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An einem Flügel des Hauses, an der andern Seite des Hofes wohnte im Parterre mit ihrem kleinen Töchterchen eine junge zwanzigjährige Frau, die seit einigen Monaten Witwe war. Frau Sabine Fröhlich war ebenfalls Mieterin des alten Euler. Der Laden nach der Straße zu gehörte ihr; außerdem hatte sie zwei Hofzimmer mit Benutzung eines kleinen Gartenvierecks, das von dem der Eulers nur durch ein einfaches Drahtgitter getrennt war, um das sich der Efeu rankte. Dort sah man sie selten. Nur das Kind vergnügte sich da vom Morgen bis zum Abend, Erde durcheinander zu manschen. Der Garten aber wuchs, wie er wollte, zu des alten Justus großem Mißvergnügen, der geharkte Wege und schöne Regelmäßigkeit der Beete liebte. Er hatte versucht, seiner Mieterin darüber einige Vorstellungen zu machen; wahrscheinlich zeigte sie sich deswegen nun gar nicht mehr; und mit dem Garten wurde es nicht besser.
Frau Fröhlich betrieb einen kleinen Kurzwarenhandel, der dank seiner Lage in einer Geschäftsstraße und im Herzen der Stadt recht blühend hätte sein können; aber sie kümmerte sich nicht viel mehr um ihn als um den Garten. Anstatt ihre Wirtschaft selbst zu besorgen, wie es sich nach Frau Vogel für eine Frau, die sich selbst achtet, geziemte, – besonders wenn die Vermögensverhältnisse ihr keinen Müßiggang erlauben oder wenigstens entschuldigen, – hielt sie sich eine kleine Zugeherin, ein junges Ding von fünfzehn Jahren, die morgens ein paar Stunden kam, um die Zimmer aufzuräumen und den Laden zu bewachen, indessen die junge Frau träge in ihrem Bett oder bei ihrer Toilette blieb.
Christof beobachtete sie manchmal durch ihre Fenster, wie sie mit nackten Füßen in ihrem langen Hemd im Zimmer auf und ab ging oder stundenlang vor ihrem Spiegel saß; denn sie war so sorglos, daß sie die Vorhänge zu schließen vergaß; und merkte sie es, so war sie doch zu gleichgültig, um sich die Mühe zu nehmen, sie herunterzulassen. Christof war schamhafter als sie und ging vom Fenster fort, um sie nicht zu stören; aber die Versuchung war groß; ein wenig errötend warf er einen Seitenblick auf ihre nackten, etwas mageren Arme, die sich matt um ihre aufgelösten Haare schlangen, während die Hände hinterm Nacken verschränkt lagen und da vergessen blieben, bis sie eingeschlafen waren und sie sie zurückfallen ließ. Christof redete sich ein, daß er nur aus Versehen beim Vorübergehen dies angenehme Schauspiel genieße und daß er davon nicht in seinen musikalischen Gedanken gestört werde; aber er fand Geschmack daran und verlor schließlich ebensoviel Zeit damit, Frau Sabine anzuschauen, als sie damit verlor, ihre Toilette zu machen. Sie war nicht etwa putzsüchtig: sie ging gewöhnlich eher vernachlässigt herum und verwandte auf ihre Kleidung nicht die peinliche Sorgfalt, die Amalie oder Rosa daran setzten. Wenn sie ewig vor ihrem Toilettentisch saß, geschah es aus reiner Trägheit; nach jeder Nadel, die sie einsteckte, mußte sie sich von dieser großen Anstrengung ausruhen und zog sich dazu im Spiegel kleine klagende Grimassen. Ganz war sie auch noch nicht gegen Ende des Tages angezogen.
Oft ging das Mädchen fort, bevor Sabine fertig war; und ein Kunde klingelte an der Ladentür. Sie ließ ihn ein- oder zweimal rufen und klingeln, bevor sie sich dazu entschloß, sich aus ihrem Sessel zu erheben. Sie kam lächelnd ohne jede Eile herbei, suchte ohne jede Eile den Artikel, den man von ihr verlangte, und wenn sie ihn nach einigem Suchen nicht fand oder wenn – das kam vor – sie sich zu viel Mühe machen mußte, um ihn herbeizuschaffen, z. B. die Leiter von einem Ende des Raums zum andern schleppen – so sagte sie seelenruhig, daß sie den Gegenstand nicht mehr habe; und da sie sich nicht darum kümmerte, in Zukunft etwas mehr Ordnung bei sich zu schaffen oder die fehlenden Waren zu erneuern, wurden die Kunden dessen überdrüssig und wandten sich anderswohin. Ohne Groll übrigens. Es war unmöglich, sich gegen dieses liebenswürdige Wesen zu erzürnen, das mit sanfter Stimme sprach und durch nichts aus der Ruhe zu bringen war. Alles, was man ihr hätte sagen können, war ihr gleichgültig; man fühlte das so genau, daß die, welche mit Schelten anfingen, nicht einmal den Mut fanden, lange fortzufahren; sie erwiderten schließlich lächelnd ihr reizendes Lächeln und gingen davon; aber sie kamen nicht wieder. Sie sorgte sich darum nicht im geringsten. Sie lächelte nur immer.
Sie glich einem florentiner Figürchen. Die Brauen gewölbt, fein gezeichnet, unterm Vorhang der Lider halboffene graue Augen, das untere Lid ein wenig stark und von einer leichten Falte untergraben. Die feine kleine Nase hob sich dem Ende zu in einem leichten Bogen. Ein anderer kleiner Bogen trennte sie von der Oberlippe, die sich über dem halboffenen Munde mit einem kleinen Zug lächelnder Lässigkeit schürzte. Die Unterlippe war ein wenig dick. Das runde Untergesicht trug den kindlichen Ernst der kleinen Madonnen des Filippo Lippi. Der Teint war etwas trüb, die Haare hellbraun, die Locken stets in Unordnung und dazu eine Frisur à la diable. Sie hatte einen feinen zartknochigen Körper mit trägen Bewegungen. Und so wenig sorgfältig sie angezogen war – mit einer Jacke, die halb offen stand, fehlenden Knöpfen, häßlichen ausgetretenen Schuhen, mit ihrem ganzen ein wenig schlampigen Aussehen – entzückte sie doch durch ihre jugendliche Grazie, durch ihre Sanftmut, ihr instinktiv einschmeichelndes Wesen. Wenn sie aus der Tür des Ladens trat, um Luft zu schöpfen, schauten sie die vorübergehenden jungen Leute mit Vergnügen an; und obgleich sie sich nicht viel darum kümmerte, konnte sie doch nicht umhin, es zu merken. Ihr Blick bekam dann jenen dankbar fröhlichen Ausdruck, den die Augen aller Frauen annehmen, die sich mit Sympathie betrachtet fühlen; er scheint zu sagen:
»Danke! … Immerzu! Immerzu! Schaut mich an! …«
Fand sie aber auch noch so viel Vergnügen daran, zu gefallen, so war ihre Lässigkeit doch viel zu groß, als daß sie sich je im geringsten darum bemüht hätte.
Für die Eulers und Vogels war sie ein Stein des Anstoßes. Alles an ihr verletzte sie: ihre Energielosigkeit, die Unordnung im Haus, ihre nachlässige Kleidung, die höfliche Gleichgültigkeit ihren Bemerkungen gegenüber, ihr ewiges Lächeln, der ungehörige Gleichmut, mit dem sie den Tod ihres Mannes hingenommen hatte, derselbe Gleichmut, mit dem sie kleinen Unpäßlichkeiten ihres Kindes gegenüberstand, ihren schlechten Geschäften, den großen und kleinen Unannehmlichkeiten des täglichen Lebens – ohne daß je etwas ihre lieben Gewohnheiten änderte oder ihr ewiges Umherschlendern aufhören ließ; und das schlimmste von allen schien: daß sie so, wie sie war, gefiel. Das konnte ihr Frau Vogel nicht verzeihen. Man hätte meinen können, Sabine habe es darauf abgesehen, durch ihr Betragen alle festen Traditionen und wahren Grundsätze ironisch Lügen zu strafen, alle, die samt der freudlosen Arbeit, samt Aufgeregtheit, Lärm, Streit, Gejammer und gesundem Pessimismus den Lebenszweck der Familie Euler wie aller anständigen Leute ausmachten und ihr Dasein zu einem verfrühten Fegefeuer gestalteten. Daß eine Frau, die nichts tat und sich's den ganzen lieben Tag lang gut sein ließ, sich auch noch unterstand, sie mit ihrer unverschämten Ruhe zu verspotten, indessen sie sich wie Galeerensträflinge zu Tode plagten – und daß ihr obendrein die Welt noch recht gab – das ging über die Grenzen, das hätte einem das Anständigsein verleiden können! … Glücklicherweise und Gott sei Dank gab es immerhin auf der Erde noch einige Menschen mit gesunden Sinnen. Frau Vogel tröstete sich mit ihnen. Über die kleine Witwe, die man durch ihre Vorhänge neugierig beobachtete, tauschte man seine täglichen Eindrücke aus. Diese Klatschereien bildeten abends, wenn man bei Tisch zusammensaß, die Familienfreuden. Christof hörte nur halb hin. Er war so daran gewöhnt, die Vogels sich zu Richtern ihrer Nachbarn aufwerfen zu sehen, daß er dem gar keine Beachtung mehr schenkte. Im übrigen kannte er von Frau Sabine noch nichts anderes als ihren Nacken und ihre bloßen Arme, die, – waren sie auch recht erfreulich – ihm noch kein abschließendes Urteil über ihre Persönlichkeit erlaubten. Jedoch fühlte er sich ihr gegenüber außerordentlich nachsichtig gestimmt; und aus Widerspruchsgeist wußte er ihr vor allem dafür Dank, daß sie Frau Vogel so gar nicht gefiel.
Wenn es sehr heiß war, konnte man abends nach dem Essen nicht in dem dumpfen Hof bleiben, in den die Sonne während des ganzen Nachmittags schien. Einzig auf der Straßenseite war es möglich, ein wenig aufzuatmen. Euler und sein Schwiegersohn setzten sich manchmal mit Luise vor die Tür. Frau Vogel und Rosa erschienen höchstens einen Augenblick: sie wurden von den Haushaltungspflichten abgehalten; Frau Vogel setzte ihren ganzen Stolz darein, recht deutlich zu zeigen, daß sie keine Zeit zum Müßiggang habe. Und sie äußerte ziemlich laut, damit man sie auch höre, daß Leute, welche nichts Besseres wüßten, als vor ihren Türen zu gähnen, und dabei nicht den kleinen Finger rührten, ihr auf die Nerven gingen. Da sie aber (zu ihrem Bedauern) diese Leute nicht zur Arbeit zwingen konnte, tat sie wenigstens so, als sähe sie sie nicht, und ging wieder hinein, um sich wütend abzurackern. Rosa glaubte, ihr nacheifern zu müssen. Euler und Vogel fanden überall Zugluft, fürchteten, sich zu erkälten, und stiegen ebenfalls zu sich hinauf; sie gingen sehr früh zu Bett und hätten sich am Ende ihrer Tage geglaubt, wenn sie das Geringste an ihren Gewohnheiten geändert hätten. Von neun Uhr an blieben nur noch Luise und Christof übrig. Luise verbrachte den ganzen Tag im Zimmer; abends fühlte sich Christof verpflichtet, ihr, wenn er irgend konnte, Gesellschaft zu leisten, um sie zu zwingen, ein wenig Luft zu schöpfen. Allein wäre sie nicht außer Hause gegangen: der Straßenlärm verstörte sie. Die Kinder jagten sich mit lautem Geschrei. Alle Hunde der Gegend antworteten darauf mit ihrem Bellen. Man hörte Klavierspiel, ein wenig weiter fort eine Klarinette und in einer Nebenstraße ein Piston. Irgendwelche Stimmen riefen sich etwas zu. Leute kamen und gingen und standen gruppenweise vor ihren Häusern zusammen. Luise hätte sich in dem allgemeinen Tohuwabohu verloren gefühlt, wäre sie ihm allein preisgegeben gewesen. Aber an der Seite ihres Sohnes machte es ihr einiges Vergnügen. Nach und nach schlief der Lärm ein. Kinder und Hunde gingen als erste schlafen. Die Gruppen verliefen sich. Die Luft wurde reiner. Die Stille sank herab. Luise erzählte mit ihrer schmächtigen Stimme die kleinen Neuigkeiten, die sie von Amalie oder Rosa erfahren hatte. Sie waren ihr nicht besonders wichtig, aber sie wußte nicht, wovon sie sonst mit ihrem Sohne sprechen sollte, und fühlte doch das Bedürfnis, ihm nahezukommen, irgend etwas zu sagen. Christof fühlte das und tat, als ob er sich für ihr Erzählen interessiere; aber er hörte nicht zu; er träumte vor sich hin und überdachte die Tagesereignisse.
Eines Abends, als sie so saßen und seine Mutter sprach, sah er, wie sich die Tür des benachbarten Ladens öffnete. Eine weibliche Gestalt trat still heraus und setzte sich vor das Haus. Ihr Stuhl stand einige Schritte von Luise entfernt. Sie saß im tiefsten Schatten. Christof konnte ihr Gesicht nicht sehen; aber er erkannte sie doch wieder. Sein Dämmerzustand verflog. Die Luft schien ihm weicher. Luisen war die Gegenwart Sabines nicht aufgefallen, und sie hatte mit halber Stimme ihr ruhiges Geplauder fortgesetzt. Christof hörte jetzt besser hin und er fühlte das Bedürfnis, seine Bemerkungen mit hineinzustreuen, zu reden, vielleicht gehört zu werden. Die schmale Silhouette blieb reglos, ein wenig zusammengesunken, mit leicht gekreuzten Beinen, die Hände, eine über der andern, flach auf den Knien. Sie sah vor sich hin, schien nichts um sich zu vernehmen. Luisen schläferte; sie ging hinein. Christof sagte, er wolle noch ein wenig draußen bleiben.
Es war beinahe zehn Uhr. Die Straße hatte sich geleert. Die letzten Nachbarn gingen einer nach dem andern in die Häuser. Man hörte, wie die Kaufläden geschlossen wurden. Die erhellten Fensterscheiben blinkten mit den Augen und verlöschten. Eine oder zwei zögerten noch: dann starben auch sie. Alles schwieg … Sie waren allein, schauten sich nicht an, hielten den Atem an und schienen nicht zu merken, daß sie einander nahe waren. Von fernen Feldern kam ein Hauch gemähter Wiesen und von einem benachbarten Balkon der Duft eines Nelkentopfes. Die Luft war still. Zu ihren Häupten rann die Milchstraße. Rechts stand der blutrote Jupiter. Oberhalb eines Schornsteins senkte der große Wagen seine Achsen; im blaßgrünen Himmel blühten die Sterne wie Margeriten. Vom Kirchspiel klangen elf Schläge und wurden aus den Kirchen ringsumher mit klaren oder rostigen Stimmen und dann in den Häusern von den dumpfen Klängen der Wanduhren oder den heiseren Kuckuckrufen wiederholt.
