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Aufs neue war es Frühling geworden in den deutschen Landen und der Mai gekommen, auch nach Berlin, welches der Mai besonders lieb hat. Der Tiergarten wurde wieder grün; der Fink zwitscherte, die Lachtaube gurrte, das Eichhörnchen lief über den Weg und kletterte geschmeidig an den alten Baumstämmen empor. Auf dem Wilhelmsplatz blühte der blaue und der weiße Flieder, die Rasenflächen funkelten, bunt in den zierlichen Beeten schimmerten die Blumen, und in Bismarcks Garten schlug die Nachtigall. Mit ihren lustigen Federbüschen prangten die Kastanien hinter dem Zeughaus und der Universität, fröhlich rauschten die beiden Springbrunnen im Lustgarten, und aus einem feinen, feuchten Nebel hoben sich die dunkle Kuppel des Domes und der Turm der Marienkirche.
Doch viel schöner noch war es, wenn man die Stadt hinter sich ließ und an den Wald kam und an das Ufer der Spree, welches um diese Zeit noch still ist und wenig besucht wird. Hierher hatte sich der kleine Haushalt aus dem alten, weitläufigen Gebäude zu Neu-Kölln am Wasser bewegt; denn Herrn Grandidiers Villa war nun gänzlich vollendet, möbliert und hergerichtet und empfing an einem milden, sonnigen Tage, wo die Luft von Frühlingsgeruch erfüllt war, seine künftigen Bewohner.
Herr Grandidier war in voller Rekonvaleszenz begriffen. Die feiertägliche Ruhe, die ihn aufnahm, tat ihm unendlich 311 wohl. Es kam dazu das Gefühl, in einer neuen Umgebung zu sein. Denn wiewohl ihm alles ringsum bekannt und dies sein Lieblingsplätzchen von Kindheit auf war, so sah er es doch nunmehr aus seinem eigenen Hause. Dieser Erdenfleck, der einst, vor vielen – ach, so vielen! – Jahren des Knaben Paradies gewesen, er war nun sein eigen; der Mann, der schon der Grenze des Alters nahte, hatte sich ihn gleichsam als den Preis seines Lebens erworben. Der Wald war wie damals und der Fluß war wie damals, und Rohr und Schilf und Weiden flüsterten. Aber dazwischen stand sein neues, prächtiges Haus mit Turm und Säulenfront und Altan, ein begehrenswerter Ruhesitz für einen Berliner, der seinen heimatlichen Boden liebt. Nachbarhäuser waren da, doch durch grüne Strecken dazwischen liegender Heide getrennt; bäuerliche Gehöfte, mit alten Kastanien vor der Tür, schauten vom jenseitigen Ufer herüber, wo der Fluß sich zu einer jener Buchten erweitert, welche für den Spreelauf so charakteristisch sind und ihm, in seiner bescheidenen Art, einen solchen Reiz verleihen. Es fehlte nicht an Laubholz, und Pappeln von der Landstraße ragten aus der dichten Masse des Grüns. Sehr schöne Buchen und Birken waren da, und herrliche Weiden und Erlen, welche die Nähe des Wassers lieben. Aber dahinter stand der Kiefernwald, ernst und selbst um diese Blütezeit des Jahres dunkel. Die Wolken wandelten darüber hin, die Sonne lieh ihm ein kurzes, wehmütiges Lächeln; und ein wundersamer Geruch entströmte ihm und drang in die Zimmer der Grandidierschen Villa, sobald man die Fenster öffnete. Und so still war es hier, das Plätschern des Wassers hörte man, das Rauschen des Waldes, den Ruf des Kuckucks, und nur zuweilen in den Nächten den Pfiff der Lokomotive jenseits des Waldes. Und wie köstlich waren die frühen Morgenstunden, wenn der Wiedergenesene auf den wohlgepflegten Kieswegen zwischen seinen Blumen spazieren ging, in dem geräumigen Schlafrock von weichem, feinem Kaschmirstoff, den er sich für diesen ländlichen Aufenthalt hatte machen lassen, und mit der langen Pfeife, der er nach der Gewohnheit der Alten huldigte.
