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Die Gäste des Herrn Grandidier hegten nach dieser Szene zwischen Vater und Sohn nicht die besten Erwartungen in bezug auf die Freuden der Tafel, denen sie entgegengingen. Man hatte sich im Hause daran gewöhnt, das peinliche Verhältnis so hinzunehmen wie es war; man sagte sich, daß es in jeder Familie mehr oder weniger einen Punkt gebe, den man nicht berühren und von dem man nicht reden dürfe, dabei beruhigte man sich. Niemand fiel es ein, hier tätig einzugreifen; dem einen fehlte die Einsicht, dem anderen die Energie und allen zusammen der Mut, Herrn Grandidier mit Ernst und Entschiedenheit zu widersprechen. Es war immer bei schwächlichen Versuchen geblieben, welche die Sache schlimmer gemacht anstatt besser, weil alle damit geendet hatten, Herrn Grandidier wenn nicht recht zu geben, so doch in der Meinung zu belassen, daß er Recht habe. So stand Eduard zuletzt ganz allein, ganz isoliert; eine Entfremdung war eingetreten zwischen den Familiengliedern und ihm, mit Ausnahme der Mutter, welche das Verständnis des Herzens für den Sohn hatte, für seine Leiden und Kämpfe, wiewohl sie deren Grund nicht begriff. Sie wußte, daß ihr Sohn unglücklich sei, und liebte ihn deswegen mit einer um so zärtlicheren Liebe; die übrigen gaben sich den Anschein, zu glauben, daß alles in Ordnung sei, was unter den Umständen jedenfalls das Bequemste war.
Allein ein Auftritt wie der geschilderte mußte diese gefällige Täuschung zerstören und für den Augenblick allen Beteiligten ein Gefühl von Unbehagen geben, welches, namentlich wenn man zu Tische gehen will, sich recht zur Unzeit einstellt. Aber die Türen zu dem Speisesaale standen weit offen, man sah den Schimmer von Silber, von Kristall, von Porzellan und weißem Linnen, die Gaskronen brannten, man mußte sich wohl oder übel entschließen, die Pflichten des Abends zu erfüllen. Stumm und mit einem Ausdruck von Kondolenz, die dem traurigen Anlaß entsprach, gab der ganz in Schwarz gekleidete Diener des preußischen Staates seiner Schwiegermutter den Arm; Herr Süchier besann sich vergeblich auf einen Einfall, welcher das plötzlich aufgestiegene 78 Gewölk erheitern könnte, und der Professor machte einen ungeschickten Versuch, den geselligen Ton wiederherzustellen, indem er mit einer Verbeugung Herrn Grandidier seinen Arm anbot. Aber dieser rief: »Suchen Sie sich einen anderen aus für Ihre Späße.« Denn mit dem Professor machte er keine großen Umstände.
Doch wo der Oberst war, da war es nicht lange möglich, in übler Laune zu sein. Entweder sie ging oder er ging, gewöhnlich aber ging sie. Denn er hatte eine sehr einfache Manier, mit ihr fertig zu werden. Er ignorierte sie. Nicht aus bösem Willen oder aus Unhöflichkeit, sondern weil er sie wirklich nicht bemerkte. Er hatte auch nicht die leiseste Ahnung von dem Zwang, den sich alle hier antaten, trübseliger zu erscheinen als sie waren; »Frau Berta,« rief er in seiner allervergnügtesten Tonart, das allgemeine beängstigende Schweigen brechend, das auf allen lastete, »Sie wollen doch wohl nicht sitzen bleiben?«
Die gute, fröhliche Frau Berta, die nicht recht wußte, was sich in diesem Augenblick am besten schicke, zu lachen oder zu weinen, sah verlegen nach ihrem Gemahl.
Dieser, welcher glücklich war, wieder eines Menschen Stimme zu hören, wagte es, leise zu kichern und dann mit einem sehr bescheidenen Maß von Heiterkeit zu sagen: »Sie denkt nicht daran; sie hat es schon als Mädchen von neunzehn Jahren so einzurichten gewußt, daß sie nicht sitzen blieb.«
Der Witz war zu gut, als daß Herr Süchier nicht laut darüber lachen sollte, wiewohl er ihn selber gemacht. Doch war er von der Unschicklichkeit dieses Ausbruchs so tief durchdrungen, daß er augenblicklich wieder stille ward.
Solch ein lautes, herzhaftes Lachen indessen, wenn es aus der Brust eines gemütlichen Mannes kommt, wie Herr Süchier einer war, hat eine eigentümliche Gewalt.
Es war nicht mehr ungeschehen zu machen, obwohl Frau Lottchen, welcher inzwischen der Professor mit der Stimme eines Leidtragenden Arm und Geleit angetragen, ihm einen strafenden Blick zuwarf und er selbst ganz bereit war, sich wegen dieses Mangels an gutem Betragen heftig zu tadeln.
Aber der Oberst hatte für diese seinen Temperaturunterschiede keinen Sinn.
79 Frau Berta hatte sich erhoben, innerlich noch nicht ganz mit sich einig, ob es, wenn man denn einmal zu Tische gehen müsse, für den heutigen Abend passender sei, zu essen oder nicht zu essen? Doch auch diese Frage entschied der Oberst. – »Frau Berta,« sagte er, »wenn Sie nur die Hälfte meines Appetits hätten, würden Sie sich nicht so lange besinnen!«
»Der Mann hat recht,« murmelte Herr Süchier, der sich vorgenommen hatte, nicht wieder zu lachen. »Der sagt die Wahrheit!«
Und er schloß sich der allgemeinen Bewegung nach dem Speisezimmer an.
