellte, breiteten sich nach rechts und links aus, um ihm den Weg abzuschneiden. Plötzlich schien das Tier seine Sicherheit zu verlieren, es sprang empor, zog den Schwanz ein und fing an, davon zu laufen, während die ganze Gesellschaft ein wildes Tally-ho ertönen ließ und im Galopp über das felsige Terrain die gefährliche Jagd begann.
Der Hund nahm seinen Weg nach dem Labordonaja-Grund und überschritt die Woronzoffstraße, sich nach links wendend, nachdem die Jäger sich vergeblich bemüht hatten, ihm in dieser Richtung zuvorzukommen.
»Jetzt ist es Zeit,« flüsterte der Baronet dem jungen Russen zu. »Vorwärts und Gott schütze Sie!«
Iwan Oczakoff kniff, wie ihn der Araber bedeutet, in das linke Ohr der Stute und sofort stürzte das edle Pferd in gestrecktem Lauf voran.
Die Jagd ging über einen gefährlichen, von Felsspalten und Steinmassen vielfach durchbrochenen Boden. Cavendish, die Lady und der junge Irländer waren allen anderen voran; aber in wenig Augenblicken schon sahen sie den unbekannten Offizier ihnen zur Seite und gleich darauf ihnen voran schießen.
» Goddam! der Bursche ist vortrefflich beritten – echt arabisches Blut. Nun, Mylady, lassen Sie Bob seine Künste zeigen!«
Die Dame trieb ihren Vollblutrenner mit Peitsche und Sporen an, der Kapitän war dicht hinter ihr – O'Malley mehrere Längen zurück mit seinem Halbblütigen. Aber alle Anstrengungen waren vergeblich; denn der unbekannte Rival war bereits weit voraus und dem Tiere dicht auf den Fersen, das jetzt gerade seine Richtung zwischen den englischen Trancheenlinien hindurch den Grund entlang nach dem Ende der Südbucht und der Batterie Stahl nahm.
Plötzlich erschütterte eine dröhnende Salve die Luft, weiße Rauchwirbel kräuselten empor, Schuß auf Schuß aus schwerem Geschütz donnerte die Reihen der Batterien entlang bis zur Canrobert-Schanze auf dem äußersten rechten Flügel, und aus den Festungswerken der Bastionen der linken Stadtseite flammte und krachte die Erwiderung; – das Bombardement hatte mit voller Wut begonnen.
Kapitän Cavendish parierte sein Pferd. »Zurück, Mylady, um des Himmels willen, oder wir kommen in die Schutzlinien. Zurück.«
Die Dame hielt unerschrocken den schnaubenden Renner an. »Sehen Sie dorthin – der Mann vor uns – der Unbesonnene! – Sie winken ihm aus den Batterien – er achtet nicht darauf.«
»Das Pferd muß mit ihm durchgegangen sein – er scheint nicht Herr mehr desselben. – Schade um den kecken Burschen – er ist rettungslos verloren, wenn er nicht etwa ein Überläufer ist. Aber fort von hier, Mylady, die Stelle ist für Sie zu gefährlich!« Eine Vollkugel aus dem Redan rikochettierte unfern von ihnen. Beide wandten die Pferde und sprengten davon.
Fürst Iwan war im Pulverdampf der Batterien an der Biegung der Woronzoffstraße verschwunden.
Allmählich sammelte sich die Reiterschar auf der Höhe des weißen Hügels von der so gefährlich unterbrochenen Jagd und besprach den Ausgang, von dem günstigen Standpunkt außerhalb der Schußlinie der Kanonade zuschauend. Der allen unbekannte Reiter und sein Schicksal bildete natürlich einen Hauptgegenstand des Gespräches und der Vermutungen.
