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Einleitung

Sebastopol! Welche Fülle von Erinnerungen knüpft sich an diesen Namen! war es doch ein furchtbares Ringen um den Besitz dieser Krim-Festung, deren Fall nach fast einjähriger Belagerung den Orient-Krieg entschied, den die Türkei, unterstützt von Frankreich und England, in den Jahren 1853-66 gegen Rußland führte, um dessen Seemacht im Schwarzen Meere zu zerstören. Aber noch ein weiteres Ziel wurde durch diesen endlichen Sieg über die von Totleben, dem russischen Ingenieur-General aus dem Baltenlande, mit beispielloser Zähigkeit und einer in der Kriegsgeschichte einzig dastehenden Virtuosität verteidigte Feste erreicht: das russische Uebergewicht in Europa wurde vernichtet! An Stelle Rußlands wurde Frankreich die maßgebende Macht in Europa: der zweite Kaiser aus dem Geschlechte der Bonaparte zwang der Welt seinen Willen auf, den tragischen Untergang seines titanenhaften Ahnen an dem Nachkommen des schlimmsten seiner Widersacher bitter rächend.

Was wir heute in Rußland reifen sehen, ist die Saat von Sebastopol. Mit dem Hinscheiden des selbstherrlichsten unter den neueren Zaren, des ersten Nikolaus, hat der gewaltige Zersetzungsprozeß begonnen, den weder sein Sohn noch sein Enkel haben aufhalten können, und dem sein Urenkel, der zweite Nikolaus, zu erliegen droht.

Der deutsche Diplomat Goedsche, der sich unter dem Pseudonym Retcliffe birgt, hat es mit phänomenalem Geschick verstanden, die schrecklichen Episoden dieses blutigsten aller Kriege Was uns Retcliffe in seinem Roman hier erzählt, scheint hin und wieder allzu kraß aufgetragen. Da mag es wohl gut sein, ein Zitat aus dem Werke Dr. Friedr. Förster, Geschichte der deutschen Befreiungskriege, herzusetzen, das sicher aus völlig unbeeinflußter Quelle stammt, und das Förster bei der Schilderung der Schlacht bei Dresden vergleichsweis anzieht:
»So grauenhaft sah es 1813 auf dem Schlachtfelde von Dresden aus! Beinah ein halbes Jahrhundert später treffen jene beiden Nationen, Franzosen und Russen, oder vielmehr die von ihren Gewalthabern uniformierten und regimentierten Menschenmassakrierer wiederum auf den Schlachtfeldern vor Sebastopol hart aneinander; aber noch grauenhafter lauten die Berichte von dem, wie dort gegenwärtig gefochten wird. »Der Krieg,« sagt ein Pariser Journal, »ist ein Zeichen der Zivilisation« ... wohl! aber nicht, wenn er so kannibalisch wie dort geführt wird. Ueber das Schlachtfeld am Malakoffturme, aus welchem in der Nacht vom 22. zum 23. Mai die Russen einen Ausfall auf die Belagerer machten, berichtet ein Augenzeuge: Nicht gefochten, nein, gemetzelt, gemordet, geschlachtet wurde hier. Das schmale Terrain war im buchstäblichen Sinne des Worts mit Leichen gepflastert, auf welche sich am nächsten Morgen bereits Tausende von Raben zum Festschmause niedergelassen hatten. Das Erdreich war von dem geronnenen Blute an mehreren Stellen wie mit einer braunroten, zähen Gallerte überzogen. In diesem ekelhaften Gemenge von Blut und Schlamm lagen sie da friedlich beieinander, die heldenmütigen Kämpfer Rußlands und Frankreichs – regungslos. Nur wenige von ihnen hatten das Glück gehabt, durch eine Kugel auf der Stelle den Tod zu finden: die Mehrzahl war langsamer, mit dem Bajonett niedergestochen, verschieden; doch fehlte es auch nicht an solchen, die auf eine noch grauenhaftere Weise den Tod gefunden hatten. Einer nicht geringen Anzahl von Leichen war entweder der Schädel eingeschlagen oder das Gesicht durch Kolbenschläge und Steinwürfe zertrümmert worden; andere lagen mit aufgeschlitzten Leibern da, aus denen die Eingeweide herausquollen. Hin und wieder sah man einen Russen und einen Franzosen auf- oder nebeneinander liegen, die mit dem linken Arme ein jeder des andern Körper, mit der rechten Faust aber des andern Gurgel gepackt hielten. Die Mehrzahl der Leichen war außerdem noch durch gekratzte oder gebißne Wunden arg verstümmelt; vielen waren die Hände ausgerenkt, andern die Finger gebrochen oder die Ohren vom Kopfe gerissen ... Dicht neben einem Zuaven saß eine große schwarze Katze, die nur mit Mühe von dem Leichnam fortzubringen war. Sie hatte den Tod ihres Herrn an dem Mörder desselben blutig gerächt, denn nah dabei lag die Leiche eines Russen, der außer mehreren Bajonettstichen vielfache Spuren von Katzenbissen zeigte und dessen Augen wie von Tigerkrallen zerkratzt waren. Unter einem Leichenhaufen zog man zwei Schwerverwundete hervor, denen mit Steinschlägen oder Steinwürfen der Schädel eingeschlagen war; sie beschworen uns, ihren Leiden durch eine Kugel ein Ende zu machen.«
in den Rahmen eines Romans zu fassen, der als ein wichtiges und wertvolles Memoirenwerk seit seinem Erscheinen gegolten hat und für alle Zeit gelten wird. Lange Jahre hat man sich im Zweifel über die Person seines Verfassers befunden, dem ein überreiches Quellenwerk zu Gebote gestanden haben muß, da er sonst unmöglich in solch erschöpfender Weise, wie es hier geschieht, alle militärischen und diplomatischen Ereignisse dieser Jahre hätte schildern können. Aber erst vor kurzer Zeit ist der Schleier gelüftet worden, den er über seine Persönlichkeit zu decken gewußt hat. Die wichtigeren Daten über sein Leben sind in der seinem Romane »Nena Sahib«, der gleichzeitig mit »Sebastopol« in dieser Ausgabe veröffentlicht wird, vorgesetzten Einleitung beigebracht worden.