Sie wachten plötzlich aus ihrer Verträumtheit auf und erhoben sich zu gleicher Zeit. Und wie sie so jeder nach seiner Seite ins Haus treten wollten, grüßten sie sich beide ohne zu sprechen durch ein Kopfneigen. Christof stieg in sein Zimmer hinauf. Er zündete seine Kerze an, setzte sich, den Kopf in die Hände gestützt, und blieb so lange Zeit, ohne zu denken. Dann seufzte er und legte sich schlafen.
Als er am nächsten Morgen aufstand, trat er mechanisch ans Fenster und schaute zu Sabinens Zimmer hinüber. Aber die Vorhänge waren geschlossen. Sie blieben es den ganzen Morgen. Sie blieben es seither stets.
Am folgenden Abend schlug Christof seiner Mutter vor, sich wieder vor die Haustür zu setzen. Er gewöhnte sich mehr und mehr daran. Luise freute sich darüber: es bekümmerte sie, ihn gleich nach Tisch bei geschlossenen Fenstern und Laden sich in sein Zimmer einschließen zu sehen. – Der kleine stumme Schatten versäumte ebenfalls nicht, sich immer wieder an den gewohnten Platz zu setzen. Und ohne daß Luise etwas merkte, grüßten sich die beiden mit einer schnellen Kopfbewegung. Christof plauderte mit seiner Mutter. Sabine lächelte ihrem kleinen Mädchen zu, das in der Straße spielte; gegen neun Uhr brachte sie es zu Bett und kam dann geräuschlos wieder. Verspätete sie sich ein wenig, so begann Christof zu fürchten, daß sie gar nicht mehr herauskäme. Er horchte dann auf jeden Laut des Hauses, auf das Lachen des kleinen Mädchens, das nicht schlafen wollte; er vernahm das Rascheln von Sabines Kleid, noch bevor sie wieder auf der Schwelle des Ladens erschienen war. Dann wandte er die Augen ab und sprach mit lebhafterer Stimme zu seiner Mutter. Manchmal hatte er die Empfindung, daß Sabine ihn anschaue. Er ließ von seiner Seite einen flüchtigen Blick zu ihr gleiten. Niemals aber trafen sich ihre Augen.
Das Kind wurde das Band zwischen ihnen. Es lief mit andern Kleinen in der Straße umher. Sie vergnügten sich gemeinsam, einen braven gutmütigen Hund zu necken, der, die Schnauze zwischen die Pfoten gestreckt, schlummerte; er blinzelte mit dem einen roten Auge und stieß schließlich ein ärgerliches Knurren aus: da kreischten die Kinder vor Entsetzen und flohen davon. Das Mädelchen schrie durchdringend, schaute hinter sich, als ob es verfolgt würde, und stürzte sich in Luisens Schoß, die zärtlich lachte. Luise behielt das Kind ein wenig bei sich, fragte es aus, und das Gespräch mit Sabine kam in Fluß. Christof nahm nicht daran teil. Er sprach Sabine nicht an. Sabine sagte nichts zu ihm. In schweigender Übereinstimmung taten sie, als übersähen sie einander. Aber er verlor kein Wort von den über seinen Kopf fort getauschten Reden. Luisen schien sein Schweigen feindlich. Sabine hielt es nicht dafür; aber es schüchterte sie ein und störte sie ein wenig, wenn sie antwortete. Sie erfand dann einen Grund, ins Haus zu gehen.
Während einer ganzen Woche hütete die erkältete Luise das Zimmer. Christof und Sabine saßen allein nebeneinander. Das erstemal erschreckte sie das. Sabine nahm, um irgend etwas anzufangen, die Kleine auf den Schoß und überschüttete sie mit Küssen. Christof fühlte sich befangen und wußte nicht, ob er immer weiter übersehen solle, was neben ihm vorging; mit der Zeit wurde das schwierig: denn wenn sie auch noch kein Wort aneinander gerichtet hatten, so war, dank Luise, die Bekanntschaft doch gemacht. Er versuchte ein oder zwei Sätze aus seiner Kehle zu würgen; aber der Ton blieb ihm unterwegs stecken. Noch einmal zog sie das kleine Mädchen aus der Klemme. Beim Versteckspiel lief sie um Christofs Stuhl herum; der fing sie ab und küßte sie. Er liebte Kinder nicht besonders; aber es war ihm eine seltsame Wonne, gerade dieses Kind zu küssen. Die ganz ihrem Spiel hingegebene Kleine wehrte sich. Christof neckte sie weiter, und sie biß ihn in die Hände; er ließ sie zur Erde gleiten, Sabine lachte. Sie tauschten, indem sie das Kind anschauten, ein paar nichtssagende Worte. Darauf versuchte Christof (denn er fühlte sich dazu verpflichtet) ein Gespräch anzuknüpfen; aber er war nicht sehr wortgewandt, und Sabine erleichterte es ihm nicht: sie begnügte sich damit, das zu wiederholen, was er eben gesagt hatte:
– Es wäre heut abend sehr schön.
– Ja, der Abend wäre herrlich.
– Im Hofe könne man ja nicht atmen.
– Ja, der Hof wäre zum Ersticken.
Die Unterhaltung wurde schwierig. Da es Zeit war, die Kleine ins Haus zu bringen, benutzte Sabine die Gelegenheit, um mit ihr hineinzugehen; und sie kam nicht mehr zum Vorschein.
Christof fürchtete, sie würde es an den folgenden Abenden ebenso machen und, solange Luise nicht da wäre, vermeiden, mit ihm zusammen zu sein. Aber gerade das Gegenteil war der Fall; und am folgenden Tage versuchte Sabine selbst, das Gespräch wieder aufzunehmen. Ihr Wille dazu war größer als das Vergnügen daran; man fühlte, daß sie sich viel Mühe gab, um Unterhaltungsstoff zu finden, und daß die Fragen, die sie stellte, sie selber langweilten: auf diese Weise sickerten Fragen und Antworten mitten in herzzerreißend leere Pausen hinein. Christof mußte an die ersten zarten Zusammenkünfte mit Otto denken; bei Sabine aber war der Stoff noch beschränkter, und sie besaß dabei nicht Ottos Geduld. Als sie den geringen Erfolg ihrer Versuche sah, bestand sie nicht weiter darauf: sie mußte sich zu sehr anstrengen; das interessierte sie nicht. So schwieg sie, und er folgte ihrem Beispiel.
Daraufhin wurde alles wieder sehr wonnevoll. Die Nacht wurde von neuem still und die Herzen nahmen ihre Gedanken wieder auf. Sabine schaukelte sich langsam auf ihrem Stuhl und träumte. Christof träumte auf seine Weise. Sie sagten sich nichts. Nach einer halben Stunde fing Christof halblaut mit sich selbst zu reden an und begeisterte sich am berauschenden Duft, der, vom lauen Wind getragen, von einem vorüberfahrenden Erdbeerwagen kam. Sabine antwortete zwei oder drei Worte. Dann schwiegen sie von neuem. Sie genossen diese endlosen Pausen als einen Reiz und ebenso ihre gleichgültigen Reden. Sie waren in ein und demselben Traum befangen und von einem einzigen Gedanken erfüllt; von welchem, wußten sie nicht; sie gestanden ihn sich selbst nicht ein. Als es elf Uhr schlug, gingen sie lächelnd auseinander.
Den Tag darauf versuchten sie nicht einmal mehr, das Gespräch anzuknüpfen: sie nahmen ihr liebes Schweigen wieder auf. Ab und zu gaben sie sich durch ein paar Einsilbigkeiten zu verstehen, daß sie an dieselben Dinge dachten.
Sabine fing zu lachen an:
»Wieviel besser ist es,« sagte sie, »sich nicht zum Sprechen zu zwingen! Man glaubt immer, man müsse es tun, und es ist doch so langweilig!«
»Ach,« meinte Christof mit tiefer Überzeugtheit, »wenn doch alle Welt dieser Ansicht wäre!«
Sie lachten beide. Sie dachten an Frau Vogel.
»Die arme Frau,« sagte Sabine. »Wie ermüdend sie wirkt!«
»Sie selbst wird niemals müde,« erwiderte Christof mit verzweifelter Miene.
Sabine belustigte sich an seiner Miene und seinem Wort.
»Sie finden das spaßhaft?« sagte er. »Sie können das wohl leicht. Sie sind geschützt.«
»Das will ich hoffen,« meinte Sabine. »Ich riegele mich bei mir ein.«
Sie ließ ein kleines, sanftes, fast geräuschloses Lachen hören. Christof lauschte ihm entzückt durch die Nachtstille nach. Er atmete mit Wonne die frische Luft ein.
»Ach, wie wohl tut es, einmal nichts zu reden,« meinte er und reckte die Arme.
»Und wie überflüssig das Sprechen ist,« sagte sie.
»Ja,« antwortete Christof, »man versteht sich so gut!«
Sie versanken wieder in ihr Schweigen. Die Nacht hinderte sie, einander zu sehen; sie lächelten beide.
Jedoch wenn sie auch im Zusammensein das Gleiche fühlten – oder es sich einbildeten –, so wußte doch einer vom andern in Wirklichkeit nichts. Sabine kümmerte sich auch nicht im geringsten darum. Christof war neugieriger. Eines Abends fragte er sie:
»Mögen Sie Musik?«
»Nein,« sagte sie einfach. »Sie langweilt mich. Ich verstehe nicht das Geringste davon.«
Diese Offenheit fand er reizend. Er war der Lügen der Leute so überdrüssig, die sich wie Musiknarren gebärdeten und vor Langerweile starben, wenn sie welche hören sollten: es schien ihm daher beinahe ein Verdienst, wenn man Musik nicht mochte und es sagte. Er erkundigte sich weiter, ob Sabine läse.
– Nein, erstens besäße sie keine Bücher.
Er bot ihr seine an.
»Ernste Bücher?« fragte sie besorgt.
– Keine ernsten, wenn sie die nicht wollte. Vielleicht Gedichte?
»Das sind doch aber ernste Bücher!«
»Also dann Romane.«
Sie zog ein Mäulchen.
– Ob sie die nicht interessierten?
– Doch, sie interessierten sie wohl; aber es war immer zu lang. Sie hatte nie genug Geduld, bis zu Ende zu lesen. Sie vergaß den Anfang, übersprang ein paar Kapitel und verstand überhaupt nichts mehr. Dann warf sie das Buch beiseite!
– Ein schöner Beweis von Interesse!
– Ph! Immer noch genug für eine erfundene Geschichte. Sie bewahre ihr Interesse eben für anderes als für Bücher auf.
»Etwa fürs Theater?«
»O nein, das nicht!«
– Ob sie nie hinginge?
– Nein. Da wäre es zu heiß. Es seien zu viel Menschen dort. Zu Hause sei man viel besser aufgehoben. Die Beleuchtung mache einem Augenschmerzen; und die Schauspieler wären so häßlich!
Darin stimmte er mit ihr überein. Aber es gab doch noch etwas anderes im Theater: die Stücke.
»Ja,« meinte sie zerstreut. »Aber ich habe keine Zeit.«
»Was haben Sie denn von morgens bis abends zu tun?«
Sie lächelte.
»Es gibt so viel zu tun!«
»Nun ja,« meinte er, »Sie haben Ihren Laden.«
»O,« sagte sie seelenruhig; »der macht mir nicht viel Arbeit.«
»Dann nimmt Ihnen also Ihr Töchterchen die ganze Zeit in Anspruch?«
»O nein, das arme kleine Ding! Es ist so artig. Es spielt ganz allein.«
Er entschuldigte sich wegen seiner Fragelust. Aber ihr machte sie Spaß.
– Es gäbe so viel, so vielerlei.
»Was denn?«
– Das ließe sich nicht sagen. Alles mögliche! Und wenn man selbst nur aufzustehen hätte, seine Toilette zu machen, ans Essen zu denken, das Essen zu bereiten, es zu verzehren, ans Abendbrot zu denken, sein Zimmer ein wenig in Ordnung zu halten … Dann wäre der Tag schon zu Ende … und man müßte doch auch etwas Zeit zum Nichtstun übrig behalten! …
»Und Sie langweilen sich nicht?«
»Niemals.«
»Sogar wenn Sie nichts tun?«
»Besonders dann nicht. Viel eher langweile ich mich, wenn ich etwas tue.«
Sie schauten sich lachend an.
»Wie glücklich Sie sind!« sagte Christof. »Ich bringe es nicht fertig, nichts zu tun.«
»Mir scheint. Sie verstehen es ganz gut.«
»Ich lerne es seit ein paar Tagen.«
»Nun, so werden Sie es gewiß erreichen.«
Wenn er so mit ihr geplaudert hatte, war sein Herz friedvoll und ausgeruht. Es war ihm genug, sie zu sehen. Seine Kümmernisse, seine Erregung, die ganze nervöse Angst, die sein Herz zusammenpreßte, entspannten sich. Keinerlei Unruhe, wenn er an sie dachte. Keinerlei Unruhe, wenn er mit ihr sprach. Er wagte es sich nicht einzugestehen; aber seitdem er ihr nahegekommen war, fühlte er sich von einer köstlichen Betäubung durchdrungen, so daß ihn fast schläferte. Die Nächte hindurch schlief er, wie er es nie zuvor getan hatte.
Kehrte er von seiner Arbeit heim, so warf er einen Blick in das Ladeninnere. Selten kam es vor, daß er Sabinen nicht sah. Sie grüßten sich lächelnd. Manchmal stand sie auf der Schwelle und sie tauschten einige Worte; oder er öffnete wohl auch halb die Tür, rief die Kleine und ließ ihr eine Tüte Bonbons in die Hand gleiten.
Eines Tages entschloß er sich, hineinzugehen. Er gab vor, Knöpfe für seinen Anzug zu brauchen. Sie fing an, welche zu suchen. Alle Knöpfe lagen durcheinander: es war unmöglich, sich darunter zurecht zu finden. Ein wenig ärgerte es sie, daß er diese Unordnung sah. Er hatte seinen Spaß daran und beugte sich neugierig vor, um noch besser zu sehen.
»Nein!« meinte sie und versuchte die Schublade mit den Händen zu bedecken. »Schauen Sie nicht her. Da herrscht ein schrecklicher Wirrwarr …«
Sie fing wieder zu suchen an. Aber Christof machte sie befangen. Sie wurde gereizt und stieß die Schublade zurück.
»Ich finde sie nicht,« sagte sie. »Gehen Sie doch zu Lisi in der Straße nebenan. Die hat sie sicher. Sie hat alles, was man braucht.«
Er lachte über diese Art, Geschäfte zu machen.
»Schicken Sie ihr so alle Ihre Kunden zu?«
»Weiß Gott, das erstemal ist es nicht,« antwortete sie fröhlich. Immerhin schämte sie sich ein bißchen.
»Es ist zu langweilig, alles in Ordnung zu bringen«, begann sie von neuem. »Von einem Tag zum andern schiebe ich es auf … Aber morgen mache ich es gewiß.«
»Soll ich Ihnen dabei helfen?« fragte Christof.
Sie schlug es ab. Lieber hätte sie's angenommen; aber sie wagte es wegen der Klatschereien nicht. Und dann beschämte es sie auch.
Sie plauderten weiter.