»Er muß von Balaclawa heraufgekommen sein,« behauptete Leutnant O'Malley; »vielleicht einer der neuen Burschen, die von Konstantinopel gekommen. Aber schade ist es um das Pferd, der Blitz ist langsam gegen solch Blut. Ich möchte mein Patent dagegen wetten, so neu es auch ist, daß es ein reiner Araber war von der Mohanna-Rasse.«
»Wenn ich recht gesehen,« sagte Mistreß Duberly, »kamen Sie ja mit dem Herrn zugleich, Sir Edward?«
»Ich traf ihn auf dem Wege zum Abritt, kannte ihn jedoch nicht.«
»Jedenfalls war unser Rennen ein totes,« meinte lächelnd der Infanterie-Kapitän, »vielleicht in doppelter Beziehung. Aber der tolle Ritt hat mich doch etwas angegriffen – ich fühle noch zuweilen die Nachwehen des Lazaretts. He, Mickey, nimm mein Pferd und halte reinen Mund gegen Kapitän Stuart, sonst brummt er drei Tage lang mit mir.«
»O Jemine, Kapitän,« sagte der Irländer, der diesmal den Reitknecht spielte, »warum hören Sie auch nicht auf guten Rat und bleiben hübsch im Lager, wenn das Regiment einmal Ruhe hat. Das kommt alles davon, daß Sie Pferde halten, Kapitän, was beim 95. doch nur der Oberst tut. Wollen Sie eine Stärkung? Akushla – 's ist echter Wisky in der Flasche!«
Kapitän Cavendish hatte sich neben der Reitergruppe, die sich durch zahlreiche unberittene Zuschauer vermehrt hatte, auf ein Felsstück gesetzt. – »Ich danke, ich bin noch zu erhitzt. Ich will zuerst von diesem Ingwer genießen, den ich noch nicht probiert.«
Er holte die Dose aus der Tasche, öffnete sie und nahm einige Stücke heraus, die er in den Mund steckte, während der Soldat mit den Pferden lüstern neben ihm stehen blieb.
Plötzlich sprang der unglückliche Offizier empor, schlug die Arme wild um sich und stürzte mit einem entsetzlichen Schrei zu Boden. Alles sammelte sich sogleich um ihn her, zuerst in der Meinung, er sei von einer Kugel getroffen; die Zuckungen des Unglücklichen, der Schaum, der ihm vor die Lippen trat und das rollende, blutunterlaufene Auge zeigten jedoch bald, daß es sich hier um einen inneren Krankheitsfall handele, und ein Arzt, der sich unter den Zuschauern befand und sogleich zu Hilfe eilte, erklärte die Symptome für die einer schrecklichen und tödtlichen Vergiftung.
Der ehrliche Mickey, zum Tode erschrocken, vermochte anfangs kaum Rede zu stehen, und erst nach vielem Hin- und Herfragen, kam er zu der Auskunft, daß der furchtbare Anfall sogleich nach dem Genuß des Inhalts der Dose erfolgt war, die der Kapitän noch in der krampfhaft geballten Hand hielt. Der Doktor entfernte sie mit Gewalt, öffnete sie und schüttelte den Inhalt heraus, den er sorgfältig prüfte, ohne jedoch ein Anzeichen des Giftes zu entdecken. Mistress Duberly wiederholte eben, was ihr der Kapitän von dem Kauf der Dose erzählt, als sie bemerkte, daß auf dem Boden derselben ein Pergament oder Papyrusstreifen zurückgeblieben war. Man zog ihn heraus, er enthielt in englischer und indischer Sprache nur den hindostanischen Gruß:
»Gehe, wohin Deine Wünsche Dich rufen und mögen Deine Wege leicht und angenehm sein!«
Ein Offizier hatte die Worte halblaut verlesen, aber der Kranke sie, trotz des Kanonendonners verstanden. – »Nikalanta!« stöhnte er, »es war seine Tochter – ihr Gift brennt wie Feuer an meinem Herzen – Hilfe! zu Hilfe!«
Sie lag nicht in Menschenkräften, in menschlichem Wissen! Der Arzt mochte dies erkennen, denn er erhob sich mit einer Geberde des Bedauerns und sagte zu dem Stabsoffizier in der Nähe: »Diese Früchte sind wahrscheinlich mit einem indischen Narcoticon zufällig oder absichtlich getränkt, dessen Analyse uns unbekannt und gegen das kein Mittel existiert. Vielleicht Upas von dem berüchtigten Baum. Die Fälle solcher Vergiftungen sollen in Indien nicht selten vorkommen, wenn sie auch weniger akute Wirkung zu zeigen pflegen.«
»Der Teufel hole das Land!« brummte der Offizier, »Cholera, Brillenschlangen, Thugs und Tiger wären Unannehmlichkeiten genug, als daß man noch Giftmischereien dazu brauchte! England wird es nicht eher mit Sicherheit genießen können, als bis die eingeborene fanatische Brut ganz und gar vertilgt ist!«
»Sir, das sind 150 Millionen Menschen!«
»Und wären es 1500 Millionen, wenn sie sich nicht dem Segen unserer Kultur fügen wollen. Wie war es mit Irland noch vor fünfzig Jahren? Irland ist jetzt ruhig, seit man den Repeal übers Meer deportiert hat!«
Als am Abend Mickey dem Kapitän Stuart den Tod des Führers der zweiten Kompagnie meldete, bemerkte der Offizier: »Es tut mir leid! Cavendish war ein besserer Kamerad, als wir anfangs dachten, und erst seit acht Wochen aus dem Lazarett. Schade, daß er noch immer vergessen hatte, uns die hübsche Geschichte mit den Tigern zu Ende zu erzählen!«
Man war sehr gleichgültig geworden gegen das Leben im Lager vor Sebastopol!
