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Die Frau mit den scharfen Linien im Gesicht und dem aus böser Erfahrung geborenen Mißtrauen der zimmervermietenden Sippe in ihrem Wesen sah mich prüfend von oben bis unten an und brummte:
»Das Zimmer kostet zwei Dollars die Woche, junger Mann, und wer nicht pünktlich vorausbezahlt, der fliegt!«
»Wie meinen Sie?«
»Fliegt, hopla, adieu – die Witwe Dougherty vermietet ihre Zimmer nicht zu ihrem Vergnügen. Will aber nichts gesagt haben, Herr – nur mein Geld muß ich haben. Kohlen kosten zehn Cents der Eimer, und wenn Sie kochen wollen, leih' ich Ihnen das Geschirr. Wer bar bezahlt, ist der Gentleman! Nehmen Sie das Zimmer?«
Bruder Leichtfuß, sonnenfroh mit seinem Reichtum von dreiundvierzig grünen Scheinen des Dollarlandes, bezahlte klüglich gleich für einen ganzen Monat und richtete sich in einem von Witwe Doughertys winzigen Zimmerchen häuslich ein, den ersten Abend zwischen den eigenen vier Wänden in unzähligen Zigaretten selig verträumend. Elegant war er wieder, der Lausbub, und Geld hatte er in der Tasche! Da war's kein Wunder, wenn er sich blutwenig um Zukunftspläne und Zukunftsnöte scherte. Das Ringen um die Zukunft war im Grunde gigantisch einfach! Furchtbar simpel!! Man – jawohl, man – nun, man ging eben nach dem Rezept von Freund Starkenbach in einen Wolkenkratzer und lies sich in den verschiedenen Kontors melden – nun, und redete – Das würde sich alles schon finden. Das hatte ja gar keine Eile! Die Welt war wunderschön ...
Von einer Straßenbahn in die andere kletterte ich am nächsten Morgen und trank mit dem Selbstbewußtsein, das in den guten Kleidern und in den Dollarscheinen steckte, das Getriebe der Mississippistadt ein; das hastende Straßenbild, die himmelstrebenden Wolkenkratzer, den Wirrwarr der Riesenstadt, bis der Zufall mich in das Gebäude der öffentlichen Bibliothek von St. Louis führte, in die Welt der Bücher.
Hunderttausende von Büchern füllten auf breiten Regalen die riesigen Säle. Raffiniert eingerichtete Kartenkataloge im Vorzimmer gaben einen ausgezeichneten Ueberblick. Liebenswürdige junge Damen schafften in wenigen Sekunden die Bücher herbei, deren Titel und Nummern man auf einem Zettelchen aufgeschrieben hatte, und dann lockten die weichen Lehnstühle in den eleganten Sälen zum Lesen und zum Träumen.
Um 11 Uhr morgens war ich in die Bibliothek gekommen – bis zum späten Abend blieb ich, ohne an Essen und Trinken auch nur zu denken; glückselig in der Bücherpracht. Und pünktlich in aller Frühe am nächsten Tag war der Lausbub wieder da! Wie ein Hungriger verschlang ich Buch auf Buch, als müßte ich mich für die langen Monate primitiven Lebens mit einemmal entschädigen; wie Hans im Glück kam ich mir vor, wie ein ausgeträumter böser Traum lag das Hantieren mit rußigen Kupferkesseln in weiter Ferne. Es war so still und wohlig in den vornehmen Räumen! Und die Bücher!! Wahllos las ich durcheinander, bald deutsch, bald englisch, bald französisch; ja sogar die Schreckgespenster der Schulzeiten, die Odyssee, der Cicero, waren Offenbarungen von Schönheit für den Exkesselputzer, dem das Rumoren in den klassischen Sprachen, das Bewußtsein der Bildung, wieder ein selbstbewußtes Rückgrat gab. Praktisch gedacht, war's bodenlose Zeitverschwendung – auf die Straßen hinaus hätte der leichtsinnige Strick gehört, auf die Arbeitssuche hätte er gehen müssen! Statt dessen fraß er ein Dutzend Romane im Tag, von der Marlitt bis zum Sudermann, von den Indianern des guten Fennimore Cooper bis zu den afrikanischen Geheimnissen Rider Haggards, mit einem Stück Ilias und einem Kapitel Kant oder Schopenhauer dazwischen ... Eines der Bücher, die