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III

Nach regnerischem Sommer strahlte der Herbst. In den Obstgärten strotzten die Früchte an den Zweigen. Die roten Äpfel glänzten wie Elfenbeinkugeln. Manche Bäume bekleidete schon ihr leuchtendes Spätherbstgefieder: in der Farbe des Feuers, in der Farbe der Früchte, reifer Melonen, Orangen, Zitronen, schmackhafter Küchenkost, gerösteten Fleisches. Falbe Schimmer aller Art entzündeten sich in den Wäldern, und aus den Wiesen sprangen die kleinen rosa Flammen der durchsichtigen Zeitlose auf.

Er stieg einen Hügel hinab. Es war ein Sonntagnachmittag. Sein Schritt holte weit aus, vom Abhang hinuntergezogen lief er fast. Er sang eine Melodie, deren Rhythmus ihn seit dem Anfang des Spazierganges gefangen hielt. Rot und aufgelöst schritt er so dahin, fuchtelte mit den Armen, rollte wie ein Wahnsinniger mit den Augen – als er sich plötzlich bei einer Wegbiegung einem großen blonden Mädchen gegenüber befand, die sich auf eine Mauer geschwungen hatte und dort, während sie mit aller Kraft einen großen Zweig niederzog, sich genäschig an kleinen violetten Pflaumen gütlich tat. Beide waren gleichermaßen verdutzt. Sie sah ihn mit offenem Munde verblüfft an; dann brach sie in Lachen aus. Er machte es gerade so. Sie war hübsch anzusehen mit ihrem runden Gesicht, das von blonden krausen Haaren wie von Sonnenstaub eingerahmt war, ihren vollen rosigen Wangen, den weiten, blauen Augen, der etwas großen, keck aufgestülpten Nase, dem kleinen sehr roten Mund, der ein weißes Gebiß mit starken vorstehenden Eckzähnen zeigte, dem sinnlichen Kinn und ihrer ganzen großen, vollen, wohlgestalteten, festgezimmerten und üppigen Person. Er schrie ihr zu: »Guten Appetit!« und wollte seinen Weg weiter fortsetzen. Sie aber rief ihn an: »Sie! Ach Sie! Wollen Sie nett sein? Helfen Sie mir doch herunter. Ich kann nicht mehr …«

Er kehrte um und fragte, wie sie's denn angefangen habe, hinaufzukommen.

»Mit meinen Krallen … heraufzukommen ist immer leicht …«

»Vor allem, wenn überm Kopf lockende Früchte herunter, hängen …«

»Ja, aber wenn man gegessen hat, fehlt einem der Mut. Man kann den Weg nicht mehr zurückfinden.«

Er betrachtete sie, wie sie dort in der Höhe nistete, und sagte:

»Es geht Ihnen da oben ja ausgezeichnet. Bleiben Sie nur schön ruhig sitzen. Ich komme Sie morgen besuchen. Guten Abend!«

Aber er rührte sich nicht von der Stelle und blieb unter ihr aufgepflanzt.

Sie tat, als habe sie Angst, und flehte ihn mit kleinen Grimassen an, sie nicht zu verlassen. So schauten sie einander an und lachten. Sie wies auf einen Zweig, den sie umklammert hielt, und fragte:

»Wollen Sie auch welche?«

Sein Eigentumsrespekt hatte sich seit der Zeit seiner Ausflüge mit Otto nicht sehr entwickelt: er nahm ohne Zögern an. Sie machte sich einen Spaß daraus, ihn mit Pflaumen zu bewerfen. Als er gegessen hatte, sagte sie: »Jetzt! …«

Ihm machte es ein boshaftes Vergnügen, sie zappeln zu lassen. Sie wurde auf ihrer Mauer schon ungeduldig. Schließlich sagte er:

»Also los!«

und streckte die Arme zu ihr aus.

Doch als sie schon springen wollte, besann sie sich eines Besseren:

»Halt! Wir müssen erst Vorrat sammeln!«

Sie pflückte die schönsten ihr erreichbaren Pflaumen und füllte damit ihre Bluse:

»Achtung! Daß Sie sie nicht zerdrücken!«

Er hatte fast Lust, es zu tun.

Sie neigte sich von der Mauer und sprang in seine Arme. Obgleich er recht stämmig war, bog er sich doch unter der Last und hätte sie beinahe mitgezerrt. Sie waren von gleicher Größe. Ihre Gesichter berührten sich. Er küßte ihre vom Pflaumensaft feuchten und süßen Lippen, und sie gab ihm ohne viel Umstände den Kuß zurück.

»Wo gehen Sie hin?« fragte er.

»Ich weiß nicht.«

»Sie gingen so für sich spazieren?«

»Nein, ich bin mit Freunden zusammen. Aber ich habe sie verloren … Heho!« rief sie plötzlich aus voller Kraft.

Nichts antwortete.

Weitere Maßregeln traf sie nicht, und sie machten sich aufs Geratewohl auf den Weg.

»Und Sie, wo gehen Sie denn hin?« fragte sie.

»Ich weiß es ebensowenig.«

»Sehr schön. Also gehen wir zusammen.«

Sie zog aus ihrer klaffenden Bluse Pflaumen und fing an, sie zu knabbern.

»Das wird Ihnen noch schlecht bekommen,« meinte er.

»Nie im Leben! Ich esse sie den ganzen Tag.«

Durch den Blusenverschluß sah er ihr Mieder.

»Sie sind jetzt ordentlich heiß,« sagte sie.

»Lassen Sie mal sehen!«

Sie reichte ihm lachend eine hin. Er aß sie. Sie sah ihn von der Seite an, während sie wie ein Kind an ihren Früchten lutschte. Er wußte nicht recht, wie das Abenteuer enden solle. Sie hingegen ahnte es vermutlich. Sie wartete ab.

»Heho!« schrie man aus dem Wald.

»Heho!« antwortete sie … »Ach da sind sie! Das nenne ich Glück!«

Sie dachte eigentlich, daß es eher Pech sei. Aber das Wort wurde dem Weibe nicht gegeben, damit es sage, was es denkt … Gott sei Dank! Sonst wäre keine Moral auf Erden mehr möglich …

Die Stimmen näherten sich. Ihre Freunde kamen auf den Weg heraus. Mit einem Satz übersprang sie den Straßengraben, kletterte die Böschung, die ihn begrenzte, empor und verbarg sich hinter den Bäumen. Erstaunt sah er ihr zu. Mit energischem Wink rief sie ihn zu sich. Er gehorchte, und sie schlug sich mit ihm ins Innere des Gehölzes.

»Heho!« rief sie von neuem, als sie weit genug fort waren. »Sie sollen mich ordentlich suchen!« erklärte sie Christof.

Die Leute waren auf dem Wege stehengeblieben und horchten, von wo die Stimme käme. Sie antworteten und kehrten nun ihrerseits wieder in den Wald zurück. Aber sie erwartete sie nicht. Sie belustigte sich damit, nach rechts und links die Richtung zu verändern. Die andern schrien sich die Lungen wund. Sie ließ es ruhig zu; dann begann sie in entgegengesetzter Richtung zu rufen. Schließlich wurden sie's müde, und da sie sicher waren, sie würde am ehesten kommen, wenn sie sie gar nicht suchten, riefen sie: »Gute Fahrt!« und zogen singend davon.

Sie war wütend, daß sie sich nicht mehr um sie bekümmerten. Wenn sie selbst die andern auch noch so sehr los zu werden wünschte, wollte sie doch durchaus nicht, daß diese sich so leicht damit zufrieden gäben. Christof machte ein dummes Gesicht. Dies Versteckspielen mit einem Mädchen, das er nicht kannte, machte ihm nur mäßiges Vergnügen, und es kam ihm nicht im mindesten in den Sinn ihre gemeinsame Einsamkeit auszunützen. Sie dachte ebensowenig daran: in ihrer Enttäuschung vergaß sie Christof.

»Nein, das ist zu stark,« sagte sie und schlug in die Hände, »da lassen sie mich einfach stehen!«

»Aber,« meinte Christof, »Sie selber haben es doch so gewollt.«

»Gar nicht!«

»Sie sind ihnen davongerannt.«

»Wenn ich ihnen davonrenne, so ist das meine Sache und nicht ihre; sie haben mich zu suchen. Und wenn ich mich nun verlaufen hätte? …« Sie wehklagte bereits darüber, was alles hätte geschehen können, wenn … wenn das Gegenteil von dem gewesen wäre, was war.

»O, ich werde sie schon zu fassen kriegen und es ihnen gehörig geben!« sagte sie.

Mit langen Schritten ging sie den Weg zurück.

Auf dem Marsch kam ihr Christof wieder in den Sinn, und sie sah ihn sich von neuem an. – Aber es war zu spät. Sie fing zu lachen an. Der kleine Teufel, der den Augenblick vorher in ihr gesessen hatte, war fort. Solange kein anderer kam, betrachtete sie Christof mit gleichgültigen Augen. Dann hatte sie aber auch Hunger. Ihr Magen mahnte sie, daß es Abendbrotzeit sei, und es war ihr darum zu tun, so schnell wie möglich im Restaurant mit ihren Freunden wieder zusammenzutreffen. Sie nahm Christofs Arm, stützte sich mit ihrem ganzen Gewicht darauf, ächzte und behauptete ganz erschöpft zu sein. Das hinderte sie aber nicht, Christof in vollem Laufe einen Hügelabhang mit hinabzuzerren und dabei wie eine Verrückte zu schreien und zu lachen. Sie unterhielten sich. Sie erfuhr, wer er war; sie kannte seinen Namen nicht und schien seinem Musikertitel nur eine sehr mäßige Hochachtung entgegenzubringen. Er hörte, daß sie Ladenfräulein bei einer Modistin der Kaiserstraße (der elegantesten Straße der Stadt) sei; sie hieß Adelheid – für ihre Freunde Ada. Ihre Ausflugsbegleiter waren eine ihrer Freundinnen, die im selben Hause wie sie arbeitete, und zwei sehr anständige junge Leute, ein Angestellter der Bank Weiller und ein Kommis aus einem großen Warenhaus. Sie feierten ihren Sonntag; ihre Verabredung war, im Restaurant Brochet, von wo man eine so schöne Aussicht auf den Rhein hat, Abendbrot zu essen und dann auf dem Dampfer heimzukehren.

Die Gesellschaft hatte sich schon im Gasthof niedergelassen, als sie dort eintraten. Ada vergaß nicht, ihren Freunden eine Szene zu machen, sie beschwerte sich wegen ihrer nichtswürdigen Vernachlässigung und stellte Christof als den vor, der sie gerettet habe. Die andern ließ ihr Klagelied ganz kalt; Christof aber kannten sie, der Bankbeamte dem Ruf nach, der Kommis durch ein paar Melodien, die er von ihm gehört hatte; – er hielt es für gut, sofort eine zu trällern. Der Respekt, den sie ihm zollten, machte auf Ada Eindruck, um so mehr als Myrrha, die Freundin (sie hieß in Wirklichkeit Hansi oder Johanna) sofort begann, dem Herrn Hofmusikus Avancen zu machen. Sie war eine Brünette mit blinzelnden Augen, knochiger Stirn, glatten Haaren und einem etwas grimassenhaften Chinesengesicht, das aber geistvoll und mit seinem Ziegenmäulchen, seinem öliggoldigen Teint nicht ohne Reiz war. Alle baten Christof, ihre Mahlzeit mit seiner Anwesenheit zu beehren.

Er hatte niemals solcher Feier beigewohnt; denn jeder überhäufte ihn mit Aufmerksamkeiten, und die beiden Frauen suchten als gute Freundinnen ihn eine der andern abspenstig zu machen. Beide machten ihm den Hof: Myrrha in gesellschaftlicher Art und mit gleißenden Blicken, während sie ihn unterm Tisch immer wieder mit dem Bein streifte – Ada frech, indem sie ihre schönen Augen, ihren schönen Mund spielen ließ und alle sonstigen Verführungskünste ihrer hübschen Person versuchte. Ihre etwas plumpen Koketterien waren Christof peinlich und verwirrten ihn gleichzeitig. Jedoch waren ihm die beiden kecken Mädchen eine Abwechslung gegen die unangenehmen Gesichter, die ihn daheim umgaben. Myrrha fesselte ihn; er erriet, daß sie von beiden die Klügere sei; ihre schmeichlerische Art und ihr zweideutiges Lächeln erzeugten in ihm ein Gemisch von Lockung und Widerwillen. Aber sie konnte gegen die strahlende Kraft von Leben und Lust, die von Ada ausging, nicht aufkommen, und sie wußte das. Als sie merkte, daß die Partie verloren war, bestand sie nicht weiter darauf, zog sich in sich selbst zusammen, fuhr fort zu lächeln und wartete geduldig ihren Tag ab. Als sich Ada als Siegerin des Feldes sah, suchte sie ihre Vorteile nicht weiter auszunutzen; was sie getan hatte, war mehr geschehen, um ihre Freundin zu ärgern: das war ihr gelungen und sie war befriedigt. Aber während des Spieles war sie doch selbst ins Garn gegangen. Sie sah in Christofs Augen die Leidenschaft, die sie entzündet hatte, und diese Leidenschaft flammte nun auch in ihr auf. Sie wurde still, sie hörte mit ihren gewöhnlichen Neckereien auf: schweigend sahen sie sich an; auf ihrer beider Munde lag noch der Nachgeschmack ihres Kusses. Von Zeit zu Zeit, ruckweise, beteiligten sie sich lärmend an den Scherzen der übrigen Tischgenossen; dann versanken sie wieder in ihr Schweigen und verschlangen sich mit den Augen. Zuletzt sahen sie sich nicht einmal mehr an, als fürchteten sie, sich zu verraten. In sich selbst versunken, brüteten sie über ihrem Begehren.

Als die Mahlzeit beendet war, machten sie sich zum Fortgang fertig. Sie hatten zwei Kilometer durch den Wald zurückzulegen, um zur Dampferstation zu gelangen. Ada stand als erste auf und Christof folgte ihrem Beispiel. Sie warteten auf dem Vorplatz vor dem Hause, bis die anderen fertig waren – wortlos, Seite an Seite, im dichten Nebel, den die einzig angezündete Laterne vor der Tür kaum durchdrang. Myrrha wurde vor dem Spiegel nicht fertig.

Ada faßte Christof bei der Hand und zog ihn am Haus entlang zum Garten, ins Dunkel. Unter einem Balkon, von dem ein Gehänge wilden Weines fiel, hielten sie sich verborgen. Tiefes Dunkel umgab sie. Sie sahen einander nicht einmal. Der Wind rauschte in den Baumkronen. Er fühlte den lauen Duft von Adas Fingern, die in seinen Fingern verschlungen lagen, und mit ihm den einer Heliotropblüte, die sie an der Brust trug.

Plötzlich riß sie ihn an sich; Christofs Mund drückte sich in Adas vom Nebel nasse Haare, küßte ihre Wimpern, ihre Nasenflügel, ihre festen Wangen, ihren Mundwinkel, suchte, fand die Lippen und blieb daran hängen.

Die anderen waren herausgekommen. Man rief:

»Ada! …«

Sie blieben reglos, atmeten kaum, preßten Mund und Leib aneinander.

Sie hörten Myrrha:

»Sie sind vorangegangen.«

Die Schritte ihrer Begleiter verklangen in der Nacht. Schweigend umschlangen sie sich fester und erstickten auf ihren Lippen ein leidenschaftliches Geflüster.

Eine Dorfuhr klang fern. Sie rissen sich aus ihrer Umarmung, Schnell galt es jetzt zur Abfahrtstelle laufen. Ohne ein Wort, Arme und Hände ineinander verschlungen, so machten sie sich auf den Weg und stellten den Schritt aufeinander ein, – einen kleinen Schritt, rasch und entschieden wie Ada selber. Der Weg war öde, das Land menschenleer, sie sahen nicht zehn Schritte vor sich; heiter und sicher gingen sie durch die vielgeliebte Nacht. Nicht ein einziges Mal stolperten sie über die Wegkiesel. Um die Verspätung einzuholen, nahmen sie eine Abkürzung. Aber nachdem der Fußpfad einige Zeit durch die Weinberge hinableitete, ging er in Schlangenlinien lange Zeit den Hügel wieder hinauf. Durch den Nebel vernahmen sie das Plätschern des Flusses und den vollen Schaufelschlag des ankommenden Dampfers. Sie verließen den Weg und liefen quer durch die Felder. Endlich gelangten sie zum Rheinufer, doch waren sie von der Station noch ziemlich weit entfernt. Ihre Fröhlichkeit wurde dadurch nicht beeinträchtigt. Ada hatte ihre Abendmüdigkeit vergessen. Es schien ihnen, sie könnten so die ganze Nacht hindurch über das schlafende Gras, durch den am mondweißen Fluß noch feuchteren und dichteren Nebel hindurchwandern. Die Dampfersirene pfiff, das dunkle Ungeheuer entfernte sich schwerfällig. Lachend sagten sie:

»Dann nehmen wir den nächsten.«

Ein sanftes Wellenbewegen brach sich am Ufergestade zu ihren Füßen.

An der Dampfereinschiffung hieß es:

»Der letzte ist eben fortgefahren.«

Christofs Herz klopfte. Die Hand Adas preßte ihres Begleiters Arm stärker:

»Ph!« sagte sie. »Morgen gibt's auch noch einen.«

Wenige Schritte entfernt, am Flußufer, erschien ein Lichthof im Nebel, der Schein einer über einer Terrasse an einem Pfosten aufgehängten Laterne. Ein wenig weiter ein paar erhellte Scheiben, ein kleiner Gasthof.