»Siehst du,« sagte er zu seiner Gemahlin, »das hätte ich mir in meiner Jugend nicht träumen lassen!«
Hierauf blieb er wohl nachdenklich eine Weile stehen, um hinauszuschauen auf den Fluß, der von der Morgensonne 312 beschienen ward, und auf die Schiffe, die darüber hinglitten, und die roten Segel, die sich darin spiegelten.
»Luise Dorothea,« sagte er, indem er sich wieder zu seiner Frau wendete, »hier wollen wir die paar Jahre, die Gott uns noch schenken mag, glücklich miteinander sein. Komm, Alte, gib mir die Hand! Du hast es verdient, glücklich zu sein. Ich habe dir vielen, vielen Kummer gemacht . . .«
Frau Luise Dorothea gab ihm die Hand und lächelte. Doch ihr war sehr weh ums Herz. Wenn er auf diesen Punkt kam, so war ihr jedesmal, als sei nun die Stunde, wo sie ihm endlich ihr Inneres öffnen und den ganzen Jammer zeigen dürfe, welchen es so lange schweigend umschlossen. Doch sie wußte zu gut, was sie, jetzt noch mehr als zuvor, der Notwendigkeit schuldig war; sie hatte sich und ihr Herz beherrschen lernen, und Herr Grandidier bemerkte das wohl. Ehedem hätte selbst ein so geduldiges Fügen ihn verletzt, er hätte Zustimmung verlangt. Jetzt war seine frühere Heftigkeit gleichsam gedämpft, sein ganzes Wesen war durch die Krankheit milder gestimmt worden, als habe dieselbe nicht nur körperlich, sondern auch seelisch gewirkt – denn, in der Tat, wer mag das eine vom anderen scheiden? Eine gewisse Schwäche war zurückgeblieben, eine gewisse Langsamkeit in der Bewegung und Sprache, welche man sonst an dem lebhaften und leicht erregbaren Manne nicht gekannt hatte. Still, ohne Zeichen des Mißmuts oder des Ärgers, sah er seine Frau sich von ihm entfernen; still, ohne ein Wort zu sagen, beugte er sich zu seinen Blumen nieder, deren Fortschritten er mit größter Aufmerksamkeit von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde folgte. Er ging zu den Rosenstöcken, deren Knospen sich seit gestern abend schon kräftiger entfaltet hatten. Er untersuchte die Bäumchen, welche, breit in Spalier gezogen, an der besonnten Gartenmauer standen, und sah nach den Treibhäusern, aus denen in großen Kübeln und Töpfen die Kamelien und Palmen und Orangenbäume schon ins Freie gewandert waren, um des Lichtes und der Wärme sich draußen zu erfreuen. Sein Sinnen und Sorgen war jetzt ganz von diesen Dingen ausgefüllt, wie vor einem Jahre von dem Bau des Hauses und der Anlage des Gartens. In diesem Garten und Hause, mit der Grenze des Wassers und dem Horizonte des Waldes war jetzt seine Welt beschlossen, und was jenseits derselben 313 lag, hatte jedes Interesse für ihn verloren; ja, es war ihm widerwärtig, daran erinnert zu werden. Er hatte sich nicht von der Arbeit seines Lebens zurückgezogen wie ein Mann, der nach wohlvollbrachtem Tagewerk das, was er mühsam und erfolgreich geschaffen, dem Gesetze der Natur gemäß einer jüngeren und rüstigeren Kraft überträgt; es war eine Flucht und ein vollständiger Bruch mit der Vergangenheit. Allmählich und ohne daß er sich dessen deutlich bewußt worden wäre, hatte der Umschwung in ihm sich vollzogen. Die Hälfte seiner Jahre – nein, seiner Jahre besten Teil hatte er damit verbracht, einen Willen, welcher dem seinen entgegenstand, zu beugen; ein unheilbares Zerwürfnis hatte er in der Familie heraufbeschworen – er