»Und Ihre Knöpfe?« fragte sie nach einer Weile Christof. »Gehen Sie nicht zu Lisi?«
»Nie und nimmermehr,« sagte er. »Ich warte, bis bei Ihnen Ordnung ist.«
»O,« meinte Sabine, die schon vergessen hatte, was sie eben gesagt, »warten Sie nicht so lange!«
Das kam so aus tiefstem Herzen, daß sie beide lachen mußten. Christof ging an die Schublade, die sie wieder hineingestoßen hatte:
»Lassen Sie mich suchen, ja?«
Sie lief zu ihm hin, um ihn davon zurückzuhalten.
»Nein, nein, bitte lassen Sie's, ich bin ganz sicher, daß sie nicht da sind …«
»Ich wette. Sie haben welche.«
Beim ersten Griff zog er triumphierend den, welchen er haben wollte, hervor. Er brauchte noch andere, und er wollte weiter stöbern; aber sie riß ihm die Schachtel aus den Händen und fing in aufgestacheltem Ehrgeiz an, selbst zu suchen.
Der Tag neigte sich. Sie ging ans Fenster. Christof setzte sich ein paar Schritte davon entfernt; das kleine Mädchen kletterte auf seine Knie. Er tat, als höre er auf ihr Geplapper, und antwortete zerstreut darauf. Er schaute zu Sabine hin, die seine Blicke fühlte. Sie beugte sich über die Schachtel, so daß er ihren Nacken und ein Stückchen ihrer Wange sah. – Und während er sie so anschaute, sah er, daß sie errötete. Und auch er errötete.
Das Kind sprach immerzu. Niemand antwortete ihm. Sabine regte sich nicht mehr. Christof sah nicht, was sie tat: er war sicher, daß sie reglos stand, nicht einmal die Schachtel ansah, die sie hielt. Das Schweigen dauerte fort. Das kleine wilde Mädchen ließ sich von Christofs Knieen gleiten:
»Warum sagt ihr nichts mehr?«
Sabine drehte sich mit einem Ruck um und zog sie in ihre Arme. Der Inhalt der Schachtel ergoß sich auf den Boden; die Kleine stieß Freudenschreie aus und begann auf allen Vieren eine Jagd nach den Knöpfen, die unter alle Möbel rollten. Sabine kehrte ans Fenster zurück und drückte ihr Gesicht an die Scheibe. Sie schien in den Ausblick versunken.
»Adieu,« sagte Christof befangen.
Ganz leise, ohne eine Bewegung des Kopfes sagte sie:
»Adieu.«
Am Sonntag Nachmittag war das Haus leer. Die ganze Familie ging zur Kirche, um die Vesper zu hören. Sabine tat es nie. Christof warf es ihr einmal scherzend vor, als er sie vor der Tür in dem kleinen Garten sitzen sah, während die schönen Glocken sich müde sangen, um sie zu rufen. Sie antwortete im selben Ton, daß man nur zur Messe verpflichtet wäre, zur Vesper aber nicht: es wäre also überflüssig, ja eigentlich ein wenig aufdringlich, den Eifer zu übertreiben; und sie male sich aus, daß Gott, anstatt zu zürnen, ihr das hoch anrechnen werde.
»Sie schaffen sich Gott nach Ihrem Bilde,« sagte Christof.
»Es würde mich an seiner Stelle so langweilen,« meinte sie in überzeugtem Ton.
»Sie würden sich nicht allzusehr um die Welt bekümmern, wenn Sie an seiner Stelle wären.«
»Ich würde nichts anderes von ihr verlangen, als daß sie sich nicht um mich bekümmert.«
»Das würde ihr vielleicht nicht zum Schaden gereichen,« sagte Christof.
»Pst!« wehrte Sabine, »wir lästern!«
»Ich sehe keine Lästerung darin, zu sagen, daß Gott Ihnen gleicht. Ich bin sicher, er fühlt sich geschmeichelt.«
»Wollen Sie still sein!« rief Sabine halb lachend, halb böse. Sie fing an zu fürchten, daß Gott sich ärgern könnte. Sie lenkte die Unterhaltung eilig ab.
»Außerdem,« sagte sie, »ist es gerade der einzige Augenblick der Woche, in dem man sich friedlich am Garten freuen kann.«
»Ja,« antwortete Christof; »sie sind nicht da.« Sie sahen sich an.
»Wie still es ist!« meinte Sabine. »Man ist gar nicht daran gewöhnt … Man weiß nicht mehr, wo man ist …«
»O,« rief Christof plötzlich zornig, »an manchen Tagen möchte ich sie erwürgen!«
Er brauchte nicht erklären, von wem er redete.
»Und die andern?« fragte Sabine fröhlich.
»Sie haben recht,« meinte Christof entmutigt. »Rosa ist noch da.«
»Arme Kleine!« sagte Sabine.
Sie schwiegen.
»Wäre es doch immer wie jetzt!« seufzte Christof.
Sie hob die lachenden Augen zu ihm empor. Dann senkte sie die Blicke von neuem.
Er merkte, daß sie arbeitete.
»Was tun Sie da?« fragte er.
(Der zwischen den beiden Gärten gespannte Efeuvorhang trennte sie voneinander.)
Sie hob einen Napf, den sie auf den Knien hielt. »Sehen Sie, ich lese Schoten aus.«
Dabei ließ sie einen tiefen Seufzer hören.
»Das ist doch nicht unangenehm,« meinte er lachend.
»O,« antwortete sie, »es ist zum Sterben, wenn man sich immer um sein Essen kümmern muß.«
»Ich wette,« sagte er, »Sie würden, wenn es möglich wäre, lieber aufs Essen verzichten als sich beständig mit der Zubereitung plagen.«
»Aber gewiß!« rief sie.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
Er stieg über den Zaun und kam zu ihr. Sie saß auf einem Stuhl an ihrem Hauseingang. Er setzte sich zu ihren Füßen auf eine Stufe. Aus ihren über ihrem Leib gerafften Kleiderfalten schöpfte er Händevoll grüner Schoten; und er warf die kleinen runden Kugeln in die zwischen Sabines Knie gepreßte Schale. Er schaute zur Erde. Da sah er Sabines schwarze Strümpfe, die ihre Knöchel und Füße überspannten; ein Fuß war halb aus dem Schuh geglitten. Er wagte die Augen nicht mehr zu ihr aufzuschlagen.
Die Luft war schwer, der Himmel sehr weiß, sehr niedrig, ohne einen Hauch, Kein Blatt regte sich. Der Garten war von hohen Mauern umschlossen; die Welt endete da.
Das Kind war mit einer Nachbarin ausgegangen. Sie waren allein. Sie sagten nichts zueinander, konnten nichts mehr sagen. Ohne hinzusehen, griff er aus Sabines Schoß neue Händevoll kleiner Schoten; seine Finger zitterten, wenn er sie anrührte: sie trafen mitten in frischen glatten Schoten mit Sabines bebenden Fingern zusammen und konnten nicht weiter arbeiten. Sie schauten einander nicht an und blieben reglos: sie mit halboffenem Munde, hängenden Armen in ihrem Stuhl zurückgelehnt; er zu ihren Füßen, an sie gelehnt; an seiner Schulter und seinem Arm entlang fühlte er die sanfte Wärme von Sabines Bein. Sie atmeten beide mühsam. Christof drückte seine Hände auf die Steine, um sie zu kühlen: eine seiner Hände streifte Sabines Fuß, der aus dem Schuh geglitten war, blieb auf ihm liegen und konnte sich nicht lösen. Ein Schauer durchlief sie. Fast schwindelte ihnen. Christofs Hand preßte die zarten Zehen von Sabines kleinem Fuß zusammen. Sabine überrann es feucht und eisig, sie neigte sich zu Christof nieder …
Bekannte Stimmen rissen sie aus ihrem Taumel. Sie zuckten zusammen. Christof sprang mit einem Satz auf und über das Gitter zurück. Sabine raffte den Abfall aus ihrem Kleid zusammen und ging ins Haus. Vom Hof aus wandte er sich noch einmal um. Sie stand auf der Schwelle. Sie schauten einander an. Regentröpfchen fingen an, das Laub der Bäume zu schütteln … Sie schloß ihre Tür. Frau Vogel und Rosa kehrten heim … Er ging hinauf in sein Zimmer …
Als der gelbliche Tag, in Regenschauern ertränkt, erlosch, stand er, von unwiderstehlichem Drang getrieben, von seinem Tisch auf; er lief ans geschlossene Fenster und streckte die Arme zum gegenüberliegenden Fenster aus. Im selben Augenblick sah er hinter den Scheiben des andern Fensters – sah – meinte Sabine zu sehen, die ihm die Arme entgegenstreckte.
Er stürzte aus dem Zimmer. Er lief die Treppe hinab, eilte zum Gartengitter. Auf die Gefahr, gesehen zu werden, wollte er hinübersetzen. Aber als er das Fenster, an dem sie ihm erschienen war, anschaute, sah er, daß alle Vorhänge geschlossen waren. Das Haus schien entschlafen. Zögernd blieb er stehen. Der alte Euler, der in seinen Keller stieg, bemerkte ihn und rief ihn an. Er kehrte wieder um und glaubte, er habe geträumt.
Rosa brauchte nicht lange, um zu merken, was vorging. Sie kannte kein Mißtrauen und wußte noch nicht, was Eifersucht sei. Sie war alles zu geben bereit und erwartete nichts zum Entgelt. Doch wenn sie wehmütig auf Christofs Liebe verzichtete, so hatte sie doch niemals die Möglichkeit ins Auge gefaßt, daß Christof eine andere liebe.
Eines Abends nach dem Essen machte sie die letzten Stiche an einer langweiligen Stickerei, an der sie seit Monaten gearbeitet hatte; sie war darüber glücklich und verspürte Lust, sich einmal ein wenig freizumachen und mit Christof plaudern zu gehen. Kaum hatte ihre Mutter den Rücken gekehrt, so benutzte sie die Gelegenheit, um aus dem Zimmer zu schlüpfen. Wie ein unartiger Schulbube glitt sie heimlich aus dem Haus. Sie freute sich darauf, Christof zu beschämen, der verächtlich behauptet hatte, daß sie niemals mit ihrer Arbeit fertig werden würde. Es machte ihr Spaß, ihn auf der Straße zu überraschen.
Wenn das arme Kind auch Christofs Gefühle für sie sich einigermaßen klar gemacht hatte, so war sie doch immer geneigt, von ihrem eigenen Vergnügen bei der Begegnung anderer auf das zu schließen, was die andern empfinden mußten.
Sie kam heraus. Vor dem Hause saßen wie gewöhnlich Christof und Sabine. Rosas Herz krampfte sich zusammen. Jedoch hielt sie sich nicht bei diesem sinnlosen Gefühl auf und rief Christof fröhlich an. Ihre durchdringende Stimme in der Stille der Nacht war für Christof wie eine falsche Note. Er zuckte auf seinem Stuhl zusammen und schnitt vor Zorn ein Gesicht. Rosa fuchtelte triumphierend mit ihrer Stickerei unter seiner Nase herum. Voller Ungeduld stieß Christof sie zurück.
»Sie ist fertig, fertig!« schrie Rosa in beharrlicher Freude.
»Nun, dann fange eine andere an!« sagte Christof trocken.
Rosa stand bestürzt. All ihre Freude war dahin.
Christof fuhr bösartig fort:
»Und wenn du noch weitere dreißig gemacht hast, wenn du recht alt sein wirst, kannst du dir wenigstens sagen, daß dein Leben nicht verloren war!«
Rosa fing beinahe zu weinen an.
»Mein Gott, wie garstig du bist, Christof!« sagte sie.
Christof schämte sich und sagte ihr ein paar freundschaftliche Worte. Sie war mit so wenigem zufrieden, daß sie gleich wieder Vertrauen schöpfte; und sofort ging es mit ihrem lauten Geschwätz weiter: leise konnte sie nicht sprechen, sie schrie, wie man es im Hause gewohnt war, aus vollem Halse. Trotz aller Anstrengung konnte Christof seine schlechte Laune nicht verbergen. Zuerst antwortete er mit ein paar gereizten Einsilbigkeiten; dann antwortete er gar nicht mehr, wandte den Rücken, rückte auf seinem Stuhl hin und her und knirschte zu dieser Klappermusik mit den Zähnen. Rosa sah, daß er ungeduldig wurde, sie wußte, daß sie still schweigen müsse; aber sie fuhr fort und nur immer lauter. Sabine saß einige Schritte davon still im Dunkel und verfolgte den Auftritt mit ironischer Unbeweglichkeit. Schließlich wurde sie es müde, da sie sah, daß der Abend doch verloren war; sie stand auf und ging hinein. Christof merkte ihr Fortgehen erst, als sie nicht mehr da war. Sofort stand er ebenfalls auf, entschuldigte sich nicht einmal und verschwand mit einem dürren Guten Abend nach seiner Seite.
Rosa blieb allein in der Straße und schaute erstarrt auf die Tür, hinter der er soeben verschwunden war. Tränen kamen ihr. Eilig ging sie ins Haus, stieg geräuschlos, damit sie nicht mit ihrer Mutter sprechen müsse, in ihr Zimmer hinauf, zog sich in aller Eile aus und begann, sowie sie im Bett und in ihre Decken vergraben lag, zu schluchzen. Sie versuchte nicht, dem, was geschehen war, nachzudenken; fragte sich nicht, ob Christof Sabine liebe, ob Christof und Sabine sie nicht leiden mochten; sie wußte, daß alles verloren sei, das Leben keinen Sinn mehr habe, daß ihr nichts blieb als zu sterben.
Am nächsten Morgen kam ihr die Überlegung wieder und mit ihr die ewig trügerische Hoffnung. Sie dachte die Ereignisse des Abends durch und überredete sich, sie hätte unrecht getan, ihnen solche Bedeutung beizulegen. Gewiß, Christof liebte sie nicht; sie fand sich drein – und bewahrte im Herzensgrund den uneingestandenen Gedanken, daß die Kraft ihrer Liebe die seine schließlich doch herbeizwingen werde. Woher aber wollte sie wissen, daß irgend etwas zwischen ihm und Sabine sei? Wie hätte er, so klug wie er war, je eine kleine Person lieben können, deren Unbedeutendheit und Minderwertigkeit allen in die Augen sprang? Sie fühlte sich ganz beruhigt – fing darum aber nicht weniger an, Christof zu beobachten. Den ganzen Tag über sah sie nichts, da es nichts zu sehen gab. Christof aber, der sie ewig um sich herumstreichen sah, ohne sich erklären zu können, warum, empfand deswegen eine eigentümliche Gereiztheit. Die trieb sie auf die Spitze, als sie am Abend wieder erschien und sich entschlossen neben die beiden an die Straße setzte. Es wurde eine Neuauflage des Auftritts vom verflossenen Abend: Rosa allein redete. Aber Sabine wartete nicht wieder so lange, bis sie ins Haus ging; und Christof folgte ihrem Beispiel. Rosa konnte sich nicht mehr verhehlen, daß ihre Gegenwart unangebracht war; aber das unglückliche Mädchen versuchte sich zu belügen. Sie merkte nicht, daß sie nichts Schlimmeres tun konnte als sich aufzudrängen; und sie trieb es mit gewohntem Ungeschick in den nächsten Tagen so fort.