Niemand bekümmerte sich um Eduard, welcher als der letzte den übrigen langsam folgte. Keine Spur der Bewegung in seinem Gesicht zeigte, was in seinem Innern vorgehe; kein noch so leises Zucken des Bedauerns oder des Trotzes verriet, daß er sich an der Störung des Abends schuldig wisse, ja, daß sie nur den geringsten Eindruck auf ihn gemacht. Nach dem kurzen Erglühen seiner bleichen Wangen, dem rasch vorübergehenden Aufflammen seiner dunkeln Augen, welches die heftige Begegnung mit seinem Vater hervorgerufen, war er wieder in seine vorige Apathie zurückgesunken.
Der Oberst, als er mit seiner Dame die Schwelle des Speisezimmers erreicht hatte, blieb einen Augenblick stehen. »Ah!« rief er, indem er den Kopf mit dem kurzgeschorenen Haar in den Nacken bog und dann steif nach rechts und nach links wandte, »das ist ein schönes Zimmer! Mein Freund Raschid-Pascha in Damaskus würde sich kein schöneres wünschen!«
Darin hatte er recht. Es war nicht nur ein schönes, es war auch ein merkwürdiges Zimmer, von einer ovalen Form und einer altertümlichen grotesken Pracht. Es war der Türkensaal. Das Haus war einmal im vorigen Jahrhundert, als es noch dem Edelmann gehörte, zur Zeit Friedrich Wilhelms des Zweiten, von einem türkischen Gesandten bewohnt worden; damals, als es in Berlin noch nicht so viel Paläste und in Neu-Kölln am Wasser noch nicht so viel Fabriken gegeben hatte.
Der jetzige Besitzer hatte kein Geld gespart, um diesen Saal, nachdem er von dem Schutt und Abfall der Jahre gesäubert, ungefähr so wiederherzustellen, wie er ehedem gewesen sein mochte. Die mächtige, flach gewölbte Decke 80 war ganz aus dickem venezianischem Spiegelglas, welches sich vortrefflich gehalten hatte, und dessen einzelne Stücke mit neuem Silberzierat untereinander verbunden worden waren. Die Wände waren mit einem braunroten, silberdurchwirkten Stoff bekleidet worden, welchen Herr Grandidier nach dem noch vorgefundenen Muster hatte weben lassen. Von der Decke herab, an den Seiten des Saales, hingen Ampeln und in der Mitte eine Krone, mit vielerlei halben Monden und zahlreichen kleinen Sternen aus Kristall geschmückt. Bunte Vorhänge aus demselben Stoff wie die Wandbekleidung schlossen an den Fenstern das Oval ab, und in den Nischen standen Ottomanen, die sich nur wenig über den Boden erhoben.
Kein Wunder, daß der Professor eine große Vorliebe für diesen Türkensaal hatte, besonders da derselbe gegenwärtig einem christlichen Eigentümer gehörte, welchem der Koran weder in der Auswahl der Speisen Beschränkungen auferlegte, noch den Genuß des Weines verbot, und welcher daher auch seinen Gästen die beste Qualität von beiden vorzusetzen pflegte. Aber heute war der Professor nicht in der rechten Stimmung. Ihn genierte die Gegenwart des Obersten.
Diesem dagegen ward es immer wohler ums Herz. »Hier bin ich zu Hause,« rief er, sich zur Seite seiner schönen Nachbarin an der reichbesetzten Tafel niederlassend. »Hier bin ich wie im Orient.« Und er begann hierauf, während Knüppel die Austern herumreichte, zu prahlen, wie sein Freund, der Pascha Soundso und der Wesir Soundso, für die Zeit seines Aufenthaltes in ihren Generalstatthalterschaften ihm zehn Kamele, fünfzig Soldaten und hundert Sklaven zur Verfügung gestellt; und wie der Großtürke selber und Beherrscher aller Gläubigen ihm beim Abschied die Hand gedrückt und gesagt hatte: »Wenn mein Freund, der Oberst, nur hierbleiben wollte! Dem ganzen Morgenlande würden wir ein anderes Ansehen geben!«
Nachdem er alsdann ein paar Austern geschlürft und ein halbes Glas St. Peray getrunken, fuhr er fort: »Ja, das sind Tyrannen! Die haben noch den großen biblischen Stil! Wenn sie Geld haben, verschwenden sie's wie König Salomo, und wenn sie keins haben, senden sie Fronvögte aus wie König Pharao. Da wäre freilich Arbeit für mich und meinesgleichen gewesen. Aber ich konnte nicht bleiben und der 81 Großherr sagte: »Lieber Oberst,« sagte er, »Sie haben eigentlich recht! Was brauch' ich mir den Kopf zu zerbrechen für mein Volk und mein Land? Wir wollen Europa nicht vorgreifen. Not und Sorgen kommen, wenn Allah sie schickt – und dann, ich weiß es, darf ich mich auf meinen Freund, den Oberst, verlassen.« So sind wir auseinander gegangen; und ich könnte den schönsten Osmanieorden haben, wenn ich wollte, noch dazu mit Brillanten. Aber solcher Tand paßt nicht für einen Mann von meinen demokratischen Grundsätzen. Vielleicht ist Ihnen damit gedient, Herr Kanzleirat,« wandte er sich über den Tisch hinüber an den würdigen Beamten.
Dieser ward ganz rot. Die bloße Erwähnung eines Ordens verursachte ihm schon Herzklopfen.
»Scherz beiseite,« fuhr der Oberst höchst ernsthaft fort; »Sie brauchen es nur zu sagen. Ich schreibe an meinen Freund, den Serdar Ekrem oder Großmarschall, und Sie haben ihn.«
Der dürre Kanzleirat strahlte vor Vergnügen und Hoffnung. Ein Orden! Die stille, jahrelang genährte Sehnsucht seiner immer noch ungeschmückten Brust. Er lächelte still vor sich hin.