sagte sich nicht, daß er sich eines Unrechts schuldig gemacht. So weit ging Herr Grandidier nicht. Er hatte ja nur das Beste seines Hauses gewollt, dessen unverminderten Glanz und gesicherten Wohlstand, indem er dem Sohne, den er über alles geliebt, ein Glück anbot, welches fest in der Ordnung der Dinge und dem Herkommen begründet war; und was er für diese gewiß nicht unväterliche Absicht geerntet, war Trotz, Ungehorsam und Undankbarkeit gewesen. Aber war es nicht sonderbar, daß er, der dem Sohn hartnäckig verweigert hatte, der zwingenden Stimme seines Innern folgen zu dürfen, jetzt selber einem ähnlichen Zwange gehorchte, da die alten Verhältnisse ihm keine Befriedigung mehr gewährten; daß er, Herr Grandidier, der Fabrik und Geschäftstätigkeit den Rücken kehrend, hier stand, unter Gottes blauem Himmel, um nichts bekümmert als um seine Blumen und seine Bäume?
Wohl lag ein Widerspruch darin, und Herr Grandidier fühlte denselben; aber er müßte nicht Herr Grandidier gewesen sein, um ihn, wenn auch nur vor sich selber, zu bekennen. Er beschwichtigte vielmehr sein Gewissen mit der Erwägung, daß Fabrik und Verwaltung gut aufgehoben seien, indem er sie der Obhut seines bewährten Freundes anvertraut hatte. Was einst, was künftig damit werden sollte, daran wollte er nicht mehr denken. Seine liebsten Pläne waren gekreuzt und vereitelt worden; er hatte sich, ein geschlagener Mann, von seinem Posten zurückziehen müssen. Lang und bitter hatte diese Demütigung an seinem Herzen genagt; Unlust und Überdruß waren daraus erwachsen, und das Übermaß innerlicher Spannung hatte ihn zuletzt niedergeworfen. 314 Aber die Folgen seiner Krankheit hatten auch darüber einen Schleier gebreitet; eine Art wohltätigen Vergessens hatte sich seiner bemächtigt. Die Tatsachen standen fest; aber er quälte sich nicht mehr mit dem Gedanken, daß es anders und besser hätte kommen können.
Wenn die Seinigen aus der Stadt ihn an den sonnigen Nachmittagen besuchten, so freuten sie sich über sein frisches, fast blühendes Aussehen.
»Es fehlt mir ja auch nichts, meine Kinder,« sagte er dann; »ich habe ein bequemes Haus, einen hübschen Garten, meine Behaglichkeit und meine Pflege. Warum soll ich nicht gesund aussehen?«
Die Frau Kanzleirätin nickte zustimmend. Sie fand es hier draußen ganz reizend und hätte nichts dagegen gehabt, mit der ganzen Schar kleiner Kanzleiräte herauszuziehen, um den Sommer hier zuzubringen. Wenn nur ein Mensch daran gedacht hätte, sie einzuladen!
»Ich will meine Ruhe haben,« sagte Herr Grandidier, sobald seine gutmütige Ehehälfte Miene machte, auf das Kapitel zu kommen. »Außerdem ruinieren mir die Jungens meine Rabatten. Ich zittere jedesmal, wenn sie nur am Nachmittag da sind. Laß sie zu Süchiers gehen; die haben mehr Platz als wir.«
Darauf in der Tat war die Absicht der Frau Kanzleirat gerichtet. Süchiers hatten sie zwar auch nicht eingeladen. Aber das machte nichts. Süchiers hatten sie noch niemals eingeladen, und doch war sie jedes Jahr gekommen; sie nebst Gemahl und sämtlichen Kindern. Süchiers brauchten nicht erst gefragt zu werden. Das verstand sich von selbst. Sie waren bereits vor einigen Wochen nach Schlesien abgereist und zitterten wahrscheinlich schon vor dem Beginn der Hundstagsferien, der ihnen den jährlichen Besuch bringen würde.