Am folgenden Abend wartete Christof in Rosas Gesellschaft vergeblich auf Sabines Erscheinen.
Am übernächsten Tage sah sich Rosa allein. Sie hatten den Kampf aufgegeben. Aber Rosa gewann dabei nichts als Christofs Groll, der wütend darüber war, daß man ihm seine lieben Abende, sein einziges Glück, raubte. Er verzieh ihr das um so weniger, als er viel zu sehr in seine eigenen Gefühle versenkt war, um jemals auf den Gedanken zu kommen, die Rosas zu erraten.
Sabine kannte sie seit langem: sie wußte, daß Rosa eifersüchtig war, sogar noch ehe sie wußte, ob sie selber verliebt sei; aber sie sprach nicht darüber; und sie beobachtete mit der natürlichen Grausamkeit jeder hübschen Frau, die ihres Sieges gewiß ist, still und spöttisch die vergeblichen Anstrengungen ihrer ungelenken Rivalin.
Nachdem Rosa Herrin des Schlachtfeldes geblieben war, sah sie jammernd den Erfolg ihrer Taktik. Das Beste für sie wäre gewesen, wenn sie nicht auf ihrem Willen bestanden und wenigstens im Augenblick Christof in Frieden gelassen hätte: folglich tat sie das gerade nicht; und da das Dümmste, was sie tun konnte, war, zu ihm von Sabine zu sprechen, versuchte sie ausgerechnet das.
Um seine Gedanken zu erforschen, sagte sie eines Tages schüchtern und mit klopfendem Herzen, daß Sabine doch eigentlich recht hübsch sei. Christof erwiderte trocken, daß sie sehr hübsch sei. Und obgleich Rosa die Antwort, die sie sich zugezogen, vorausgesehen hatte, gab sie ihr doch einen Stich ins Herz. Sie wußte ja, daß Sabine hübsch war; aber sie hatte nie darauf acht gegeben; sie sah sie jetzt zum ersten Mal und durch Christofs Augen; sie sah ihre feinen Züge, ihre kleine Nase, ihren winzigen Mund, ihren reizenden Körper, ihre anmutigen Bewegungen … Ach wie weh das tat! … Was hätte sie nicht darum gegeben, um in diesem Körper zu leben! Sie verstand nur zu gut, daß man ihn dem ihren vorzog! … Ihrem! Hatte sie ihn geschaffen? Wie er sie drückte! Wie häßlich er ihr schien! Greulich war er ihr. Und denken zu müssen, daß nur der Tod sie von ihm befreien konnte! … Sie war zu stolz und zu demütig zugleich, um darüber zu klagen, daß sie nicht geliebt wurde. Sie hatte ja kein Recht darauf; und sie suchte sich nur noch mehr zu demütigen. Aber ihre Instinkte bäumten sich auf. Nein, es war ungerecht! … Warum war das ihr, ihr Körper und nicht Sabines? … Und warum liebte man Sabine? Womit verdiente sie es? Rosa sah sie ohne Nachsicht: faul, vernachlässigt, egoistisch, gegen alles gleichgültig, wie sie sich weder um ihr Haus noch um ihr Kind, noch um irgend etwas sonst kümmerte, nur sich selber liebte, nur lebte, um zu schlafen, herumzustreichen und nichts zu tun … Und das also gefiel … das gefiel Christof … Christof, der so streng war, Christof, der ein Urteil hatte, Christof, den sie über alles verehrte und bewunderte! Nein, das war zu ungerecht! Das war auch zu dumm! … Konnte Christof denn nicht sehen? … Sie konnte nicht umhin, ihm von Zeit zu Zeit eine gegen Sabine unfreundliche Bemerkung hinzustreuen. Eigentlich war es wider ihre Absicht, aber sie konnte es nicht lassen. Immer tat es ihr nachher leid, denn sie war gut und mochte niemand Böses nachsagen. Aber mehr noch bereute sie es deshalb, weil sie darauf nur grausam harte Antworten bekam, die ihr zeigten, wie verliebt Christof war. Er ersparte ihr dann nichts. In seiner Neigung verletzt, suchte auch er zu verletzen: es gelang ihm gut. Rosa erwiderte nichts und ging mit gesenktem Kopf und zusammengepreßten Lippen davon, um nur nicht zu weinen. Sie sagte sich, daß es ihre Schuld sei, daß sie nur habe, was sie verdiene, wenn sie Christof wehe täte, indem sie, was er liebe, angriffe.
Ihre Mutter war weniger duldsam. Frau Vogel, die ihre Augen überall hatte, war genau wie der alte Euler längst hinter die Zusammenkünfte Christofs mit seiner jungen Nachbarin gekommen: man konnte sich unschwer den Roman zusammenreimen. Die Pläne, die sie heimlich geschmiedet hatten und die dahingingen, Rosa mit Christof eines Tages zu verheiraten, waren davon durchkreuzt, und das schien ihnen von Christofs Seite eine persönliche Beleidigung, obgleich er doch nicht verpflichtet war zu ahnen, daß man, ohne ihn gefragt zu haben, über ihn verfügt hatte. Aber Amaliens Despotismus konnte nicht gelten lassen, daß man anders als sie dachte; und es schien ihr empörend, daß Christof die verächtliche Meinung, die sie unzähligemale über Sabine geäußert hatte, einfach übersehen sollte.
Sie genierte sich auch durchaus nicht, sie ihm immer von neuem zu wiederholen. So oft er da war, fand sie einen Vorwand, von der Nachbarin zu sprechen; sie suchte die verletzendsten Dinge von ihr zu sagen, solche, die Christof am empfindlichsten treffen mußten; und mit ihrem rohen Blick und ihrer derben Zunge hatte sie nicht schwer, sie zu finden. Mit dem, einem Manne in der Kunst, Böses wie Gutes zu tun, so überlegenen Ur-Instinkt des Weibes wies sie weniger beharrlich auf Sabines Trägheit und moralische Fehler als auf ihre Unsauberkeit hin. Ihr indiskreter Spürblick hatte sich dafür durch die Fenster hindurch, in der Tiefe des Hauses und in Sabines Toilettengeheimnissen Beweise zusammengesucht; und die breitete sie nun mit plumpem Eifer aus.
Wenn sie aus Anstand nicht alles sagen konnte, ließ sie um so mehr durchblicken. Christof erblaßte vor Scham und Zorn; er wurde weiß wie ein Tischtuch, und seine Lippen begannen zu zittern. Rosa, die voraussah, was geschehen würde, flehte ihre Mutter an, aufzuhören; sie versuchte sogar, Sabine zu verteidigen. Aber sie hetzte dadurch Amalie nur noch mehr auf.
Und plötzlich sprang Christof von seinem Stuhl empor. Er schlug auf den Tisch und schrie los, daß es eine Schändlichkeit sei, so von einer Frau zu sprechen, sie in ihrer Häuslichkeit auszuspähen, ihre Schwächen allen preiszugeben; man müsse sehr schlecht sein, um ein gutes, reizendes, friedfertiges Geschöpf so zu verfolgen, das ganz für sich lebe, niemandem etwas Böses tue, von niemandem Böses rede. Jedoch täusche man sich sehr, wenn man meine, ihr damit etwas anhaben zu können: man mache sie dadurch nur sympathischer und ihre Güte fühlbarer.
Amalie merkte, daß sie zu weit gegangen war; aber sie fühlte sich durch die Lektion beleidigt; und indem sie den Streit auf ein anderes Gebiet überspielte, sagte sie, daß es allzu billig wäre, immer nur von Güte zu reden; mit dem Wort entschuldige man alles. Zum Donnerwetter! es wäre allerdings leicht, als gut zu gelten, wenn man sich um niemand und nichts kümmere und seine Pflicht nicht erfülle!
Worauf Christof erwiderte, daß die erste Pflicht die sei, andern das Leben angenehm zu gestalten, daß es aber Leute gäbe, für die Pflicht einzig in dem bestünde, was häßlich, langweilig, brummig sei, was die Freiheit anderer behindere, was ärgere, den Nachbarn, die Dienstboten, die eigene Familie und sie selbst schädige. Gott möge einen vor solchen Leuten und solcher Pflichterfüllung wie vor der Pest bewahren! …
Der Streit wurde immer erbitterter. Amalie wurde äußerst scharf. Christof blieb ihr in nichts etwas schuldig. – Und der sichtbarste Erfolg war, daß Christof von nun an sich bemühte, sich beständig mit Sabine zu zeigen. Er ging und klopfte an ihre Tür. Er plauderte und lachte fröhlich mit ihr und wählte dazu Augenblicke, in denen Amalie oder Rosa ihn sehen konnten. Amalie rächte sich durch wütende Reden. Der unschuldigen Rosa aber zerriß diese ausgeklügelte Grausamkeit das Herz; sie fühlte, daß er sie nicht ausstehen konnte, daß er sich rächen wollte; und sie weinte bitterlich.
So lernte Christof, der so oft unter der Ungerechtigkeit gelitten hatte, andere ungerecht leiden machen.
Einige Zeit nach diesen Ereignissen feierte Sabines Bruder, der Müller in Landegg, einem kleinen, von der Stadt ein paar Meilen entfernten Ort war, die Taufe eines Knaben. Sabine war Patin. Sie verschaffte Christof eine Einladung. Er liebte solche Feste nicht; aber weil es ihm Spaß machte, die Vogels zu ärgern, und um mit Sabine zusammenzusein, sagte er bereitwillig zu.
Sabine machte sich das boshafte Vergnügen, auch Amalie und Rosa einzuladen, war sie doch ihrer Absage sicher. Diese ließ auch nicht auf sich warten. Rosa hätte für ihr Leben gern angenommen. Sie haßte Sabine nicht, ihr Herz war sogar manchmal von Zärtlichkeit gegen sie erfüllt, weil Christof sie ja liebte; sie hätte ihr das gern gesagt, hätte sich ihr an den Hals werfen mögen. Aber ihre Mutter war da, und das Beispiel ihrer Mutter. Sie versteifte sich im Trotz und sagte ab. Dann, als sie fortgegangen waren, als sie dachte, daß sie nun zusammen seien, miteinander glücklich, daß sie in diesem Augenblick über Land wanderten durch den schönen Julitag, während sie in ihrem Zimmer eingeschlossen vor einem Berg Flickwäsche neben der scheltenden Mutter saß, meinte sie ersticken zu müssen; und sie verwünschte ihre Eitelkeit. Wenn es noch Zeit gewesen wäre! … Wenn es noch Zeit gewesen wäre, ach, sie hätte ebenso gehandelt …
Der Müller hatte seinen Leiterwagen geschickt, um Christof und Sabine abzuholen. Sie nahmen im Vorbeifahren einige Eingeladenen aus der Stadt und den am Wege gelegenen Bauernhöfen mit. Das Wetter war frisch und trocken. Die helle Sonne ließ die roten Trauben der Ebereschen am Wege und der Kirschbäume in den Feldern aufleuchten.
Sabine lächelte. Ihr bläßliches Gesicht war von der frischen Luft rosig überhaucht. Christof hielt das kleine Mädchen auf den Knien. Sie suchten nicht, miteinander zu sprechen, sprachen mit ihren Nachbarn, ganz gleich mit wem und worüber. Sie waren es zufrieden, einer des andern Stimme zu hören; sie waren zufrieden, vom selben Wagen geschaukelt zu werden. Manchmal zeigten sie sich im Vorüberfahren ein Haus, einen Baum und tauschten dabei Blicke voller Kinderfreude. Sabine liebte das Land: aber sie ging fast niemals hinaus. Ihre unverbesserliche Trägheit hielt sie von jedem Spaziergang zurück; es war beinahe ein Jahr her, seit sie nicht aus der Stadt gekommen war: so freute sie sich am Geringsten, was sie sah. Für Christof war das alles nichts neues; aber er liebte Sabine und wie alle Liebenden sah er durch sie hindurch, fühlte jedesmal mit ihr, wenn sie freudig zusammenzuckte, und steigerte noch ihre eigenen Gefühle; denn indem er mit der Geliebten verschmolz, verlieh er ihr auch sein Wesen.
Sie kamen bei der Mühle an und wurden im Hof von allen Gutsleuten und den übrigen Eingeladenen mit betäubendem Getöse empfangen. Die Hühner, Gänse und Hunde stimmten im Chor mit ein. Der Müller Bertold, ein blondbeflaumter fideler Kerl mit viereckigem Schädel und Schultern, ebenso breit und groß wie Sabine zart war, hob seine kleine Schwester in den Armen auf und setzte sie behutsam zur Erde, als habe er Furcht, sie zu zerbrechen. Christof merkte sofort, daß die kleine Schwester – wie es meistens geschieht – mit dem Koloß anfing, was sie wollte, und daß, wenn er sich auch derb über ihre Launen, ihre Trägheit, ihre tausend und einen Fehler lustig machte, er ihr doch die Füße vor Diensteifrigkeit hätte küssen mögen. Sie war so daran gewöhnt, daß sie es natürlich fand. Alles fand sie natürlich und war über nichts erstaunt. Sie tat nichts, um geliebt zu werden: es schien ihr einfach, es müsse so sein; und wurde sie nicht geliebt, so sorgte sie sich auch darum nicht: so kam es, daß jeder sie liebte.
Christof machte eine weitere Entdeckung, die ihm weniger Vergnügen verursachte: daß nämlich eine Taufe nicht nur eine Patin, sondern auch einen Paten erfordert und daß dieser auch jene Rechte hat, die er sich hütet abzutreten, besonders wenn die Patin jung und hübsch ist. Er merkte das unversehens, als er einen blondgelockten Pächter mit Ringen in den Ohren sich Sabine nähern und sie lachend auf beide Wangen küssen sah. Anstatt sich zu sagen, daß er ein Dummkopf sei, den Brauch vergessen zu haben, und ein noch dümmerer Dummkopf, sich darüber aufzuhalten, war er Sabine deswegen böse, als habe sie ihn mit Vorbedacht in diese Schlinge locken wollen. Seine schlechte Laune wurde noch größer, als er sich bei den weiteren Feierlichkeiten von ihr getrennt sah. Sabine wandte sich von Zeit zu Zeit in dem Zuge, der sich durch die Felder schlängelte, um und warf ihm einen freundschaftlichen Blick zu. Er tat, als sähe er ihn nicht. Sie fühlte, daß er böse sei, und ahnte warum; aber das beunruhigte sie kaum: es machte ihr Spaß. Hätte sie ein wirkliches Zerwürfnis mit jemand, den sie liebte, gehabt, sie hätte trotz allen Leides, das sie deswegen empfinden mochte, nie das geringste unternommen, um das Mißverständnis aufzuklären: dazu hätte sie sich zu sehr anstrengen müssen. Alles würde schließlich von selber wieder gut werden.