Nicht der Frieden der Nacht, der prächtigen, funkelnden, üppigen Juninacht, ruht über Meer und Land, über Stadt und Berg. Der Donner der Mörser weckt die Echos, an dem lichten Sternenhimmel ziehen die Bomben ihre lichteren, feurigen Bogen; aus den dunklen Erdschanzen und von den Wällen der bedrängten Stadt blitzt und flammt es von Minute zu Minute, und der Hagel von Eisen, die Würfel des Todes rasseln über das Feld und furchen in der vergänglichen Nacht die Ruhestätten der langen, ewigen – die Gräber!
Durch das verderbenbesäte Feld schleicht still und spähend ein Knabe; – der sausende Tod, der auf den Granaten einherfegt, auf den feurigen Bomben durch die Luft saust, kümmert ihn nicht! Seine einzige Sorge ist, vor den lauernden Posten, vor dem Schutz der belebten Schanzen, Batterien und Laufgräben weit auszubiegen in die Fläche, wo die Vernichtung mit jedem Schritte droht. –
Ein blaues Licht zieht in die Höhe – dort liegt die Bastion, die dunklen Wälle des Redan erheben sich kaum 200 Schritt von ihm! –
Die gebückte, schleichende Gestalt ist einen Augenblick sichtbar geworden und in der Contre-Approchen bemerkt.
» Stai – Wer da?«
»Gut Freund – Gott schütze Rußland!
Mit dem Anbruch des Tages hat die Kanonade wieder begonnen, die eiserne Ablösung des eisernen Bombardements der Nacht! –
In der Kantine saß, 24 Stunden später, an einem Tisch mit dem ältesten Kapitän seines Bataillons der Vicomte, während einige Papiere vor ihnen lagen, und die Marketenderin mit ihrer Freundin, der Korporal Bourdon mit Lebrigaud und der irre Jean dabei standen.
»Wir wollen zunächst die Sache mit Madame Bibesco zu Ende bringen,« sagte der Kommandant. » Sie haben gehört, Madame, daß mein verstorbener Freund mich beauftragt hat, Ihnen seine sämtliche im Lager zurückgebliebene Barschaft auszuhändigen, die der Oberst seines Regiments in Verwahrung genommen hatte. Hier ist das Verzeichnis – die Summe besteht in 70 500 Francs, davon 50 000 in Wechseln auf das Haus Jacq. Alléon u. Komp. in Konstantinopel in Sicht zu zahlen, und 20 500 Francs in Napoleond'ors. Hier sind die Papiere und das Geld. Wollen Sie die Güte haben, mir über die Summe in Gegenwart dieser Herren zu quittieren.«
»Darf ich fragen, ob der Marquis in Beziehung auf mich nicht irgend eine weitere Bestimmung getroffen?« fragte die Abenteuerin, indem sie zur Bewahrung des Scheins das Taschentuch an die Augen führte.