Herr Grandidier hatte genug an der Gesellschaft Bärbels, welche auf seinen ausdrücklichen Wunsch mit hinausgezogen war. Seit der Krankheit, wo das Mädchen als unermüdliche Wärterin an seinem Lager gewaltet, war sie ihm unentbehrlich geworden. Er konnte nicht mehr ohne sie leben. Doch war sie lang nicht mehr das muntere Geschöpf, das immer zu Lachen und Scherz aufgelegt und keine Antwort schuldig blieb. Sie konnte mitunter recht einsilbig sein und war im allgemeinen ernster, nachdenklicher.
315 »Bärbel,« sagte Herr Grandidier einmal, als sie miteinander im warmen Sonnenschein durch den Garten auf und ab gingen, sie mit einem Flortuch um den Kopf, er in seinem großgeblümten Schlafrock, in dem Samtkäppchen, welches Bärbel ihm gestickt, und mit der langen Pfeife, welche mit extrafeinem Knaster gefüllt war. »Wenn ich nur in aller Welt wüßte, was mit dir vorgegangen ist. Da lässest du den Kopf schon wieder hängen, Mädchen, und sagst kein Sterbenswort.«
»Ich? Was soll ich sagen?« erwiderte sie ausweichend.
»Nun, da ist doch viel zu sagen, an einem so schönen Morgen wie heut. Sieh dir zum Beispiel die Rosen an, da sind wahrhaftig schon wieder drei Knospen aufgegangen . . .«
»Ja, die Rosen, die Rosen . . .« wiederholte Bärbel träumerisch, und vor dem Strauche stehen bleibend, summte sie leise ein altes Heimatlied:
»Han an em Ort e Blüemli gseh,
E Blüemli rot und wiß;
Sels Blüemli gsehn i nimme meh,
Drum tuet es mir im Herz so weh.
O Blüemli mi, o Blüemli mi,
I möcht' gern bei dir si!«
Herr Grandidier hatte nichts davon gehört. Er ging in seiner Naturbetrachtung rascher vorwärts, als Bärbel ihm folgen konnte.
»Oder hier,« rief er dem Mädchen zu, »sieh dir diese Libelle mit den schimmernden Flügeln an und sag mir, ob du bald etwas Schöneres gesehen hast? Oder hier das Rotkehlchen, das so munter durch die Zweige schlüpft . . . da, jetzt sitzt's oben auf dem Aste und fängt an zu singen; wie die kleine Brust sich hebt und senkt, indem es sein Lied singt . . . aber du kommst ja nicht, Bärbel, und es wartet nicht auf dich . . . und da fliegt es fort . . .«
»Da fliegt es,« sprach Bärbel fast gedankenlos nach . . .
»Es singt ein Vöglein, witt, witt, witt!
Komm mit, komm mit!
O könnt' ich, Vöglein, mit dir ziehn,
Wir wollten über die Berge fliehn . . .
O Vöglein, daß dich Gott behüt',
Da sitz' ich am Ufer und kann nicht mit . . .«
316 Herr Grandidier machte große Augen. »So!« sagte er, »darauf willst du hinaus? Auf die Wanderschaft willst du – fort von hier, im vorigen Herbst mit dem Storch und jetzt mit dem Rotkehlchen. Es gefällt dir wohl nicht mehr bei uns?«
Sie seufzte tief auf und indem sie die Hände gegen die Brust drückte, sprach sie, halb singend:
»Könnt' i no fort durch d' Welt, durch d' Welt,
Weil mir's hie gar net, gar net g'fällt!
O Schwälble komm, i bitt', i bitt'!