Bei Tisch saß er zwischen der Müllerin und einem dicken rotwangigen Mädchen, das er zur Messe begleitet hatte, ohne sie seiner Aufmerksamkeit zu würdigen. Jetzt fiel es ihm ein, seine Nachbarin anzusehen; und da er sie ganz leidlich fand, machte er ihr, um sich zu rächen und Sabines Aufmerksamkeit zu wecken, geräuschvoll den Hof. Das gelang ihm auch; aber Sabine war nicht die Frau, auf irgend etwas oder irgend jemand, eifersüchtig zu werden: war sie sicher, geliebt zu sein, so war es ihr ganz gleichgültig, ob man daneben noch andere liebe oder nicht; und anstatt gekränkt zu tun, freute sie sich herzlich, daß Christof sich gut unterhielt. Sie sandte ihm vom andern Tischende ihr reizendstes Lächeln zu. Christof kam dadurch aus der Fassung; er zweifelte nicht mehr an Sabines Gleichmut, und er versank wieder in seine schmollende Stummheit, woraus ihn weder Neckereien noch bis zum Rand gefüllte Gläser reißen konnten. Schließlich, als er schon beinahe schläfrig wurde und sich wütend fragte, wozu er eigentlich zu dieser endlosen Esserei gekommen sei, überhörte er, wie der Müller eine Bootfahrt vorschlug, wobei man einige der Gäste auf ihre Gutshöfe zurückbringen wollte. Ebensowenig sah er, daß Sabine ihm ein Zeichen machte, zu ihr zu kommen, um dasselbe Boot zu nehmen. Als er selbst daran dachte, war für ihn kein Platz mehr darin; und er mußte in einen andern Kahn steigen. Dies neue Mißgeschick hätte ihn nicht liebenswürdiger gestimmt, wenn er nicht bald entdeckt hätte, daß man unterwegs fast alle seine Begleiter absetzte. Daraufhin entwölkte sich seine Stirn, und er zeigte den Abschiednehmenden ein freundliches Gesicht. Übrigens zerstreute schließlich auch der schöne Nachmittag, das Rudervergnügen, die Fröhlichkeit der guten Leute seine ganze schlechte Laune. Sabine war nicht mehr da, er tat sich keinen Zwang mehr an und empfand keine Skrupel, sich harmlos wie die andern zu vergnügen.
Sie saßen in drei Booten, die ziemlich dicht hintereinander fuhren und sich gegenseitig zu überholen suchten. Die einen riefen den andern aufstachelnde Neckereien zu. Als die Barken aneinander vorbeistrichen, traf Christof Sabines lächelnder Blick; er konnte nicht umhin, auch ihr zuzulächeln: sie fühlten, der Friede war geschlossen. Er wußte ja auch, gleich würden sie gemeinsam zurückfahren.
Man begann vierstimmige Lieder zu singen. Jede Gesellschaft sang nach der Reihe eine Strophe; den Refrain nahm der ganze Chor auf. Die auseinandergetriebenen Barken antworteten einander als Echo. Wie Vögel glitten die Töne übers Wasser. Von Zeit zu Zeit legte ein Boot am Ufer an: ein oder zwei Bauern stiegen aus; sie blieben am Flußrand und winkten den Weiterfahrenden zu. Die kleine Gesellschaft schmolz zusammen. Eine Stimme nach der andern löste sich aus dem Konzert. Zuletzt waren Christof, Sabine und der Müller allein.
Sie kehrten gemeinsam in einem Boot heim, indem sie sich vom Strom hinabtragen ließen. Christof und Bertold hielten die Ruder, aber sie ruderten nicht. Sabine, die hinten, Christof gegenübersaß, plauderte mit ihrem Bruder und schaute dabei Christof an. Dies Zwiegespräch erlaubte ihnen, sich ungestört anzusehen. Nie hätten sie's getan, wenn die lügnerischen Worte geschwiegen hätten. Die Worte schienen zu sagen: Ich sehe nicht Sie an. Aber die Blicke flüsterten sich zu: Wer bist du? Wer bist du? Du, den ich liebe! … Du, den ich liebe, wer du auch seist! …
Der Himmel bezog sich, Nebel stiegen aus den Feldern, der Fluß dampfte, die Sonne verlosch in Dunstwolken. Sabine schauerte und wickelte Schultern und Kopf in ihren kleinen schwarzen Shawl. Sie schien müde. Als das Boot am Ufer unter den hängenden Weidenzweigen entlangglitt, schloß sie die Augen: ihr kleines Gesicht war fahl; um ihre Lippen spannte sich ein schmerzhafter Zug; sie regte sich nicht mehr, schien zu leiden, – gelitten zu haben, – schien gestorben. Christofs Herz zog sich zusammen. Er neigte sich ihr zu. Sie schlug die Augen wieder auf, sah Christofs befragende und sorgende Augen und lächelte ihm entgegen. Ihm war das wie ein Sonnenstrahl. Er fragte mit halber Stimme:
»Fehlt Ihnen etwas?«
Sie verneinte und sagte:
»Mir ist kalt.«
Die beiden Männer breiteten ihre Mäntel über sie und wickelten ihre Füße, ihre Beine, ihre Knie hinein, als stopften sie einem Kinde sein Bettchen fest. Sie ließ es geschehen und dankte mit den Blicken. Ein dünner, eisiger Regen begann zu fallen. Sie griffen wieder zu den Rudern und betrieben eiliger die Heimkehr. Schwere Wetterwolken erstickten den Himmel. Der Fluß wälzte sich wie ein Strom von Tinte dahin. Lichter entzündeten sich hier und dort in den Landhäusern. Als sie die Mühle erreichten, ging der Regen in Strömen nieder und Sabine war vollständig durchnäßt.
Man machte in der Küche ein großes Feuer und wartete auf das Ende des Platzregens. Aber er wurde nur immer stärker und der Wind blies auch noch hinein. Um nach der Stadt zurückzukehren, hätten sie drei Meilen zu Wagen machen müssen. Der Müller erklärte, daß er bei solchem Wetter Sabine nicht fahren ließe; und er schlug ihnen beiden vor, die Nacht in der Mühle zu verbringen. Christof zögerte mit der Antwort; er fragte Sabines Augen um Rat; aber Sabines Augen starrten hartnäckig in die Herdflammen: es war fast, als fürchteten sie sich, Christofs Entscheidung zu beeinflussen. Als aber Christof ja gesagt hatte, wendete sie ihm ihr errötetes Gesicht zu – (lag der Feuerschein darauf?) – und er sah, daß sie zufrieden war.
Der liebe Abend … Draußen wütete der Regen. Das Feuer stäubte Schwärme goldener Funken in den schwarzen Kamin. Sie saßen im Kreise ringsum. Ihre phantastischen Silhouetten bewegten sich über die Wände hin. Der Müller lehrte Sabines Töchterchen, wie man mit Händen Schattenbilder formt. Das Kind lachte, war aber doch ein wenig ängstlich. Sabine saß über das Feuer geneigt und schürte mechanisch mit einer schweren Zange darin; sie war ein wenig matt und lächelte träumend vor sich hin, während sie ohne hinzuhören, zu dem Geschwätz ihrer Schwägerin, die ihr Dienstbotengeschichten erzählte, mit dem Kopfe nickte. Christof saß im Dunkel neben dem Müller, ließ des Kindes Haare leise durch sein Finger gleiten und hing mit dem Blick an Sabines Lächeln. Sie wußte, daß er sie anschaute. Er wußte, daß sie für ihn lächelte. Nicht einmal während des Abends fanden sie Gelegenheit, miteinander zu sprechen oder sich auch nur ins Gesicht zu schauen: und sie trachteten nicht danach.
Es war nicht spät, als sie auseinandergingen. Ihre Zimmer lagen nebeneinander. Eine innere Tür führte aus einem ins andere. Christof überzeugte sich mechanisch, daß der Riegel auf Sabines Seite vorgeschoben war. Er legte sich hin und zwang sich zum Schlafen. Der Regen peitschte die Fenster. Der Wind heulte im Kamin. Im oberen Stockwerk klapperte eine Tür. Eine sturmbewegte Pappel knackte vor dem Fenster. Christof konnte kein Auge schließen. Er dachte, daß er unterm selben Dach mit ihr sei, neben ihr. Eine Wand trennte sie. Er vernahm aus Sabines Zimmer keinerlei Geräusch. Aber er glaubte sie zu sehen. Er richtete sich im Bett auf, rief sie mit leiser Stimme durch die Mauer an, gab ihr zärtlich heiße Worte, streckte die Arme nach ihr aus. Und ihm war, als ob auch sie ihm die Arme entgegenreckte. Er hörte in seinem Innern die geliebte Stimme, die ihm antwortete, die seine Worte wiederholte, die ihn ganz leise rief. Und er wußte nicht, träumte er selbst diese Fragen, diese Antworten, oder sprach sie wirklich. Bei einem, wie ihm schien, lauteren Ruf konnte er nicht mehr an sich halten: er sprang aus dem Bett; er tastete sich durch die Nacht zur Tür. Er wollte sie nicht öffnen; diese verschlossene Tür machte ihn vor sich selber sicher. Als er aber an die Klinke rührte, merkte er, daß die Türe nachgab …
Er stand bestürzt. Leise schloß er sie wieder, machte sie von neuem auf, schloß sie noch einmal. War sie nicht eben noch verschlossen gewesen? Ja, er war dessen gewiß. Wer hatte sie also geöffnet? … Sein Herz klopfte atemraubend. Er lehnte sich an sein Bett, setzte sich nieder, um Luft zu schöpfen. Die Leidenschaft lähmte ihn. Sie nahm ihm jede Kraft zu sehen, zu hören, sich irgendwie zu regen: sein ganzer Körper wurde von Zittern erfaßt. Er schreckte vor dem fremden Glück zurück, das er seit Monaten gerufen hatte und das nun da war, neben ihm, durch nichts mehr von ihm getrennt. Der wilde und liebestolle Junge fühlte plötzlich nichts als Entsetzen und Widerwillen gegen seine verwirklichten Wünsche. Er schämte sich ihrer, schämte sich vor dem, was er im Begriff stand, zu tun. Er liebte zu sehr, um zu wagen, das Geliebte auch zu genießen. Er scheute es viel eher: und hätte alles getan, um sich das Glücklichsein unmöglich zu machen. Lieben, lieben, – kann man es denn nie, ohne das Geliebte zu entweihen? …
Er war an die Tür zurückgekehrt. Er hielt vor Liebe und Furcht bebend die Hand am Schloß und konnte sich doch nicht zum Öffnen entschließen.
Und auf der andern Seite der Tür stand Sabine mit nackten Füßen auf den Fliesen und schlotterte vor Kälte.
So warteten sie. – Wie lange? Minuten? Stunden? … Sie wußten nicht, daß sie dastanden; und sie wußten es doch. Sie streckten sich die Arme entgegen, – er von so mächtiger Liebe gewürgt, daß er nicht die Kraft fand, hineinzugehen, – sie indem sie ihn rief, ihn erwartete und davor bebte, daß er kommen würde … Und als er sich endlich dazu ermannte, einzutreten, hatte sie eben den Riegel vorgeschoben.
Da schlug er sich vor die Stirn. Er warf sich mit aller Kraft gegen die Tür. Seinen Mund ans Schlüsselloch gepreßt, flehte er:
»Mach auf!«
Er rief Sabine ganz leise; er konnte ihren gepreßten Atem hören. Sie blieb reglos erstarrt, mit klappernden Zähnen hinter der Tür, ohne Kraft zum Öffnen, ohne Kraft sich niederzulegen …
Die Bäume krachten weiter im Sturm, und die Türen des Hauses schlugen … Mit zerschlagenen Gliedern, mit tief traurigem Herzen ging jedes in sein Bett zurück. Die Hähne krähten mit heiserer Stimme. Der erste Morgenschein kam durch die beschlagenen Scheiben. Ein jämmerlicher fahler Morgen, den der hartnäckige Regen ertränkte.
Sobald es die Zeit erlaubte, stand Christof auf, er ging in die Küche hinunter, er sprach mit den Leuten. Er wäre gern gleich aufgebrochen, denn er fürchtete, Sabine allein gegenüberzustehen. So war es ihm fast Erleichterung, als die Pächterin kam und sagte, Sabine sei nicht wohl, sie habe sich bei der Ausfahrt gestern erkältet und werde heut Morgen nicht fortgehen.
Der Rückweg war düster. Christof hatte den Wagen nicht angenommen und kehrte über aufgeweichte Felder, durch den gelblichen Nebel, der die Erde, Bäume, die Häuser gleich einem Leichentuch einhüllte, zu Fuß heim.
Und wie das Licht schien alles Leben verlöscht. Alles sah gespenstisch aus. Und wie ein Gespenst war auch er.
Daheim begegnete er verärgerten Gesichtern. Alle waren entrüstet, daß er die Nacht, Gott weiß wo, mit Sabine verbracht hatte. Er schloß sich in sein Zimmer ein und setzte sich an die Arbeit. Sabine kam am nächsten Morgen und schloß sich ihrerseits ein. Sie hüteten sich vor einer Begegnung. Das Wetter war regnerisch und kalt; keiner von beiden ging aus. Sie sahen sich hinter ihren geschlossenen Scheiben. Sabine saß eingewickelt am Feuer und sann. Christof war in seine Papiere vergraben. Von einem Fenster zum andern grüßten sie sich mit ein wenig kühler Zurückhaltung und taten, als wären sie von neuem in Anspruch genommen. Genau gaben sie sich nicht darüber Rechenschaft, was sie empfanden: sie zürnten einander, sie zürnten sich selbst, sie zürnten den Dingen. Die Nacht auf dem Gutshof war aus ihrem Denken verbannt: sie erröteten ihretwegen und wußten nicht, erröteten sie mehr über ihre Tollheit oder weil sie ihr nicht nachgegeben hatten. Sich zu sehen, war ihnen peinlich; denn ihr Anblick erweckte ihnen Erinnerungen, die sie fliehen wollten; und in stillschweigender Übereinstimmung zogen sie sich in die Tiefe ihrer Zimmer zurück, um einander ganz und gar zu vergessen. Das aber war unmöglich; so litten sie beide unter der geheimen Feindseligkeit, die sie zwischen sich spürten. Christof wurde von dem Ausdruck dumpfen Grolls verfolgt, den er einmal von Sabines starrem Gesicht hatte lesen können. Sie litt darum nicht weniger unter ihren Gedanken. Wenn sie auch noch so sehr dagegen ankämpfte, sie ableugnete, sie konnte sich nicht von ihnen lösen. Und Scham mischte sich hinein, wenn sie dachte, Christof könne erraten, was in ihr vorgehe; – Scham sich dargeboten zu haben … sich dargeboten und nicht hingegeben zu haben.
Christof ergriff voller Eifer die sich ihm bietende Gelegenheit, zu ein paar Konzerten nach Köln und Düsseldorf zu fahren. Es war ihm sehr recht, zwei oder drei Wochen vom Hause fern zu verbringen. Die Vorbereitung zu diesen Konzerten und die Komposition eines neuen Werkes, das er dort zu spielen gedachte, beschäftigten ihn so völlig, daß er schließlich die lästigen Erinnerungen vergaß. Sie verblaßten auch im Geist Sabines, die wieder in die Dumpfheit des gewohnten Lebens zurückgesunken war. Sie kamen fast dahin, in Gleichgültigkeit aneinander zu denken. Hatten sie sich wirklich geliebt? Sie zweifelten daran. Christof wollte schon beinahe, ohne Sabine Lebewohl gesagt zu haben, nach Köln abreisen.