»Sie haben ihn, wenn Sie nur das Wort sprechen,« sagte der Oberst, indem er in die Rocktasche griff, als ob er ihn schon daraus hervorholen wollte. Doch war es nur sein Notizbuch, ein kleines, ziemlich abgegriffenes Ding, welches – wahrscheinlich um die Farbe seines Besitzers anzudeuten – in Rot gebunden war. »Also,« begann er, den Bleistift an die Lippen haltend, »einen Osmanieorden . . .« dann unterbrach er sich wieder, »mit Brillanten oder ohne Brillanten?«
»Ach,« versetzte der Kanzleirat mit gepreßtem Herzen, »auf die Brillanten kommt es mir nicht an –«
»Um so besser,« sagte der Oberst, indem er fortfuhr zu schreiben; »Sie haben ihn, Sie haben ihn. Mein Freund, der Serdar Ekrem, behält die Brillanten und Sie bekommen den Orden. So ist beiden geholfen.« Alsdann steckte er den Bleistift wieder in die Westentasche, das Notizbuch in die Rocktasche und sagte: »Die Sache ist abgemacht.«
Damit hatte der Oberst auch das Herz des Kanzleirats gewonnen. »Selbst wenn Ihr Schritt erfolglos bleiben sollte,« sagte er, indem er sein Glas gegen den Verleiher hoher Orden respektvoll neigte –
82 »Aber er wird nicht erfolglos bleiben!« fiel ihm der Oberst ins Wort. »Sprechen wir nicht weiter davon.«
»Ich bitte nur zu bemerken . . .«
Doch was er zu bemerken bat, ging in einem erneuten Tellergeklapper verloren. Denn Knüppel servierte die Pièce de résistance.
Der alte Knüppel hatte heute seine Pflichten mit einer gewissen Verdrießlichkeit erfüllt. Es hatte ihn anfangs gekränkt, den fremden Mann, der ihn vorhin so schnöde behandelt, als einen geehrten Gast an seines Herrn Tafel zu erblicken und ihn demgemäß bedienen zu müssen. Aber so ein Bedienter, der bei Tisch herumgeht, hat auch Ohren, um zu hören, und Augen, um zu sehen, wenn er sich gleich stellen muß, als ob für ihn nur die Stühle da wären und nicht die Menschen, die darauf sitzen. Wenn sie einen Witz machen, so darf er nicht lachen, und wenn sie sich von den interessantesten Dingen unterhalten, so darf er nicht neugierig sein. Aber der alte Knüppel war schlau. Schwer hatte er sich in seinen Dienst gefunden, schwer die Jacke, die er in früheren Jahren getragen, mit der Livree vertauscht, in welcher er jetzt bei festlichen Gelegenheiten prangte. Aber so viel hatte er doch schon bemerkt, daß der ungehobelte Mann mit dem Reitfrack, der, als er ankam, ihn beinahe zu Boden geworfen hatte, der Mann sei, um dem Professor den Widerpart zu halten; und um deswillen fing er an, ihn zu lieben.
Der Professor seinerseits fühlte, daß er etwas tun müsse, um seine erschütterte Position wieder zu befestigen, und daß jetzt die Gelegenheit gekommen sei. Er klingelte deswegen mit dem Rücken seines Messers an das Glas, und als alles stille geworden, erhob er sich mit dem Lächeln von ehedem. Tiefsinnig blickte er zuerst nieder in den perlenden Trank, wandte dann sein Antlitz empor und begann:
»Dies erste Glas
Mit schäumendem Naß . . .«
Aber ach! – die Sicherheit und das Selbstvertrauen, diese ersten Bedingungen eines jeden Erfolges, sie waren dahin. Er wußte nicht warum, aber immer und immer mußte er wieder nach der roten Nase des Obersten sehen, und diese rote Nase war ihm fatal. Was ihm früher nie geschehen, er stockte. Doch die Sache war für ihn von zu großer 83 Wichtigkeit – er mußte sich Gewalt antun, er mußte sich sammeln, sich fassen – er durfte sich keine Blöße geben, jetzt nicht, hier nicht; es war eine Lebensfrage. Daher begann er noch einmal mit lebhaftem Anlauf:
»Dies erste Glas
Mit sprudelndem Naß,
Wem bring' ich das?«
Aber nun war's wirklich vorbei. Die ganze Gesellschaft, der Saal, der Halbmond, die Sterne, Knüppel und das ganze Spiegelfirmament begannen um ihn rund zu tanzen, und der einzige feste Punkt in diesem Chaos war die rote Nase des Obersten. Die sah ihn unverwandt und starr an – er konnte nicht weiter. Er blieb stecken, und die peinliche Beklemmung, die sich in solchen Momenten eines jeden einzelnen bemächtigt, als ob ein jeder einzelne stecken geblieben sei, war die Folge.
Der Oberst, dessen unschuldiges Organ all diese Verwirrung herbeigeführt, war wiederum der erste, der das Schweigen brach; nicht aus Geistesgegenwart, sondern weil er eigentlich immer sprach und Gott für jede Gelegenheit dankte, wenn er einmal das Wort allein hatte.
»Papperlapapp!« rief er, indem er sich gleichfalls erhob und nun dem noch immer nach einer Fortsetzung seines Trinkspruchs suchenden Professor gegenüberstand:
»Du wirst so blaß,
Drum laß, o laß –
Ob' sprudelt oder schäumt,
Es schmeckt auch ohne das!«
»Ein famoser Kerl! Ein famoser Kerl!« rief Herr Süchier, indem er sich in der Freude seines Herzens auf die Knie schlug, während der Oberst mit jenem eckigen Anstand, der jede seiner Bewegungen charakterisierte, das Glas an die Lippen brachte und langsam leerte.