Der Roman »Sebastopol« glänzt noch durch eine Reihe anderer Vorzüge. Er gibt uns nicht bloß ein großartiges Panorama aller Schlachten dieses als »Krimkrieg« bekannten Orientkrieges, sondern macht uns auch mit den ruhmreichen Heerführern der vier um den Sieg ringenden Nationen bekannt, wie beispielsweise mit den französischen Marschällen Saint-Arnaud und Canrobert, den englischen Generalen Lord Raglan und Somerset, dem türkischen Oberfeldherrn Omer Pascha mit seinem aus allerhand Renegaten bestehenden glänzenden Stabe, und den ihnen gegenüberstehenden Russen Fürst Menschikoff, General Schilder, General Totleben, etc. etc.

Wir finden in dem Roman »Sebastopol« einen erstaunlichen Reichtum von ethnographischen Schilderungen: wir lernen die russischen Steppenvölker kennen, Italiener, Alttürken und Neutürken, Dalmatiner, die Söhne der schwarzen Berge, die gegen die Türkei im Aufstande befindlichen Neugriechen, usw.; wir lernen sie kennen in ihren intimsten Sitten und Bräuchen, in den wildesten ihrer Leidenschaften, in den maßlosesten ihrer Triebe; indessen darf man bei der Beurteilung nicht außer acht lassen, daß die Völker, in deren Schoße Haß und Liebe rasend ringen, noch Naturvölker sind, die von »Europens übertünchter Höflichkeit« noch nicht verdorben wurden. In diesem Sinne haben sich seit den beinahe fünfzig Jahren, die nunmehr seit dem Erscheinen der Retcliffe-Romane verstrichen sind, sämtliche Rezensenten ausgesprochen, und zu ihnen haben Kossak, Julian Schmidt, Adolf Glasbrenner, Frenzel, Schmidt-Cabanis etc. gehört – ebenso die angeseheneren Zeitungen Berlins, vor allem seinerzeit die der diplomatischen Welt nahestehende Spenersche Zeitung.

Ein besonders wildes Kolorit haben die Kriegslager-Szenen, und manche von ihnen lassen sich ohne Bedenken an die Seite von »Wallensteins Lager« stellen. Eine Kapitalfigur, wie wir sie nur spärlich anderswo in der Literatur zu finden vermögen, ist z. B. die Marketenderin Nini, die in Paris ein Verhältnis zu einem russischen Grafen unterhält, dann aber mit dem Kaisergarde-Regiment in den Krimkrieg zieht und für den unter tragischen Umständen in Blödigkeit verfallenen Liebhaber auf das liebevollste weiter sorgt, ihn nie von ihrer Seite läßt, sondern überallhin mit in ihrem Zelte nimmt.