»Nein, Madame. Die Worte des Briefes lauten bloß: Er hoffe, die Summe würde hinreichen, um Sie seinen Namen vergessen zu machen.«
»Abscheulich! – ich kann also ohne Bedingung über dies Geld verfügen?«
»Ja, Madame.«
Die Augen der ehemaligen Lorette funkelten – alle Vergnügungen und Freuden von Paris tauchten in lockenden Farben vor ihrem Geist auf. Doch schien zugleich ein Gedanke, ein Zweifel sie zu bedrücken und unschlüssig zu machen. Sie schob mehrmals einige der Geldrollen hin und her und ihr Auge flog verstohlen zu Nini hinüber. Unwillkürlich schrak sie zusammen, als ihr Blick dabei den ihr zunächststehenden irren Burschen traf. Noch nie war ihr die Ähnlichkeit desselben mit dem Fürsten Oczakoff so aufgefallen, und ihr Innerstes erbebte, als der Arme ihr bisher mit einem nicht gekannten Lächeln des dämmernden Verständnisses zunickte und flüsterte: »Ich weiß es wohl, Zehntausend!«
Eine dunkle Röte überzog die Stirn der jungen Frau, sie nahm hastig fünf der Rollen zusammen und schob sie auf Nini zu. »Das ist Dein Anteil an meinem Reichtum,« sagte sie fast ängstlich. »Nimm – es ist das Deine!«
Die Marketenderin schaute sie erstaunt an. – »Was – ich sollte Dir Dein unverhofftes Glück schmälern? Was fällt Dir ein, Celeste – die kleinen Dienste, die ich Dir geleistet, sind reichlich durch Deine Gefälligkeit aufgewogen, und ich werde doch von einer Freundin nicht Bezahlung annehmen!«
»Ich bitte Dich, sei nicht töricht, Kind,« bat die Bojarin, »dieses Geld ist das Deine, Du hast volles Recht darauf, glaube mir, und ich bitte Dich um meinetwillen, um jenes armen – Kranken willen, es anzunehmen. Ich würde keine ruhige Stunde mehr haben, wenn Du es ausschlägst.«
Der Eifer, die Dringlichkeit, mit der sie bat, war auffallend, und die kleine, leicht bewegte Grisette machte bereits Miene, die Großmut ihrer Freundin zu preisen und anzunehmen, als ihr Bruder rauh dazwischen trat.
»Verzeihen Sie, Madame,« sagte er streng und fest, »aber Nini bedarf Ihres Goldes nicht. Wenn sie einen Bruder behalten will, wird sie keinen Sous Geldes berühren, für das einst das Herz und die Liebe eines ehrlichen Mannes verraten wurde.«
Die Lorette wandte sich beleidigt von dem Jugendgeliebten und raffte das Gold wieder zusammen. – »Wie es Ihnen beliebt, Herr Bourdon. Ich hielt es für meine Pflicht, Ihrer Schwester die Summe anzubieten,« – sie warf einen hastigen Blick auf den Schwachsinnigen, schien jedoch durch das Resultat beruhigt; – »wenn sie die Annahme verweigert, ist es nicht meine Schuld. Was meine Liebe und meine Person betrifft, so halte ich sie noch heute für zu gut, um sie an den ersten besten Arbeiter oder Soldaten wegzuwerfen.«
François wollte heftig antworten, ward aber von der Schwester zurückgehalten, während Celeste im Besitz ihres Schatzes der Gesellschaft eine hochmütige und trotzige Verbeugung machte und in der hinteren Abteilung der Kantine verschwand.
Man hatte es kaum bemerkt, daß während der kleinen Szene ein Fremder eingetreten und in der Nähe Platz genommen hatte, derselbe benarbte Alte, dessen Anwesenheit in Pelissiers Generalstabe am Tage vorher den russischen Fähnrich erschreckt hatte.