Doch der Professor nahm dies Intermezzo nicht so gelassen auf. »Mein Herr,« rief er, sich an den Obersten wendend, »bei Samuel Fränkel mag ein solches Betragen wohl am Orte sein; hier aber, in einem Kreise hochgebildeter Damen und angesehener Herren . . .«
»Samuel Fränkel ist ein ehrenwerter Mann,« entgegnete der Oberst, der zwar selber schwer zu beleidigen war, aber auf seine Freunde nichts kommen ließ.
84 »Er handelt mit alten Monturen,« spottete der Professor.
»Erstens ist es nicht wahr,« versetzte der Oberst; »und zweitens sind alte Monturen immer noch ein besserer Artikel als schadhafte Trinksprüche.«
»Herr Grandidier!« wandte sich nun der Professor, an seiner verwundbarsten Stelle getroffen, gegen den Hausherrn. »Sie werden Ihre Gäste nicht eingeladen haben, um sie beleidigen zu lassen von einem . . .«
Herr Grandidier, der unter dem Eindruck der mannigfachsten Empfindungen dieses Abends bisher stumm gewesen war, ward durch diesen Appell aus seinem Hinbrüten geweckt. In seiner Seele hatten zwei Strömungen miteinander gekämpft: die erneute Bitterkeit über den Ungehorsam seines Sohnes und der Gedanke an seinen ehemaligen braven, unglücklichen Kameraden Glöcklin.
Während der alte Knüppel in die Nebenstube gegangen war, um sich vor Entzücken über die Niederlage des Professors die Hände zu reiben und dem Obersten im stillen ewige Freundschaft zu geloben, hatte Herr Grandidier kaum auf den Streit der beiden gemerkt und legte demselben auch jetzt keine Bedeutung bei.
»Mein guter Herr Professor,« sagte er mit etwas gezwungenem Lachen, »Sie wollen mir doch nicht einreden, daß das Ihr Ernst sei? Lassen Sie doch! Nichts amüsanter als solch eine kleine Debatte bei Tisch.«
»Das mein' ich auch,« nahm Herr Süchier das Wort, froh, daß, nachdem sein Schwiegervater gelacht, er sich in dieser Hinsicht gleichfalls keine Enthaltsamkeit mehr aufzuerlegen brauche. »Es geht nichts über ein fröhliches Tischgespräch,« und dabei brach er in ein so herzhaftes Lachen aus, daß das Glas in seiner Hand zitterte.
»Süchier! Süchier!« rief seine Frau.
Doch dieser war jetzt in seiner sonnigsten Laune. »Hast du vielleicht etwas dagegen, daß der Oberst mir gefällt? Bist du vielleicht eifersüchtig?«
»Du solltest es sein!« versetzte die hübsche Frau, indem sie die zierlichen Lippen trotzig zusammenzog.
»Wenn ich dir nun sagte, daß ich ihn einladen werde, künftig auch unser Haus zu besuchen?«
»Und wenn ich dir nun sage, daß ich es bereits getan habe?«
Der Oberst saß zwischen den beiden wie in Abrahams Schoß.
85 »Berta hat mich eingeladen,« sagte er, indem er mit der Serviette seinen Schnurrbart wischte, »und ich habe Berta versprochen, zu kommen.« Es bezeichnete nämlich den zweiten und höhern Grad seiner Freundschaft, wenn er die Damen nicht nur bei ihren Taufnamen, sondern auch ohne jeden der üblichen Zusätze von Frau oder Fräulein nannte.
»Berta,« rief Herr Süchier, und er bekam wieder einen Anfall von jenem Lachen, das seine Frau so besorgt machte, »Berta! Er nennt sie Berta! Das ist wirklich ausgezeichnet . . .«
Inzwischen war Herr Grandidier wieder still geworden und hatte, gleichgültig gegen das, was um ihn geschah, vor sich niedergeblickt. Aber man sah es ihm wohl an, daß etwas in seinem Innern lebhaft arbeite; seine Farbe wechselte, und jetzt klopfte er selber an das Glas.
Alles sah erstaunt auf, als der kleine Herr am obern Ende der Tafel aufstand, die Hand am Glase. »Es ist sonst nicht meine Gewohnheit,« begann er, »Reden bei Tisch zu halten. Ich überlasse das lieber solchen Leuten, welche die Gabe, das Talent dazu besitzen, wie zum Beispiel unser verehrter Herr Professor Bestvater –«
»Herr!« fuhr dieser nun auf, »wollen Sie mich auch beleidigen?«
Aber ohne auf die Unterbrechung zu antworten, fuhr Herr Grandidier fort: »Wenn ich dennoch heute und hier das Wort ergreife, so geschieht es, um Ihnen eine Geschichte zu erzählen – eine kleine Geschichte aus meiner Jugend, zu welcher die Anwesenheit des verehrten Gastes mich angeregt hat, den wir unter uns zu sehen heute zum ersten – aber lassen Sie mich hoffen, nicht zum letzten Male das Vergnügen haben!«
»Hört! hört! hört!« rief der Herr Kanzleirat, der – seit Preußen ein konstitutioneller Staat geworden – sich auch und nicht ohne Glück in den parlamentarischen Redewendungen bewegte.
Herr Süchier, dem das Glas geläufiger war als das Wort, begnügte sich, ersteres mit einer leisen Neigung des Kopfes gegen den Oberst zu erheben. Es war nicht gerade konstitutionell, aber es war doch gemütlich.