Dieser russische Graf Iwan, der zufolge dieser tragischen Vorgänge außer stande gesetzt wird, eine wichtige Botschaft, die er für seinen Zaren übernommen, auszuführen, und der sich in seinem Zustande der Blödigkeit unentwegt an die Abgangszeit des Bahnzugs erinnert, jedem der ihn zu einer Unterhaltung bringen will, mit nichts anderm antwortend, als mit: »Elf Uhr, der Zug geht ab,« ist eine weitere Kapitalfigur dieses Romans. Nicht minder die Zwillingsschwester desselben Grafen Iwan, die, um die Ehre ihres väterlichen Namens nicht durch des Bruders Ausbleiben zerstören zu lassen, an seiner Stelle als Mann die wichtige Botschaft ausführt und den ganzen Krimfeldzug statt seiner in seinem Regiment mitmacht bis zur Erstürmung des Malakoffs, unter dessen Trümmern endlich der Schleier von dem Geheimnisse gelüftet wird.

Setzen wir diesen wenigen Proben von dem beispiellosen Reichtum des Romans »Sebastopol« an ergreifenden Szenen noch den Hinweis auf die in Albanien und Montenegro spielenden Ereignisse hinzu, auf die weitere, wenn auch minder sympathische Kapitalfigur der »Wölfin von Skadar,« Fatinitza, auf ihren Helden-Liebhaber, den Neugriechen Nikolas Grivas, der durch sie, ebenfalls vor den Mauern Sebastopols, im Kriegshafen von Sebastopol sein schreckliches Ende findet, – erwähnen wir noch, daß außer den bereits genannten Schlachtenführern eine Unzahl anderer berühmten Männer und Frauen aus all den Völkern, die in jenem weltgeschichtlichen Drama als Akteure wirkten, uns mit erstaunlicher Plastik gezeichnet werden, daß wir von Retcliffe unter die Klephten, die wilden Räuber der griechischen Berge, in den Harem des Sultans der Türkei, in die Diplomatenzimmer von Paris und Petersburg, von Rom und Wien, von London und Konstantinopel geführt werden, erwähnen wir noch der meisterhaften Porträts, die uns von den um ihr persönliches Ansehen in diesem Kriege ringenden beiden Herrschern Napoleon II. und Nikolaus I. in verschiedenen Kapiteln gezeichnet werden, so dürften wir genug gesagt haben, um den Lesern und Leserinnen, die zu diesem hervorragenden Werke der neueren belletristischen Literatur greifen, einen Vorgeschmack von dem überreichen Inhalte zu geben, den ihnen dasselbe bietet.

Bekanntlich gilt Retcliffes Roman »Nena Sahib« gemeinhin als sein interessantestes Werk. In gewisser Hinsicht mag das auch zutreffen, wenn dabei der Boden richtig taxiert wird, auf welchem dieses »Ungeheuer von Roman« sich abspielt. Lassen wir aber diesen Boden beiseite, so verdient ganz ohne Frage der Roman »Sebastopol« vor ihm den Preis; in »Nena Sahib« hat man auf jeder Seite die Empfindung, daß sein Verfasser auf Nervenkitzel ausgeht, daß er nur des Nervenkitzels halber die Feder führt, in »Sebastopol« dagegen überwiegt ein so bedeutender Vorrat an weltgeschichtlichem Material, daß wir jenes im »Nena Sahib« übermäßig hervortretende Moment des Nervenkitzels, trotzdem es auch hier nicht etwa fehlt, weniger scharf empfinden.

Zudem dürfen wir weiter nicht vergessen, daß uns in Europa der Krimkrieg sehr nahe gelegen, daß speziell Preußen sich durch die taktvolle Neutralität, die sein König damals einhielt, ein Anrecht auf die russische Neutralität in dem Kriege 1870/71 erworben hat, durch welchen die Machtstellung Frankreichs, die es seinem Siege im Krimfeldzuge verdankte, wieder gebrochen – durch welchen das Prestige des zweiten napoleonischen Kaisers, und des Napoleonismus überhaupt, für alle Zeit vernichtet wurde ... ich meine, für jeden deutsch empfindenden Menschen müßte schon dieser Umstand Veranlassung sein, einem Werke wie »Sebastopol« die größere Sympathie zuzuwenden.

A. K.


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