Zeig mir de Weg und nimm mi mit!«
Plötzlich aber, sich besinnend, als sei sie bisher weit, weit weg von hier und von Herrn Grandidier gewesen, und als kehre sie jetzt eben zurück, brach sie zu seinem großen Erstaunen in lautes Lachen aus. »Es war nur ein Spaß,« rief sie; und das Rotkehlchen überbietend, welches sich eben wieder auf dem Aste niedergelassen hatte, jauchzte sie mit heller, fröhlicher Stimme:
»Tra ri ra, der Sommer der ist da!
Wir wollen 'naus in Garten –
Und wollen des Sommers warten;
Ja, ja, ja, der Sommer der ist da!«
Dieser jähe Wechsel in der Stimmung des Mädchens befremdete Herrn Grandidier noch weit mehr als zuvor ihre Schwermut. »Soll ich dir etwas sagen, Bärbel?« begann er nach einigem Besinnen, während dessen er sie prüfend angeschaut hatte. Hierauf aber schüttelte er wieder den Kopf, als ob er seiner Entdeckung doch nicht recht traue.
Frau Grandidier war in diesem Augenblick auf der Treppe der Villa sichtbar geworden, mit einem mächtigen Sonnenschirm – oben Sonnenschirm, unten Spazierstock, wie sie damals eben aufgekommen waren, eine wahre Wohltat für die gute, starke Frau, die niemals in ihrem Leben so viel spazieren gegangen war, als jetzt in ihrem ländlichen Aufenthalt. Herr Grandidier winkte sie zu sich herunter.
»Luise Dorothea,« redete er sie in einem ungewöhnlich feierlichen Tone an, »soll ich dir etwas sagen? Ich glaube, das Mädchen ist verliebt.«
Frau Grandidier ward ganz rot. »Da sei Gott vor!« rief sie bestürzt.
317 Bärbel machte ihr ein Zeichen des Einverständnisses mit einem Blicke, der schelmisch und traurig zugleich war. »Glaub's ihm nicht, Mutterle!« sagte sie lachend; »ja, ja, ja, wie der Herr Grandidier sich auf Mädchenherzen versteht!«
»Nun, was ist's denn?« entgegnete dieser, fast ärgerlich darüber, daß er unrecht haben sollte. »Warum bist du so wetterwendisch, bald so, bald so – Lachen und Weinen, Singen und Sprechen – alles in einem Atem!«
Bärbel warf sich in die Brust und reckte den Kopf in die Höhe. »So,« sagte sie mit komischem Pathos, »die Liebe! Das gerade Gegenteil! Ich fürcht', die Liebe kommt nimmer zu mir – ich bin ihr zu weit aus dem Wege. Wo sollt' sie mich finden? Alle Tag werd' ich älter – ich werde sitzenbleiben und eine alte Jungfer werden. Das seh' ich klar voraus und das macht mir Sorgen.«
»Wie alt bist denn du eigentlich, du Gelbschnabel?«
»Neunzehn Jahre, Herr Grandidier, und gehe stark ins zwanzigste.«
»Da ist freilich Gefahr im Verzuge,« sagte dieser, und in seinem Gesichte, welches sich wieder aufzuheitern begann, zeigte sich ein Lächeln.