Sie traten in den winzigen Garten. Der Sand knirschte unter ihren Schritten. Tastend fanden sie die Treppenstufen. Als sie hereinkamen, begann man im Haus das Licht zu löschen. Ada verlangte an Christofs Arm ein Zimmer. Der Raum, in den man sie führte, schaute auf das Gärtchen. Christof beugte sich aus dem Fenster, sah den Phosphorschein des Stromes und das Laternenauge, an dessen Scheiben sich breitflügelige Mücken zerdrückten. Die Tür schloß sich hinter ihnen. Ada blieb aufrecht neben dem Bett stehen und lächelte. Er wagte nicht, sie anzuschauen. Auch sie sah ihn nicht an; aber durch die Wimpern hindurch verfolgte sie alle Bewegungen Christofs. Die Diele krachte bei jedem Schritt. Man vernahm die geringsten Geräusche im Haus. Sie ließen sich auf dem Bett nieder und umschlangen sich schweigend.

 

Das flackernde Licht im Garten ist verloschen. Alles ist verloschen … Nacht … Abgrund … Weder Licht noch Bewußtheit … Sein. Die Gewalt des Seins, dunkel und verzehrend. Die allmächtige Lust. Die zermalmende Lust. Die Lust, die das Geschöpf an sich zieht, wie die Leere den Stein. Der Strudel des Begehrens, der das Denken einsaugt. Das sinnlos rasende Gesetz der blinden und trunkenen Welten, die durch die Nacht dahinrollen …

Nacht, in der die Atemzüge sich vermengen, goldene Wärme zweier Körper, die ineinander verschmelzen, Abgründe der Betäubung, in die sie gemeinsam versinken … Nacht, die Nächte umfaßt, Stunden, die Jahrhunderte sind, Sekunden, die den Tod enthalten … Gemeinsame Träume, Worte bei geschlossenen Augen, süßes flüchtiges Berühren der nackten Füße, die einander im Halbschlaf suchen, Tränen und Lachen, wundersames Glück, sich inmitten der Leere der Dinge zu lieben, gemeinsam des Schlafes Vergessenheit zu teilen, die stürmischen Bilder, die durchs Hirn fliegen, die Visionen der rauschenden Nacht … Der Rhein schlägt in flacher Bucht zu Füßen des Hauses an, in der Ferne bilden die Brandungswellen einen kleinen Regen, der auf den Sand niederfällt. Die Dampferbrücke kracht und stöhnt unter der Wasserschwere. Die sie haltende Kette spannt und entspannt sich mit dem Geklirr alten Eisens. Die Stimme des Stromes schwillt an, sie erfüllt das Zimmer. Das Bett scheint eine Barke. Seite an Seite werden sie von der schwindelnden Strömung fortgetragen – und schweben im Leeren gleich einem gleitenden Vogel. Die Nacht wird schwärzer und die Leere leerer. Enger drücken sie sich aneinander. Ada weint, Christof verliert das Bewußtsein. Beide versinken sie in den Fluten der Nacht …

Nacht … Tod … – Warum wieder erwachen? …

Der erste Tagesschimmer streift die feuchten Scheiben. Der Schimmer des Lebens entzündet sich von neuem in den schlaffen Körpern. Er erwacht. Adas Augen schauen ihn an. Ihre Häupter liegen auf demselben Kissen. Ihre Arme sind verschlungen. Ihre Lippen berühren sich. Ein ganzes Leben zieht in wenigen Minuten vorüber: Tage in Sonne, in Größe, in Frieden …

»Wo bin ich? Bin ich zwiefach? Bin ich noch? Ich fühle mein Sein nicht mehr. Die Unendlichkeit umhüllt mich: ich habe die Seele einer Statue, mit weiten stillen Augen, erfüllt von olympischer Ruhe …«

Wieder versinken sie in Jahrhunderte von Schlaf. Und die vertrauten Morgengeräusche, die fernen Glocken, ein vorüberstreichendes Boot, zwei Ruder, denen das Wasser enttropft, die Schritte auf dem Weg, kosen ihr Traumglück, ohne es zu stören, lassen sie nur fühlen, nur auskosten, daß sie leben …

 

Der Dampfer, der vor dem Fenster schnaubte, entriß Christof seiner Betäubung. Sie hatten verabredet, um sieben Uhr fortzufahren, um rechtzeitig für ihre gewohnte Tätigkeit in die Stadt zurückzukehren. Er flüsterte:

»Hörst du?«

Sie öffnete die Augen nicht, lächelte, schob die Lippen vor, versuchte ihn zu küssen und ließ dann ihren Kopf von neuem auf Christofs Schulter zurückfallen … Durch die Fensterscheiben sah er am weißen Himmel den Dampferschornstein vorübergleiten, die leere Kommandobrücke und die Rauchstöße. Und wieder sank er in Schlaf …

Eine Stunde verstrich, ohne daß er's merkte. Als er sie schlagen hörte, fuhr er überrascht auf:

»Ada!« rief er sanft seiner Freundin ins Ohr. »Hedi!« wiederholte er. »Es ist acht Uhr.«

Mit noch immer geschlossenen Augen kräuselte sie ärgerlich Brauen und Mund.

»Ach, laß mich schlafen!« sagte sie.

Und indem sie müde seufzte, machte sie sich aus seinen Armen los, drehte ihm den Rücken und schlief auf der anderen Seite wieder ein.

Er blieb neben ihr hingestreckt. Gleiche Wärme rann durch ihrer beider Körper. Er träumte vor sich hin. Sein Blut floß in breitem ruhevollem Strom. Seine klaren Sinne erhaschten mit freier Frische die geringsten Eindrücke. Er freute sich seiner Kraft und seiner Jugend. Ohne es zu wollen, war er stolz darauf, ein Mann zu sein. Er lächelte seinem Glück zu und er fühlte sich allein: allein wie er immer gewesen war, vielleicht mehr als je, aber ohne alle Traurigkeit, in göttlicher Einsamkeit. Kein Fieber mehr, keine Gespenster. Frei konnte sich die Natur in seiner frohen Seele spiegeln. Auf dem Rücken hingestreckt, dem Fenster gegenüber, die Augen in die blendende Luft leuchtender Nebel getaucht, lächelte er:

»Welch eine Lust zu leben! …«

Leben! … Eine Barke glitt vorüber … Er dachte plötzlich an die, welche nicht mehr lebten, an eine vorübergeglittene Barke, in der sie beide zusammen saßen: er – sie … Sie? … Nicht die, welche da neben ihm schläft. Sie, die eine, die Geliebte, die arme kleine Tote. – Was will dann aber diese hier? Wie kommt sie her? Wie sind sie in dies Zimmer gekommen, in dies Bett? Er schaut sie an, er kennt sie nicht: sie ist eine Fremde; gestern Morgen war sie noch nicht für ihn vorhanden. Was weiß er von ihr? Er weiß, daß sie nicht klug ist. Er weiß, daß sie nicht gut ist. Er weiß, daß sie in diesem Augenblick mit ihrem vom Schlaf schlaffen und gedunsenen Gesicht, ihrer niederen Stirn, ihrem zum Atmen offenen Mund, ihren dicken und gespannten Lippen, die eine Karpfenschnute bilden, nichts weniger als schön ist. Er weiß, daß er sie nicht liebt. Und ein stechender Schmerz durchdringt ihn, wenn er daran denkt, daß er schon in der ersten Minute diese fremden Lippen geküßt hat, daß er in der ersten Nacht, nachdem sie sich sahen, diesen schönen gleichgültigen Leib besessen hat – und daß er jene, die er liebte, hat neben sich leben und sterben sehen und daß er niemals gewagt hat, auch nur ihre Haare zu berühren, daß er niemals den Duft ihres Wesens kennen wird. Nichts mehr. Alles ist vergangen. Die Erde hat ihm alles genommen. Nichts hat er gegen sie verteidigt …

Und während er so, über die unschuldige Schläferin geneigt, ihre Züge entzifferte und sie mit schlimmen Augen ansah, fühlte sie seinen Blick. Es war ihr beunruhigend, sich beobachtet zu wissen; sie machte eine große Anstrengung, um ihre schweren Augenlider aufzuschlagen und zu lächeln; und mit schwerer Zunge wie ein erwachendes Kind sagte sie:

»Schau mich nicht an, ich bin häßlich …«

Gleich fiel sie wieder vom Schlafe übermannt zurück, lächelte noch immer, stammelte:

»O, ich bin so … so müde! …«

und versank von neuem in ihre Träume.

Er mußte lachen; zärtlich küßte er ihren Mund und ihre kindliche Nase. Nachdem er dann noch einen Augenblick das große kleine Mädchen im Schlaf betrachtet hatte, stand er geräuschlos auf. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er fort war, und streckte sich der Länge nach quer übers leere Bett. Er nahm sich in acht, sie während des Anziehens nicht zu wecken, obgleich dafür keine Gefahr vorhanden war; und als er fertig war, setzte er sich auf den Stuhl ans Fenster und sah dem nebligen dampfenden Fluß, der Eisschollen zu treiben schien, zu; er versank in eine Träumerei, durch die eine wehmütig pastorale Musik webte.

Von Zeit zu Zeit öffnete sie halb die Augen, sah ihn verschwommen an, brauchte einige Sekunden, um ihn zu erkennen, lächelte ihm zu und sank aus einem Schlaf in den andern. Sie fragte ihn nach der Uhr.

»Dreiviertel neun.«

Sie überlegte halb im Schlaf noch.

»Was kann das wohl heißen: dreiviertel neun?«

Um halb zehn reckte sie sich und sagte, daß sie aufstehen würde. Es schlug zehn Uhr, bevor sie sich gerührt hatte. Sie ärgerte sich:

»Schlägt es schon wieder! … Ewig wird es später! …«

Er lachte und setzte sich neben sie aufs Bett. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und erzählte ihm ihre Träume. Er hörte nicht sehr aufmerksam zu und unterbrach sie mit kleinen zärtlichen Worten. Aber sie hieß ihn still sein und fing mit tiefstem Ernst von vorn an, als handle es sich um Geschichten von größter Bedeutung:

Sie war bei einem Diner: der Großherzog war auch dabei. Myrrha war ein Neufundländer … nein, ein kraushaariges Schaf, das bei Tisch bediente … Ada hatte gelernt, sich von der Erde zu erheben, in der Luft zu gehen, zu tanzen, sich hinzulegen. Das war nämlich ganz einfach: man brauchte nur so … so … zu machen, und es ging …

Christof machte sich über sie lustig. Sie lächelte ebenfalls, wenn auch ein wenig verstimmt, weil er lachte. Sie zuckte die Achseln:

»Ach! Du verstehst mich nicht! …«

Sie frühstückten an ihrem Bett, aus derselben Tasse, mit demselben Löffel.

Endlich stand sie auf; sie warf die Decken zurück, zog ihre schönen weißen Fuß hervor, ihre schönen vollen Beine und ließ sich bis an den Bettrand rollen. Dann setzte sie sich, um Atem zu schöpfen, auf und betrachtete ihre Füße. Endlich klatschte sie in die Hände und sagte, er solle hinausgehen, und da er sich nicht beeilte, nahm sie ihn bei den Schultern, schob ihn zur Tür und schloß hinter ihm ab.

Nachdem sie eine ganze Weile herumgeschlendert war, jedes ihrer schönen Glieder genau betrachtet und gedehnt hatte, beim Waschen ein sentimentales Couplet von vierzehn Strophen gesungen hatte, Christof, der ans Fenster trommelte, Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, und im Fortgehen die letzte Rose aus dem Garten gepflückt hatte – nahmen sie das Schiff. Der Nebel hatte sich noch nicht zerteilt; aber die Sonne glänzte hindurch: man schwebte mitten in milchigem Licht. Ada saß mit Christof am Hinterdeck, zog ein schläfriges Schmollgesicht und brummte, daß ihr das Licht in die Augen fiele und sie den ganzen Tag Kopfschmerzen haben würde. Und als Christof ihr Gejammer nicht ernst genug nahm, zog sie sich in verdrießliches Schweigen zurück. Ihre Augen waren nur halb offen und sie zeigte ganz den drolligen Ernst, den Kinder haben, wenn sie aufwachen. Als aber eine elegante Dame bei der nächsten Station sich nicht weit von ihr entfernt niedersetzte, wurde sie sofort munter und gab sich Mühe, mit Christof gefühlvoll und vornehm zu reden. Sie sprach ihn auch wieder zeremoniell mit »Sie« an.

Christof beunruhigte sich, was sie ihrer Arbeitgeberin sagen werde, um ihr Ausbleiben zu entschuldigen. Sie sorgte sich kaum darum:

»Pah! Das ist doch nicht das erstemal.«

»Wieso? …«

»Daß ich zu spät komme,« antwortete sie, etwas verblüfft über die Frage.

Er wagte nicht, nach der Ursache solcher Verspätungen zu fragen.

»Was wirst du ihr sagen?«

»Daß meine Mutter krank ist oder tot … was weiß ich?«

Ihn peinigte es, daß sie so leichtfertig sprach.

»Ich möchte nicht, daß du lügst.«

Sie war beleidigt:

»Erstens lüge ich niemals … Und dann, ich kann ihr doch nicht sagen …«

Er fragte, halb im Scherz, halb ernst:

»Warum nicht?«

Sie lachte, zuckte die Achseln und sagte, daß er roh und unerzogen sei und daß sie ihn im übrigen gebeten habe, sie nicht zu duzen.

»Habe ich kein Recht dazu?«

»Durchaus nicht.«

»Nach dem, was geschehen ist?«

»Gar nichts ist geschehen.«

Sie sah ihn scharf und lachend mit herausfordernder Miene an; und das Stärkste war, daß, obgleich sie scherzte, es ihr nicht viel ausgemacht hätte (das fühlte er), dasselbe ernsthaft zu sagen und es fast zu glauben. Doch plötzlich schien eine angenehme Erinnerung sie fröhlich zu stimmen; denn sie brach während sie Christof anschaute, in Lachen aus und küßte ihn geräuschvoll, ohne sich um ihre Nachbarn zu kümmern, die übrigens auch nicht im mindesten erstaunt zu sein schienen.

 

Auf allen seinen Spaziergängen war er jetzt in Gesellschaft von Ladenmädchen und Kommis, deren Gewöhnlichkeit ihm durchaus nicht behagte und die er auf dem Wege loszuwerden suchte; Ada aber war aus Widerspruchsgeist gar nicht mehr geneigt, sich in die Wälder zu verirren. Regnete es oder ging man aus irgendeinem anderen Grunde nicht aus der Stadt, so führte er sie ins Theater, ins Museum, in den Zoologischen Garten; denn es lag ihr daran, sich mit ihm zu zeigen. Sie äußerte sogar den Wunsch, daß er sie zum Gottesdienst begleite; aber er war so unsinnig aufrichtig, daß er den Fuß in keine Kirche mehr setzen wollte, seit er nicht mehr glaubte – so hatte er auch unter einem andern Vorwand seine Organistenstelle aufgegeben – und gleichzeitig war er, sich selbst unbewußt, viel zu religiös geblieben, um Adas Vorschlag nicht blasphemisch zu finden.

Abends pflegte er zu ihr zu kommen. Dort traf er gewöhnlich Myrrha, die im selben Hause wohnte. Myrrha hegte keinerlei Groll gegen ihn, sie reichte ihm weich und schmeichlerisch die Hand, plauderte von gleichgültigen oder leichtfertigen Dingen und zog sich diskret zurück. Die beiden Frauen schienen bessere Freundinnen als je zu sein, seitdem sie weniger Grund dazu hatten: immer steckten sie zusammen. Ada hatte vor Myrrha kein Geheimnis, sie erzählte ihr alles; Myrrha lauschte allem: sie schienen beide das gleiche Vergnügen daran zu finden.

Christof fühlte sich in der Gesellschaft dieser zwei Frauen nicht wohl. Ihre Freundschaft, ihre sonderbaren Gespräche, ihr freier Ton, die rohe Art, mit der Myrrha alles ansah und davon sprach (immerhin weniger in seiner Gegenwart, als wenn er nicht da war; Ada jedoch wiederholte ihm viel), ihre geschwätzige zudringliche Neugier, die sich stets um Albernheiten oder eine ziemlich niedere Sinnlichkeit drehte, diese ganze zweideutige und ein wenig animalische Atmosphäre war ihm entsetzlich unangenehm, wenn sie ihn auch interessierte, denn er kannte nichts ähnliches. Er fühlte sich ganz verloren bei der Unterhaltung dieser beiden kleinen Tiere, die Kleiderkram besprachen, Unsinn zusammenschwatzten, grundlos und abgeschmackt lachten, und deren Augen vor Vergnügen glänzten, wenn sie irgendeiner zotigen Geschichte auf der Spur waren. Ging Myrrha fort, so fühlte er sich erleichtert. Die beiden Frauen zusammen – und er war wie in einem fremden Land, dessen Sprache er nicht kannte. Unmöglich sich zu verständigen: sie hörten ihm nicht einmal zu und machten sich über den Fremdling lustig.