Am Vorabend der Abfahrt wurden sie von einem unbestimmten Etwas wieder zusammengeführt. Es war einer jener Sonntagnachmittage, wo alle in der Kirche waren. Auch Christof war, um die letzten Reisevorbereitungen zu treffen, ausgegangen. Sabine saß in ihrem winzigen Garten und wärmte sich an den letzten Sonnenstrahlen. Christof kam zurück: er hatte es eilig und als er sie sah, war seine erste Regung, zu grüßen und vorüberzugehen. Aber im Augenblick, als er vorbeiwollte, hielt ihn irgend etwas zurück: war es Sabines Blässe oder ein unnennbares Gefühl: Reue, Furcht, Zärtlichkeit? … Er blieb stehen, wandte sich Sabine zu, stützte sich auf das Gartengitter und wünschte ihr Guten Abend. Ohne eine Antwort reichte sie ihm die Hand. Ihr Lächeln war voller Güte, – einer Güte, die er nie an ihr gesehen hatte. Ihre Gebärde sagte: »Friede zwischen uns …« Er ergriff ihre Hand über das Gitter hinweg, neigte sich darüber und küßte sie. Sie machte keinen Versuch, sie zurückzuziehen. Er hätte sich ihr zu Füßen werfen mögen, ihr sagen: »Ich liebe dich …« Schweigend schauten sie einander an. Aber sie sprachen sich nicht aus. Nach einer kleinen Weile machte sie ihre Hand frei und wandte den Kopf ab. Auch er drehte sich fort, um seine Befangenheit zu verbergen. Dann sahen sie sich von neuem mit heiteren Augen an. Die Sonne ging unter. Zarte Farbentöne in violett, orange und lila liefen am kalten und klaren Himmel entlang. Sie zog mit einer ihm vertrauten Bewegung ihren Shawl fröstelnd über den Schultern zusammen. Er fragte:
»Wie geht es Ihnen?«
Sie verzog die Lippen ein wenig, als verlohne es sich nicht zu antworten. Und sie sahen sich weiter glücklich an. Es war ihnen, als hätten sie einander verloren und soeben wieder gefunden …
Endlich brach er das Schweigen und sagte:
»Ich verreise morgen.«
Sabines Gesicht wurde bestürzt.
»Sie verreisen?« wiederholte sie.
Er beeilte sich hinzuzufügen:
»O, nur auf zwei oder drei Wochen.«
»Zwei oder drei Wochen!« sagte sie mit fassungsloser Miene. Er setzte ihr auseinander, daß er zu Konzerten engagiert sei, aber daß er, nach seiner Rückkehr, den ganzen Winter sich nicht mehr vom Fleck rühren werde.
»Der Winter,« sagte sie, »der ist fern …«
»Aber gar nicht,« meinte er, »bald genug wird er da sein.«
Sie schüttelte, ohne ihn anzusehen, den Kopf.
»Wann werden wir uns wiedersehen?« fragte sie nach einer Weile.
Er begriff ihre Frage nicht ganz: er hatte ja darauf schon geantwortet.
»Sobald ich zurück sein werde: in vierzehn Tagen, spätestens drei Wochen.«
Ihre Miene blieb verstört. Er versuchte zu scherzen:
»Die Zeit wird Ihnen nicht lang sein,« sagte er. »Sie werden schlafen.«
Sie sah zur Erde nieder und versuchte zu lächeln, aber ihre Lippe bebte.
»Christof! …« sagte sie plötzlich, indem sie sich zu ihm aufreckte.
Aus ihrer Stimme sprach tiefe Not. Sie schien zu sagen:
»Bleibe! Reise nicht! …«
Er faßte ihre Hand, er sah sie an, er begriff nicht, warum sie dieser Reise von vierzehn Tagen soviel Bedeutung beilegte; aber er wartete nur auf ein Wort von ihr, um zu sagen:
»Ich bleibe.«
Grade im Augenblick, als sie sprechen wollte, öffnete sich das Tor zur Straße, und Rosa erschien. Sabine zog ihre Hand aus Christofs Hand zurück und ging eilig ins Haus hinein. Von der Schwelle aus sah sie ihn noch einmal an – und verschwand.
Christof zählte darauf, sie während des Abends noch einmal zu sehen. Aber da er von den Vogels ständig beobachtet, von seiner Mutter überallhin verfolgt wurde und wie immer mit seinen Reisevorbereitungen im Rückstand war, fand er nicht einen Augenblick, um aus dem Haus zu schlüpfen.
Ganz früh am nächsten Morgen reiste er ab. Als er bei Sabines Tür vorbeikam, hatte er Lust hineinzugehen, ans Fenster zu pochen: es war ihm unangenehm, sie zu verlassen, ohne ihr auf Wiedersehen gesagt zu haben; – denn er war von Rosa unterbrochen worden, bevor er Zeit dazu gefunden hatte. Aber er meinte, sie schliefe gewiß und würde ihm wenig Dank wissen, sie geweckt zu haben. Und dann, was sollte er ihr sagen! Auf die Reise zu verzichten, war jetzt zu spät; und wenn sie ihn darum bitten würde? … Zuguterletzt war er aber auch nicht böse darüber – gestand er sich das auch nicht ein –, seine Macht über sie erproben zu können, wenn nötig, ihr auch ein wenig Kummer zu bereiten … Er nahm den Schmerz, den seine Abreise Sabine verursachte, nicht ernst; und er meinte, diese kurze Abwesenheit würde das Gefühl, das sie vielleicht für ihn hege, nur steigern.
Er lief zum Bahnhof. Trotz allem hatte er einige Gewissensbisse. Aber sowie sich der Zug in Bewegung setzte, war alles vergessen. Er fühlte sein Herz von Jugend geschwellt. Fröhlich grüßte er die alte Stadt, deren Dächer und Turmspitzen die Sonne rötete. Und mit der Unbekümmertheit derer, die abreisen, sagte er den Zurückbleibenden Lebewohl und dachte ihrer nicht mehr.
Während der ganzen Zeit, die er in Düsseldorf und Köln zubrachte, ging ihm Sabine nicht einmal durch den Sinn. Von morgens bis abends war er durch Proben und Konzerte, durch Diners und Unterhaltungen in Anspruch genommen, mit tausend neuen Dingen beschäftigt, durch die stolze Genugtuung seiner Erfolge abgelenkt, so daß er keine Zeit zur Rückerinnerung fand. Ein einziges Mal, es war in der fünften Nacht nach seiner Abreise, erwachte er plötzlich aus schwerem Traum und merkte, daß er schlafend an sie gedacht, daß dieser Gedanke ihn erweckt hatte; aber er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wie er an sie gedacht hatte. Er war geängstigt und aufgeregt. Das war nicht erstaunlich: er hatte am Abend in einem Konzert gespielt und sich nachher zu einem Essen schleppen lassen, wo er ein paar Gläser Champagner getrunken hatte. Da er nun nicht schlafen konnte, stand er auf. Ein musikalischer Gedanke ließ ihn nicht los. Er sagte sich, daß der ihn im Traum geplagt habe, und schrieb ihn nieder. Als er ihn überlas, war er betroffen, wie tieftraurig er klang. Ihm war nicht traurig zumute gewesen, als er ihn schrieb: wenigstens schien es ihm so. Aber er erinnerte sich, daß zu andern Zeiten, wenn er sich traurig gefühlt hatte, er nur fröhliche Melodien hatte schreiben können, deren Vergnügtheit ihn geradezu verletzte. So hielt er sich nicht lange damit auf, denn er war an Überraschungen seiner inneren Welt gewöhnt. Gleich darauf schlief er wieder ein und hatte am nächsten Morgen alles vergessen.
Er dehnte ferne Reise drei oder vier Tage länger als beabsichtigt aus. Es machte ihm Spaß sie hinzuziehen, wußte er doch, daß sein Wille genügte, um wieder heimzukehren; aber er hatte es damit nicht eilig. Erst im Eisenbahnzug, auf der Heimfahrt, überkam ihn wieder der Gedanke an Sabine. Er hatte ihr nicht geschrieben. Er war sogar sorglos genug gewesen, nicht einmal auf der Post nach Briefen zu fragen, die man ihm vielleicht hätte schicken können. Dieses Schweigen war ihm ein geheimer Genuß, denn er wußte, man erwartete ihn da unten, man liebte ihn … Liebte man ihn? Niemals noch hatte sie es ihm gesagt, niemals hatte er es ihr gestanden. Gewiß, sie wußten es ohne Worte. Nichts aber wog die süße Sicherheit des Geständnisses auf. Warum hatten sie immer damit gezögert? Wenn sie nahe daran waren zu sprechen, hatte sie stets irgend etwas – ein Zufall, eine Befangenheit gehindert. Warum? Warum? Wieviel Zeit hatten sie verloren! … Er brannte darauf, die lieben Worte aus dem geliebten Munde zu hören. Er brannte darauf, sie ihr zu sagen, und er sprach sie ganz laut in das leere Wagenabteil hinein. Je näher er kam, um so mehr würgte ihn, – fast wie eine Art Angst – die Ungeduld … Schneller! Nur schneller! Ach, daß er sie in einer Stunde wiedersehen sollte! …
Es war halb sieben Uhr morgens, als er ins Haus trat. Niemand war noch aufgestanden. Sabines Fenster waren geschlossen. Er durchquerte den Hof auf Zehenspitzen, damit sie ihn nicht höre. Er lachte im Gedanken, sie zu überraschen. Dann stieg er in sein Zimmer hinauf. Seine Mutter schlief. Geräuschlos machte er Toilette. Er hatte Hunger; aber er fürchtete, er würde Luise aufwecken, wenn er im Büfett etwas suchte. Jetzt hörte er im Hofe Schritte, öffnete leise das Fenster und sah Rosa, die wie gewöhnlich als erste aufgestanden war und zu fegen begann. Er rief sie halblaut an. Als sie ihn sah, zuckte sie freudig überrascht zusammen, dann aber zeigte sie eine düstere Miene. Er dachte, daß sie wohl noch böse auf ihn sei; doch war er im Augenblick in so vortrefflicher Stimmung, daß er zu ihr hinunterging.
»Rosa, Rosa,« sagte er mit fröhlicher Stimme, »gib mir zu essen, oder ich esse dich! Ich sterbe vor Hunger!«
Rosa lächelte und führte ihn in die Küche. Während sie ihm eine Schale Milch eingoß, konnte sie nicht umhin, ihm eine endlose Fragereihe wegen seiner Reise und seiner Konzerte zu stellen. Aber obgleich er aufgelegt war, darauf einzugehen (in der Heimkehrfreude war ihm Rosas Plapperei fast ein Vergnügen), hielt diese doch plötzlich mitten in ihrem Ausfragen inne, ihr Gesicht zog sich in die Länge, sie wandte die Augen ab, sie schien bekümmert. Dann ging ihr Geschwätz wieder weiter; aber es war, als werfe sie es sich vor, und sie brach es von neuem kurz ab. Schließlich merkte er es und sagte:
»Aber was hast du denn, Rosa? Schmollst du mit mir?«
Sie schüttelte energisch den Kopf, um zu verneinen; dann wandte sie sich mit ihrer gewöhnlichen Heftigkeit ihm zu und packte mit beiden Händen seinen Arm.
»O Christof! …« sagte sie.
Er wurde betroffen. Er ließ das Stück Brot, das er hielt, fallen.
»Was denn? Was gibt es?«
Sie wiederholte:
»O Christof! es ist solch ein Unglück geschehen! …«
Er stieß den Tisch zurück. Er stammelte:
»Hier?«
Sie wies auf das Haus an der andern Hofseite.
Er schrie auf:
»Sabine!«
Sie weinte:
»Sie ist tot.«
Christof sah nichts mehr. Er stand auf, fühlte sich niederstürzen, klammerte sich an den Tisch, er warf, was darauf war, um, er wollte schreien. Grausame Schmerzen zerrissen ihn. Er wurde von Erbrechen befallen.
Die entsetzte Rosa mühte sich um ihn – sie hielt ihm den Kopf, weinte.
Sobald er wieder sprechen konnte, sagte er:
»Es ist nicht wahr!«
Er wußte, daß es wahr war. Aber er wollte es ableugnen, er wollte das Geschehene ungeschehen machen. Als er Rosas tränenüberrieseltes Gesicht sah, zweifelte er nicht mehr und er schluchzte. Rosa hob den Kopf:
»Christof!« sagte sie.
Er lag über den Tisch hingestreckt und verbarg das Gesicht. Sie beugte sich über ihn:
»Christof! … Mama kommt! …
Christof richtete sich auf:
»Nein, nein,« sagte er, »ich will nicht, daß sie mich sieht.«
Sie nahm ihn bei der Hand, sie führte den Schwankenden, Tränenblinden zu einem kleinen Holzschuppen im Hof. Sie schloß hinter sich die Tür, und sie befanden sich im Dunkel. Er setzte sich aufs Geratewohl auf einen Klotz, der zum Holzspalten da stand. Sie auf Reisigbündel. Die Geräusche von draußen drangen nur gedämpft und entfernt ein. Da konnte er weinen ohne Furcht, gehört zu werden. Er gab sich leidenschaftlich seinem Schluchzen hin. Rosa hatte ihn nie weinen sehen; sie hätte sogar gedacht, er sei dazu nicht imstande; sie kannte nichts anderes als ihre kleinen Mädchentränen, und diese Verzweiflung eines Mannes erfüllte sie mit Schrecken und Mitleid. Sie war von heißer Liebe für Christof durchglüht: und diese Liebe hatte nichts Egoistisches: sie war unendliches Opferbedürfnis, mütterliche Entsagung, ein Durst für ihn zu leiden, ihm all sein Leid zu nehmen. Sie schlang ihren Arm um seine Schulter:
»Lieber Christof,« sagte sie, »weine nicht!«
Christof wandte sich ab:
»Ich will sterben!«
Rosa faltete die Hände:
»Sage das nicht, Christof!«
»Ich will sterben. Ich kann nicht mehr … Ich kann nicht mehr leben … Wozu soll man leben?«
»Christof, mein kleiner Christof! Du bist ja nicht verlassen. Man liebt dich.«
»Was liegt mir daran? Ich liebe nichts mehr. Alles übrige kann ruhig leben oder sterben. Ich liebe nichts, nur sie habe ich geliebt, nur sie!«
Er schluchzte lauter, den Kopf in den Händen verborgen. Rosa wußte nichts mehr zu sagen. Der Egoismus in Christofs Leidenschaft ging ihr durch und durch. Im Augenblick, wo sie ihm am nächsten zu sein meinte, sah sie sich ausgeschlossen und elender als je. Anstatt sie einander zu nähern, trennte sie der Schmerz noch mehr. Sie weinte bitterlich.
Nach einer Weile hielt Christof im Schluchzen inne und fragte: »Aber wie? wie nur? …«
Rosa verstand.