am stärksten auf mich wirkten, waren sonderbarerweise die Erlebnisse eines Opiumessers von Thomas de Quincey: nicht um der Opiumträume willen, die mir manchmal sogar langweilig schienen, sondern ob der unbeschreiblich schönen englischen Wortperlen. Ein gelehrter Aesthet hatte da aus allen Sprachen der Welt Schönheiten geborgt und sie kunstvoll hineingemengt in die Simplizität der einfachen englischen Sprache; ohne gründliche Kenntnisse des Lateinischen und Griechischen wäre es unmöglich gewesen, das Buch zu verstehen. Und da war Kipling, der Meister moderner englischer Schilderung, der in Worten malte und zum Greifen deutlich darstellte; der Bilder von englischen Soldaten und krasse Szenen indischen Lebens so in den Leser hineinzauberte, daß man sich im Märchenland Indien heimisch fühlte, als hätte man von Kindesbeinen an dort gelebt. Der englische Zauberer, der blaß und matt wirkt, wenn man seine Wortkunst in andere Sprachen überträgt, ist mir, bald bewußt, bald unbewußt, auf Jahre hinaus das Vorbild geblieben; seine farbensprühenden Soldaten waren es, die mir die Sehnsucht einimpften, so wie er Menschen hinzustellen, die lebendig dastanden vor dem Leser und eine ganze Klasse, eine Berufsart, einen Typ mit allen Eigentümlichkeiten verkörperten: so wie er Gegenden zu schildern, daß man im lesen mit staunenden Augen Land und Leute vor sich sah, wie vor einem Gemälde stehend.
Leichtsinn war's: unbeschreiblicher Leichtsinn, aber mir ist, als seien die Tage in der Bibliothek von St. Louis Merksteine gewesen: Wegweiser des Kismet, die Bruder Leichtfuß auf neue Wege führten. Wie ein pfennigfuchsender Geizhals sparte ich, um die Freuden der Bücher ja recht lange ausdehnen zu können; kochte mir selbst Kaffee des Morgens, trank mittags ein Glas Milch, aß ein Brötchen irgendwo in der Nähe der Bibliothek und kaufte abends ein wie ein guter Hausvater, um dann auf dem winzigen eisernen Ofen zu kochen und zu braten. Gar oft plagten mich freilich Gewissensbisse und ich nahm mir vor, am nächsten Morgen aber ganz bestimmt die Wanderung in den Wolkenkratzern zu beginnen. Kam jedoch dann der Morgen, so fand er mich sicher wieder vor der Bibliothek, ums Portal schleichend wie die Katze um den heißen Brei! Nur noch einen einzigen Tag! Nur ein paar Bücher noch lesen! Nur ein wenig noch!! Mochte der Kuckuck die Sorgen holen – denn da oben war's ja so schön, so schön ...
»Aber wir schließen um drei Uhr – jetzt gleich,« sagte lächelnd die junge Dame am Büchertisch: »wissen Sie denn nicht, daß es heute Weihnachtsabend ist ... Sie unersättlicher Bücherwurm?«
Da schlich ich mich betrübt nach Hause, und weil mir die Bücher gar so fehlten, gab mir ein Teufelchen den Gedanken ein, selbst etwas zu schreiben. Ein gräßliches Machwerk wurde es; eine weinerliche Geschichte von einem deutschen Leutnant, der, in bitterer Armut zum Hotel der Armen und Elenden am Mississippiufer gesunken, nach einem fürchterlich langen Monolog über den Jammer der Welt und die Scheusäligkeit der Dinge sich im Schein des glühenden Ofens eine Kugel durch den gemarterten Kopf schoß ... Und da dieses Verbrechen einer Skizze mich natürlich in die schönste Jammerstimmung hineinbrachte, so bedauerte ich mich aus tiefster Seele ob dieses einsamen Weihnachtsabends und schrieb zum erstenmal seit langer Zeit einen langen Brief an meine Mutter. Einen weinerlichen Brief – den ich am Christmorgen schamrot in hundert Fetzen zerriß mit dem Vorsatz, dann erst zu schreiben, wenn es mir gut gehen würde. Meinen deutschen Leutnant aber kopierte ich fein säuberlich und sandte ihn an die Redaktion der Westlichen Post, der großen deutschen Tageszeitung von St. Louis.