Befand er sich mit Ada allein, so redeten sie weiter in zwei verschiedenen Sprachen; aber sie gaben sich wenigstens Mühe, einer den anderen zu verstehen. Eigentlich wurde es ihm um so schwerer, sie zu verstehen, je mehr er sie verstand. Sie war die erste Frau, die er kennen lernte. Denn von der armen Sabine hatte er ja nichts gewußt: sie war für ihn stets ein Phantasiebild des Herzens geblieben. Ada befaßte sich damit, ihn die verlorene Zeit einholen zu lassen. Sie suchte auf ihre Weise ihm das Rätsel des Weibes zu lösen: Rätsel vielleicht nur für die, welche darin einen Sinn suchen.

Ada war ohne jede Intelligenz: das war ihr geringster Fehler. Christof hätte sich damit abgefunden, wenn sie es nur auch getan hätte. Aber obgleich sie einzig und allein von Albernheiten erfüllt war, wollte sie doch den Anschein erwecken, als verstünde sie etwas von geistigen Dingen; und sie fällte über alles in voller Überzeugung ihr Urteil. Sie redete über Musik, sie setzte Christof das, was er am besten kannte, auseinander, sie stellte unumstößliche Orakelsprüche und Vetos auf. Unnütz sie belehren zu wollen: allem gegenüber zeigte sie sich anmaßend und empfindlich, sie spielte die Spröde, war eigensinnig, eitel; sie wollte, sie konnte nichts begreifen. Warum nur gab sie das nicht zu! Wieviel mehr hätte er sie geliebt, wenn sie sich damit beschieden hätte, einfach das zu sein, was sie mit all ihren guten Eigenschaften und Fehlern war, anstatt anderen und sich selbst imponieren zu wollen!

In Wirklichkeit lag ihr am Nachdenken gar nichts. Am Essen lag ihr etwas, am Trinken, Singen, Tanzen, Schreien, Lachen und Schlafen; glücklich wollte sie sein; und es wäre schon ausgezeichnet gewesen, wenn sie das fertiggebracht hätte. Aber obgleich sie dafür begabt war: genäschig, faul, sinnlich, voller naivem Egoismus, der Christof gleichzeitig empörte und belustigte, kurz, obgleich sie ungefähr alle Untugenden besaß, die das Leben ihren glücklichen Besitzern angenehm gestalten, wenn auch nicht gerade ihren Freunden – und selbst diesen! denn ein glückliches Gesicht strahlt, wenigstens wenn es hübsch ist, auch Glück auf alle, die ihm nahekommen! – also trotz so vieler Gründe, um mit ihrem Dasein und sich zufrieden zu sein, war Ada nicht einmal dazu intelligent genug. Dieses schöne, kräftige Mädchen, frisch, fröhlich und gesund aussehend, voller überquellender Heiterkeit und ungeheurem Appetit, machte sich über ihre Gesundheit Sorge. Wenn sie dabei war, für vier zu essen, stöhnte sie über ihre Hinfälligkeit. Über alles klagte sie: nicht mehr vorwärtsschleppen konnte sie sich, keine Luft mehr bekommen; sie hatte Kopfweh, Fuß-, Augen-, Magen- und Seelenschmerzen. Vor allem hatte sie Angst, war unsinnig abergläubisch und sah überall Zeichen: bei Tisch gekreuzte Gabeln oder Messer, die Zahl der Tafelnden, das umgeworfene Salzfaß: mit einer ganzen Reihe von Zeremonien mußte man darauf das drohende Unheil abwenden. Auf Spaziergängen zählte sie die Raben und unterließ nie darauf zu achten, nach welcher Seite sie flogen. Ängstlich spähte sie auf den Weg zu ihren Füßen und jammerte, wenn sie Vormittags eine Spinne darüberkriechen sah: sie wollte dann umkehren und es gab kein anderes Mittel, den Spaziergang fortzusetzen, als sie zu überzeugen, daß es zwölf Uhr vorüber sei, und sich also die Wahrsagung aus Sorge in Hoffnung gewandelt hätte. Sie hatte Furcht vor ihren Träumen: lang und breit erzählte sie sie Christof; stundenlang suchte sie sich an eine Einzelheit zu erinnern, falls sie sie vergessen hatte; nichts schenkte sie Christof von der Fülle der Ungereimtheiten, in denen von seltsamen Hochzeiten die Rede war, von Toten, von Schneiderinnen, von Prinzen, von lächerlich-wichtigen und manchmal unanständigen Dingen. Er mußte zuhören, mußte seine Ansicht äußern. Manchmal blieb sie ganze Tage lang unter dem Eindruck solcher törichter Bilder. Sie fand es im Leben schlecht eingerichtet, sah Menschen und Dinge scheel an und brachte Christof mit ihren Klagelitaneien zur Verzweiflung; es hätte sich wirklich nicht gelohnt, seine griesgrämigen Kleinbürger zu verlassen, um auch hier den ewigen Feind wiederzufinden: den »traurigen, ungriechischen Hypochonder«.

Mitten aber in ihren schmollenden Brummereien überfiel sie plötzlich wieder lärmende, übertriebene Lustigkeit. Dagegen war ebensowenig etwas zu machen wie gegen die vorherige Übelgelauntheit. Nun gab es Lachausbrüche, die in ihrer Grundlosigkeit drohten kein Ende nehmen zu wollen, wilde Läufe quer über Felder, Tollheiten, Kinderspiele, Vergnügen an allen möglichen Dummheiten, wie Erde, Schmutz, Tiere, Spinnen, Ameisen, Würmer anzupacken und abzutasten, sie zu necken, ihnen weh zu tun, einen vom andern auffressen zu lassen, die Vögel von den Katzen, die Würmer von den Hühnern, die Spinnen von den Ameisen – alles ohne Bösartigkeit oder aus einem ganz unbewußt schlechten Instinkt heraus, aus Neugier, aus Langeweile. Ein unermüdlicher Drang steckte in ihr, Albernheiten zu sagen, fünfzigmal Wörter zu wiederholen, die keinen Sinn hatten, zu necken, zu ärgern, zu quälen, außer sich zu bringen. Und dann ihre Koketterien, sowie jemand – ganz gleich wer – vorbeiging! … Gleich sprach sie lebhafter, lachte, vollführte Lärm, schnitt Grimassen, machte sich bemerkbar; sie schlug einen künstlichen, stolzierenden Schritt an. Christof war voller Schrecken darauf gefaßt, daß sie anfangen würde, ernsthaft zu reden. Und wirklich, da ging es schon los. Sie wurde sentimental, und zwar, wie alles übrige, ohne jedes Maß; Herzensergüsse mit Getöse. Christof litt, und er hätte sie schlagen mögen. Nichts aber verzieh er ihr weniger als ihre Unaufrichtigkeit. Er wußte noch nicht, daß Aufrichtigkeit eine ebenso seltene Gabe wie Verstand oder Schönheit ist, und daß man sie gerechterweise nicht von allen verlangen kann. Er konnte Lügen nicht vertragen, und Ada schenkte ihm davon kein geringes Maß voll. Sie log beständig, seelenruhig, den Gegenbeweisen ins Gesicht. Sie besaß eine erstaunliche Leichtigkeit, was ihr nicht gefiel, zu vergessen – oder selbst das, was ihr gefallen hatte – wie Frauen, die im Augenblick leben, es eben machen.

Und trotz allem liebten sie sich, liebten sich von ganzem Herzen. In ihrer Liebe war Ada ebenso aufrichtig wie Christof. Beruhte sie auch nicht auf geistiger Sympathie, so war diese Liebe doch darum nicht weniger Tatsache; sie hatte nichts mit niederer Leidenschaft gemein. Sie war eine schöne Jugendliebe, die, so sinnlich sie war, doch nichts Rohes hatte, denn alles in ihr war jung; sie war naiv, fast keusch und in der lodernden Unbewußtheit des Genießens rein. Obgleich Ada lange nicht so unschuldig wie Christof war, besaß sie doch noch den göttlichen Vorzug eines aufblühenden Körpers und Herzens, jene quellgleich durchsichtige und lebendige Sinnenfrische, die fast den Eindruck von Reinheit macht und die durch nichts ersetzt werden kann. Eigennützig, kleinlich, unaufrichtig im gewöhnlichen Leben, wie sie war – die Liebe machte sie schlicht, wahr und fast gut; sie lernte die Freude begreifen, die man darin finden kann, sich um eines andern willen zu vergessen. Christof sah das mit Entzücken; er hätte für sie sterben können. Wer ahnt, wieviel lächerliche und rührende Illusion eine liebende Seele in ihre Liebe hineinträumt! Und des Verliebten natürliche Einbildungskraft war bei Christof durch die dem Künstler angeborene Phantasie noch verhundertfacht. Ein Lächeln Adas hatte für ihn tiefste Bedeutung; ein zärtliches Wort war ein Beweis ihrer Herzensgüte. Alles Beste und Schönste des Weltalls liebte er in ihr. Er nannte sie sein Ich, seine Seele, sein Sein. Sie weinten zusammen vor Liebe.

Es war nicht nur Genuß, der sie aneinander band. Undeutbare Poesie aus Erinnerungen und Träumen gewoben war es – ihren eigenen Träumen? oder denen der Wesen, die vor ihnen sich geliebt hatten, die vor ihnen waren – in ihnen? Ohne es sich zu sagen, ohne vielleicht es zu wissen, bewahrten sie in sich den Zauber der ersten Minuten, in denen sie sich im Walde begegnet waren, der ersten Tage, der ersten gemeinsam verbrachten Nächte, des Schlafes, als sie einer im Arm des andern reglos, gedankenlos, in einem Strudel von Liebe und schweigender Wollust ertranken. Ein plötzliches Wiederaufleben, Bilder, dumpfe Gedanken, deren Vorbeistreichen sie vor Wonne heimlich erbleichen und hinschmelzen ließ, umgaben sie wie Bienengesumm. Glühendes und zärtliches Licht … Von allzu schwerer Süße übermannt, ergibt sich das Herz und schweigt. Stille, Fieberschmachten, geheimnisvoll mattes Lächeln der Erde, die unter den ersten Frühlingssonnen schauert … Junge Liebe in zwei jungen Leibern ist ein Aprilmorgen. Wie April vergeht sie. Die Jugend des Herzens bleicht wie Farbe an der Sonne.

 

Nichts war mehr geeignet, Christofs Liebe für Ada zu befestigen als die Art, in der die andern sie beurteilten.

Vom Morgen nach ihrer ersten Begegnung an war die ganze Stadt auf dem Laufenden. Ada tat nichts, um das Abenteuer geheimzuhalten, es lag ihr vielmehr daran, sich ihrer Eroberung zu rühmen. Christof wäre etwas mehr Zurückhaltung lieber gewesen. Er sah sich von der Neugier der Leute verfolgt; doch da er sich nicht den Anschein geben wollte, als fliehe er sie, zeigte er sich erst recht mit Ada. Die kleine Stadt war ein Klatschnest. Christofs Kollegen machten ihm bald gutmütig spöttische Komplimente, auf die er nichts erwiderte, da er es durchaus nicht liebte, daß man sich in seine Angelegenheiten mischte. Im Schloß wurde sein Mangel an Selbstachtung getadelt. Die bürgerliche Gesellschaft verdammte seine Lebensführung streng. In gewissen Familien verlor er seine Stunden. In anderen hielten sich die Mütter von nun an verpflichtet, mit mißtrauischer Miene den Übungen ihrer Töchter beizuwohnen, als habe Christof die Absicht, die kostbaren Wesen zu entführen. Den jungen Damen war vollkommene Ahnungslosigkeit vorgeschrieben. Natürlich wußten sie alles. Und wenn sie Christof auch wegen seiner Geschmacksverirrung sehr kalt behandelten, starben sie doch vor Neugierde, mehr Einzelheiten zu erfahren. Nur in der kleinen Kaufmannschaft und bei den Ladenangestellten war Christof beliebt; doch er blieb es nicht lange: er wurde durch den Beifall der einen ebenso gereizt wie durch den Tadel der andern; und da er gegen die Mißbilligung nichts ausrichten konnte, tat er wenigstens alles, um den Beifall abzuschütteln: das war nicht besonders schwierig. Er war über die allgemeine Zudringlichkeit empört.

Die am meisten gegen ihn Aufgebrachten waren Justus Euler und die Familie Vogel. Christofs ungehöriges Betragen schien ihnen eine persönliche Beleidigung. Sie hatten dabei in betreff seiner Person keinerlei ernsthafte Pläne geschmiedet: denn diese Art Künstlernaturen waren ihnen – besonders Frau Vogel – doch etwas mißtrauenerweckend. Da sie aber von Natur trübsinnig und immer zu glauben bereit waren, daß sie vom Schicksal verfolgt seien, redeten sie sich von dem Augenblick an, da sie sicher waren, es würde aus der Verheiratung Rosas mit Christof nichts werden, ein, es läge ihnen etwas daran: sie sahen in diesem Vorfall einen Beweis ihres gewöhnlichen Pechs. Logischerweise hätte nun, wenn das Schicksal für ihren Fehlgriff verantwortlich war, Christof es nicht sein können; aber die Logik der Vogels zog immer die Schlußfolgerung, die ihnen die reichlichsten Gründe zum Klagen gab. Sie urteilten daher, daß, wenn Christof sich schlecht aufführte, es nicht nur zu seinem Vergnügen geschehe, sondern um sie zu beleidigen. Im übrigen waren sie aber auch ohnedies entrüstet. Religiös, moralisch, voller Familientugenden, wie sie waren, gehörten sie zu denen, für die die Sünde des Fleisches die schmachvollste von allen ist, die schwerste, ja fast die einzige, da sie die einzig zu fürchtende ist – denn es ist ja selbstverständlich, daß wohlerzogene Menschen niemals in die Versuchung zu stehlen oder zu töten kommen. So schien ihnen denn auch Christof von Grund aus verdorben, und sie änderten ihm gegenüber den Ton. Sie zeigten ihm eisige Mienen und wandten sich ab, wenn er vorüberging. Da Christof nicht das geringste an ihrer Unterhaltung lag, zuckte er über alle diese Zierereien die Achseln. Er tat, als fühle er Amaliens Unverschämtheit nicht, die, obgleich sie ihn voller Verachtung zu umgehen schien, alles versuchte, um ihn zu einem Angriff zu reizen, damit sie, was sie auf dem Herzen hatte, loswerden konnte.

Nur Rosas Haltung rührte Christof. Die Kleine verdammte ihn härter als alle die Ihren. Nicht etwa, weil diese neue Liebe Christofs ihr die letzten Möglichkeiten, von ihm geliebt zu werden, zu zerstören schien: sie wußte, daß alle verloren waren – wenn sie vielleicht auch weiter hoffte … sie hoffte ewig! Aber sie hatte sich aus Christof ein Götterbild gemacht; und dies Götterbild stürzte zusammen. Das war ihrem unschuldigen, redlichen Herzen ein schlimmerer Schmerz, ja, ein grausamerer, als selbst der, von ihm verschmäht und vergessen zu werden. Puritanisch streng erzogen, glaubte sie leidenschaftlich an die enge Moralität, in der sie aufgewachsen war, und was sie von Christof hörte, betrübte sie nicht nur aufs tiefste, es widerte sie auch an. Sie hatte schon darunter gelitten, daß er Sabine liebte, und einige der Illusionen über ihren Helden waren ihr bereits verlorengegangen. Daß Christof eine so minderwertige Seele lieben konnte, schien ihr unbegreiflich und wenig rühmlich. Aber diese Liebe war wenigstens rein und Sabine war ihrer nicht unwürdig gewesen. Und schließlich war der Tod darüber hinweggegangen und hatte alles geheiligt … Aber daß Christof gleich darauf eine andere liebte – und was für eine andere! – das war niedrig, das war gemein! Sie kam fast dazu, die Tote gegen ihn zu verteidigen. Sie verzieh ihm nicht, daß er sie so schnell vergessen konnte. Ach! – er dachte ihrer öfter als sie; aber sie ahnte nicht, daß ein heißes Herz Platz für zwei Gefühle auf einmal haben kann. Sie glaubte, man sei der Vergangenheit nur treu, wenn man die Gegenwart opfere. Rein und kühl wie sie war, hatte sie weder vom Leben noch von Christof eine Ahnung; alles, meinte sie, müsse rein, eng begrenzt und wie sie der Pflicht unterworfen sein. Sie war in ihrer Seele und in ihrer ganzen Person so anspruchslos, daß sie nur einen Stolz kannte: den auf ihre Reinheit. Die forderte sie von sich wie von anderen. Daß Christof sich so erniedrigt hatte, verzieh sie ihm nicht und wollte es ihm nie verzeihen.

Christof versuchte mit ihr zu reden, wenn auch nicht gerade ihr Aufklärungen zu geben. – Was hätte er ihr sagen sollen? Was hätte er einem kleinen, puritanischen und naiven Mädchen, wie sie eins war, sagen können? – Aber er hätte ihr gern versichert, daß er ihr Freund sei, daß ihm an ihrer Achtung liege und daß er noch ein Recht darauf habe. Er wollte verhindern, daß sie sich töricht von ihm fern hielt. – Rosa aber floh ihn in strengem Schweigen, und er fühlte, daß sie ihn verachtete.