»Am Abend nach deiner Abreise hat sie Influenza bekommen. Und gleich war sie hingerafft …«
Er stöhnte:
»Mein Gott! … Warum hat man mir nicht geschrieben?«
Sie sagte:
»Ich habe geschrieben. Ich wußte deine Adresse nicht; du hattest uns nichts hinterlassen. Ich habe beim Theater nachgefragt. Niemand kannte sie.«
Er wußte, wie schüchtern sie war, und wieviel dieser Schritt sie gekostet haben mußte. Er fragte:
»Hatte sie … hatte sie dich darum gebeten, hinzugehn?«
Sie schüttelte den Kopf:
»Nein. Aber ich dachte …«
Er dankte ihr mit einem Blick. Rosas Herz ging auf.
»Mein armer … armer Christof!« sagte sie.
Weinend warf sie sich ihm an den Hals. Christof fühlte den ganzen Wert dieser reinen, Zärtlichkeit. Er sehnte sich so nach Trost! Er küßte sie.
»Du bist gut,« sagte er, »du hast sie also auch geliebt, du?« Sie löste sich von ihm, warf ihm einen leidenschaftlichen Blick zu, antwortete nicht und begann von neuem zu weinen. Dieser Blick war eine Erleuchtung für ihn. Dieser Blick wollte sagen:
»Sie war's nicht, die ich liebte …«
Christof merkte endlich, was er bisher nicht gewußt hatte, was er seit Monaten nicht hatte sehen wollen. Er sah, daß sie ihn liebte.
»St!«, sagte sie, »man ruft mich.«
Man hörte Amaliens Stimme.
Rosa fragte:
»Willst du wieder in eure Wohnung hinübergehen?«
Er sagte:
»Nein, ich kann noch nicht, ich kann noch nicht mit meiner Mutter reden … Später …«
Sie sagte:
»Warte. Ich komme gleich wieder.«
Er blieb in dem dunklen Schuppen, in den ein Streifen Tageslicht durch eine enge, von Spinnweben verhängte Dachluke fiel. Man hörte von der Straße her die Ausrufe einer Marktfrau. In einem benachbarten Stall schnaubte ein Pferd und schlug mit den Hufen gegen die Mauer. Die Offenbarung, die Christof soeben geworden war, machte ihm keinerlei Vergnügen; aber sie beschäftigte ihn einen Augenblick. Er erklärte sich jetzt vieles, was er nicht verstanden hatte. Eine Menge kleiner Tatsachen, die er nie beachtet hatte, kamen ihm wieder in den Sinn und wurden ihm klar. Er wunderte sich, daß er daran dachte, es empörte ihn. Laß er sich eine einzige Minute von seinem Elend ablenken ließ. Aber dieses Elend war so fürchterlich, so atemraubend, daß der Selbsterhaltungstrieb, der stärker als sein Wille, als sein Mut, als seine Liebe war, ihn zwang, die Augen davon abzuwenden, sich auf diesen neuen Gedanken zu werfen, wie es der Verzweifelte, der sich ertränkt, tut, wenn er gegen seinen Willen den ersten Gegenstand ergreift, der ihm dazu verhelfen kann, sich – wenn auch nicht zu retten, so doch noch einen Augenblick über Wasser zu halten. Doch er fühlte, gerade weil er litt, jetzt auch doppelt, was ein anderer litt – durch ihn litt. Er verstand die Tränen, die er eben verursacht hatte. Er hatte Mitleid mit Rosa. Er dachte daran, wie grausam er gegen sie gewesen war – wie grausam er noch sein würde. Denn er liebte sie nicht. Was nützte es, daß sie ihn liebte? Arme Kleine! … Er konnte sich hundertmal sagen, daß sie gut sei (sie hatte es eben bewiesen). Was ging ihn ihre Güte an? Was ging ihn ihr Leben an? … Er dachte:
»Warum ist sie nicht tot, und die andere am Leben?«
Er dachte:
»Sie lebt, sie liebt mich, sie kann es mir heute, morgen, mein ganzes Leben lang sagen; – und die andere, die eine, die ich liebe, sie mußte sterben, ohne mir zu sagen, daß sie mich liebte; ich habe ihr nicht gesagt, daß ich sie liebe, niemals mehr werde ich es von ihr hören, niemals wird sie es erfahren …«
Und die Erinnerung an den letzten Abend tauchte ihm plötzlich wieder auf: es kam ihm in den Sinn, wie sie gerade zueinander hatten sprechen wollen, als Rosas Dazwischenkommen sie daran verhindert hatte. Und er haßte Rosa …
Die Schuppentür ging wieder auf. Rosa rief Christof leise an, indem sie ihn tastend suchte. Sie faßte seine Hand. Ihm war es widerwärtig, sie so nahe zu fühlen: vergeblich machte er sich deswegen Vorwürfe, es war stärker als er.
Rosa schwieg: die Tiefe ihres Mitgefühls hatte sie das Schweigen gelehrt. Christof war ihr dankbar, daß sie seinen Kummer nicht durch unnütze Worte störte. Immerhin wollte er noch manches wissen … sie war die einzige, die ihm von ihr sprechen konnte. Ganz leise fragte er:
»Wann ist sie …? (er wagte nicht auszusprechen: gestorben). Sie antwortete:
»Samstag vor acht Tagen.«
Ein Erinnern stieg ihm auf. Er sagte:
»Während der Nacht.«
Rosa sah ihn erstaunt an und sagte:
»Ja, nachts, zwischen zwei und drei Uhr.«
Die düstere Melodie tauchte von neuem in ihm auf.
Er fragte zitternd:
»Hat sie sehr gelitten?«
»Nein, nein, Gott sei Dank, lieber Christof, sie litt fast gar nicht. Sie war so schwach! Sie leistete gar keinen Widerstand. Man konnte gleich sehen, daß sie verloren war.«
»Und sie, hat sie es gemerkt?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube …«
»Hat sie irgend etwas gesagt?«
»Nein, nichts. Sie klagte wie ein kleines Kind.«
»Du warst um sie?«
»Ja, die ersten beiden Tage, bevor der Bruder kam, war ich ganz allein da.«
Er drückte ihr in einer Aufwallung von Rührung die Hand.
»Hab Dank.«
Sie fühlte, wie ihr das Blut zum Herzen strömte.
Nach einem Stillschweigen sprach er, stammelte er die Frage, die ihn erstickte:
»Sie hat … mir nichts sagen lassen?«
Rosa schüttelte traurig den Kopf. Sie hätte viel darum gegeben, um ihm die erhoffte Antwort zu geben. Fast warf sie sich vor, nicht lügen zu können. Sie versuchte ihn zu trösten:
»Sie war nicht mehr bei Bewußtsein«.
»Man konnte es nicht recht verstehen. Sie sprach ganz leise.«
»Wo ist das kleine Mädchen?«
»Der Bruder hat sie mit sich in seine Heimat genommen.«
»Und sie?«
»Auch sie ist dort. Vergangene Woche am Montag hat man sie fortgebracht.
Sie fingen von neuem zu weinen an.
Noch einmal rief Frau Vogels Stimme Rosa zu sich. Christof blieb wieder allein und durchlebte die Sterbetage. Acht Tage, acht Tage war es schon her … O Gott! was war aus ihr geworden? Wie hatte es in dieser Woche auf die Erde geregnet! … Und er hatte während derselben Zeit gelacht, er war glücklich gewesen!
Er fühlte in seiner Tasche ein in Seidenpapier gehülltes Paket: es waren silberne Schnallen, die er ihr für ihre Schuhe mitgebracht hatte. Er dachte des Abends, an dem seine Hand auf ihrem kleinen entschuhten Fuß gelegen hatte. Ihre kleinen Füße – wo waren die jetzt? Wie sehr mußten sie frieren! … Er dachte, daß die Erinnerung an jenes eine laue Ineinander von Hand und Fuß das einzige sei, was ihm von dem geliebten Körper blieb. Niemals hatte er ihn anzurühren, ihn in die Arme zu nehmen, ihn an den seinen zu pressen gewagt. Ganz unerkannt war sie für immer davongegangen. Nichts wußte er von ihr, weder von ihrer Seele, noch von ihrem Körper. Keine Erinnerung ihrer Gestalt, ihres Lebens, ihrer Liebe war sein eigen … Ihrer Liebe? … Welchen Beweis besaß er von ihr? … Keinen Brief, kein Andenken, – nichts. Wo sie fassen, wo sie suchen, in ihm selber, außer ihm? … O Leere! Nichts blieb ihm von ihr als die Liebe, die er für sie fühlte, nichts blieb ihm als er selbst … Und trotz allem brachte ihn sein rasender Wunsch, sie der Zerstörung zu entreißen, sein Drang, den Tod zu verneinen, dahin, sich in aufbäumendem Glauben an diesen letzten Splitter zu klammern:
»
… Ne son gia morto, e ben c'albergo cangi,
resto in te vivo, c'or mi vedi e piangi
se l'un nell'altro amante si trasforma.«
Niemals hatte er diese erhabenen Worte gelesen; aber sie waren in ihm. Ein jeder ersteigt, wenn die Reihe an ihn kommt, das Golgatha der Jahrhunderte. Jeder entdeckt auf seinem Wege die Leiden, jeder die verzweifelte Hoffnung und den Wahn der Jahrhunderte von neuem. Jeder setzt seinen Fuß in die Fußstapfen derer, die waren, derer, die vor ihm den Tod bekämpften, den Tod verleugneten, – nun Tote sind.
Er vergrub sich in seinem Zimmer. Den ganzen Tag über ließ er die Vorhänge geschlossen, um nicht die gegenüber, liegenden Fenster sehen zu müssen. Er floh die Vogels: sie waren ihm widerwärtig. Zwar konnte er ihnen nichts vor, werfen: sie waren zu brave und fromme Leute, als daß sie ihre Gefühle dem Tode gegenüber nicht zum Schweigen gebracht hätten. Sie kannten Christofs Leid und achteten es, was immer sie davon denken mochten; vor ihm den Namen Sabines auszusprechen, vermieden sie. Aber sie waren ihre Feinde gewesen, als sie noch lebte: das war genug, um ihn jetzt, da sie nicht mehr war, zu dem ihren zu machen.
Übrigens war an ihrer lärmenden Art nichts anders geworden, und trotz des aufrichtigen, jedoch vorübergehenden Mitleids, das sie empfunden hatten, war es klar, daß ihnen das Unglück im Grunde gleichgültig blieb – das war nur zu natürlich –: vielleicht empfanden sie es sogar heimlich als Erleichterung. Christof bildete sich das wenigstens ein. Jetzt, da er die Absichten der Vogels ihm gegenüber durchschauen gelernt hatte, neigte er dazu, sie zu übertreiben. In Wahrheit lag ihnen recht wenig an ihm; und er schrieb sich selbst eine allzu große Bedeutung bei. Aber er nahm als sicher an, daß Sabines Tod, der ja das Haupthindernis für die Pläne seiner Wirtsleute aus dem Wege räumte, ihnen das Feld für Rosa frei zu lassen schien. Darum haßte er Rosa. Daß alle – die Vogels, Luise, Rosa selber – ohne ihn auch nur zu fragen, schweigend über ihn verfügt hatten, das allein hätte in diesem wie in jedem anderen Fall genügt, um ihm jede Neigung für die, welche er lieben sollte, zu verleiden. Er geriet jedesmal in Harnisch, wenn man seine kostbare Freiheit anzutasten schien. Aber hier kam nicht er allein in Frage. Die Rechte, die man sich über ihn anmaßte, taten nicht allein seinen Rechten Abbruch, sondern auch denen der Toten, der sein Herz gehörte. So verteidigte er sie mit aller Schärfe, obgleich niemand sie angriff. Er verdächtigte Rosas Güte, die tief darunter litt, ihn leiden zu sehen, und oft bei ihm anklopfte, um ihn zu trösten und mit ihm von der anderen zu reden. Er wehrte ihr nicht: war es ihm doch Bedürfnis, von Sabine mit irgend jemand, der sie gekannt hatte, zu sprechen; er wollte die kleinsten Einzelheiten aus der Zeit ihrer Krankheit wissen. Und doch war er Rosa nicht dankbar und schob ihrem Herzen eigennützige Beweggründe unter. Er sah ja, wie die ganze Familie, selbst Amalie, diese Besuche und langen Gespräche zuließ, die sie niemals gutgeheißen hätten, wenn Rosa dabei nicht auf ihre Rechnung gekommen wäre. Steckte Rosa mit den Ihren etwa unter einer Decke? Er konnte es nicht glauben, daß ihre Teilnahme vollständig aufrichtig und von allen persönlichen Gedanken frei sei.
Und in der Tat, sie war es auch nicht. Rosa bedauerte Christof von ganzem Herzen. Sie gab sich Mühe, Sabine mit Christofs Augen zu betrachten, sie durch ihn hindurch zu lieben; sie warf sich die schlechten Gedanken, die sie gegen sie gehegt hatte, ernsthaft vor und bat sie ihr abends in ihrem Gebet ab. Aber konnte sie vergessen, daß sie selber lebte, daß sie Christof jederzeit sah, daß sie ihn liebte, daß sie die andere nicht mehr zu fürchten hatte, daß die andere verblich, daß selbst die Erinnerung an sie allmählich verbleichen würde, daß sie allein dablieb, und eines Tages vielleicht …? Konnte sie mitten im Schmerz, im Schmerz ihres Freundes, den sie so ganz als eigenen empfand, eine plötzliche Freudenregung unterdrücken, eine törichte Hoffnung? Sie warf sie sich gleich darauf vor. Nur wie ein Blitz kam sie. Es war genug. Er hatte ihn gesehn. Er warf ihr einen Blick zu, der ihr Herz erstarrte: sie las darin Gedanken voll Haß; er zürnte ihr, daß sie lebte, während die andere gestorben war.
Der Müller kam und holte mit seinem Wagen Sabines geringes Mobiliar. Als Christof gerade aus einer Stunde heimkehrte, sah er vor der Tür auf der Straße das Bett, den Schrank,. die Matratzen, die Wäsche ausgebreitet – alles, was ihr gehört hatte, alles, was von ihr geblieben war. Es war ihm ein entsetzlicher Anblick. Eilig ging er vorüber. Beim Eingang stieß er auf Bertold, der ihn anhielt:
»Ach, mein lieber Herr Krafft,« sagte er und schüttelte ihm überschwänglich die Hand. »Wer hätte das gedacht, als wir zusammen waren, he! Wie vergnügt wir alle miteinander waren! Dabei ist es ihr seit jenem Tage, seit der verdammten Wasserpartie schlecht gegangen. Na ja! Was nützt es zu jammern! Sie ist tot. Nach ihr kommt die Reihe an uns. So ist mal das Leben … Und Sie? Wie geht's Ihnen? Mir sehr gut, Gott sei Dank!«
Er schwitzte, war rot und roch nach Wein. Der Gedanke, daß er ihr Bruder sei, daß er Rechte auf ihr Andenken habe, tat Christof weh. Er litt darunter, diesen Menschen von der, die er liebte, reden zu hören. Der Müller dagegen war glücklich, jemand zu begegnen, mit dem er von Sabine schwatzen konnte. Christofs Kälte begriff er nicht. Er ahnte nicht im geringsten, daß seine Gegenwart, das plötzliche Heraufbeschwören jenes Tages auf dem Gut, die glückvollen Erinnerungen, die er plump wachrief, daß die armen Reliquien Sabinens, die den Boden bedeckten und an die er redend mit dem Fuße stieß, alle Schmerzen in Christofs Seele aufwühlten. Jedesmal, wenn nur Sabines Name in seinem Munde widerkehrte, zerriß er Christofs Herz. Er suchte nach einem Vorwand, um Bertold zum Schweigen zu bringen. Er entkam zur Treppe. Aber der andere hängte sich an ihn, hielt ihn auf den Stufen fest und fuhr in seinem Reden fort. Als der Müller endlich mit dem eigentümlichen Vergnügen, das gewisse Leute, besonders aus dem Volke, an solchen Berichten finden, von Sabines Krankheit zu erzählen begann, und zwar mit einer wahren Überfülle peinlicher Einzelheiten, hielt Christof es nicht mehr aus (er raffte alle Kraft zusammen, um vor Schmerz nicht aufzuschreien) und unterbrach ihn kurz:
»Entschuldigen Sie,« sagte er mit eisiger Trockenheit, »ich muß Sie jetzt verlassen.«
Er ließ ihn stehen, ohne auch nur Adieu zu sagen.