»Jetzt zu Ihnen, denn Sie haben mich in eine sehr unangenehme Lage versetzt, Mademoiselle,« fuhr der Leutnant-Colonel zu der Marketenderin fort. »Nach allem, was bis jetzt ermittelt, sind Sie und dieser Schuft hier,« – er wies auf Lebrigaud – »es gewesen, die dem jungen Russen zur Flucht geholfen. Was veranlaßte Sie, meine Nachsicht auf diese Weise zu mißbrauchen?«
»Bedenken Sie, mein Kommandant,« schluchzte Nini, »er war so jung und Sie wollten ihn jetzt in ein Gefängnis schicken.«
»Es war meine Pflicht, die ich zu lange versäumt. Korporal Bourdon, ich frage Sie auf Ihr Ehrenwort als französischer Soldat, wußten Sie um den Anschlag Ihrer Schwester?«
»Nein, mein Kommandant!«
»Das freut mich, ich hätte Ihnen ungern die Gelegenheit entzogen, sich heute am Mamelon Beförderung zu holen. Nehmen Sie dem Burschen da den Säbel ab und führen Sie ihn zum Profoß. Kapitän Mongin wird ihm Arrest geben.«
Der Kapitän nickte. »Wir kennen uns, mein Vögelchen, und ich will Dir die großmütigen Galanterien vertreiben!«
Der lüderliche Zuave hatte bis jetzt mit großer Gleichgültigkeit der gegen ihn erhobenen Anklage zugehört, als er aber nun vernahm, daß er in Arrest geschickt werden sollte, während ein Kampf bevorstand, geriet er außer sich, warf seinen Fez auf den Boden und trampelte wie ein Narr darauf umher. – » Que le diable les importe! Zum Henker mit allen Weibsleuten, sie sind zu meinem Unglück auf der Welt und machen mit einem Nasenzwinkern einen Narren aus mir! Kapitän Mongin – mein Kommandant – Sie werden doch um einer solchen Lumperei willen mich nicht um den Sturm bringen? Fichtre! Ich will meine eigene Zunge verschlucken, wenn ich den Schimpf überlebe.«
»Das hättest Du eher bedenken sollen, bevor Du Dich von einem Mädchen verleiten ließest, gegen Deine Pflicht zu handeln!«
» Maudit, mein Kommandant! Aber wozu wären die Frauenzimmer sonst auf der Welt. Es passiert vernünftigeren Leuten als ich bin! Hier Mademoiselle betörte mich, indem sie mir freiwillig einen Kuß versprach. Mordio! – so dacht' ich – was kommt es auf einen Russen mehr oder weniger an, Du holst dafür heute zehn Andere von ihren Schanzen, und so führt' ich ihn im Dunkel bis an die letzte Tranchee, nachdem ihm Jean hier seinen eigenen Rock gegeben. Unmöglich, mein Kommandant, konnte ich mich doch von einem verrückten Burschen in der Galanterie übertreffen lassen!
Der arme Schützling Nini's nickte ihm vergnügt lächelnd zu. Er schien offenbar seinen Anteil an der Sache zu verstehen und sich darüber zu freuen. – »Er ist fort,« sagte er, »der Andere auch, ich weiß, sie gaben ihm das Pferd! Jean's Seele ging mit ihnen – aber er wird sie wiederholen – dai Bosche!«
Niemand achtete viel auf die Worte des Irren, doch fiel die Erinnerung an die in seiner Gegenwart verabredete Flucht des jungen russischen Fürsten schwer auf des Vicomte Seele und er befand sich in großer Verlegenheit, da er sich sagen mußte, er habe ja Aehnliches gethan.
Der rasche Eintritt des Medizin-Major unterbrach jedoch die peinliche Situation. Doktor Welland war offenbar sehr aufgeregt, seine Miene unruhig und nachdenkend. Hinter ihm folgte Jussuf, der Mohr, der beim Erblicken des Vicomte sogleich auf diesen zusprang und mit dem höchsten Ausdruck der Freude seine Füße umfaßte und küßte.
»Jussuf? – um des Himmels willen, wo kommst Du her?« –
»Inshallah – es ist Jubel in meinen Augen, Herr, daß ich Dich wiedersehe. Was kann ich sagen? – ich war verwundet und gefangen bei den Moskows – ein Engel hat den armen Mohren gerettet und ihm die Freiheit gegeben, daß er zu seinem Aga zurückkehren möge.«
»Ich habe mich einige Augenblicke von meinem Posten entfernt,« sagte der Arzt, »um Ihnen die seltsame Nachricht zu bringen. Vor einer Stunde brachte eine Ordonnanz des kommandierenden Offiziers der Vorposten an der Tschernaja den Mohren zu mir, den wir für tot im Schloß Aju zurückgelassen und der seitdem bei den Russen gefangen war. – Er bringt das Pferd des Arabers zurück und den Dank des Fürsten, der glücklich Sebastopol erreicht hat,« fügte er flüsternd hinzu. – Das Ehrenwort, das er dem Fliehenden gegeben, ließ ihn verschweigen, wie der Mohr zugleich der Ueberbringer eines geheimen Schreibens an ihn gewesen, das seine Blicke jetzt nachdenkend und forschend auf dem irren Schützling der Marketenderin weilen machte.