Das bereitete ihm Kummer und Zorn. Er war sich bewußt, daß er solche Verachtung nicht verdiente, und doch wurde er dadurch schließlich selbst aus der Fassung gebracht: er hielt sich für schlecht. Er machte sich selber die bittersten Vorwürfe, wenn er an Sabine dachte. Er marterte sich:

»Mein Gott! wie ist es nur möglich? Wie bin ich denn? …« Aber er konnte dem Strom, der ihn mitriß, nicht widerstehen. Er dachte, das Leben sei verbrecherisch; und er schloß die Augen, um es nicht zu sehen, um zu leben. Er hatte ein solches Bedürfnis zu leben, glücklich zu sein, zu lieben, zu glauben! … Nein, in seiner Liebe war nichts Verächtliches! Er wußte, er sei vielleicht nicht weise, nicht klug, vielleicht nicht einmal sehr glücklich, wenn er Ada liebte; was aber war dabei Häßliches? Angenommen – er bemühte sich, daran zu zweifeln – daß Ada keinen sehr hohen sittlichen Wert besaß, wieso war seine Liebe zu ihr dadurch weniger rein? Die Liebe lebt in dem, der liebt, nicht in dem, der geliebt wird. Die Liebe ist gerade so viel wert als der Liebende. Alles ist rein bei den Reinen. Alles ist rein bei den Starken und Gesunden. Die Liebe, die gewisse Vögel mit ihren schönsten Farben schmückt, hebt aus den wahrhaftigen Herzen alles, was in ihnen Edelstes lebt, empor. Der Wunsch, den anderen nichts anderes sehen zu lassen, als was seiner wert ist, läßt nur an solchem Denken und Tun sich freuen, das mit dem schönen Bild, welches die Liebe schuf, in Einklang ist. Und der Jungbrunnen, in den die Seele niedertaucht, das heilige Strahlenfeuer der Kraft und Freude sind schön und wohltätig und machen das Herz größer.

Daß seine Freunde ihn verkannten, erbitterte ihn. Das Schlimmste aber war, daß seine eigene Mutter sich seinetwegen Sorgen zu machen begann.

Die gute Frau teilte längst nicht die Beschränktheit der Vogelschen Anschauungen. Wahre Trübsal war ihr zu nahe gekommen, als daß sie andere zu erfinden trachtete. Sie war viel zu demütig und vom Leben zerbrochen, hatte zu wenig Freuden von ihm empfangen und noch weniger verlangt, war allem Kommenden gegenüber zu ergeben und versuchte zu wenig es zu begreifen, um sich nicht davor zu hüten, andere zu begutachten und zu verurteilen: sie meinte dazu kein Recht zu haben. Sie hielt sich für zu dumm, um zu behaupten, andere hätten Unrecht, weil sie anders als sie dachten; es wäre ihr lächerlich erschienen, den Leuten aus ihrer eigenen Moral und ihrem Glauben heraus unbeugsame Gesetze aufzwingen zu wollen. Übrigens waren ihre Moral und ihr Glaube durchaus instinkthaft. Sie selbst war fromm und rein und schloß mit volkstümlicher Nachsicht vor gewissen Fehlern und Schwächen der Anderen die Augen. Ihr Schwiegervater, Hans Michel, hatte ihr das früher zum Vorwurf gemacht: sie unterschied nicht genug zwischen anständigen Leuten und denen, die es nicht waren; es machte ihr nichts aus, auf der Straße oder auf dem Markt stehenzubleiben, um einem in der Gegend nur allzubekannten gefälligen Mädchen die Hand zu drücken und freundschaftlich mit ihr zu reden, anstatt sie, wie andere wohlanständige Frauen es taten, zu übersehen. Sie stellte es Gott anheim, Gutes vom Bösen zu unterscheiden, zu strafen und zu vergeben. Sie erwartete von anderen nur etwas freundliches Entgegenkommen, was ja so notwendig ist, um sich gegenseitig das Leben zu erleichtern. Wenn man nur gut war – das hielt sie für die Hauptsache.

Jedoch seit sie bei den Vogels wohnte, war man im besten Zuge, sie zu ändern. Der verleumderische Geist der Familie hatte aus ihr um so leichter seine Beute gemacht, als sie in jener Zeit zu niedergeschlagen und kraftlos war, um ihm widerstehen zu können. Amalie hatte sich ihrer bemächtigt; und während des langen Zusammenseins bei gemeinsamer Arbeit und Unterhaltung hatte die widerstandslose und niedergedrückte Luise sich ganz unbewußt angewöhnt, alles abzuurteilen und zu kritisieren. Frau Vogel verhehlte ihr durchaus nicht, was sie über Christofs Aufführung dachte. Luises Ruhe reizte sie. Sie fand es schamlos, daß Luise sich mit dem, was sie alle außer sich brachte, so wenig abgab, und sie war nicht eher zufrieden, als bis sie es fertiggebracht hatte, Luise vollständig aufzustören. Christof merkte es. Luise wagte ihm keine Vorwürfe zu machen; aber tagtäglich plagte sie ihn mit schüchternen, besorgten, hartnäckigen Bemerkungen; wenn er, ungeduldig geworden, darauf dann heftig antwortete, sagte sie wohl nichts mehr; aber er las unablässig den Kummer in ihren Augen; und kam er heim, sah er manchmal, daß sie geweint hatte. Er kannte seine Mutter zu gut, um nicht sicher zu sein, daß ihre Sorgen nicht aus ihr selbst kamen. Und er wußte, wo sie ihren Ursprung nahmen.

Er beschloß, ein Ende damit zu machen. Eines Abends, als Luise ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte und mitten im Abendbrot vom Tisch aufgestanden war, ohne daß Christof herausbringen konnte, was sie so betrübte, raste er die Treppe hinunter und klopfte bei den Vogels an. Er kochte vor Zorn. Es war nicht allein die Art und Weise, in der sich Frau Vogel gegen seine Mutter benahm, die ihn empörte; er wollte ihnen das, was sie Rosa eingeblasen hatten, heimzahlen, ihre Zänkereien gegen Sabine, kurz alles, was er seit Monaten hatte erdulden müssen. Seit Monaten schleppte er eine Last angehäuften Grolls mit sich herum, die er jetzt schleunig los werden wollte.

Er brach bei Frau Vogel ein und fragte mit einer Stimme, die zwar ruhig sein wollte, aber vor Wut zitterte, was sie wohl um alles in der Welt seiner Mutter erzählt haben möge, um diese in einen derartigen Zustand zu bringen.

Amalie nahm das sehr übel auf: sie antwortete, daß sie sage, was ihr beliebe, daß sie niemand über ihr Betragen Rechenschaft zu geben habe – ihm am allerwenigsten. Und da sie sich längst eine Rede zurechtgelegt hatte, ergriff sie die Gelegenheit und fügte hinzu, daß er für Luisens Unglück keinen anderen Grund zu suchen brauche als seine eigene Lebensführung, die für ihn eine Schande und für alle ein Ärgernis sei.

Christof wartete nur auf den Angriff, um vorzugehen. Er schrie voller Erregung, daß seine Lebensführung nur ihn etwas angehe, daß es ihm höchst gleichgültig sei, ob sie Frau Vogel gefiele oder nicht gefiele, daß, wenn sie Lust habe, sich darüber zu beschweren, sie sich ihm gegenüber beschweren solle, und daß sie ihm alles sagen könne, was ihr nur in den Sinn käme: das wäre für ihn dasselbe, als wenn es regnete, aber daß er ihr verbiete – sie verstände wohl – daß er ihr verbiete, irgend etwas darüber zu seiner Mutter zu sagen, und daß es eine Schändlichkeit sei, sich an eine arme alte kranke Frau damit heranzuwagen.

Frau Vogel schrie Zeter und Mordio. Nie hatte jemand gewagt, in solchem Ton mit ihr zu sprechen. Sie sagte, daß sie sich von einem liederlichen Kerl nicht schulmeistern ließe – und dazu in ihrem eigenen Hause – und sie behandelte ihn in schimpflicher Weise.

Der lärmende Auftritt rief die anderen herbei – außer Vogel, der alles floh, was seiner Gesundheit schaden konnte. Der alte Euler aber, der von der entrüsteten Amalie zum Zeugen genommen wurde, ersuchte Christof streng, sie in Zukunft mit seinen Bemerkungen und seinen Besuchen zu verschonen. Er sagte, sie hätten ihn nicht nötig, um zu wissen, was sie tun sollten, sie erfüllten ihre Pflicht und so würden sie es immer halten.

Christof erklärte, daß er ginge und nicht mehr den Fuß in ihr Haus setzen werde. Jedoch machte er das nicht eher wahr, als bis er sich alles, was er in betreff dieser berühmten Pflicht, die ihm ein persönlicher Feind geworden war, vom Herzen geredet hatte. Er sagte, daß diese Pflicht dazu imstande sei, ihn das Laster lieben zu lehren. Leute ihres Schlages wären es, die durch ihr Bemühen, das Gute so trübselig wie möglich zu machen, davon abschreckten. Sie wären daran schuld, wenn man sich den Gegensatz suchte und sich von denen, die niedriger ständen, aber liebenswürdig und fröhlich seien, angezogen fühlte. Es hieße den Namen der Pflicht entheiligen, wenn man ihn überall, bei den albernsten Arbeiten, dem gleichgültigsten Tun anwende, und dazu mit so unbeugsamer, hochmütiger Härte, daß er schließlich das Leben verfinstern und vergiften müsse. Pflicht sei etwas Außergewöhnliches: man solle sie für die Augenblicke aufbewahren, die wirkliche Opfer heischen, und mit ihrem Namen nicht die eigene schlechte Laune und den Wunsch, andere zu ärgern, bedecken. Es läge kein Grund vor, weil die eigene Dummheit oder das eigene Ungeschick einen griesgrämig stimme, das auch von allen anderen zu verlangen und allen seine Krankendiät aufzuzwingen. Die höchste aller Tugenden sei die Freude. Und die Tugend müsse ein glückliches, freies, zwangloses Gesicht zeigen. Wer Gutes tue, müsse sich selbst eine Freude damit bereiten. Diese unaufhörlich vorgeschobene Pflicht aber, diese Schulmeistertyrannei, dieser keifende Ton, diese überflüssigen Streitereien, diese säuerliche und kindische Krittelei, dieser Lärm, dieses Fehlen jeder Anmut, dieses allen Reizes, aller Höflichkeit und aller Stille beraubte Leben, dieser armselige Pessimismus, der nichts übersieht, was das Dasein trauriger gestalten könnte, als es ist, diese hochmütige Dummheit, der es leichter fällt, die anderen zu verachten als sie zu verstehen, diese ganze bürgerliche Moral ohne Größe, ohne Glück, ohne Schönheit sei widerlich und schädlich: sie lasse das Laster menschlicher erscheinen als die Tugend.

So dachte Christof; und in seinem Verlangen, dort wo er gekränkt war, auch zu verletzen, merkte er nicht, daß er ebenso ungerecht war wie die, von denen er sprach.

Gewiß waren die armen Leute ungefähr so, wie er sie sah. Aber es war nicht ihre Schuld: das freudlose Leben hatte ihre Gesichter, ihre Gebärden, ihre Gedanken freudlos gemacht. Sie waren durch das Unglück entstellt worden, nicht durch das große Unglück, das mit einem Schlage niedersaust und tötet oder den Menschen schmiedet, sondern durch das beständig wiederkehrende Mißgeschick, das kleine Elend, das vom ersten bis zum letzten Tage, tropfenweise immer das gleiche bleibt … Unsagbarer Jammer! Denn wieviel Schätze liegen unter so runzeligen Hüllen verborgen: Rechtlichkeit, Güte, schweigendes Heldentum! … Eines Volkes ganze Kraft, der Zukunft ganzer Saft.

 

Christof hatte mit dem Glauben, daß die Pflicht Ausnahme ist, nicht unrecht. Doch die Liebe ist es ebensosehr. Alles ist Ausnahme. Alles was etwas taugt, hat seinen schlimmsten Feind – nicht etwa im Bösen (die Laster haben ihren Wert) – aber im Alltäglichen. Der tödliche Feind der Seele ist die Abnutzung der Tage.

Ada fing an, ihrer Liebe überdrüssig zu werden. Sie war nicht intelligent genug, um ihr in einer überströmenden Natur, wie die Christofs, eine immer neue Wiedergeburt zu bereiten. Ihre Sinne und Eitelkeit hatten aus dieser Neigung alle ihr auffindbare Lust gezogen; es blieb nur noch die der Zerstörung. Sie war vom heimlichen Instinkt dazu besessen, der so vielen, selbst guten Frauen, so vielen, selbst intelligenten Männern eigen ist, die nicht irgend etwas schaffen, seien es Werke, Kinder oder Taten, kurz: Leben – und die dabei zu viel Leben in sich bergen, um apathisch und verzichtend ihre Überflüssigkeit zu ertragen. Sie möchten, daß die anderen unnütz wie sie werden, und sie arbeiten daran nach besten Kräften. Manchmal geschieht es wider Willen, und sie stoßen, wenn sie sich ihres verbrecherischen Wunsches bewußt werden, diesen voller Entrüstung von sich. Oft aber hätscheln sie ihn auch; und sie mühen sich je nach ihren Kräften – die einen bescheiden im engen Kreise, die anderen ganz im großen, an weiten Volksschichten – alles was lebt, was leben möchte und zu leben verdient, zu zerstören. Der Kritiker, der große Menschen und große Gedanken hartnäckig zur eigenen Kleinheit erniedrigen möchte, und das Mädchen, der es Vergnügen macht, ihre Liebhaber zu entwürdigen, sind zwei schädliche Raubtiere desselben Schlages. – Doch das zweite ist liebenswürdiger.

Ada hätte also Christof gern ein wenig verdorben, um ihn zu demütigen. Im Grunde gehörte sie nicht zu den Starken. Sie hätte selbst zur verderbenden Verführerin mehr Verstand gebraucht. Sie fühlte es, und es war nicht der kleinste Teil ihres heimlich gegen Christof gehegten Grolles, daß ihre Liebe ihm so gar nichts anhaben konnte. Sie gestand sich den Wunsch dazu nicht ein. Sie hätte vielleicht nichts gegen ihn versucht, wenn sie die Macht dazu gehabt hätte. Aber sie fand es unverschämt, so gar nichts ausrichten zu können. Einer Frau die Illusion ihrer Macht zum Guten oder Bösen über den von ihr Geliebten nicht lassen, heißt sie nicht zu lieben verstehen; es heißt auch, sie unwiderstehlich dahin treiben, den Beweis dieser Macht erbringen zu wollen. Christof gab darauf nicht acht. Als Ada ihn spielerisch fragte: »Würdest du wohl deine Musik für mich aufgeben?« (obgleich ihr daran gar nichts gelegen war), antwortete er freimütig:

»Oh! dazu, Kleine, bringst weder du mich noch irgend jemand. Musik werde ich immer machen.«

»Und du behauptest mich zu lieben?« rief sie verärgert.

Sie haßte diese Musik – um so mehr, als sie nichts davon verstand und es ihr nicht möglich war, den Angriffspunkt zu finden, von dem aus sie den unsichtbaren Feind treffen und Christof in seiner Leidenschaft verwunden konnte. Wenn sie verächtlich davon zu sprechen versuchte oder Christofs Kompositionen aburteilen wollte, brach er in helles Gelächter aus; und obgleich sie darüber außer sich geriet, zog sie es vor, zu schweigen; denn sie fühlte, daß sie sich lächerlich machte.

Wenn aber von dieser Seite nichts zu machen war, so hatte sie dafür bei Christof eine andere schwache Stelle entdeckt, wo ihr der Angriff leichter wurde: es war sein sittliches Bewußtsein. Trotz seines Zerwürfnisses mit den Vogels, trotz seiner Jugendtrunkenheit hatte sich Christof ein instinktives Schamgefühl, ein Bedürfnis nach Reinheit bewahrt, dessen er sich selbst nicht bewußt war, das aber einer Frau wie Ada zunächst auffallen, sie anziehen und bezaubern, ihr dann Spaß machen, sie bald mit Ungeduld erfüllen und sie schließlich bis zum Haß reizen mußte. Sie stellte sich ihm nicht offen entgegen. Hinterlistig fragte sie:

»Liebst du mich?«

»Allerdings!«

»Wie sehr liebst du mich?«

»So sehr man nur lieben kann.«

»Das ist nicht viel … Na meinetwegen! … Was könntest du für mich tun?«

»Alles, was du verlangen würdest.«

»Würdest du eine Schlechtigkeit begehen?«

»Sonderbare Art von Liebe!«

»Darum handelt es sich nicht. Könntest du sie begehen?«

»Das wird niemals notwendig sein.«

»Aber wenn ich es nun wollte?«

»Du tätest nicht recht daran.«

»Vielleicht nicht … Würdest du´s tun?«

Er wollte sie küssen. Aber sie stieß ihn zurück.

»Würdest du's tun, ja oder nein?«

»Nein, mein Kleines.«

Sie wandte ihm wütend den Rücken.

»Du liebst nicht, du weißt gar nicht, was lieben heißt.«

»Das kann wohl sein,« meinte er gutlaunig.

Er wußte sehr wohl, daß er so gut wie jeder andere im Augenblick der Leidenschaft fähig war, eine Dummheit zu begehen, vielleicht auch eine Schlechtigkeit und – wer weiß? vielleicht mehr. Aber er hätte es schändlich gefunden, sich dessen kalt zu rühmen und gefährlich, es Ada einzugestehen. Ein Instinkt warnte ihn, daß die liebe Feindin auf der Lauer lag und jedes geringste Versprechen zu Protokoll nahm: er wollte ihr kein Material gegen sich in die Hände geben.