»Dieser werte Gast,« setzte Herr Grandidier seine Rede fort, und er deutete dabei auf den Obersten, »hat mir Nachrichten gebracht, die mich, ich darf es sagen, sehr tief bewegt 86 haben. Er hat mich an Personen erinnert, die mir einst sehr wert waren, und an Ereignisse meiner Jugend, die – wenn sie auch weit zurückliegen – doch niemals aufgehört haben, hier« – und er legte die Hand auf die Brust – »lebendig zu sein. Es ist lange her,« sagte er, und in seinem dunkelgrauen Auge flimmerte es wie Wehmut, »lange her. Ihr waret noch nicht auf der Welt« – dabei sah er seine beiden Töchter an – »und hier mein braves Weib war noch Jungfer Luise Dorothea und nicht Frau Grandidier. Es sind – laßt sehen, wir schreiben heute den 25. April 1868 – es sind also neunundzwanzig Jahre. Damals zog ich, ein fröhlicher Handwerksbursch, mit dem Ränzel auf dem Rücken und den Knotenstock in der Hand aus Berlin – ja, meine lieben Kinder und verehrten Herrschaften, ich schäme mich's nicht zu sagen, und ihr werdet euch nicht schämen, es zu hören – ein Handwerksbursch bin ich gewesen – und Hunger und Durst hab' ich unterwegs gelitten und gefochten hab' ich auch« – dabei machte er mit seiner Hand eine Bewegung, als ob er den Knotenstock noch darin habe – »und der liebe Gott hat mir geholfen, denn das Handwerk in Ehren! Und wehe dem, der dazu geboren und erzogen ist und es dennoch verachtet!« Er ließ seine kleinen grauen Augen nach Eduard hinüberschweifen und dieser fühlte es ordentlich wie einen Stich, entgegnete aber nichts. »Mein Weg ging über den Rhein,« nahm Herr Grandidier den Faden seiner Rede wieder auf. »Es war eine beschwerliche Reise dazumal gegen Ende der dreißiger Jahre, wo es noch keine Eisenbahnen gab. Aber der Handwerksbursch war auch noch ein anderer Mann; er mußte sich durchschlagen, und was er auf der Landstraße gelernt, das hat er nachmals in der Werkstatt gut gebrauchen können. Nun – so kam ich denn endlich auch nach Paris. Ihr wißt, daß dort in Frankreich die alte Heimat der französischen Gemeinde von Berlin und dort in Paris die Heimat der Grandidiers ist. Dahin verlangte mich's seit meinen Knabenjahren – denn das Herz des Menschen ist nun einmal so, daß es an den alten Erinnerungen hängt – und dahin kam ich, und da fand ich noch einige von den französischen Grandidiers und das alte Haus in der Rue du Marché Neuf, in welchem unsere Väter vor der Auswanderung gelebt . . . Es waren glückliche Jahre, glückliche Jahre! . . .
Hier machte Herr Grandidier eine Pause. Es war, als 87 ob etwas in seiner Seele aufsteige, was er sich Mühe geben müsse zu unterdrücken, bevor er fortfahren konnte.
»Ich arbeitete in dem großen Hause der Messieur Marguillot & Kompagnie, deren Fabrik im Faubourg St. Antoine und deren Magazin auf dem Boulevard Poissonnière sich befindet. Ich weiß nicht, ob es heut noch so ist. Aber damals war es so –«
»Ja,« rief der Oberst, »es ist auch heut noch so. Der Gewerbetreibende Marguillot ist ein großer Mann, der in einem Palast auf dem Boulevard wohnt, während seine Arbeiter sich in dem düstern Fabrikgebäude für ihn quälen müssen. Aber wenn die große Revolution kommt . . .«
Herr Grandidier winkte mit der Hand, als ob er den Oberst beschwichtigen wolle; dann sprach er weiter: »Dort in der Fabrik hatte ich einen wackern Mitgesellen – 's war ein Elsässer von Geburt, ein Straßburger. Ich habe ihn vor mir, wie ich da spreche – ein kreuzbraver Gesell, eine treuherzige Natur – ein bißchen derb, ein bißchen viereckig, aber ein ansehnlicher Mensch trotzdem, mit breiten Schultern, flachsblondem Haar und hellblauen Augen. Ich weiß es noch wie heute, sie hatten ihn oft zum besten, und nicht bloß die Franzosen, sondern seine eigenen Landsleute, die mehr von der französischen Grenze waren und aus Lothringen. Er war ein bißchen täppisch, wenn er so zugriff, und sie lachten, wenn er sein »Dytsch« redete und so von seinem »Hüs« sprach und »es isch wohr!« rief und »ich werf' nix aweg«. Aber es war doch die Sprache, die ich verstand, denn er hatte von Straßburg fast kein Wort Französisch mitgebracht, und das Französisch, welches ich zu Haus und von meinem Vater gelernt, war auch nicht viel wert. Und wir hielten treu zueinander und hatten einander lieb; er gehörte ja wohl zu Frankreich, aber er gehörte doch auch zu mir, und wenn wir so an den Sonntagnachmittagen draußen vor Paris durch den Wald spazierten und ein deutsches Lied mitsammen sangen –
›O Straßburg, o Straßburg,
Du wunderschöne Stadt –‹
oder
›Zu Straßburg auf der Schanz –‹
oder irgendein anderes Lied, wie es die deutschen 88 Handwerksburschen damals sangen – dann gingen uns die Herzen über und die Augen auf, und wir gaben uns die Hände und gelobten einander, Freunde zu sein in Lust und Leid, durch Glück und Not bis an den Tod.«
Herr Grandidier räusperte sich ein wenig, dann fuhr er fort: »Das war ja wohl um das Jahr 1840. Dazumal nun in dem Jahre fingen sie in Paris an sich gewaltig zu rühren. Ich weiß nicht mehr recht, wie es kam, aber der kleine Thiers, wie sie ihn nannten –«
»Ah, der kleine Schelm!« unterbrach der Oberst den Redenden; »le petit foudriquet, die kleine Brummfliege, die so vielen Lärm machte.«
»Der hatte den Franzosen gesagt, daß sie Krieg führen müßten – daß sie die Rheingrenze wieder haben müßten, und Louis Philipp, der damals regierte –«
»Mit dem großen Parapluie unter dem Arm,« schaltete der Oberst ein.
