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Eines Abends, als ich Rodin in seinem Atelier einen Besuch abstattete, wurde es, während wir plauderten, sehr schnell dunkel.
– Haben Sie schon einmal eine antike Statue bei Lampenlicht betrachtet? fragte mich plötzlich der Künstler.
– Nein, wahrhaftig nicht, antwortete ich einigermaßen überrascht.
– Ich setze Sie, wie ich sehe, in Erstaunen, und Sie scheinen die Absicht, eine Skulptur anders, als bei Tageslicht zu betrachten, für einen wunderlichen Einfall zu halten. 68
Das natürliche Licht ist sicher am besten imstande, den Gesamteindruck eines Kunstwerks zu vermitteln . . . . aber, warten Sie einen Augenblick . . . . ich möchte Ihnen ein Experiment zeigen, das zweifellos sehr lehrreich ist.
Während er sprach, hatte er bereits eine Lampe angezündet.
Er nahm sie und führte mich vor einen Marmortorso, der auf einem Sockel in einer Ecke des Ateliers stand. Es war eine köstliche kleine antike Kopie der Venus von Medici. Rodin hatte sie dort aufgestellt, um seine eigene Inspiration im Laufe der Arbeit anzuregen.
Treten Sie ganz nahe heran, sagte er. 69
Er beleuchtete den Leib mit dem vollen warmen Licht, indem er die Lampe so dicht als möglich neben die Statue hielt.
Was bemerken Sie? fragte er.
Gleich auf den ersten Blick war ich von dem, was sich mir plötzlich enthüllte, sehr überrascht. Diese Art der Beleuchtung zeigte mir auf der Oberfläche des Marmors eine Menge leichter Erhöhungen und Vertiefungen, die ich dort niemals geahnt hätte. Ich sagte das Rodin.
Gut! versetzte er lobend. Und nun passen Sie auf, fügte er hinzu.
Gleichzeitig drehte er die Platte, die die Venus trug, ganz langsam.
Während dieser Drehung bemerkte ich wieder auf der ganzen Oberfläche des Leibes ein Menge kaum wahrnehmbarer Unebenheiten. Was auf den ersten Blick einfach schien, war in Wirklichkeit von unvergleichlicher Kompliziertheit.
Ich äußerte dem Meister meine Beobachtungen. Er nickte wiederholt mit dem Kopf und lächelte.
– Ist das nicht wunderbar? sagte er. Sie haben es nicht erwartet, hier so viele Einzelheiten zu entdecken . . . . Sehen Sie hier, die feine ununterbrochene 70 Wellenlinie, die den Leib mit den Schenkeln verbindet, und hier weiden Sie sich an den ungemein reizvollen Formen und Linien der Hüfte . . . . Und nun erst hier auf den Lenden . . . . sehen Sie nur all die entzückenden Grübchen.
Er sprach ganz leise, mit einer hingebungsvollen Wärme. Er neigte sich über den Marmorleib, wie wenn er in ihn verliebt wäre.
– Das ist wirkliches Fleisch! sagte er.
Und mit strahlenden Augen fügte er hinzu:
Man möchte fast glauben, daß dieser Leib unter Küssen und Liebkosungen gemeißelt worden sei.
Plötzlich legte er die flache Hand auf eine Hüfte der Statue: 71
Man erwartet fast, diesen Körper bei der Berührung warm zu finden.
Er schwieg, fuhr aber schon nach wenigen Augenblicken fort:
– Wie denken Sie darüber, was man heute im allgemeinen über die griechische Kunst sagt?
Man sagt – und zwar ist diese Meinung hauptsächlich von den Akademikern verbreitet worden –, daß die Alten bei ihrem durchaus idealistischen Schönheitskult das Fleisch als etwas Gemeines und Niedriges verachtet, und es verschmäht hätten, in ihren Werken die tausend Einzelheiten der materiellen Wirklichkeit wiederzugeben.
Man behauptet, sie hätten die Natur schulmeistern wollen durch eine mit höchst einfachen Formen geschaffene abstrakte Schönheit, die sich nur an den Geist richten und nicht im geringsten den Sinnen schmeicheln möchte.
Die das behaupten, berufen sich auf das Beispiel, das sie in der antiken Kunst zu finden glauben, wenn sie dann selbst die Natur korrigieren, geradezu verstümmeln und sie auf trockene, kalte und nüchterne Umrisse zurückführen, die nicht mehr die geringsten Beziehungen zur Wahrheit haben. 72
Sie haben sich ja nun selbst überzeugen können, lieber Freund, wie sehr jene sich täuschen.
Zweifellos betonten die Griechen mit ihrem überwiegend logischen Geist ganz instinktiv das Wesentliche. Sie ließen die Hauptzüge des menschlichen Typus nachdrücklich hervortreten. Nichtsdestoweniger unterdrückten sie niemals die lebendigen Einzelheiten. Sie begnügten sich nur, diese Einzelheiten unaufdringlich zu machen, zu verhüllen und sie mit dem Ganzen zu verschmelzen. Da sie die ruhigen Rhythmen liebten, beschränkten sie unbewußt das Herausarbeiten bildhauerischer Nebensächlichkeiten, die die heitere Harmonie einer Bewegung hätten stören können, auf ein Mindestmaß; aber sie hüteten sich wohl, diese Nebensächlichkeiten ganz zu unterdrücken.