Ein andermal versuchte sie es von einer neuen Seite; sie fragte ihn:

»Liebst du mich aus freien Stücken oder weil ich dich liebe?«

»Aus freien Stücken.«

»Also würdest du mich auch lieben, wenn ich dich nicht mehr liebte?«

»Ja.«

»Und wenn ich einen anderen liebte, würdest du mich dann weiter lieben?«

»O dann – das weiß ich nicht. – Ich glaube nicht … In jedem Fall wärst du das letzte Wesen, dem ich es sagen würde.«

»Was würde sich denn dadurch ändern?«

»Sehr vieles. Ich vielleicht. Du ganz sicher.«

»Was macht denn das, wenn ich mich verändere?«

»Alles. Ich liebe dich wie du bist. Würdest du eine andere werden, bürge ich nicht dafür, dich dann noch zu lieben.«

»Du liebst überhaupt nicht, ich sage es ja! Was sollen diese Spitzfindigkeiten? Man liebt oder man liebt nicht. Wenn du mich liebst, so mußt du mich so, wie ich bin, lieben, immer und ewig und was ich auch tue –«

»Das hieße dich wie ein Tier lieben.«

»So will ich gerade geliebt sein.«

»Dann hast du dich leider in mir getäuscht,« meinte er scherzend, »ich bin nicht der, den du suchst. Wenn ich es auch wollte, könnte ich es nicht. Und ich will es auch nicht.«

»Du bist auf deinen Verstand auch noch stolz! Du liebst deinen Verstand eben mehr als mich.«

»Aber ich liebe ja nur dich, Undankbare, mehr als du selber dich liebst. Und je schöner und besser du bist, um so mehr liebe ich dich.«

»Du bist ein Schulmeister,« sagte sie voller Ärger.

»Was ist dagegen zu machen? Ich liebe, was schön ist. Häßliches widert mich an.«

»Sogar bei mir.«

»Besonders bei dir.«

Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf:

»Ich will nicht abgeschätzt werden.«

»Beklage dich also, weil ich dich abschätze und dich liebe,« sagte er zärtlich, um sie zu beruhigen.

Sie ließ sich von ihm in die Arme nehmen und war sogar gnädig genug, zu lächeln und sich von ihm küssen zu lassen. Einen Augenblick später aber, als er meinte, sie habe alles vergessen, fragte sie beunruhigt:

»Was findest du an mir Häßliches?«

Er hütete sich wohl, es zu sagen, und antwortete feige:

»Ich kann nichts Häßliches finden.«

Sie dachte einen Augenblick nach, lächelte und sagte:

»Hör mal zu, Christli, du sagst, du magst keine Lügen.«

»Ich verachte sie.«

»Du hast ganz recht,« meinte sie. »Ich verachte sie auch. Übrigens bin ich in diesem Punkt ganz ruhig, ich lüge nie.«

Er sah sie an: sie sprach aufrichtig, überzeugt. Diese Unbewußtheit entwaffnete ihn.

»Also,« fuhr sie fort, indem sie den Arm um seinen Hals schlang, »warum würdest du mir böse sein, wenn ich einen anderen liebte und es dir sagte?«

»Quäle mich doch nicht immer!«

»Ich quäle dich ja nicht: ich sage nicht, daß ich einen anderen liebe; ich versichere dir sogar, ich tue es nicht … Aber wenn ich später mal liebte …?«

»Nun also, denken wir nicht daran.«

»Ich will aber daran denken … du würdest mir doch nicht böse sein? Du kannst mir deswegen nicht böse sein?«

»Ich würde dir darum nicht böse sein, ich würde dich ganz einfach verlassen.«

»Mich verlassen? Warum denn? Wenn ich dich noch liebte?«

»Obgleich du gleichzeitig einen anderen liebst?«

»Ganz sicher. Das kommt vor.«

»Schön, aber das wird zwischen uns nicht vorkommen.«

»Warum?«

»Weil am selben Tage, an dem du einen anderen liebst, ich dich nicht mehr lieben würde, mein Kleines, kein bißchen mehr, nicht ein bißchen.«

»Eben hast du noch gesagt, vielleicht … Da siehst du, du liebst eben nicht!«

»Laß gut sein. Für dich ist es jedenfalls besser so.«

»Weil …?«

»Weil – liebte ich dich, wenn du einen anderen liebtest, so könnte das dir, mir und dem anderen schlecht bekommen.«

»Da haben wir's! … Jetzt bist du total verrückt. Ich bin also dazu verdammt, mein ganzes Leben mit dir zu verbringen?«

»Beruhige dich. Du bist frei. Du kannst mich, wann du willst, verlassen. Bloß, daß es dann nicht Auf Wiedersehen hieße, sondern Adieu.«

»Aber wenn ich dich nun noch weiter lieben würde?«

»Liebt man sich, so bringt einer dem anderen Opfer.«

»Nun also, dann opfere dich doch.«

Er konnte nicht umhin, über ihren Egoismus zu lachen, und sie lachte mit.

»Eines Einzelnen Opfer,« sagte er, »schafft nur des Einzelnen Liebe.«

»Gar nicht. Es schafft beider Liebe. Ich würde dich viel mehr lieben, wenn du dich für mich aufopfertest. Und denke doch, Christli, wie viel mehr du mich lieben würdest! Nach solchem Opfer wärst du sehr glücklich.«

Sie lachten und waren froh, sich damit über den Ernst ihrer Meinungsverschiedenheit hinwegzutäuschen.

Er lachte und schaute sie an. Sie empfand im Grunde, wie sie sagte, keinerlei Wunsch, Christof jetzt zu verlassen; wenn er sie oft reizte und langweilte, so wußte sie doch eine Hingabe wie die seine zu schätzen; und sie liebte niemand anders. Sie sprach nur zum Spaß so, halb weil sie wußte, daß es ihm unangenehm sei, halb weil es ihr Vergnügen machte, mit zweideutigen und nicht ganz sauberen Gedanken zu spielen, gleich einem Kinde, das sich daran vergnügt, im schmutzigen Wasser zu planschen. Er wußte das. Er zürnte ihr deswegen nicht. Aber er war dieser ungesunden Reibereien müde, des dumpfen Kampfes gegen dieses schwankende und trübe Wesen, das er liebte, das vielleicht ihn liebte; er war müde der Anstrengung, die er machen mußte, um sich selbst über sie hinwegzutäuschen, manchmal zum Weinen müde. Er dachte: »Warum, warum ist sie so? Warum ist man so? Wie kleinlich das Leben ist!« Und gleichzeitig lächelte er, wenn er in das hübsche Gesicht sah, das sich über ihn neigte, ihre blauen Augen, ihren Blütenteint, ihren lachenden, schwatzenden Mund, der ein wenig dümmlich über dem frischen Glanz ihrer Zunge und ihrer feuchten Zähne offenstand. Ihre Lippen berührten sich fast; und er sah sie wie von fern an, von ganz fern, von einem anderen Stern; er sah, wie sie mehr und mehr zurückschwand, sich im Nebel verlor … und dann sah er sie nicht mehr. Er hörte sie nicht mehr, verfiel in eine Art lächelnde Vergessenheit, in der er seiner Musik, seinen Träumen, tausend Ada fremden Dingen nachsann. Er vernahm eine Melodie. Er komponierte still … Ach die schöne Weise! … so traurig … todestraurig! und doch so gut, so liebereich … ach! wie gut das tat! … Das ist es, so ist es … Alles übrige war keine Wirklichkeit.

Man schüttelte seinen Arm. Eine Stimme schrie ihn an:

»Sag jetzt, was ist dir? Wahrhaftig, du bist verrückt. Warum schaust du mich so an? Warum antwortest du nicht?«

Er sah nun wieder die ihn anblickenden Augen. Wer war das doch? …

»Ach so, ja …« Er seufzte.

Sie fragte ihn aus. Sie wollte wissen, woran er gedacht habe. Sie begriff es nicht; aber sie fühlte, sie könne sich noch so sehr anstrengen: ganz und gar besaß sie ihn nicht, immer gab es noch eine Tür, durch die er entschlüpfen konnte. Das ärgerte sie im geheimen.

»Warum weinst du?« fragte sie einmal, nachdem er von einer seiner seltsamen Reisen ins andere Leben zurückgekehrt war. Er strich mit der Hand über die Augen. Er fühlte, sie waren feucht.

»Ich weiß nicht,« sagte er.

»Warum antwortest du mir nicht? Dreimal habe ich jetzt dasselbe gesagt.«

»Was wolltest du?« fragte er sanft.

Sie fing wieder mit ihren geschmacklosen Streitfragen an. Er tat eine müde Gebärde.

»Ja ja,« sagte sie, »ich höre schon auf. Kein Wort mehr!«

Und sie fuhr um so eifriger fort.

Christof schüttelte sich voller Zorn.

»Willst du mich mit deinen Schmutzereien zufrieden lassen!«

»Ich scherze doch.«

»Suche dir sauberere Gegenstände!«

»Widerlege mich wenigstens. Sag doch, warum dir das nicht gefällt.«

»Fällt mir nicht ein. Es läßt sich nicht darüber reden, weshalb der Mist stinkt. Er stinkt und damit basta. Ich halte mir die Nase zu und mache mich davon.«

Und wütend ging er fort; er wanderte mit langen Schritten und sog die eisige Luft ein.

Aber an anderen Tagen fing sie wieder an, einmal, zweimal, zehnmal. Alles, was sein Empfinden verletzen und empören konnte, brachte sie zur Sprache.

Er versuchte das Ganze als das ungesunde Spiel eines neurasthenischen Mädchens anzusehen, dem es Spaß machte, ihn aufzureizen. Er zuckte die Achseln oder tat, als höre er nicht hin: er nahm sie nicht ernst. Nichtsdestoweniger hatte er manchmal Lust, sie aus dem Fenster zu werfen; denn Neurasthenie und Neurastheniker waren sehr wenig nach seinem Geschmack … Aber es genügte, daß er zehn Minuten ihr fern war, um alles, was ihm widerstrebte, vergessen zu haben. Und er kehrte mit einem neuen Vorrat von Hoffnungen und Illusionen zu Ada zurück. Er liebte sie. Liebe ist eine Tat ununterbrochenen Glaubens. Ob Gott ist oder nicht, darauf kommt es kaum an: man glaubt, weil man glaubt. Man liebt, weil man liebt: es bedarf dazu keiner Gründe! …

 

Nach dem Auftritt, den Christof mit den Vogels gehabt hatte, war es unmöglich geworden, im Hause zu bleiben, und Luise hatte ein anderes Unterkommen für ihren Sohn und sich suchen müssen.

Eines Tages schneite plötzlich Ernst, Christofs jüngster Bruder, von dem lange Zeit keine Nachricht mehr gekommen war, zu ihnen herein. Er war brotlos, nachdem er sich hintereinander aus allen Stellen, die er probiert, hatte davonjagen lassen; sein Beutel war leer und seine Gesundheit zerrüttet: so erschien es ihm angebracht, sich im mütterlichen Haus wieder auf den Damm bringen zu lassen.

Ernst stand mit keinem seiner Brüder auf schlechtem Fuße; er wurde von beiden nicht hoch eingeschätzt und wußte das; doch er war ihnen deswegen nicht böse, denn es war ihm höchst gleichgültig. Sie waren ihm darum ebensowenig böse. Das wäre vergebliche Liebesmüh gewesen. Alles was man ihm verhielt, glitt, ohne eine Spur zu hinterlassen, von ihm ab. Er lächelte mit seinen hübschen Schmeichelaugen, versuchte eine zerknirschte Miene zu ziehen, dachte dabei an etwas ganz anderes, gab alles zu, dankte und knöpfte zuguterletzt dem einen oder anderen Bruder Geld ab. Fast wider Willen liebte Christof den frischen Taugenichts, der äußerlich wie er und noch mehr als er ihrem Vater Melchior ähnlich sah. Er war groß und kräftig wie Christof, hatte ein regelmäßiges Gesicht, offenherzige Mienen, klare Augen, eine gerade Nase, einen lachenden Mund, schöne Zähne und ein einschmeichelndes Wesen. Wenn Christof ihn sah, war er entwaffnet und machte ihm nicht die Hälfte der Vorwürfe, die er für ihn in Bereitschaft hatte: im Grunde empfand er eine Art mütterliches Wohlgefallen an diesem hübschen Burschen, der seines Blutes war und ihm, wenigstens äußerlich, Ehre machte. Er hielt ihn nicht für schlecht, und dumm war Ernst ebenfalls durchaus nicht. Wenn auch ohne Bildung, war er doch nicht geistlos; er konnte sich sogar für geistige Dinge interessieren. Er hörte Musik mit wirklichem Genuß; und verstand er auch die seines Bruders nicht, so lauschte er ihr doch neugierig. Christof, der durch Anteilnahme der Seinen nicht verwöhnt war, hatte es Freude gemacht, ihn in manchen seiner Konzerte zu entdecken.

Das Haupttalent Ernsts aber war das Verständnis, das er für die Charaktere seiner beiden Brüder entwickelte, und seine Geschicklichkeit, es auszunützen. Christof konnte seinen Egoismus und seine Gleichgültigkeit noch so genau kennen, er konnte noch so deutlich sehen, daß Ernst an seine Mutter und ihn nur dachte, wenn er sie nötig hatte: immer wieder ließ er sich durch seine herzliche Art gefangennehmen; und es geschah sehr selten, daß er ihm irgend etwas versagte. Er mochte ihn viel lieber als seinen anderen Bruder Rudolf, der solid und korrekt war, seinen Geschäften eifrig nachging, hochmoralisch dachte, der kein Geld forderte und ebensowenig welches hergegeben hätte, und der regelmäßig alle Sonntage, seine Mutter auf eine Stunde besuchen kam, während der er nur von sich sprach, groß tat, mit seinem Geschäftshaus und allem, was ihn betraf, protzte, sich nach niemand anderem erkundigte, sich für nichts interessierte und mit dem Stundenschlag, höchst befriedigt von seiner erfüllten Pflicht, davonging. Den konnte Christof nicht ausstehen. Er richtete es so ein, daß er, wenn Rudolf kam, ausgegangen war. Rudolf war eifersüchtig auf ihn: er schätzte Künstler sehr gering und Christofs Erfolge waren ihm peinlich. In den Kaufmannskreisen, die er besuchte, ließ er es sich allerdings nicht entgehen, sich mit des Bruders kleinem Ruhm aufzuspielen; niemals aber hätte er Christof oder seiner Mutter etwas davon verraten: er tat, als wisse er davon nichts. Dafür entging ihm nie die geringste Unannehmlichkeit, die Christof erlebte. Christof stand über diesen Kleinlichkeiten und tat, als merke er sie nicht; was ihm überempfindlicher gewesen wäre und was er nie vermutete, war, daß ein Teil der böswilligen Auskünfte, die Rudolf über ihn besaß, von Ernst stammte. Der kleine Lump empfand zwar sehr genau den Unterschied zwischen Rudolf und Christof: ohne allen Zweifel erkannte er Christofs Überlegenheit an und hatte vielleicht sogar eine gewisse, etwas ironische Sympathie für seine Arglosigkeit. Aber er hütete sich wohl, den Vorteil daraus sich entgehen zu lassen; und wenn er die schlechte Gesinnung Rudolfs auch verachtete, beutete er sie doch gleichzeitig schamlos aus. Er schmeichelte seiner Eitelkeit und Eifersucht, hörte seine Strafpredigten mit Ehrerbietung an und hielt ihn auf dem Laufenden des Stadtklatsches, in Besonderheit alles dessen, was Christof betraf – worüber er immer herrlich unterrichtet war. Er kam damit zu seinem Ziel; und Rudolf ließ sich trotz seines Geizes wie Christof das Geld aus der Tasche locken.

So nützte Ernst unparteiisch beide aus und machte sich über beide lustig.

Beide liebten ihn denn auch.

 

Trotz aller seiner Gaunereien war Ernst in einem jämmerlichen Zustand, als er sich bei seiner Mutter einfand. Er kam von München, wo er seine letzte Stelle gefunden und wie gewöhnlich gleich wieder verloren hatte. Er hatte bei strömendem Regen den größten Teil des Weges zu Fuß machen müssen und Gott weiß wo geschlafen. Er war schmutzbedeckt, abgerissen, sah wie ein Bettler aus und hustete jämmerlich; denn er hatte sich unterwegs eine schlimme Bronchitis geholt. Als sie ihn so eintreten sahen, war Luise ganz entsetzt und Christof lief ihm bewegt entgegen. Ernst hatte schnell die Tränen bereit und versäumte nicht, den gemachten Eindruck auszunutzen; allgemeine Rührung folgte: und sie weinten zu dritt, einer im Arm des anderen.

Christof gab sein Zimmer her; man wärmte das Bett und legte den Kranken nieder, der nahe daran schien, seine Seele auszuhauchen. Luise und Christof wechselten die Nachtwache neben seinem Lager. Der Arzt mußte geholt werden, Arzeneien wurden nötig, ein gutes Feuer im Zimmer, eine besondere Kost.