»Jawohl,« erwiderte Herr Grandidier, das Amendement des Obersten annehmend, »ich habe ihn oft genug auf der Terrasse der Tuilerien gesehen, auch in den Straßen und an dem Seinekai –«
»Der Bourgeois, der Strumpfwirker!« fügte der Oberst hinzu.
»Die Aufregung wuchs von Tag zu Tag auch in unserer Fabrik. Man hatte die Leiche des großen Kaisers Napoleon von St. Helena geholt, um sie in einem Triumphzug nach dem Dome der Invaliden zu bringen, und um dieselbe Zeit seinen Neffen –«
»Badinguet!« rief der Oberst, der die Rolle des Chors übernommen zu haben schien, »Badinguet!«
»Aus dem Wasser gefischt,« fuhr Herr Grandidier fort, »und auf der Festung eingesperrt.«
»Den Adler mit dem Speck aber fliegen lassen,« ergänzte der Oberst.
»Kurz, der Wirrwarr wurde immer größer; Paris bekam damals eine Befestigung – kein Mensch wußte warum, obwohl alle davon enthusiasmiert waren. Mon Dieu, mon Dieu!« rief Herr Grandidier, sich selbst unterbrechend, »wie wohl erinnere ich mich noch des schönen Mont Valérien, wo mein Freund und ich an so manchem Sommernachmittag gesessen und auf das große Paris, das von dort am schönsten 89 erscheint, hinabgesehen hatten! Aber nun war's auf einmal vorbei – auf eine Stunde weit war alles abgesperrt, da wurde gegraben und gemauert – und zuletzt wurden Kanonen herangefahren, es war ein Fort daraus gemacht worden. Und das alles schien gegen uns gerichtet zu sein, gegen die Deutschen, gegen Deutschland, das doch an der ganzen Sache so unschuldig war wie ein neugeborenes Kind. Bei der Arbeit gab es Händel und wo man uns auf der Straße sah, da schrie man: »à bas les Allemands!« Da erinnere ich mich denn nun, daß wir eines Abends – es war schon spät – in ein Kabarett kamen, wir beide zusammen, ich und mein Freund. Er war in einer bösen Laune, denn wir waren in einem Theater, weit unten, in einem Volkstheater des Boulevard Malesherbes gewesen, und da hatten wir ein Stück gesehen, in welchem ein Elsässer lächerlich gemacht wird. Überhaupt hatten sie damals in Paris die Gewohnheit, jede alberne Rolle, die auf dem Theater vorkam, einem Elsässer zu geben. Das verdroß aber meinen wackeren Freund gar sehr und er rief: »Ich hab' mich den ganzen Abend so verzürnt und ich muß eppes darauf trinken.« So kamen wir in das Kabarett, ich glaub' es war in der Rue de la Roguette, wir waren öfter schon da gewesen und auch sonst waren immer viele Arbeiter darin. Sie erkennen uns auch gleich und fangen an zu sticheln. Wir aber tun, als ob wir's nicht bemerken, lassen uns was zu trinken geben und stecken unsere Pfeifen an. Aber sie hörten nicht auf, sich an uns zu reiben, und mehr als einmal wollte mein Freund losfahren. »Es isch abscheulich!« rief er, aber ich beschwichtige ihn immer noch und halte ihn zurück. »Hier wollen wir nit bleibe,« ruft er und will schon aufstehen; aber ich sage: »Laß uns doch erst austrinken.« Und das tun wir denn auch und ich bewahre mein kaltes Blut, obwohl es doch in mir auch schon zu kochen anfängt. Aber sie hatten es einmal auf uns abgesehen, und als sie sich überzeugten, daß uns gar nicht beizukommen sei, da sprang einer – ich sehe ihn noch in seiner weißen Bluse – auf und rief: »Wenn sie's denn in keiner Weise verstehen wollen, so wollen wir's ihnen singen,« und nun huben sie ein Geschrei an, als ob es gleich zur Schlacht gehen solle:
›Nous l'avons vu votre Rhin allemand –‹
Das aber war mir zuviel. Als sie von dem Huf ihrer Pferde 90 sangen, welcher gekennzeichnet sei von unserem Blut, von ihrem allmächtigen Cäsar, der mit seinem Schatten unsere Ebenen bedecke – von unseren jungen Mädchen, die das Gedächtnis unserer Sieger bewahrt hätten, wenn es auch aus dem der Männer geschwunden – als sie jauchzten:
›S'il est à nous, votre Rhin allemand,
Lavez-y donc votre livrée –‹
und mir ins Gesicht triumphierten, daß wir nur Raben seien gegen ihre Adler – da schlug ich mit der Faust auf den Tisch, und ihren ganzen Lärm übertäubend, rief ich:
›Sie sollen ihn nicht haben
Den freien deutschen Rhein,
Ob sie wie gier'ge Raben
Sich heiser danach schrein.‹
Es waren einige Elsässer unter ihnen; diese verstanden wohl, was ich gesagt hatte, und erklärten es den anderen. Einen Augenblick wurden alle still vor Erstaunen, vor Wut – dann aber stürzten sie gegen mich und über mich, und wenn mein Freund nicht gewesen wäre, sie hätten mich erwürgt. Der hatte kräftige Arme, der nahm es mit einem halben Dutzend von ihnen auf. »Ich bin zwar ein Elsässer,« schrie er, indem er hier und da und rechts und links einen zu Boden schlug, »ich gehöre zu Frankreich« – und er nahm das Absinthglas und schleuderte es mitten zwischen sie – »aber zwingt mich nicht – zwingt mich nicht« – und er brach sich mit seiner gewaltigen Brust Bahn, rudernd und sich in die Höhe werfend wie in einem wogenden Meer – »aber zwingt mich nicht – zwingt mich nicht,« rief er, immer wieder schäumend vor Zorn, knirschend mit den Zähnen, ich hatte ihn niemals so gesehen, rasend in seiner herkulischen Kraft. – »Ihr wollt Franzosen sein, und so behandelt ihr mich in dieser hochmütigen, nichtsnutzigen Weise, mich – einen Sohn des Elsaß . . . fort mit euch, fort da« – jetzt hatten wir die Tür erreicht – »denn dieser hier ist mein Bruder, den ich nicht verlassen und verleugnen werde.« – Jetzt standen wir draußen. – »Wie ich dich nicht verlassen und verleugnen werde, Bruder,« rief ich, »am Tage der Not.« Ich war gerettet . . .«
»Und wie heißt dieser Ehrenmann?« fragte Herr Süchier, der mit flammendem Auge der Erzählung seines Schwiegervaters gefolgt war.