Diese Fühllosigkeit empörte den Müller. Er hatte vordem etwas von der heimlichen Neigung zwischen seiner Schwester und Christof geahnt; und es erschien ihm ungeheuerlich, daß dieser jetzt eine solche Gleichgültigkeit zeigte; er schloß daraus, daß Christof keine Spur von Herz habe.
Christof war in sein Zimmer geflohen. Er meinte ersticken zu müssen. Solange der Umzug dauerte, ging er nicht aus. Er hatte sich geschworen, nicht aus dem Fenster zu schauen, aber er konnte sich nicht bezwingen. Aus einem Winkel, hinter seinen Vorhängen verborgen, verfolgte er mit schmerzvoller Spannung die Abfahrt der geliebten Sachen. Als er sie für immer verschwinden sah, war er nahe daran, in die Straße zu laufen und zu rufen: »Nein, nein, laßt sie mir! Nehmt sie mir nicht fort.« Er hätte flehen mögen, daß man ihm wenigstens etwas gäbe, ein einziges Stück, daß man sie ihm nicht ganz nehme. Aber wie hätte er wagen können, den Müller darum zu bitten! Er war ihm nichts. Sie selber hatte ja von seiner Liebe nichts gewußt. Wie hätte er wagen können, sie vor einem anderen zu entschleiern? Und dann, hätte er auch nur ein Wort zu sagen versucht, so wäre er in Schluchzen ausgebrochen … Nein, nein, er mußte schweigen, mußte diesem vollständigen Entschwinden machtlos zuschauen, ohne auch nur einen Splitter aus dem Schiffbruch retten zu können.
Und als alles vorüber war, als das Haus leer war, die Hoftür sich hinter dem Müller wieder geschlossen hatte, als die Scheiben nicht mehr unter den sich entfernenden Wagenrädern zitterten, als ihr Rollen verklang, da warf er sich auf die Erde und hatte keine Träne, keinen Gedanken mehr für Leid oder Kampf, war erstarrt und selber wie tot.
Man pochte an die Tür. Er blieb reglos. Wieder klopfte man. Er hatte vergessen, abzuschließen. Rosa kam herein. Als sie ihn auf die Diele hingestreckt sah, schrie sie auf und blieb entsetzt stehen. Voller Zorn hob er den Kopf:
»Was denn? Was willst du? Laß mich!«
Sie ging nicht fort, blieb zögernd an die Tür gelehnt und wiederholte:
»Christof …«
Schweigend stand er auf: er schämte sich, daß sie ihn so gesehen hatte. Indem er sich mit der Hand abstäubte, fragte er hart:
»Nun also, was willst du?«
Die verschüchterte Rosa sagte:
»Verzeih … Christof … ich kam herein … ich brachte dir …«
Er sah, daß sie etwas in der Hand hielt.
»Da,« sagte sie, und reichte es ihm hin. »Ich bat Bertold, mir ein Andenken von ihr zu geben. Ich meinte, es würde dir Freude machen …«
Es war ein kleiner, silberner Spiegel, ihr Handspiegel, in den sie – weniger aus Eitelkeit, als aus Müßiggang – stundenlang geschaut hatte.
Christof griff danach, griff nach der Hand, die ihn ihm entgegen streckte:
»O Rosi!« stammelte er.
Er stand erschüttert vor ihrer Güte und vor dem Bewußtsein der eigenen Ungerechtigkeit. Mit einer leidenschaftlichen Bewegung kniete er vor ihr nieder und küßte ihr die Hand:
»Verzeih … Verzeih …« sagte er.
Zuerst verstand Rosa nicht; dann begriff sie ihn nur allzugut; sie errötete, sie zitterte, sie fing zu weinen an. Sie verstand, daß er sagen wollte:
»Verzeih, wenn ich ungerecht bin, verzeih, wenn ich dich nicht liebe … verzeih, wenn ich es nicht kann, nicht dazu imstande bin, wenn ich dich niemals lieben werde! …«
Sie entzog ihm ihre Hand nicht; und wußte doch, daß nicht sie es war, die er küßte. Er aber weinte, die Wange in Rosas Hand, heiße Tränen, denn er fühlte, daß sie in ihm las: eine bittere Trauer war in ihm, weil er sie nicht lieben konnte und sie leiden ließ.
So blieben sie beide im Abenddämmer des Zimmers und weinten.
Endlich löste sie ihre Hand. Er fuhr fort zu murmeln:
»Verzeih …!«
Sanft legte sie ihm die Hand auf die Stirn. Er stand auf. Schweigend küßten sie sich und fühlten auf ihren Lippen den herben Geschmack der Tränen.
»Wir werden immer Freunde bleiben,« sagte er ganz leise. Sie schüttelte den Kopf, und zu traurig, um sprechen zu mögen, verließ sie ihn.
Er dachte, daß es in der Welt schlecht eingerichtet ist. Wer liebt, wird nicht wiedergeliebt. Wer geliebt wird, liebt nicht. Wer liebt und geliebt wird, sieht sich eines Tages, ob früher oder später, von seiner Liebe getrennt … Man leidet. Man bereitet Leid. Und nicht immer ist der der Unglücklichere, welcher leidet.
Christof fing wieder an, das Zuhause zu fliehen. Er hielt es dort nicht mehr aus. Er konnte die vorhanglosen Fenster in der leeren Wohnung gegenüber nicht sehen.
Aber er lernte einen schlimmeren Schmerz kennen. Der alte Euler beeilte sich, sein Parterre wieder zu vermieten. Eines Tages sah Christof in Sabines Zimmer fremde Gesichter. Neue Leben verlöschten die letzten Spuren des hingeschwundenen Daseins.
So wurde es ihm ganz unmöglich, in der Wohnung zu bleiben. Ganze Tage verbrachte er draußen; erst des Nachts kehrte er heim, wenn er nichts mehr sehen konnte. Wieder nahm er seine Wanderungen über Land auf. Unwiderstehlich zogen sie ihn zu Bertolds Gutshof. Aber er ging nicht hinein, er wagte sich nicht nahe heran und strich nur von weitem rings herum. Er hatte einen Hügel entdeckt, von dem man den Pachthof, die Ebene und den Fluß überschaute: das wurde sein gewöhnliches Wegziel. Von dort aus verfolgte er mit den Augen die Wasserbiegungen bis zu dem Weidengebüsch, unter dem er den Todesschatten über Sabines Züge hatte gleiten sehen. Von dort aus unterschied er die Fenster der beiden Zimmer, in denen sie Seite an Seite gewacht hatten – einander so nah und so fern, nur durch eine Tür getrennt – die Tür der Ewigkeit. Von dort aus schweifte sein Blick über den Kirchhof hin. Er hatte sich nicht entschließen können, hineinzugehen: von Kindheit an empfand er ein Grauen vor diesen verwesten Feldern, in die sein Denken die von ihm geliebten Wesen nicht bannen mochte. Aber von fern, von hoch oben hatte der kleine Totenacker nichts Düsteres; er war still und schlief in Sonne … Schlafen! … Sie hatte so gern geschlafen! Dort störte sie nichts. Der Sang der Hähne antwortete sich über die Haide fort. Vom Landgut klang das Summen der Mühle, das Gezirp des Geflügelhofes, das Geschrei spielender Kinder. Er entdeckte Sabines Töchterchen, er sah sie laufen, hörte ihr Lachen heraus. Einmal erspähte er sie nahe der Hoftür, in der Krümmung eines Hohlweges, den zwei Mauern bildeten; er fing sie im Vorübergehen auf und küßte sie wild. Die Kleine hatte Furcht und begann zu weinen. Sie hatte ihn schon fast ganz vergessen. Er fragte sie:
»Bist du gern hier?«
»Ja, es gefällt mir …«
»Du willst nicht zurück?«
»Nein!«
Er hatte sie losgelassen. Diese Kindergleichgültigkeit drückte ihn nieder. Arme Sabine! … Und doch, das war sie, ein klein wenig sie … so wenig! Das Kind ähnelte seiner Mutter nicht: es war durch sie hindurchgegangen, aber es war nicht sie; kaum hatte es von diesem geheimnisvollen Durchschreiten einen ganz leisen Duft des hingeschwundenen Wesens bewahrt: einen Stimmklang, ein kleines Lippenkräuseln, ein Neigen des Kopfes. Das Übrige war ein ganz anderes Geschöpf; und dies so mit Sabine vermengte Wesen stieß Christof, ohne daß er es sich eingestand, fast ab.
Nur in sich selber fand Christof Sabines Bild rein wieder. Überall verfolgte sie ihn, schwebte um ihn; aber ganz fühlte er sich nur mit ihr vereint, wenn er allein war. Nirgends war sie ihm näher als in seiner Einsiedelei auf dem Hügel, allen Blicken fern, inmitten des von ihrem Andenken erfüllten Landes. Meilenweit ging er, um dort hinzukommen, und lief mit klopfendem Herzen wie zu einem Stelldichein hinauf: und es war wirklich eins. Sowie er angelangt war, streckte er sich auf die Erde hin – dieselbe Erde, in der ihr Körper lag –, er schloß die Augen: und sie riß ihn an sich. Er sah ihre Züge nicht, er hörte nicht ihre Stimme: er brauchte das nicht; sie ging in ihn ein, sie durchdrang ihn, er besaß sie ganz und gar. In diesem Zustand leidenschaftlicher Vision fand er keine Kraft zum Denken, er wußte nicht, was vorging, er wußte nichts als nur, daß er mit ihr vereint war.
Dieser Zustand dauerte nur kurze Zeit. Der Wahrheit gemäß war er eigentlich nur ein einziges Mal aufrichtig. Schon am nächsten Tage war der Wille daran beteiligt. Und seitdem versuchte Christof vergeblich die Vision wieder heraufzubeschwören. Da erst dachte er daran, sich Sabines Gesicht und deutliche Erscheinung zu vergegenwärtigen. Bis dahin hatte er sich nicht darauf besonnen. Nun gelang es ihm zuweilen blitzartig, und er war ganz davon erhellt. Aber es geschah um den Preis stundenlangen, nächtelangen Wartens.
»Arme Sabine,« dachte er, »alle vergessen sie dich, nur der dich liebt, nur ich bewahre dich ewig, du mein köstlicher Schatz! Ich besitze dich, ich halte dich, ich lasse dich nicht entgleiten.« So sprach er, weil sie ihm bereits entglitt: sie entrann seinem Denken, wie Wasser den Fingern entrinnt. Er kam immer wieder treu zum Stelldichein. Er wollte an sie denken und schloß die Augen. Aber es geschah, daß er nach einer halben, einer, zwei Stunden merkte, daß er an nichts gedacht hatte. Die Geräusche des Tales, das Sprudeln der Schleuse, die Glöckchen zweier Ziegen, die auf dem Hügel grasten, der Sang des Windes in den zarten Bäumchen, zu deren Füßen er lag, durchtränkten sein offenes, weiches Denken wie einen Schwamm. Er empörte sich gegen seine Zerstreutheit: er zwang seinen Geist zum Gehorsam, zwang ihn, das entschwundene Bild, an das er sein Leben binden wollte, festzuhalten; aber sein Denken sank müde und schlafumfangen zurück, und wieder gab er sich mit einem Seufzer der Erleichterung der trägen Flut von Eindrücken hin.
Dann schüttelte er wohl seine Betäubung ab und durchlief das Land nach allen Richtungen auf der Suche nach Sabine. Er suchte sie in dem Spiegel, über den ihr Lächeln geglitten war. Er suchte sie am Ufer des Flusses, in den sich ihre Hände getaucht hatten. Aber Spiegel und Wasser gaben ihm nur sein eigenes Bild zurück. Die Bewegtheit des Marsches, die frische Luft, sein kräftiges klopfendes Blut weckten neue Musik in ihm. Er wollte sich belügen:
»O Sabine! …« seufzte er.
Er widmete ihr die so entstehenden Lieder, er wollte in seiner Musik Liebe und Leid wieder aufleben lassen … Doch wie er sich auch mühte: Liebe und Leid lebten auf; aber die arme Sabine kam zu kurz dabei. Liebe und Leid sahen der Zukunft entgegen und nicht in die Vergangenheit zurück. Christof vermochte nichts gegen seine Jugend. Der Lebenssaft quoll in ihm mit neuem Ungestüm. Sein Gram, seine Reue, seine keusche und glühende Liebe, seine eingedämmten Wünsche erhöhten sein Fieber. Seinem Leid zum Trotz schlug sein Herz in fröhlichen und heftigen Rhythmen. Wilde Lieder hüpften nach trunkenen Tonmaßen: alles feierte das Leben, selbst die Trauer trug festliches Gewand. Christof war zu freimütig, um sich lange in seine Illusionen hineinzuzwingen; und er verachtete sich. Doch das Leben riß ihn mit sich fort; und schmerzvoll, in der Seele den Tod, im Körper das Leben, gab er sich seiner neu auflebenden Kraft, seiner berauschten unsinnigen Lebensfreude hin, die bei den Starken durch Schmerz, Mitleid, Verzweiflung, durch die herzzerreißende Wunde eines unwiederbringlichen Verlustes, durch alle Todesqualen nur befeuert und belebt wird, weil sie die jungen Flanken mit rasendem Sporn durchfurchen.
Dennoch wußte Christof, daß er in den unterirdischen Schlupfwinkeln seiner Seele ein unzugängliches, unverletzliches Asyl sich bewahrte, wo Sabines Schatten eingeschlossen blieb. Der Sturzbach des Lebens konnte es nicht fortreißen. So trägt jeder im Grunde seiner selbst einen kleinen Friedhof derer, die er geliebt hat. Durch Jahre schlafen sie dort, ohne daß irgend etwas sie stört. Aber ein Tag kommt – das weiß man –, wo die Gruft sich öffnet. Die Toten stehen aus ihrem Grabe auf und lächeln mit ihren entfärbten, immer noch liebenden Lippen der Geliebten, dem Liebenden zu, in dessen Brust ihr Andenken ruht, dem Kinde gleich, das im Mutterleibe schlummert.