Darauf mußte man ihn von Kopf bis zu den Füßen neu einkleiden: Wäsche, Schuhzeug, Kleidung, alles war zu erneuern. Ernst ließ es geschehen. Luise und Christof brachten jedes Opfer, um die Ausgaben zu decken. Sie waren im Augenblick recht in Verlegenheit: ein neuer Umzug, eine teurere, wenn auch ebenso unbequeme Wohnung, weniger Stunden für Christof und bedeutend vermehrte Ausgaben. Es gelang ihnen mit knapper Not auszukommen. Jetzt mußten sie zu äußersten Mitteln greifen. Christof hätte sich wohl an Rudolf wenden können, dem es leichter als ihm möglich gewesen wäre, Ernst zu Hilfe zu kommen; aber er wollte es nicht: er setzte seine Ehre darein, dem Bruder allein zu helfen. Er glaubte sich als Ältester dazu verpflichtet – und weil er eben Christof war. Er mußte daher vor Scham errötend ein Angebot annehmen oder vielmehr seinerseits darauf zurückkommen, das er vierzehn Tage vorher mit Empörung zurückgewiesen hatte – es war der Vorschlag, den ihm ein unbekannter reicher Dilettant durch einen Agenten hatte machen lassen, der ihm eine musikalische Arbeit abkaufen wollte, um sie unter seinem Namen herauszugeben. Luise dagegen verdingte sich tagsüber zum Ausbessern von Wäsche. Einer verhehlte dem anderen die Opfer, die er brachte, und sie belogen sich gegenseitig in betreff des Geldes, das sie heimbrachten.

Der genesende Ernst, der an den Ofen gedrückt saß, gestand eines Tages zwischen zwei krampfhaften Hustenanfällen, daß er einige Schulden habe. – Man bezahlte sie. Niemand machte ihm deswegen einen Vorwurf. Das wäre einem Kranken und einem verlorenen Sohn, der reuig heimkehrte, gegenüber nicht großmütig gewesen. Denn Ernst schien durch Leiden und Krankheit verwandelt. Mit tränenerstickter Stimme sprach er von seinen vergangenen Irrwegen; und Luise küßte ihn und beschwor ihn, nicht mehr daran zu denken. Er war zärtlich, hatte stets verstanden, seine Mutter durch seine Liebesbeweise zu betören. Christof war früher darauf ein wenig eifersüchtig gewesen. Jetzt fand er es natürlich, daß der jüngere und schwächere Sohn auch der geliebtere sei. Er selbst betrachtete ihn, trotz des geringen Altersunterschiedes, eher wie einen Sohn als wie einen Bruder. Ernst bezeugte ihm großen Respekt; er spielte manchmal auf die Kosten an, die sich Christof auferlege, auf die Geldopfer … aber Christof ließ ihn nicht weiter reden, und Ernst begnügte sich, ihm mit einem unterwürfigen und warmen Blick zu danken. Zu allen Ratschlägen, die ihm Christof gab, sagte er ja; und er schien geneigt, sowie er hergestellt sei, ein neues Leben anzufangen und ernstlich zu arbeiten.

Er erholte sich, doch die Genesung schritt langsam vorwärts. Der Arzt hatte erklärt, daß seine mißbrauchte Gesundheit besondere Vorsichtsmaßregeln nötig mache. So blieb er also weiter bei seiner Mutter, schlief in Christofs Bett, aß mit gutem Appetit das Brot, das sein Bruder verdiente, und die kleinen leckeren Gerichte, die Luise erfinderisch für ihn bereitete. Er redete nicht vom Fortgehen. Luise und Christof redeten ihm ebensowenig davon. Sie waren überglücklich, den Sohn, den Bruder, den sie liebten, wiedergefunden zu haben.

In den langen Abenden, die Christof mit Ernst verbrachte, ließ sich Christof nach und nach ein wenig gehen und sprach sich offener aus. Es war ihm Bedürfnis, sich irgend jemand anzuvertrauen. Ernst war intelligent; er hatte eine schnelle Auffassungsgabe und verstand jede halbe Andeutung oder schien sie zu verstehen. Es war ein Vergnügen, mit ihm zu plaudern. Immerhin wagte Christof von dem, was ihm am meisten am Herzen lag, von seiner Liebe, nichts zu sagen. Eine Art Schamgefühl hielt ihn zurück. Und Ernst, der genau Bescheid wußte, ließ sich davon nichts merken.

Eines Tages benutzte der wieder ganz hergestellte Ernst einen sonnigen Nachmittag, um am Rhein entlang zu schlendern. Als er ein wenig außerhalb der Stadt bei einem lauten Gasthof vorbeikam, wohin man Sonntags zu Tanz und Bier ging, bemerkte er Christof mit Ada und Myrrha an einem Tisch, an dem es recht lärmend herging. Auch Christof sah ihn und errötete. Ernst spielte den Zurückhaltenden und ging, ohne ihn anzureden, vorüber.

Christof war diese Begegnung sehr peinlich: sie ließ ihn schärfer empfinden, in welcher Gesellschaft er sich bewegte; und es war ihm unangenehm, daß sein Bruder ihn darin sah: nicht allein, weil er von nun an das Recht verlor, Ernsts Lebenswandel zu kritisieren, sondern vor allem, weil er von seinen Pflichten als ältester Bruder eine sehr hohe, sehr naive und ein wenig altertümliche Meinung hatte, die vielen Leuten lächerlich erschienen wäre: er meinte, sein Tun stehe im Widerspruch mit seiner Pflicht und erniedrige ihn in seinen eigenen Augen.

Als sie sich Abends im gemeinsamen Zimmer wieder zusammenfanden, wartete er darauf, daß Ernst irgendeine Andeutung über das Vorgefallene mache. Ernst aber schwieg wohlweislich und wartete ebenfalls ab. Darauf überwand sich Christof, während sie sich entkleideten, von seiner Liebe zu sprechen. Er war dabei so verwirrt, daß er Ernst nicht anzusehen wagte; und aus Schüchternheit sprach er möglichst derb und burschikos. Ernst erleichterte ihm nichts; er blieb stumm, sah ihn ebenfalls nicht an, doch beobachtete er ihn darum nicht weniger; und es entging ihm nichts von der Komik, die in Christofs linkischer Art und ungelenken Worten lag. Kaum wagte Christof Ada zu nennen; und das Bild, das er von ihr entwarf, konnte genau so gut auf alle geliebten Frauen passen. Doch von seiner Liebe sprach er; nach und nach ließ er sich von dem Zärtlichkeitsstrom, der sein Herz erfüllte, mitreißen und redete davon, wie gut es täte, zu lieben, wie elend er sich gefühlt habe, bevor er dies Licht in seiner Nacht entdeckt habe, und daß das Leben ohne eine tiefe, warme Liebe gar nichts wert sei. Der andere hörte ernsthaft zu; er antwortete mit Zartgefühl, stellte keinerlei Fragen; aber ein bewegter Händedruck bewies, daß er mit Christof fühle. Sie tauschten ihre Gedanken über Liebe und Leben aus. Christof war glücklich, sich so verstanden zu sehen. Und vor dem Einschlafen umarmten sie sich brüderlich.

Christof gewöhnte sich mit der Zeit daran, wenn auch immerhin schüchtern und mit großer Zurückhaltung, seine ganze Liebesgeschichte Ernst anzuvertrauen, dessen verschwiegenes Zartgefühl ihn in Sicherheit wiegte. Er ließ ihn seine Besorgnisse in bezug auf Ada durchfühlen; niemals aber beschuldigte er sie: er klagte sich selbst an; und mit tränenden Augen versicherte er, daß er nicht mehr leben könnte, wenn er sie verlöre.

Er unterließ auch nicht, zu Ada von Ernst zu sprechen: er pries seinen Geist und seine Schönheit.

Ernst verriet Christof keinerlei Wunsch, Ada vorgestellt zu werden; aber er schloß sich trübselig in sein Zimmer ein und weigerte sich auszugehen, indem er sagte, er kenne ja doch niemand. Christof machte sich bereits Vorwürfe, daß er Sonntags seine Landausflüge mit Ada weiter fortsetzte, indessen sein Bruder zu Hause blieb. Natürlich war es ihm unangenehm, mit seiner Freundin nicht allein sein zu sollen; aber er schalt sich egoistisch und schlug Ernst vor, mitzukommen. Die Vorstellung fand vor Adas Tür auf ihrem Etagenflur statt. Ernst und Ada begrüßten sich formell. Ada ging hinunter, und ihr folgte ihre unzertrennliche Myrrha, die, als sie Ernst sah, einen kleinen Überraschungsschrei ausstieß. Ernst lächelte, trat auf sie zu und küßte Myrrha, die das ganz natürlich zu finden schien.

»Wie! Ihr kennt euch?« fragte Christof verblüfft.

»Allerdings!« meinte Myrrha lachend.

»Seit wann?«

»Seit einer ganzen Weile!«

»Und du wußtest das?« fragte Christof Ada. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Meinst du, ich kenne Myrrhas sämtliche Liebhaber!« sagte Ada achselzuckend.

Myrrha fing das Wort auf und tat, als werde sie böse. Mehr konnte Christof nie herausbekommen. Er war betrübt. Ihm schien, Ernst, Myrrha, Ada hätten es an Aufrichtigkeit fehlen lassen, obgleich er ihnen tatsächlich ja keinerlei Lüge vorwerfen konnte; aber es war schwierig zu glauben, daß Myrrha, die keinerlei Geheimnis vor Ada hatte, gerade dies so sorgsam gehütet haben sollte, und daß Ernst und Ada sich nicht schon kannten. Er beobachtete sie. Aber sie wechselten nur einige gleichgültige Worte, und während des ganzen übrigen Spazierganges kümmerte sich Ernst nur um Myrrha. Ada sprach ihrerseits nur mit Christof, und sie war gegen ihn viel liebenswürdiger als gewöhnlich. Von da an nahm Ernst an allen ihren Ausflügen teil. Christof hätte sich wohl gern seiner entledigt, aber er wagte nichts zu sagen. Dabei hatte er keinen anderen Grund zu dem Wunsch, ihn fernzuhalten, als die Scham, ihn zum Genossen seiner Vergnügungen zu haben. Er hegte kein Mißtrauen. Ernst gab ihm keinerlei Anlaß dazu: er schien in Myrrha verliebt und beobachtete Ada gegenüber eine höfliche Zurückhaltung, ja eine betonte Rücksichtnahme, die fast deplaziert war; es war, als wolle er auf die Geliebte seines Bruders ein wenig von dem Respekt übertragen, den er diesem zollte. Ada fand das nicht erstaunlich und sie beherrschte sich Ernst gegenüber nicht weniger.

Sie machten lange gemeinsame Spaziergänge. Die beiden Brüder marschierten vor; Ada und Myrrha folgten lachend und tuschelnd einige Schritte hinterher. Sie blieben, mitten auf den Weg gepflanzt, lange plaudernd stehen. Christof und Ernst standen auch still, um sie zu erwarten. Christof wurde schließlich ungeduldig und ging weiter, aber bald wendete er sich voller Verdruß um, denn er sah Ernst mit den beiden Schwätzerinnen lachen und plaudern. Er hätte gern gewußt, was sie redeten; aber kamen sie in seine Nähe, so hörte ihr Gespräch auf.

»Was habt ihr denn nur immer heimlich zu verabreden?« fragte er.

Sie antworteten mit einem Scherz. Alle drei verstanden sich untereinander wie die Jahrmarktsspitzbuben.

 

Christof hatte gerade einen ziemlich lebhaften Streit mit Ada gehabt. Ungewöhnlicherweise hatte Ada darauf nicht eine würdig beleidigte Miene aufgesetzt, wie sie's in solchem Fall aus Rache zu tun pflegte, indem sie sich so unausstehlich langweilig wie nur möglich aufführte. Diesmal schien sie einfach Christofs Dasein zu übersehen und zeigte den anderen beiden Begleitern gegenüber die beste Laune. Man hätte meinen können, daß sie im Grunde über das Zerwürfnis nicht ungehalten sei.

Christof empfand im Gegenteil den größten Wunsch nach Frieden; er war verliebter als je. Seiner Zärtlichkeit mischte sich ein Gefühl von Dankbarkeit bei für alles, was diese Liebe Wohltätiges gehabt hatte, ein Bedauern, die Stunden mit dummen Streitigkeiten und schlechten Gedanken zu vergeuden – und die grundlose Furcht, der geheimnisvolle Gedanke, daß diese Liebe ihrem Ende zugehe. Wehmutsvoll betrachtete er das hübsche Gesicht Adas, welche tat, als sähe sie ihn gar nicht, und mit den anderen lachte; und dies Gesicht erweckte in ihm so viele köstliche Erinnerungen an tiefe Liebe, an wahre Gemeinsamkeit, dies reizende Gesicht zeigte sogar für Augenblicke – wie gerade in diesem – so viel Gutherzigkeit und ein so reines Lächeln, daß Christof sich fragte, warum es eigentlich nicht besser zwischen ihnen stünde, warum sie sich mutwilligerweise ihr Glück zerstörten, warum sie durchaus die leuchtenden Stunden vergessen und alles, was gut und brav in ihr war, verleugnen oder bekämpfen wollte, und welche seltsame Befriedigung sie nur darin finden könnte, die Reinheit ihrer Neigung, sei es auch nur in Gedanken, zu stören und zu beschmutzen. Er empfand ein unendliches Bedürfnis, der, die er liebte, zu vertrauen, und er versuchte noch einmal sich über sie zu täuschen. Er warf sich vor, ungerecht zu sein, und hatte Gewissensbisse, weil er ihr häßliche Gedanken unterschoben hatte und unnachsichtig gewesen war. Er näherte sich ihr, versuchte mit ihr zu reden; sie antwortete in ein paar trockenen Worten: sie fühlte keinerlei Verlangen, sich mit ihm auszusöhnen. Er ließ nicht nach, er bat sie ins Ohr, ihn doch einen Augenblick, fern von den andern, anzuhören. Ziemlich mürrisch folgte sie ihm. Als sie einige Schritte weiter waren und weder Myrrha noch Ernst sie sehen konnten, faßte er plötzlich ihre Hände, bat sie um Verzeihung, kniete im Wald mitten im toten Laub vor ihr nieder. Er sagte, er könne so, zerworfen mit ihr, nicht leben; er könne nicht mehr den schönen Spaziergang, den schönen Tag genießen, an nichts könne er sich mehr freuen, nicht einmal recht atmen, wenn er wüßte, daß sie ihn hasse; er brauche ihre Liebe. Ja, er sei oft ungerecht, heftig, abstoßend; er flehte sie an, ihm das zu vergeben: der Grund dazu läge in seiner Liebe selber; er könne nichts Minderwertiges in ihr ertragen, nichts, das nicht ganz ihrer und der Erinnerungen ihrer lieben, miteinander verlebten Stunden würdig sei. Er rief sie ihr zurück, mahnte sie an ihre erste Begegnung, ihre ersten gemeinsamen Tage; er sagte, daß er sie immer noch ebenso liebe, sie ewig lieben werde. Sie möge sich um alles nicht ihm entfremden! Sie sei die Welt für ihn …

Ada hörte ihm zu und lächelte verwirrt und fast gerührt. Sie machte ihm ihre guten Augen – Augen, die sagen, daß man sich liebt und nicht mehr zürnt. Sie küßten sich und gingen aneinandergepreßt durch den entblätterten Wald. Sie fand Christof nett und empfand seine zärtlichen Worte mit dankbarem Sinn; aber darum mochte sie keinen der schlimmen Einfälle, die ihr im Kopfe saßen, opfern. Immerhin zauderte sie ein wenig; ganz so viel lag ihr nicht mehr an ihnen. Und doch tat sie, was sie sich vorgenommen hatte. Warum? Wer kann es ermessen? … Weil sie schon vorher den Entschluß gefaßt hatte, es zu tun? … Wer weiß? Vielleicht schien es ihr besonders reizvoll, gerade an jenem Tage ihren Freund zu betrügen, um ihm, um sich selbst ihre Freiheit zu beweisen. Sie glaubte nicht, ihn zu verlieren: das würde sie nicht gewollt haben. Sie glaubte sich seiner sicherer als je.

Sie waren an eine Waldlichtung gelangt. Zwei Fußpfade trennten sich dort. Christof schlug den einen ein. Ernst behauptete, der andere führe schneller zum Gipfel des Hügels, wohin sie wollten. Ada war seiner Meinung. Christof kannte den Weg, da er ihn oft gemacht hatte, und blieb dabei, daß sie sich täuschten. Die anderen bestanden auf ihrer Meinung. Darauf wurde beschlossen, daß man die Probe mache; und jeder wettete, daß er als erster ankäme. Ada ging mit Ernst. Myrrha begleitete Christof; sie tat, als sei sie überzeugt, daß er recht habe. Und sie fügte hinzu: »Wie immer!« Christof hatte den Spaß ernst genommen, und da er sehr ungern verlor, marschierte er schnell, allzu schnell für Myrrha, die viel weniger Eile als er zeigte:

»Beeile dich doch nicht so, mein Freund,« sagte sie in ihrem ironischen, ruhigen Ton zu ihm, »wir werden immer noch zuerst ankommen.«

Ein Skrupel erfaßte ihn.

»Du hast recht,« sagte er, »ich glaube, ich gehe etwas zu schnell: das gilt nicht im Spiel.«

Er verlangsamte den Schritt.