*
Zitternd vor Aufregung saß ich auf dem wackeligen Stuhl neben dem papierübersäten Redaktionstisch und starrte dem Lokalredakteur in das runde Gesicht mit den boshaft funkelnden Aeuglein.
»Ganz richtig!« sagte der Lokalredakteur. »Ich schrieb Ihnen, Sie möchten vorsprechen. Also,« (er kramte unter den Papieren auf dem Tisch und zog mein Manuskript hervor) »ich muß Sie vor allem darauf aufmerksam machen, daß nach den Regeln des praktischen Lebens ein armer Teufel, dem die Zehen aus den Stiefeln gucken und dem der Hunger im Magen beißt, ein so wertvolles Besitztum wie einen Revolver nicht zum Totschießen benützt. Er verkauft ihn, Verehrtester! Lassen Sie also Ihren deutschen Leutnant zum mindesten zuerst sein Schießeisen aufessen und hängen Sie ihn dann an einem Strick auf. Oder werfen Sie ihn in den Mississippi; das ist auch ein schöner Tod! Waren Sie Offizier?«
»Nein.«
»Na, weshalb kaprizieren Sie sich dann auf Ihren Jammerlappen von Leutnant? Weg mit ihm! Wissen Sie was – wir wollen den selbstgemordeten Unglücklichen noch einmal morden!« (Ritsch, ging der Rotstift über meine schönen drei Seiten Einleitung.) »Und was quatscht der Mensch alles zusammen!« (Ritsche, ratsche war mein langer Monolog beim Kuckuck.) »So! Nun haben wir den Stall gefegt. Verehrtester, und was übrig bleibt, ist die gute Schilderung eines Schlafhauses niederster Klasse, die ich gerne bringen werde.«
Beinahe wäre ich umgefallen vor freudiger Ueberraschung –
»Nun wär' es mir aus besonderen Gründen lieb,« fuhr er fort, »wenn Sie mir erzählen würden, was Sie in Malheurika eigentlich treiben!«
»... Hm,« grinste er endlich, »dieses Herumkugeln ist typisch. Es geht den meisten so! Nun hören Sie: Unser zweiter Depeschenübersetzer hat sich in der Sylvesternacht aus Glatteisgründen, ja, und sonstigen Gründen, ein Bein gebrochen und wir brauchen jemand zur Aushilfe, bis der arme Doktor Morgenstern wieder gesund ist. Wollen Sie es versuchen? Ja? Das Honorar – Honorar heißt Ehrensold – beträgt zwölf Dollars wöchentlich. Dann gehen Sie also mit Gott zu meinem lieben Freund und Widersacher, dem Depeschenredakteur, grüßen Sie ihn von mir, und sagen Sie ihm Bescheid. Da draußen – rechts – auf dem Gang! Guten Morgen, Herr Kollege!«
Herr Kollege! He–err Ko–ll–ege! Fabelhaft! Zum Weinen schön! Ueberglücklich stürmte der nagelneue Kollege hinaus auf den Gang und sah in einer Art schmalen Verschlags von Glaswänden ein grauhaariges kleines Männchen auf hohem Drehstuhl sitzen. Das Männchen putzte sich eben umständlich eine große feuerrote Nase mit einem noch röteren Taschentuch und stak im übrigen bis an die Ohren in einem wahren Berg von seidendünnen Papierblättchen.
»Mein Name ist Carlé – ich bin zur Aushilfe angestellt und soll mich bei Ihnen melden!« sprudelte ich hervor.