Der Vicomte war hocherfreut durch die Rückkehr des On-Baschis seiner früheren Bozuks, den er bei seiner Rückkehr zu dem 3. Zuaven-Regiment zu seinem Diener gemacht. Er reichte ihm die Hand und überwies ihn an den Bruder Ninis, um ihn zu equipieren und ihm alles Nötige zu schaffen. »Sie finden mich und Kapitän Mongin bei einer unangenehmen Untersuchung. Das törichte Mitleid von Mademoiselle dort hat Ihren wiederhergestellten Patienten, der heute der allgemeinen Ordre gemäß, an das Gefangenen-Depot in Kamiesch zurückgeliefert werden sollte, entkommen lassen. Seine Genesung war bereits durch Oberst Polkes gemeldet und wir werden nun Beide wahrscheinlich vielerlei Verdrießlichkeiten für unsere Nachsicht und Ueberschreitung der allgemeinen Regel haben. Zum Glück hat die Flucht auf Ihren Freund keinen Einfluß, der von den Türken zum Gefangenen gemacht worden.«
»Die Sache ist kaum so bedeutend, als Sie dieselbe ansehen, Kommandant. Das Gelingen oder Mißlingen des bevorstehenden Sturmes wird ganz andere Dienstsünden bedecken, und es ist wohl unnötig, daß Sie irgend Jemand deshalb zur Strafe ziehen. Wenn Ihre Zuaven den Mamelon nehmen, wird kein Oberst oder General der ganzen Armee nach einem entkommenen russischen Knaben fragen, wie der kleine Lasaroff war!«
»Lasaroff? – Michael Lasaroff? rief der Fremde, der aufmerksam dem Gespräch zugehört. »Verzeihen Sie, mein Herr, Sie nennen einen Namen, der mich angeht. Der russische Gefangene, der diese Nacht entflohen – ist es der Fähnrich Michael Lasaroff?«
»Derselbe, mein Herr!«
Der alte Mann schlug die Hände vor das Gesicht. »Alles umsonst – Alles verloren! – auch hier zu spät! – So geschehe denn der Wille des da Oben; – was sind menschliche Berechnung, sterbliche Mühen gegen Seine Bestimmung!« – Traurig und gebrochen taumelte die hohe Greisengestalt auf den Sessel zurück, zwei schwere Thränen quollen aus den grauen Wimpern und flossen langsam über die gefurchten Wangen, – die ehrne Kraft, die so lange ihn aufrecht gehalten im Kampf für seine Pläne, seine Meinungen und Zwecke, – sie war vernichtet vor der Ueberzeugung, daß in der Bestimmung über Völker wie über Menschen der Wille des Ewigen keinen Eingriff sterblicher Hände duldet. – Verwundert, aber mit achtungsvollem Schweigen schauten die fremden Krieger auf den alten Mann, bis dieser sich ermannte und seine feste, ernste Haltung wieder gewann. »Verzeihen Sie einem Manne die Schwäche,« sagte er mit Würde, »der selten in einem langen und bewegten Leben ihr unterlegen. Ich bin der Graf Lubomirski, einst Kapitän unter Napoleon dem Ersten – und der Knabe, der diese Nacht nach Sebastopol zurück entflohen, ist mein Enkel, der letzte Sprosse meines Geschlechts. Ihr Kaiser – es ist gleichgiltig, wie ich die Gefangennahme erfuhr – gab ihn in meine Hände, hier ist der Befehl, ihn mir auszuliefern. Doch vergeblich forschte ich seit zwei Wochen im Hauptquartier, in allen Gefangenen-Depôts, ich fand den Namen zwar in den Listen angeführt – seine Person jedoch war verschwunden.«
»Vielleicht eine Fahrlässigkeit der Schreiber,« sagte der Vicomte. »Der junge Mann wurde als verwundet gemeldet und nicht abgeliefert, da seine Jugend uns dauerte und der Aufenthalt in den Lazaretten durch Typhus Gefahr bringt.«