»Aber ich kenne sie,« fuhr er fort, »ich bin sicher, sie laufen, um nur vor uns da zu sein.«

Myrrha lachte hell auf:

»Aber nein, o nein, darum sorge dich nur nicht!«

Sie hing sich an seinen Arm und drängte sich eng an ihn. Da sie ein wenig kleiner als Christof war, schlug sie im Gehen ihre verständigen, schmeichlerischen Augen zu ihm auf. Sie sah wirklich hübsch und verführerisch aus. Kaum erkannte er sie wieder: nichts war wechselvoller als sie. Im gewöhnlichen Leben hatte sie ein etwas fahles, gedunsenes Gesicht; doch es genügte die geringste Erregung, ein fröhlicher Gedanke oder der Wunsch zu gefallen, um dies ältliche Aussehen verschwinden zu lassen; die Wangen röteten sich, die Falten um die Augen herum verloschen, der Blick glänzte auf und das ganze Gesicht war von einem Leben, einer Jugend, einem Geist erfüllt, den Adas Züge nicht kannten. Christof war über die Verwandlung ganz überrascht, und er wandte die Augen von den ihren ab: das Alleinsein mit ihr machte ihn ein wenig befangen. Sie war ihm hinderlich; sie zog ihn von den eigenen Träumen ab; er hörte nicht, was sie sagte, antwortete nicht darauf oder auch ganz verkehrt: denn er dachte – wollte einzig an Ada denken. Er dachte an die guten Augen, die sie eben gehabt hatte, an ihr Lächeln, ihren Kuß; und sein Herz strömte von Liebe über. Myrrha wollte ihn zur Bewunderung des Waldes veranlassen, dessen feine, kleine Zweige so schön in den klaren Himmel ragten … Ja gewiß, alles war schön: die Wolke hatte sich zerstreut, Ada war ihm zurückgekehrt, es war ihm gelungen, das Eis zwischen ihnen zu brechen, sie liebten sich neu; einander nahe oder fern waren sie doch nur eins. Sein Atem ging erleichtert: wie dünn die Luft war! Ada war ihm zurückgekehrt … Alles mahnte ihn an sie … Es war ein wenig feucht: würde sie nicht frieren? … Die hübschen Bäume waren vom Reif bepudert: wie schade, daß sie das nicht sah! … Jetzt aber fiel ihm die eingegangene Wette wieder ein und er beschleunigte den Schritt; seine ganze Aufmerksamkeit war auf den Weg gerichtet, damit er ihn nicht verfehle. Als er ans Ziel kam, triumphierte er:

»Wir sind die ersten!«

Er schwenkte fröhlich seinen Hut. Myrrha sah ihn mit einem Lächeln an.

Der Platz, auf dem sie sich befanden, war ein langer, schroffer Felsen, mitten im Wald. Von der Plattform des Gipfels, der von Haselnußgesträuch und kleinen verkrüppelten Eichen umrandet war, überschauten sie die waldigen Abhänge, die von violetten Nebeln umhüllten Wipfel der Tannen und das lange Band des Rheins im bläulichen Tal. Kein Vogelschrei. Keine Stimme. Nicht ein Hauch. Ein regloser, vom Winter gefangener Berg, der sich fröstelnd an den bleichen Strahlen einer entschlafenden Sonne wärmt. Ab und zu in Fernen der kurze Pfiff eines Zuges im Tal. Christof stand am Rand des Felsens und betrachtete sinnend die Landschaft. Myrrha betrachtete Christof.

Er wandte sich mit gut gelaunter Miene zu ihr um:

»Da sieht man's! Solche Faulpelze, ich hatte es ihnen ja vorher gesagt! … Na gut! Erwarten wir sie also …«

Er streckte sich auf die geborstene Erde in die Sonne.

»Ganz richtig, warten wir …« meinte Myrrha und nahm den Hut ab.

In ihrem Ton lag etwas so Spöttisches, daß er sich emporrichtete und sie anschaute.

»Was ist los?« fragte sie seelenruhig.

»Was sagtest du eben?«

»Ich sagte: Warten wir. Es lohnte sich nicht, mich so außer Atem zu bringen.«

»Das ist wahr.«

Sie legten sich beide auf den rauhen Boden nieder und warteten. Myrrha summte ein Lied. Christof trällerte ein paar Stellen daraus mit. Aber alle Augenblicke brach er ab und lauschte:

»Mir scheint, ich höre sie.«

Myrrha fuhr im Singen fort.

»Sei eine Minute still, ja?«

Myrrha brach ab.

»Nein, es war nichts.«

Sie nahm das Lied wieder auf.

Christof hielt es nicht länger auf seinem Platz aus.

»Vielleicht haben sie sich verlaufen.«

»Verlaufen? Kann man gar nicht. Ernst kennt übrigens alle Wege.«

Eine sonderbare Idee ging Christof durch den Kopf:

»Sind sie vielleicht doch als erste hier angekommen und vor uns wieder fortgegangen?!«

Myrrha, die auf dem Rücken lag und in den Himmel schaute, bekam mitten im Singen einen tollen Lachanfall, so daß sie beinahe erstickte. Christof aber versteifte sich auf seine Idee. Er wollte zur Station herunter, wo, wie er sagte, die Freunde schon sein müßten. Myrrha entschloß sich endlich, aus ihrer Unbewegtheit herauszugehen.

»Das wäre das beste Mittel, um sie zu verlieren! … Von der Station war nie die Rede. Hier sollten wir uns treffen.« Er setzte sich neben sie. Seine Ungeduld machte ihr Spaß. Er fühlte, wie sie ihn mit ironischem Blick beobachtete. Aber er fing an, sich ernsthaft zu sorgen – um ihretwillen zu sorgen: er verdächtigte sie nicht. Wieder stand er auf. Er redete davon, in den Wald umzukehren, sie zu suchen, sie zu rufen. Myrrha ließ ein kleines glucksendes Lachen hören; sie hatte aus ihrer Tasche eine Nadel, Schere und Faden hervorgeholt, trennte seelenruhig die Federn von ihrem Hut ab und nähte sie wieder an: sie schien für einen ganzen Tag eingerichtet:

»Nicht doch, nicht doch, Schäfchen,« sagte sie. »Meinst du nicht, daß, wenn sie kommen wollten, sie ganz von selber kämen?«

Ihm war's wie ein Schlag aufs Herz. Er wandte sich zu ihr um; sie sah ihn nicht an und war ganz in ihre Arbeit vertieft. Er kam auf sie zu:

»Myrrha!« sagte er.

»He?« machte sie, ohne sich stören zu lassen.

Er kniete nieder, um sie aus größerer Nähe zu sehen:

»Myrrha!« wiederholte er.

»Na was denn?« fragte sie, indem sie die Augen von der Arbeit ließ und ihn lächelnd anschaute. »Was gibt's denn?«

Sie sah sein verstörtes Gesicht, und ihres bekam einen spöttischen Ausdruck.

»Myrrha!« fragte er mit gepreßter Kehle, »sag mir, was du denkst …«

Sie zuckte die Achseln, lächelte und fing wieder zu arbeiten an. Er griff nach ihren Händen und nahm ihr den Hut, an dem sie nähte, fort:

»Laß das, laß das und sag mir …«

Sie sah ihm gerade ins Gesicht und wartete. Sie sah, wie Christofs Lippen zitterten.«

»Du meinst,« sagte er ganz leise, »daß Ernst und Ada …?« Sie lächelte:

»Und ob!«

Er bäumte sich empört auf:

»Nein! Nein! Das ist unmöglich! Das denkst du nicht! … Nein! Nein!«

Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und bog sich vor Lachen.

»Wie bist du dumm, wie bist du dumm, mein Liebling!«

Er schüttelte sie heftig:

»Lache nicht! Warum lachst du? Wenn es wahr wäre, würdest du nicht lachen. Du liebst Ernst …«

Sie lachte weiter, zog ihn an sich und küßte ihn. Wider Willen gab er ihr den Kuß zurück. Als er aber auf seinen Lippen ihre von den Bruderküssen noch heißen Lippen fühlte, zuckte er zurück; er hielt ihren Kopf in einiger Entfernung von seinem fest; er fragte:

»Du hast es gewußt? Es war zwischen euch abgemacht?«

Sie nickte lachend: »Ja.«

Christof schrie nicht, er fand keine Bewegung des Zornes. Er öffnete den Mund, als könne er nicht mehr atmen; er schloß die Augen und ballte die Hände gegen seine Brust: ihm war, als zerspringe sein Herz. Dann lag er, den Kopf in die Hände vergraben, auf der Erde und wurde von einem Anfall des Ekels und der Verzweiflung geschüttelt, wie er ihn als Kind manchmal durchgemacht hatte.

Myrrha war nicht sehr weichherzig; aber sie hatte Mitleid mit ihm; wider Willen überkam sie eine mütterliche Wallung; sie neigte sich über ihn, sprach ihm herzlich zu, wollte ihm ihr Riechfläschchen geben. Aber er stieß sie mit Abscheu zurück und sprang so heftig auf, daß sie Angst bekam. Er hatte weder Kraft noch Wunsch zur Rache. Er sah sie mit einem vom Schmerz verzerrten Gesicht an:

»Elendes Weib,« sagte er niedergeschmettert, »du weißt nicht, was du anrichtest …«

Sie wollte ihn halten. Er floh quer durch den Wald und spie seinen Ekel vor diesen Schandbarkeiten, diesen Dreckseelen, dieser blutschänderischen Teilung, zu der sie ihn hatten bringen wollen, von sich. Er weinte, zitterte und schluchzte vor Ekel. Ein Abscheu vor ihr, vor ihnen allen, vor sich selbst, vor seinem Leib und seinem Herzen war in ihm. Ein Orkan der Verachtung brach in ihm los: seit langem hatte er sich vorbereitet; früher oder später mußte die Reaktion gegen die ganze Denkniedrigkeit, die entwürdigenden Kompromisse, die widerliche und verpestete Atmosphäre, in der er seit Monaten lebte, kommen; aber sein Liebesbedürfnis, sein Bedürfnis, sich über die Geliebte zu täuschen, hatte die Krise so lange, wie es irgend möglich war, hinausgeschoben. Mit einem Schlage kam sie zum Ausbruch: und es war besser so. Ein großer Windstoß von herber Reinheit, eine eisige Brise hatte alle Bazillen fortgefegt. Mit einem Schlag hatte der Ekel die Liebe zu Ada gemordet.

Wenn Ada geglaubt hatte, durch diese Tat ihre Herrschaft über Christof nur mehr zu befestigen, so bewies sie damit noch einmal ihre rohe Unkenntnis dessen, der sie liebte. Eifersucht, die schmutzige Herzen bindet, konnte eine junge, stolze und reine Natur wie die Christofs nur zur Empörung treiben. Was er aber vor allem nicht verzieh, was er nie verzeihen konnte, war, daß Adas Verrat aus keinerlei Leidenschaft entsprang, nicht einmal aus einer jener törichten und niederziehenden, aber oft unwiderstehlichen Launen, denen nicht zu unterliegen der weiblichen Vernunft manchmal schwer wird. Nein – er durchschaute jetzt bei ihr den heimlichen Wunsch, ihn herabzuziehen, ihn zu demütigen, ihn für seine moralische Widerstandskraft, seinen feindlichen Glauben zu strafen, ihn zur Allgemeinheit niederzudrücken, vor ihre Füße zu zwingen, sich selbst ihre Macht zum Bösen zu beweisen. Und mit Entsetzen fragte er sich: woher nur kommt bei der Mehrzahl dieses Bedürfnis nach Besudelung, dieser Drang, gerade das zu besudeln, was in ihnen selber und anderen rein ist – was sind das für Schweineseelen, deren Wonne es ist, sich im Schmutz zu wälzen, und die glücklich sind, wenn auf ihrer Haut nicht ein sauberes Fleckchen mehr geblieben ist! …

Ada wartete zwei Tage darauf, daß Christof wiederkehre. Dann fing sie an, unruhig zu werden und schickte ihm eine zärtliche Karte, auf der sie mit keinem Wort das Vorgefallene erwähnte. Christof antwortete gar nicht. Er haßte Ada mit so tiefem Haß, daß er nicht einmal mehr Worte wußte, um ihn auszudrücken. Er hatte sie aus seinem Leben gestrichen. Sie existierte für ihn nicht mehr.

 

Von Ada war Christof befreit, aber von sich selber nicht. Vergeblich spiegelte er sich etwas vor und versuchte die keusche und starke Ruhe der Vergangenheit zurückzuerobern. Man geht nicht zur Vergangenheit zurück. Man muß auf seinem Wege weiter. Und sich umzuwenden, ist zu nichts anderem gut, als um vielleicht die Orte, an denen man vorbeischritt, den fernen Rauch des Daches, unter dem man schlief, am Horizont, im Nebel der Erinnerung verschwinden zu sehen. Nichts aber trägt uns weiter von unseren alten Seelen fort als ein paar Monate der Leidenschaft. Der Weg biegt plötzlich um, die Landschaft wechselt; es ist als sage man dem, was dahinten bleibt, ein letztes Mal Lebewohl.

Christof konnte sich darein nicht finden. Er reckte die Arme zur Vergangenheit aus; er versteifte sich darauf, seine frühere, einsame und verzichtende Seele wieder aufleben zu lassen. Aber sie war nicht mehr da. Leidenschaft ist weniger durch sich als durch die Trümmer, die sie aufstapelt, gefahrvoll. Wenn auch Christof nicht mehr liebte, wenn er auch – für den Augenblick – die Liebe noch so sehr verachtete: er war durch ihre Kralle gezeichnet; sein ganzes Wesen war mit ihr durchknetet; in seinem Herzen war eine Leere, die ausgefüllt werden mußte. Anstatt des furchtbaren Dranges nach Zärtlichkeit und Lust, der die, welche einmal von ihnen kosteten, verzehrt, brauchte er eine andere Leidenschaft, und war es auch eine entgegengesetzte: die Leidenschaft der Verachtung, der trotzigen Reinheit, des Glaubens an die Tugend. Die aber genügten nicht, um seinen Hunger zu stillen; sie gaben nur Nahrung für den Augenblick her. Sein Leben wurde eine Folge von heftigen Widersprüchen, von Sprüngen aus einem Extrem ins andere. Einmal wollte er es den Gesetzen einer unmenschlichen Askese unterwerfen: nicht mehr essen, nichts als Wasser trinken, sich den Körper durch Wanderungen, Überanstrengungen, Nachtwachen abtöten und sich jedes Vergnügen versagen. Ein andermal überredete er sich, daß Kraft die wahre Moral für Leute seines Schlages bedeute; und er jagte tausend Freuden nach. In einem wie im anderen Falle war er gleich unglücklich. Er konnte nicht mehr einsam sein. Und war er es nicht, so hielt er auch das nicht aus.

Der einzige Trost wäre ihm eine wahre Freundschaft gewesen, die von Rosa vielleicht: er hätte sich hineinflüchten können. Aber das Zerwürfnis zwischen den beiden Familien war vollständig. Sie sahen sich nicht mehr. Einmal nur hatte Christof Rosa getroffen. Sie kam aus der Messe. Er hatte geschwankt, ob er sie anreden solle; und auch sie hatte, als sie ihn sah, eine Bewegung ihm entgegen gemacht; aber als er durch die Flut der Gläubigen, die die Stufen hinunterkamen, auf sie zugehen wollte, wandte sie die Augen ab, und als er neben ihr war, grüßte sie ihn kalt und ging vorüber. Er fühlte die tiefe und eisige Verachtung im Herzen des jungen Mädchens. Und er fühlte nicht, daß sie ihn trotzdem immer noch liebte und es ihm gern gesagt hätte; aber das warf sie sich wie eine Sünde und Torheit vor; sie hielt Christof für schlecht und verdorben und glaubte ihn sich ferner als je. So verloren sie sich für immer. Und es war für den einen wie für den anderen vielleicht gut so. Trotz ihrer Güte war sie nicht lebendig genug, um ihn zu verstehen. Trotz seines Bedürfnisses nach Wärme und Achtung wäre er in einem mittelmäßigen, begrenzten Leben ohne Freude, ohne Leid, ohne Luft, erstickt. Sie hätten beide gelitten. Beide hätten darunter gelitten, den anderen leiden zu lassen. Das Mißgeschick, das sie trennte, wurde für ihre Lebensrechnung so vielleicht zum Glück, wie das oft geschieht – wie es denen, die stark sind und dauern, immer geschieht.

Aber im Augenblick barg es für sie viel Trübsal und großes Unglück. Vor allem für Christof. Diese tugendhafte Unduldsamkeit, diese Beschränktheit des Herzens, die denen manchmal alle Vernunft zu rauben scheint, die ihrer im Grunde am meisten haben, und die Besten ohne Güte erscheinen läßt, ärgerte, kränkte ihn, stieß ihn aus Widerspruchsgeist in ein zügelloseres Leben zurück.