»Nein, nein, Herr Grandidier, da wir einmal bei der Sache sind, nehmen Sie sie ja nicht scherzhaft. Es ist mein voller Ernst.«
Sie wußte sich so gut zu verstellen, daß Herr Grandidier wieder irre ward. »Wenn's weiter nichts ist, dafür ist gesorgt,« sagte er. »Meinst du denn, daß der alte Grandidier je vergessen könnte, was er dir schuldig ist? An dem Tage, an welchem ich zum erstenmal ausgefahren, hab' ich mein Testament gemacht und . . .«
»Nun aber hören Sie auf, Herr Grandidier,« fiel ihm Bärbel ins Wort. »Davon mag ich nichts wissen!«
»Aber du sollst es wissen und heute noch soll es dein Vater auch wissen!«
»Um Gottes willen! Der Vater!« rief Bärbel, leichenblaß vor Furcht. »Dies hätte mir noch gefehlt! Es gäb' ein rechtes Unglück, wenn Sie's täten. Liebster, bester Herr Grandidier, versprechen Sie mir, mit keinem Menschen auf der Welt von so etwas zu reden. Ich müßt' mich zu Tod schämen! Kann man denn nicht einmal sich miteinander necken? Aber ich sehe wohl, vor Ihnen muß man sich hüten und 318 ich will lieber ganz stille sein.« Trotz dieses Vorsatzes brach sie jedoch gleich wieder in helles Gelächter aus. »So etwas dem Vater sagen! Nein, des isch doch schier zu g'späßi und i lach' mi buckli krumm . . .«
Sie schien auf einmal all ihr »Gutdeutsch« vergessen zu haben und war im besten Zuge, in ein »Stroßburjerisch« zu verfallen, wie das jedesmal geschah, wenn sie besonders lustig oder besonders traurig, namentlich aber, wenn sie zornig war. Aber das war es auch, was Herrn Grandidiers Herz jedesmal gewann und dem Mädchen ganz zu Willen machte; und er gelobte ihr mit Handschlag – denn anders tat sie's heute nicht – gegen den Vater mit keiner Silbe dieses wunderlichen Gesprächs zu erwähnen.
Während er sich entfernte, gab Bärbel der Frau Grandidier ein Zeichen, indem sie zugleich den Finger auf die Lippen legte. Frau Grandidier sah verwundert zu dem Mädchen auf, dann folgte sie mit dem Blicke ihrem Manne. Als dieser weit genug war, um sie nicht mehr zu hören, sagte Bärbel:
»Nun, Mutter, komm mit mir, ich muß dir etwas zeigen.«
»Was das für Geheimnisse sind!« schalt diese gutmütig. »Erst hast du's mit dem Vater, und ich sage dir, Bärbel, die Knie haben mir vor Angst gebebt, als ich euch so hart aneinander sah. Und nun bin ich an der Reihe . . .«
»Freilich, Mutterchen, es ist ein Geheimnis; aber du darfst es erfahren. Komm nur.«
Sie schritt die Treppe voran und führte Frau Grandidier in ihr Zimmer, welches, nach dem Walde hinaus gelegen, von einem milden, stark gedämpften Licht erfüllt war. Vor eine Nische, welche in der dem Fenster gegenüberliegenden Wand angebracht war, blieb sie stehen. Die Nische war verhängt.
»Ja, was ist denn das?« fragte Frau Grandidier.
»Wart nur,« erwiderte Bärbel, indem sie nun doch mit einem gewissen Zagen den Vorhang erfaßte, dann aber ihn rasch zur Seite schlug.
Unwillkürlich wich Frau Grandidier ein paar Schritte zurück. Es war, als ob aus der grünen Dämmerung, die sie rings umgab, ein großes Schiff gerade auf sie zufahre; und ganz vorn, an die Brüstung gelehnt, stand ein Mädchen, das mit weißem Tüchlein ihr viel tausend Grüße entgegenbrachte – und ihr dunkles Auge blitzte und ihr Antlitz strahlte 319 von einem wundersamen Glück, und ganz in Sonnenlicht getaucht war ihr Gewand, obwohl hier nirgends die Sonne schien, und mit ihrem braunen Gelock spielte der Wind, obwohl hier nirgends ein Lüftchen sich regte – und so schwank und zierlich war ihre Gestalt und so von Leben bewegt, als ob sie ihr in die Arme fliegen wolle . . . und das Mädchen war Bärbel, und wie festgebannt stand Frau Grandidier und konnte den Blick nicht von ihr wenden, bis die Tränen kamen und ihn verdunkelten.