»Ich begreife es und danke Ihnen dafür. Erst heute Morgen vernahm ich in Folge des erlassenen Generalbefehls aus dem Hauptquartier zufällig, daß bei Ihrem Korps sich einige Gefangene befänden und eilte hierher. Es war zu spät!« – Er schwieg einige Augenblicke, dann überreichte er dem Vicomte die kurze offene Ordre von der Hand des Kaisers. »Nehmen Sie, Herr Kamerad,« sagte er traurig, »sie ist jetzt nutzlos für mich und wird Sie jeder Verantwortlichkeit für Ihre Güte überheben. Wenn Sie einem alten Krieger, einem Gefährten der französischen Adler eine weitere Freundlichkeit erweisen wollen, so strafen Sie nicht die Flucht des Knaben an denen, die mit ihrer Hilfe ihm eine Liebe zu erweisen dachten. Ich nehme das Leben meines Enkels mit diesem Papier als empfangen aus Ihrer Hand und lege es in die Gottes!«
Die Trommeln wirbelten, – die Hörner der Zuaven riefen draußen das Regiment zum Sammeln, – die Brigade- und Divisions-Adjutanten flogen mit dem Befehl zum Abmarsch an den Lagerreihen entlang! – einen kurzen, teilnehmenden Händedruck nur tauschte der Vicomte mit dem einsamen Greis und dem zu seiner Ambulance eilenden Freunde, während sein Befehl dem jammernden Lebrigaud den Säbel wiedergab; dann eilte er an die Spitzen der Seinen, wo Oberst Polkes bereits ungeduldig harrte.
Unter dem Jubel der Zuaven bildeten sich die Reihen zum Abmarsch.
Sieben Uhr Abends! – Auf der Höhe, auf der am Tage vorher der unglückliche Zufall das Jagdrennen so traurig beendet, standen zahlreiche Gesellschaften von Offizieren, die Fernrohre und Gläser an den Augen, alle Blicke nach dem Mamelon – der Lünette Kamtschatka – gerichtet, deren Wälle ein ununterbrochenes Feuer spieen, während vom Malachoff her und aus den zwei Reihen russischer Linienschiffe, die quer über die Südbucht sich gelegt, der eiserne Hagel durch Flammen und Pulverdampf daher fegte.
Aus dem Dokowaja- und Kilengrund herauf, aus den Trancheen in der Front entwickelten sich jetzt die französischen Kolonnen, lösten ihre Reihen und kletterten den steilen Aufgang zum Mamelon empor.
Man sah die einzelnen Krieger wie Punkte und Schatten höher und höher klimmen, – jetzt die ersten an der Böschung, – Pulverdampf umhüllt sie, Feuerströme fahren dazwischen, doch nur Einzelne reißt das tötende Eisen aus den zerstreuten Reihen, – plötzlich zeichnen sich zwei dunkele Schattengestalten auf dem Kamm der Brustwehr gegen den Abendhimmel ab, – eine Fahne weht als Sammelpunkt, ein dunkler Menschenknoten ballt sich darum her – und hinein in den Mamelon dringen in hellen Haufen die kühnen dritten Zuaven.
Da wirbeln die Trommeln durch den Pulverdampf, die russischen Reserven rücken in das Werk, das die französischen und englischen Batterien zu bestreichen aufgehört, die Bajonette klirren an einander, das Klein-Gewehrfeuer knattert, und die Franzosen werden über die Brustwehr zurückgeworfen.
Aber am Abhang sammeln sich die Haufen, kaum haben ein oder zwei Kanonen aus den Schießscharten aufs Neue ihre Blitze gegen sie gespieen, so stürmen sie die Böschung wieder hinan, ihnen voran die hochgewachsene Gestalt eines Offiziers, winkend mit Säbel und Hand. Wieder tauchen die dunkelen Schatten auf gegen die Abenddämmerung auf der Höhe der Brustwehr, – in dichten Massen wogt und drängt der Kampf ins Innere, dann speit die Kehle des Werks dunkle Massen Flüchtender aus, die unter dem Feuer des Malachoff Schutz suchen, von der Höhe der Lünette flattert die Tricolore – und ein tausendstimmiges » Vive l'Empereur!« überdonnert das Gekrache der Geschütze.
Der Mamelon – die Vormauer des Malachoff ist genommen.