Im Verlauf seiner Schlendereien mit Ada durch die Landkneipen der Umgegend hatte er die Bekanntschaft von ein paar guten Kerlen gemacht – Bohemiens, die ihm in ihrer harmlosen, freien Art nicht allzusehr mißfallen halten. Einer unter ihnen, Friedemann, der wie er Musiker war, einige dreißig Jahre alt, war sogar nicht ohne Geist; er verstand auch etwas von seinem Beruf, war aber von so unheilbarer Faulheit, daß er, ehe er die geringste Anstrengung machte, um aus seiner Mittelmäßigkeit emporzukommen, lieber vor Hunger starb, wenn auch vielleicht nicht vor Durst. Er tröstete sich in seiner Tatlosigkeit damit, von denen schlecht zu reden, die sich im Leben, weiß Gott warum, mühen. Seine etwas plumpen Spöttereien wirkten immerhin auf die Lachmuskeln. Er war freigeistiger als seine Berufsgenossen und fürchtete sich nicht – wenn auch noch zurückhaltend mit Augenblinzeln und Andeutungen – angesehene Leute heftig anzugreifen; er war sogar vorgeschritten genug, der Musik gegenüber nicht fertig präparierte Ansichten zu haben, sondern einmal einen tückischen Beilhieb gegen den angemaßten Ruf der Tagesberühmtheiten zu wagen. Die Frauen fanden ebensowenig Gnade vor ihm; wenn von ihnen die Rede war, wiederholte er gern das Wort eines alten weiberfeindlichen Mönches, das im Augenblick ganz nach Christofs Geschmack war, das bittere: » Femina mors animae«. In seinen inneren Wirrnissen zerstreute es Christof etwas, sich mit Friedemann zu unterhalten. Er beurteilte ihn richtig und konnte nicht auf lange an diesem Geist gewöhnlicher Spötterei Gefallen finden: dieser Ton beständiger Verneinung wurde bald ärgerlich und roch nach Ohnmacht; aber er befreite von der genügsamen Dummheit der Philister. Und obgleich Christof im Grunde seinen Gefährten geringschätzte, konnte er ihn nicht mehr entbehren. Immer sah man sie zusammen, am selben Tisch mit heruntergekommenen, zweifelhaften Menschen aus Friedemanns Gesellschaft, die noch weniger taugten als er. Sie spielten, prahlten und tranken die Abende miteinander. Christof erwachte plötzlich mitten im widerlichen Wurst- und Tabakgeruch; er sah mit verwirrtem Blick auf seine Umgebung: er erkannte sie nicht; angstvoll dachte er:

»Wo bin ich nur? Was sind das für Leute? Was habe ich mit ihnen zu schaffen?«

Ihre Reden, ihr Lachen verursachten ihm Übelkeit. Aber er fand nicht die Kraft, sich von ihnen zu trennen: er hatte Furcht davor, nach Haus heimzukehren, allein mit seiner Seele den eigenen Sehnsüchten und Gewissensbissen gegenüberzustehen. Er ging unter, er fühlte, wie er unterging; er suchte, sah in Friedemann mit grausamer Klarheit das verwüstete Bild dessen, was er war – was er eines Tages sein würde; und so tief war er in Entmutigung und Ekel gesunken, daß ihn dieses Schreckbild, anstatt aufzurütteln, nur noch mehr zu Boden warf.

Er wäre zugrunde gegangen, wenn er dazu fähig gewesen wäre. Glücklicherweise hatte er, wie alle Wesen seiner Art, gegen die Zerstörung eine Schutzwehr und Triebmacht, die die andern nicht haben: vor allem seine Kraft, seinen Instinkt zu leben, sich nicht untergehen zu lassen, diesen Instinkt, der klüger als die eigene Klugheit, stärker als der eigene Wille war. Und, ihm selber unbewußt, besaß er auch jene seltsame Neugier des Künstlers, jene leidenschaftliche Objektivität, die jedes mit wahrer Schöpferkraft begabte Wesen in sich trägt. Er konnte noch so sehr lieben, leiden und sich allen Gefühlsstürmen hingeben: er schaute sie. Sie waren in ihm, waren aber nicht er. Myriaden kleiner Seelen strebten in seinem Innern einem unbekannten, aber bestimmten Punkte zu: wie die Planetenwelt im endlosen Raum von einem geheimnisvollen Schlund eingesogen wird. Dieser beständige Zustand unbewußten Doppellebens offenbarte sich vor allem in den schwindelnden Augenblicken, in denen das tägliche Leben einschläft und aus Traum und Nachtgründen der Blick der Sphinx auftaucht, das tausendfältige Gesicht des Seins. Besonders seit einem Jahr war Christof von Träumen besessen, in denen er in derselben Sekunde, deutlich und mit zwingender Bildkraft fühlte, daß er gleichzeitig mehrere Wesen war, die einander oft fern, durch Länder, Welten, Jahrhunderte getrennt lebten. Im Wachen blieb ihm davon eine visionäre Verwirrtheit zurück, ohne daß er sich ihrer Ursache erinnern konnte. Es war dann wie Ermüdung nach einer vorübergegangenen fixen Idee, deren Spur bleibt, ohne daß man sie begreifen kann. Indessen aber seine Seele im Netz der Tage schmerzvoll zappelte, schaute eine andere Seele in ihm diesen verzweifelten Anstrengungen aufmerkend und in heiterer Ruhe zu. Er sah sie nicht; aber sie warf den Widerschein ihres verborgenen Lichtes auf ihn. Diese andere Seele war voller Begier und Wonne, alles zu fühlen, alles zu leiden, diese Männer und Frauen, diese Erde, dieses Leben, diese Sehnsüchte, diese Leidenschaften zu betrachten und zu verstehen, selbst wenn sie marterten, selbst wenn sie minderwertig oder häßlich waren – und das allein genügte, um ihnen ein wenig von seinem Licht mitzuteilen, um Christof vor dem Nichts zu retten. Es ließ ihn fühlen – wußte er auch nicht wieso –, daß er nicht ganz und gar allein war. Diese Liebe, alles zu sein und alles zu verstehen, diese zweite Seele stellte allen zerstörenden Mächten ihre Waffe entgegen.

Aber wenn das genug war, um ihm den Kopf über Wasser zu halten, so konnte er doch nicht aus eigener Kraft heraus. Es gelang ihm nicht, klar in sich zu lesen, sich zu meistern, sich zu sammeln. Alle Arbeit war ihm unmöglich. Er machte eine geistige Krise durch, die fruchtbarste seines Lebens; – sein ganzes zukünftiges Leben lag als Keim schon in ihr verborgen –, aber dieser heimliche Reichtum setzte sich im Augenblick nur in Ausschweifungen um, und die sichtbaren Zeichen seines Überflusses unterschieden sich nach außen nicht sehr von denen jämmerlichster Unfruchtbarkeit. Christof war von seinem Leben überwuchert. Alle seine Kräfte hatten ein mächtiges Wachstum durchgemacht, hatten alle auf einmal, zu plötzlich und zu schnell ausgeschlagen. Nur allein sein Wille war nicht so schnell emporgeschossen, und diese Schar von Ungeheuern in ihm hatte ihn toll gemacht. Die Persönlichkeit krachte in allen Fugen. Von diesem Erdbeben, dieser inneren Sintflut sahen die anderen nichts. Christof selbst sah nichts als seine Ohnmacht, etwas zu wollen, zu schaffen, zu sein. Wünsche, Instinkte, Gedanken stiegen wie Schwefelwolken aus vulkanischen Spalten eine nach der anderen auf, und immer fragte er sich:

»Was wird nun noch kommen? Was wird aus mir werden? Wird das immer so bleiben, oder ist alles zu Ende? Werde ich nie etwas sein?«

Und da geschah es ihm, daß die ererbten Triebe sich in ihm erhoben, die Lasten derer, die vor ihm waren; – er suchte Rausch im Wein.

 

Wenn er übermannt nach Hause zurückkehrte, roch er nach Wein und lachte.

Die arme Luise schaute ihn an, seufzte, sagte nichts und betete. Eines Abends aber, als er aus einer Kneipe an den Stadttoren kam, entdeckte er einige Schritte vor sich die schnurrige Gestalt Onkel Gottfrieds, den Ballen auf dem Rücken. Seit Monaten war der kleine Mann nicht in die Stadt zurückgekehrt; seine Abwesenheit dehnte sich mit jedem Mal länger aus. Christof rief ihn ganz glücklich an. Der unter seiner Last gebeugte Gottfried wandte sich um; er schaute Christof, der übertriebene Grimassen schnitt, an und setzte sich auf einen Wegstein, um ihn zu erwarten. Christof kam mit angeregtem Gesicht heran, indem er allerhand Narrenspossen trieb und dem Onkel mit großen Zärtlichkeitsbezeigungen die Hand schüttelte. Gottfried sah ihn lange an, dann sagte er:

»Guten Tag, Melchior.«

Christof meinte, der Onkel sei in einer Sinnestäuschung befangen, und brach in Lachen aus.

»Es geht mit dem armen Menschen bergab,« dachte er, »er verliert sein Gedächtnis.«

Gottfried sah wirklich gealtert aus, eingeschrumpft, runzlig und verkrüppelt; er atmete leise, mühsam und kurz. Christof fuhr in seinen albernen Reden fort. Gottfried warf seinen Ballen wieder über die Schulter und machte sich schweigend auf den Weg. So gingen sie nebeneinander her, Christof redete mit lauter Stimme auf den anderen ein und gestikulierte – Gottfried ging schweigsam, hüstelnd. Und als Christof ihn etwas fragte, nannte ihn Gottfried noch einmal Melchior. Diesmal fragte ihn Christof:

»Ja sage mal! Was fällt dir denn ein, mich immer Melchior zu nennen? Du weißt doch, daß ich Christof heiße. Hast du meinen Namen vergessen?«

Gottfried schlug, ohne stehen zu bleiben, die Augen zu ihm auf, schaute ihn an, schüttelte den Kopf und sagte kalt:

»Nein, du bist Melchior, ich erkenne dich gut.«

Christof blieb wie angewurzelt stehen. Gottfried trippelte weiter, Christof folgte ihm ohne eine Erwiderung. Er war ernüchtert. Als er an der Tür eines Kaffeehauses vorbeikam, trat er an die trüben Spiegel, welche die Eingangsgasflammen und den verödeten Bürgersteig zurückwarfen, und sah sich an: er erkannte Melchior. Verstört ging er heim.

Die Nacht – eine Nacht voller Angst – verbrachte er, indem er mit sich ins Gericht ging, sich die Seele durchwühlte. Jetzt verstand er. Ja, er erkannte die Instinkte, die Laster wieder, die in ihm zum Vorschein gekommen waren: sie flößten ihm Entsetzen ein. Er gedachte der düsteren Wache neben dem toten Melchior, gedachte der guten Vorsätze und er ließ sein bisheriges Leben an sich vorbeiziehen: allen Vorsätzen war er untreu geworden. Was hatte er seit einem Jahr getan? Was hatte er für seinen Gott getan, seine Kunst, seine Seele? Was hatte er für seine Ewigkeit getan? Nicht ein Tag, der nicht verloren, verpfuscht, besudelt gewesen wäre. Nicht ein Werk, nicht ein Gedanke, nicht eine dauerhafte Kraftleistung. Ein Chaos von Sehnsüchten, von denen eine die andere zerstört hatte. Wind, Staub, Nichts … Was hatte es ihm genützt, zu wollen? Nichts von allem, was er gewollt, hatte er ausgeführt. Das Gegenteil dessen, was er wollte, hatte er getan. Geworden war er, wie er nicht sein wollte: das war die Bilanz seines Lebens.

Er legte sich überhaupt nicht nieder. Gegen sechs Uhr morgens – noch war es ganz dunkel – hörte er Gottfried, der sich zum Fortgehen rüstete. Denn er hatte nicht länger bleiben wollen. Da er durch die Stadt kam, war er nur nach alter Gewohnheit seine Schwester und seinen Neffen begrüßen gekommen, aber er hatte gleich gesagt, daß er sich am folgenden Morgen wieder auf den Weg machen wolle.

Christof ging hinunter. Gottfried sah sein fahles, von einer schmerzensreichen Nacht durchfurchtes Gesicht. Er lächelte ihm herzlich zu und fragte ihn, ob er ihn ein wenig begleiten wolle. So gingen sie vor Sonnenaufgang fort. Sie brauchten nicht miteinander zu reden: sie verstanden sich. Als sie beim Kirchhof vorbeikamen, sagte Gottfried:

»Gehen wir hinein, magst du?«

Niemals versäumte er, wenn er in die Gegend kam, Hans Michel und Melchior aufzusuchen. Christof war seit Jahresfrist nicht dort gewesen. Gottfried kniete vor Melchiors Hügel nieder und sagte:

»Laß uns beten, daß sie gut schlafen und uns nicht quälen mögen.«

Sein Denken war ein Gemisch von seltsamem Aberglauben und klarem Verstand, manchmal war es Christof sonderbar vorgekommen; diesmal aber verstand er ihn nur allzugut. Nichts weiter sagten sie zueinander, bis sie den Kirchhof verließen.

Als sie dann das seufzende Gitter wieder geschlossen hatten und längs der Mauer durch die frostigen, erwachenden Felder weiterschritten, den kleinen Pfad, der sich unter den schneetropfenden Gräberzypressen hinzog, fing Christof zu weinen an:

»Ach Onkel,« sagte er, »wie bin ich unglücklich!«

Er getraute sich, aus einer sonderbaren Furcht, den Onkel zu verletzen oder peinlich zu berühren, nicht, ihm von seiner Liebeserfahrung zu sprechen, aber er redete von seiner Schmach, seiner Minderwertigkeit, seiner Feigheit, seinen übertretenen Vorsätzen.

»Onkel, was soll ich tun? Ich habe gewollt, ich habe gekämpft; und nach einem Jahr bin ich auf demselben Punkte wie am Anfang. Nicht einmal da! Ich bin zurückgeworfen. Ich bin zu nichts gut, zu nichts bin ich zu brauchen. Ich habe mein Leben zugrunde gerichtet, ich habe mich verleugnet! …«

Sie stiegen den Hügel oberhalb der Stadt empor. Gottfried sagte voller Güte:

»Es ist nicht das letzte Mal, mein Kleiner. Man tut nicht, was man will. Man will und man lebt! Das ist zweierlei. Man muß sich trösten. Die Hauptsache, siehst du, ist, daß man niemals müde werde zu wollen und zu leben. Das Übrige hängt nicht von uns ab.«

Christof wiederholte voller Verzweiflung:

»Ich habe mich verleugnet!«

»Hörst du?« sagte Gottfried …

(Die Hähne krähten übers Land.)

»Sie haben auch einem anderen gekräht, der verleugnet hat. Sie krähen jedem von uns, jeden Morgen.«

»Es kommt ein Tag,« sagte Christof bitter, »wo sie mir nicht mehr krähen werden … Ein Tag ohne Morgen. Und was werde ich dann aus meinem Leben gemacht haben?«

»Es gibt immer ein Morgen,« sagte Gottfried.

»Was aber tun, wenn alles Wollen nichts nützt?«

»Wache und bete.«

»Ich glaube nicht mehr.«

Gottfried lächelte.

»Du würdest nicht mehr leben, wenn du nicht glaubtest. Ein jeder glaubt. Bete.«

»Was beten?«

Gottfried wies zur Sonne empor, die an dem roten, eisigen Horizont erschien:

»Sei fromm vor dem aufgehenden Tage. Denke nicht daran, was in einem Jahr, in zehn Jahren sein kann. Denke ans Heute. Laß alle Theorien. Alle Theorien, siehst du, selbst die von Tugend reden, sind schlecht, sind dumm, richten Böses an. Vergewaltige das Leben nicht. Lebe heute. Sei fromm vor jedem Tag. Liebe ihn, ehre ihn, mache ihn vor allem nicht welk, hindere ihn nicht am Blühen. Liebe ihn, auch wenn er grau und trübe ist wie dieser. Sorge dich nicht. Schau. Jetzt ist Winter. Alles schläft. Die gute Erde wird wieder aufwachen. Man muß nur eine gute Erde und geduldig wie sie sein. Sei fromm. Harre aus. Bist du gut, so wird alles wohl gehen. Bist du es nicht, bist du schwach, kommst du nicht ans Ziel, nun, so muß man auch dann noch glücklich sein. Dann kannst du sicherlich nicht mehr. Also warum mehr wollen? Warum dich um das betrüben, was du nicht vollbringen kannst? Man muß so viel tun, als man kann … Als ik kan Wahlspruch van Eycks

»Das ist zu wenig,« sagte Christof und zog eine Grimasse. Gottfried lachte freundschaftlich:

»Das ist mehr, als irgend jemand tut. Du bist hochmütig. Du willst ein Held sein. Daher kommt's, daß du nichts als Dummheiten begehst … Ein Held! … Ich weiß nicht genau, was das ist; aber, siehst du, ich bilde mir ein: ein Held ist einer, der tut, was er kann. Die anderen tun es nicht.«

»Ach!« seufzte Christof, »wozu soll man dann leben? Das lohnt nicht der Mühe. Und doch gibt es Leute, die behaupten: Wollen ist Können! …«

Gottfried lachte von neuem leise:

»Wirklich? Nun dann sind sie große Lügner, mein Kleiner. Oder sie wollen nichts Großes …«

Sie waren auf dem Gipfel des Hügels angelangt. Sie küßten sich zärtlich. Der kleine Händler ging mit seinem müden Schritt davon. Christof blieb sinnend und schaute ihm nach. Er wiederholte leise des Onkels Wort:

»Als ik kan.«

Und er lächelte und dachte:

»Ja … Immerhin … es ist genug.«

Er kehrte zur Stadt zurück. Der harte Schnee knirschte unter seinen Schuhen. Der scharfe Winternordwind ließ die nackten Zweige der verkrüppelten Bäume auf dem Hügel beben. Er rötete seine Wangen, brannte seine Haut, peitschte sein Blut. Die roten Dächer der Häuser unten lachten der glanzvollen kalten Sonne entgegen. Die Luft war stark und hart. Die eisige Erde schien in einer herben Freudigkeit zu jubilieren. Und Christofs Herz war wie sie. Er dachte:

»Auch ich werde erwachen.«

Noch hatte er Tränen in den Augen. Er trocknete sie mit dem Handrücken und schaute lachend zur Sonne auf, die in einem Dunstvorhang versank. Schneeschwere Wolken strichen vom Windstoß gepeitscht über die Stadt. Er zog ihnen eine lange Nase. Der eisige Wind blies …

»Blase, blase! … Mach mit mir, was du willst! … Trag mich fort … Ich weiß, wohin ich gehe.«


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