91 »Matthias Glöcklin,« sagte Herr Grandidier.
»Matthieu,« versetzte der Oberst.
»Laßt ihn mich Matthias nennen, wie ich ihn genannt habe in den Tagen der Jugend und der Freundschaft – Matthias, mein alter, guter Kamerad – mein Bruder!« Und Herr Grandidier blickte sinnend eine Weile nieder. »Ruhigere Zeiten folgten dann – die Aufregung in Paris verrauchte – man stimmte Friedenshymnen an, wo eben noch das Kriegsgeschrei getobt hatte – man sprach aufs neue von Verbrüderung der Nationen und wie Figaro singt:
›Et tout finit par des chansons.‹
Aber ich hab's dem Matthias nicht vergessen – und hier, hier tief im Herzen ist ein Rest übriggeblieben, wenn ich an jene Nacht im Kabarett denke . . . wenn ich denke, daß es einmal nicht mit »Chansons« enden könne, sondern mit Kanonen . . .«
»Ah bah«, ließ hier der Oberst sich wieder hören, »das hat gute Wege! Wenn erst meine Partei das Ruder führt in Frankreich, dann beginnt das Reich des ewigen Friedens, in welchem es nur noch einen Wettkampf der Arbeit gibt.«
»Wir wollen's hoffen,« entgegnete Herr Grandidier; »wir alle können uns nichts Besseres wünschen, und wir glaubten auch alle daran damals in Paris und lebten glücklich miteinander, bis, bis . . .« Herr Grandidier schien hier an einem Punkt angelangt, über welchen hinwegzukommen ihm sehr schwer ward. Er stockte – dann mit einem guten, treuherzigen Blick sah er sein Weib an, ergriff ihre Hand und fuhr fort: »Nun, Matthias setzte sich in Straßburg und heiratete die Tochter des Pariser Grandidier – ich setzte mich in Berlin und heiratete meine brave Luise Dorothea. – Jahre verflossen, mir ging es gut, ihm ging es schlecht – mit mir war Gott und der Wohltäter der Grandidiers« – und er deutete hierbei auf das Porträt des Großen Kurfürsten an der Wand – »gegen ihn war Frankreich und der Herrscher der Franzosen . . . und heut, heut ist der Tag gekommen, von welchem ich ihm damals gesagt, daß ich ihn nicht verlassen und verleugnen werde, wie er mich nicht verlassen und verleugnet hat in der Stunde meiner großen Not und Gefahr!«
Herr Grandidier war zu Ende.
Die Damen des Hauses, von Frau Luise Dorothea tapfer 92 angeführt, hatte ihre Taschentücher genommen und schluchzten; die Männer aber erhoben sich, und unter dem Zuruf: »Matthias Glöcklin soll leben! Dem Manne muß geholfen werden!« stießen sie herzhaft mit ihren Gläsern an.
»Es freut mich,« nahm Herr Grandidier, der sich wieder gesetzt hatte, das Wort. »Ich habe in meiner Fabrik die Stelle eines Direktors zu vergeben – Matthias Glöcklin soll sie haben!«
»Bravo! Bravo!« schallte es von allen Seiten; »Matthias Glöcklin soll sie haben!«
Zigarren wurden nun umhergereicht, man rauchte, man trank dazu, die Tafel ward aufgehoben, man wünschte sich gesegnete Mahlzeit, und die Stimmung war nach allen Stürmen, die an diesem Abend vorangegangen, eine ganz erträgliche geworden.
Herr Grandidier setzte sich zu dem Oberst. »Hören Sie,« sagte er, leise mit ihm plaudernd, »Sie sind bisher der Vermittler gewesen – wie wäre es, wenn Sie diese schöne Aufgabe bis ans Ende durchführten; wenn Sie bereit wären . . .«
»Ich bin zu allem bereit,« erwiderte der Oberst, welcher seine Zigarre steif zwischen den gespreizten Fingern hielt.
»Sie sehen, fuhr Herr Grandidier ein wenig zaghaft fort, »daß zwischen mir und Matthias Glöcklin ein langer Zwischenraum von Jahren steht – und nicht das allein . . . nicht das allein . . . wir haben uns in der ganzen Zeit nicht wieder gesehen . . . Vieles ist vorgekommen, er würde vielleicht mißtrauisch sein, wenn ich ihm den Antrag machte . . . doch Sie, Sie sind der Mann!«
»Ja,« versetzte der Oberst trocken, »das bin ich.«
»Wenn Sie nach Straßburg reisen wollten . . . natürlich auf meine Kosten . . .« fügte Herr Grandidier rasch hinzu.
Da lachte der Oberst laut auf, indem er Herrn Grandidier anblickte. »Wenn ich reise, so reise ich immer auf meine Kosten. Aber ich werde reisen.