Niemals machten sie aus der Lüge eine Methode. 73
Voll Ehrfurcht und Liebe für die Natur, stellten sie sie immer so dar, wie sie sie sahen. Und bei jeder Gelegenheit bezeugten sie mit wahrer Leidenschaft ihre Verehrung für die Stofflichkeit des Fleisches. Denn es ist ein Unsinn zu glauben, daß sie das Fleisch verachteten. Bei keinem Volke erregte die Schönheit des menschlichen Körpers eine sinnlichere Liebe. Ein bewunderndes Entzücken scheint sich an alle Formen geheftet zu haben, die sie modellierten.
So erklärt sich der unglaubliche Unterschied, der das falsche akademische Ideal von der griechischen Kunst trennt.
Während bei den Alten die Verallgemeinerung der Linien ein Zusammenfassen, eine Resultante aller Einzelheiten bedeutet, ist die akademische Vereinfachung eine Verarmung, ein leerer Schwulst.
Während die festen und bebenden Muskeln der griechischen Statuen wie von unmittelbarem Leben beseelt und erwärmt sind, machen die haltlosen Puppenleiber der akademischen Kunst einen eisigen, todesstarren Eindruck.
Er schwieg einige Zeit, schließlich begann er wieder:
– Ich werde Ihnen ein großes Geheimnis anvertrauen. Wissen Sie, womit der Eindruck des 74 wirklichen Lebens, den wir vor dieser Venus empfunden haben, erreicht ist?
Durch eine genaue Kenntnis der Kunst des Modellierens. Diese Worte erscheinen Ihnen wahrscheinlich als eine Banalität, aber Sie werden sogleich ihre ganze Bedeutung ermessen können.
Diese »Kunst des Modellierens« lehrte mich ein gewisser Constant, der in dem Dekorationsatelier arbeitete, wo ich meine ersten bildhauerischen Versuche machte.
Eines Tages beobachtete er mich, wie ich ein mit Blattwerk geschmücktes Kapitäl in Ton formte, und sagte:
Mein lieber Rodin, du faßt die Sache nicht richtig an. Alle deine Blätter erscheinen flach und nicht greifbar; ich werde dir sagen, woher das kommt. Du mußt sie so gestalten, daß sie ihre Spitze auf dich richten, daß man, wenn man sie ansieht, den Eindruck der Vertiefung hat.
Ich befolgte seinen Rat und wurde von dem Resultat in die höchste Verwunderung versetzt.
Erinnere dich dessen, was ich dir soeben sagte, fuhr Constant fort. Sieh' bei deinen künftigen Arbeiten die Formen niemals auf ihre Fläche, sondern immer auf ihre Tiefe hin an. . . . . Betrachte eine 75 Oberfläche immer als das äußerste Ende eines Volumens, als die mehr oder minder breite Spitze, die dieser Körper gegen dich richtet. Auf diese Weise wirst du dir bald die Kunst des Modellierens erringen.
Die Befolgung dieses Prinzips hat sich bei mir als ungemein fruchtbar erwiesen.
Ich wandte es bei der Ausführung von Statuen an. Anstatt die verschiedenen Teile des Leibes als mehr oder minder ausgedehnte Flächen zu sehen, stellte ich sie mir als die Vorsprünge kubischer Massen vor. Ich bemühte mich, in jeder Schwellung des Körpers oder der Glieder das Spiel der Muskeln oder Knochen fühlen zu lassen, die sich unter der Haut regten.
So schien sich die Wahrheit meiner Figuren, anstatt oberflächlich zu wirken, von innen nach außen, wie das Leben selbst, zu entfalten . . . .
Nun habe ich entdeckt, daß die Alten genau dieselbe Methode des Modellierens ausübten. Und einzig dieser Technik verdanken ihre Werke die gleichzeitig zum Ausdruck gelangende Kraft und lebendig zitternde Geschmeidigkeit.
Rodin betrachtete von neuem seine auserlesen schöne griechische Venus. Plötzlich sagte er: 76
Lieber Freund, ist Ihrer Meinung nach die Farbe eine Eigenschaft des Malers oder des Bildhauers?
Des Malers natürlich!
Gut! Betrachten Sie nun bitte nochmals diese Statue.
Indem er dies sagte, hob er die Lampe so hoch er konnte, um den antiken Torso ganz von oben zu beleuchten.
– Sehen Sie diese kräftigen Lichter auf den Brüsten, diese energischen Schatten in den Falten des Fleisches, dann hier diese sich aufhellenden Stellen, dieses duftige, gleichsam zitternde Halbdunkel auf den zartesten Teilen dieses göttlichen Leibes und diese unendlich fein schattierten Streifen, die sich in der umgebenden Luft aufzulösen scheinen. Was sagen Sie nun? Ist das nicht eine wunderbare Symphonie in Weiß und Schwarz? 77
– Ich mußte ihm beistimmen.
So paradox es erscheint, die großen Bildhauer sind ebenso Koloristen wie die besten Maler oder vielmehr die besten Stecher.
Sie beherrschen so geschickt alle Hilfsmittel des Reliefs, sie vermählen so vortrefflich die Kühnheit des Lichts mit der Bescheidenheit des Schattens, daß ihre Skulpturen so zart und köstlich sind wie die feinsten und duftigsten Stiche.
Jawohl, die Farbe – und damit komme ich endlich zu der Bemerkung, die ich längst machen wollte – ist sozusagen die Blüte der schönen Modellierung. Diese beiden Eigenschaften gehen immer Hand in Hand; sie beide geben allen Meisterwerken der Bildhauerkunst den bezaubernden Anblick des lebendigen Fleisches.