Es war das erste Bild von Eduard, welches sie jemals gesehen hatte. Kein Mensch hatte ihr gesagt, daß es von Eduard sei. Aber ihr Herz sagte es ihr. Es war überhaupt das erste gute Bild, welches sie in ihrem Leben gesehen; und sie hatte sich auch niemals sehr darum gekümmert oder sich irgend welches Verständnis für dergleichen zugetraut. Aber hier kam es über sie, plötzlich, und ohne daß sie sich die mindeste Mühe zu geben brauchte. Das Bild sprach zu ihr und sie verstand seine Sprache.
»Das hat Eduard gemalt!« war das einzige Wort, welches sie fand und mehrmals wiederholte.
Sie fühlte sich stolz und glücklich über die Maßen und alles Leid war in diesem Augenblick vergessen. Es war, als ob ein Wiederschein des Bildes, ein Abglanz seines Glanzes auf diesem seligen Mutterangesicht ruhe! Sie begriff nicht die Feinheit der Malerei, noch den Zauber der Farbe. Doch was bedarf es dessen? Die Kunst in ihrer einfachen und für alle verständlichen Größe bedarf keines Kommentars; sie macht das Auge sehend. Sie wirkt gleich dem Lichte, welches am Pfingstmorgen ausgegossen ward. Und sich zu sagen und immer wieder zu sagen, daß ihr Sohn das gemalt! Ihre Liebe zu ihm hätte nicht größer werden können. Aber ein Gefühl von etwas Ehrfurchtgebietendem mischte sich hinein.
Bärbel erzählte nun, daß Eduard das Bild ihr an jenem Morgen geschenkt habe . . . sie schlug das Auge nieder . . . die Mutter wisse schon, an welchem Morgen. Daß er gesagt, er habe das Bild für sie gemalt und es solle fremden Blicken niemals ausgesetzt sein, daß er es ihr gestern herausgesandt, und daß es das sei, der Anblick desselben, seine beständige Nähe, ein Empfinden, als ob Eduard ihr darin selber nahe, was sie seitdem so seltsam erregt.
»Ach,« sagte Frau Grandidier, »wenn der Vater es sehen 320 könnte! Mir ist, als ob es ihm gut tun würde, dieses Bild zu sehen; als ob es ihn erleuchten würde, so wie es mich erleuchtet hat. Denn was hab' ich bisher von diesen Dingen gewußt? Ich ergriff in meinem Herzen Partei für Eduard, weil ich seine Mutter bin. Doch jetzt ist es mehr und ist anders; und soll ich dir sagen, wie? Lache mich nicht aus, Kind – mir ist, wie dem jungen fünfzehnjährigen Mädchen war, als ich in einem weißen Kleide zur ersten Kommunion ging und zum erstenmal an den Tisch des Herrn geführt ward. Da war mir in meiner Beklommenheit, als ob das Geheimnis plötzlich lebendig in mir werde; als ob das, was nur ein Gleichnis ist, nun doch in aller Wirklichkeit und Wahrheit sei. Nicht das Heiligtum hatte sich verwandelt; aber ich war verwandelt worden. So auch mit diesem Bilde; und wie man mir damals sagte, so sage ich mir jetzt auch: das ist von Gott!«
Die gute Alte schwieg, indem sie den Blick noch einmal zu dem Bilde erhob, welches unverändert in all seiner Schönheit auf sie herniederstrahlte. »Aber er wird es nicht sehen . . . er wird nicht kommen,« sagte sie zuletzt.
»Liebe Mutter,« nahm Bärbel das Wort, »wenn dem so ist, wie du sagtest, so müßte Gott nicht gut und nicht gerecht sein, oder er selber wird ihn führen, so wie man dich einst geführt hat, als du noch ein Kind warst.«
Dann verstummte auch sie, und nur noch das Rauschen des Waldes ward in dem kleinen Gemache vernommen.