»Gut, gut,« erwiderte Herr Grandidier. »Dieser Punkt wird zwischen uns keine Differenz hervorbringen. Also Sie reisen – aber Sie reisen bald, morgen . . .«
»Morgen?« entgegnete der Oberst, indem er sich besann. »Nein, morgen kann ich nicht, aber übermorgen.«
»Und Sie versprechen mir, alles in meinem Namen zu ordnen, über meine Mittel dabei zu disponieren, als ob es 93 die Ihren wären, und meinen alten Matthias Glöcklin, seine Töchter und seinen Enkel hierher nach Berlin zu bringen?«
Der Oberst hatte sein Notizbuch wieder gezogen und den Bleistift an die Lippen gelegt. »Ob ich sie selber hierher bringen werde, das weiß ich nicht. Ich glaube es sogar nicht, denn wenn ich einmal auf der Reise bin, so kann ich nicht vorhersagen, wie bald ich heimkehren werde. Aber das versprech' ich Ihnen, daß,« und nun begann er zu schreiben, »daß Matthieu Glöcklin, dessen Töchter und Enkel in acht Tagen . . . wird das genügen?«
»Vollkommen!« nickte Herr Grandidier.
»In acht Tagen hier sein sollen, hier in Berlin. Sie können sich darauf verlassen.« Hierauf machte er einen Punkt und steckte das Notizbuch wieder in seine Tasche.
Herr Grandidier drückte dem Obersten die Hand, stand auf und gab hiermit das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch.
Auch Eduard erhob sich. Ihn hatte des Vaters Erzählung wunderbar erregt und aufs neue zu diesem seltsamen Manne hingezogen, in dessen Wesen die Härte so dicht an die Milde grenzte und eine großherzige Anschauung des Lebens fast unvermittelt neben einer sehr kleinlichen herging.
»Vater!« sagte er demütig, indem er sich ihm näherte.
Doch dieser wies ihn zurück. »Wer mich einmal täuscht,« rief er, »Schande für ihn; wenn er mich aber zweimal täuscht, Schande für mich!«
Damit wandte er sich zum Gehen, und Eduard blieb wie niedergeschmettert zurück.
Jetzt trat der Oberst an ihn heran. »Mein junger Freund,« sagte er, »dieser Lage muß ein Ende gemacht werden. Kommen Sie morgen vormittag zu mir. Sie treffen mich in meiner Wohnung,« und er nannte ihm hierauf die Straße und die Nummer. »Und nun, Knüppel,« wandte er sich an diesen, »machen Sie mobil, rufen Sie mir den Major, besorgen Sie mir den Leutnant und vergessen Sie den Korporal nicht!«
Der alte Knüppel hätte den Oberst umarmen können, so lieb hatte er ihn, und nicht lange, so hörte man den Leutnant auf dem Pflaster vor der Tür stampfen, den Korporal bellen und den Major rufen. »Schnellpfeffer,« rief er, »du magst et mir nu verbieten oder ooch nich, ick werde dir künftig »Sie« nennen. Denn et schickt sich nich anders für 'nen herrschaftlichen Kutscher wie du!« Der Oberst bestieg hierauf mit 94 edlem Anstand seinen Klepper, und alle viere zogen in derselben Ordnung, in der sie gekommen, wieder ab.
Die Nacht war milde, und der Mond stand hoch. Herrn Grandidier litt es nicht im Zimmer – er hatte Sehnsucht nach frischer Luft – er ging das stille Wasser entlang, durch die stillen Straßen – und befand sich zuletzt vor der Reiterstatue des Großen Kurfürsten auf der langen Brücke. Herrlich über dem dunklen Flusse, in welchem noch hier und da ein spätes Licht reflektierte, stand in der Einsamkeit der Nacht das Denkmal, in dessen grünlicher Bronze der Mondschein zitterte und flirrte. Etwas Geisterhaftes war in diesem Schimmer, wie alles ringsumher so stille war: das Schloß, dessen vorspringende Türme ganz in blaues Licht getaucht waren, während tiefe Finsternis in den Nischen der Erker lagerte, die Häuser am Ufer, von deren Dach altertümliche Figuren in den Mondenhimmel ragten, die Königsstraße links, in der die lange Reihe der Gasflammen wie eine Perlenschnur glänzte, der Schloßplatz rechts, auf dessen weiter Fläche das Leben ausgestorben war. Langsam und fest erhob Herr Grandidier sein Auge zu dem alten Helden, der hier auch in der Nacht mit kühnem Adlerblick zu wachen schien, und während das Mondlicht wie eine Flut von Silber über den Reiter und sein Roß herniederrieselte, sprach er: »Du nahmst die Vertriebenen und die Verwaisten auf, die Bedrängten und die Verfolgten; und du wirst mir helfen und mich schützen, wenn ich dem Beispiel folge, das du mir gegeben hast!«
Beruhigt und erleichtert trat er den Heimweg an; eben losch das letzte Licht in dem »Türkensaal« aus, als er sein Haus wieder erreicht hatte.
Bis zu dieser späten Stunde hatte Eduard noch allein, nachdem alle anderen sich entfernt, darin gesessen. Wie in dem Wesen seines Vaters eine Seite, die trotz der Entfremdung ihn immer wieder zu ihm führte, so war es in dem für ihn sonst so öden Elternhause dieser Raum, der ihn fesselte. Hier zu träumen unter den Erinnerungen an die alte ehemalige Pracht – sich die Zeiten und die Personen und die Feste zu vergegenwärtigen, die einst in einem vergangenen Jahrhundert hier gefeiert worden waren! Oder die bunten Ampeln zu betrachten, die Halbmonde, die Sterne und an ein fernes Wunderland zu denken! Freilich mischte sich ein bitterer Tropfen, mehr des Selbstvorwurfs als des 95 Vorwurfs gegen andere, hinein. Licht nach Licht erlosch – zuletzt war es ganz finster, und nun erhob auch er sich. »Ja,« rief er, »der Mann hat recht. Der unerträglichen Lage muß ein Ende gemacht werden!«