»Sähr angenähm. Ich heeße Schulze, Doktor Schulze, Härr Kollege, und bin ä gemiedlicher Sachse. Sind Sie Fachmann, Härr Kollege?«
»Nein, Herr Doktor!«
»Ach herrjemmerschnee, das is' aber ungemiedlich – ich ersticke, erstücke ja in düssem Berg von Associated Preß copy. Fangen Sie nur gleich an. Härr Kollege, es wird schon schiefgehen!«
Damit drückte er mir ein Bündel der seidendünnen Papierchen in die Hand und führte mich ins Nebenzimmer an den verwaisten Tisch des Mannes mit dem Beinbruch. Ein Herr, der an einem zweiten Tisch saß – es war der Polizeireporter – stand auf, klappte die Hacken zusammen und stellte sich vor: Pressenthin!
»Ein Härr Carlé, lieber Härr Referendar,« erläuterte das graue Männchen, »der mür helfen würd, das vertrackte Zeug der Associated Preß Luderchen in anständiges Deutsch zu bringen. Uebersetzen Sü nach Gutdünken. Härr Kollege – lassen Sü den Mist weg und spinnen Sü die besseren Sachen ein wänig aus. Fabrizieren Sü gute Überschriften und heben Sü mir, bitte, die Originale auf. Nun, wür werden ja sehen!«
Mit brennendem Eifer machte ich mich an die Arbeit und fand, daß das Uebersetzen der mit der Schreibmaschine auf dünnes Seidenpapier vervielfältigten Zeitungstelegramme kindereinfach war. Das erste Telegramm schon war niedlich. Ein pathologisch anormaler Arzt in Chicago hatte sich das merkwürdige Vergnügen geleistet, auf offener Madison Street in Chicago am hellichten Tag alle Damen zu küssen, denen er begegnete, und war natürlich eingesperrt worden. Während ich diese echt amerikanische Sensationsnachricht übersetzte, fiel mir auch schon eine Ueberschrift ein – ein Heinezitat, das famos paßte: »Herr Doktor, sind Sie des Teufels?« Ich fand die Spitzmarke so nett, daß ich vergnügt vor mich hin kicherte. Nach einer halben Stunde kam der Depeschenredakteur wieder:
»Lassen Sü einmal sehen, Härr Kollege. Ist das schon alles fertig? Menschenkind, das gefällt mür. Häh! Hoh! Herr Doktor sind Sie des Teufels? Ausgezeichnet, mi fili; häh, gute Idee – wir beide werden schon miteinander auskommen!«
So war ich nun ein Rädchen in der großen Maschine der Tagespresse; ein winzig kleines Rädchen freilich, ein krasser Rekrut in der Armee der Männer von der Feder. Die Neuigkeitsdepeschen der Associated Preß, des Wolff-Bureaus der Vereinigten Staaten, kamen natürlich in englischer Sprache und mußten nicht nur in Deutsch übersetzt, sondern auch bearbeitet werden. Denn im Original waren sie trocken wie Stroh und sachlich wie ein Gothaischer Hofkalender. Die Associated Preß versorgte Ihre Majestät die Presse mit nackten Tatsachen und nichts als Tatsachen. In den ersten Tagen übersetzte ich glatt. Aber das graue Männchen mit der komischen Nase war ein journalistisches Genie, ein Enthusiast, der es meisterhaft verstand, in wenigen gelispelten Worten unschätzbare Winke zu geben.
»Düs üst ein knochiges Skölett.« pflegte er zu lächeln. »Zaubern wür dem Skölett ein bißchen Fleisch auf die Knochen! Presto! Eins, zwei, drei – die Geschüchte ist furchtbar einfach ...«
Und dann wattierte er eine magere Depesche mit einigen Sätzen fein stilisierter Einleitung; machte mit einem geschickten Wort hier, mit einem Schlaglicht dort die trockene Meldung interessant, ohne sich jemals an der Wirklichkeit der Tatsachen zu vergreifen. Denn ein Schuster müsse mit seiner Ahle umgehen können, und ein Journalist mit den Raffiniertheiten der geschriebenen Sprache.
»Das üst grobes Handwerk, mi fili! Dü feinen Instromente des Zeitungshandwerks aber stecken oben im Schädel, und um sie zu schleifen muß man lesen – zehntausendmal so vül lösen als man schreibt. Lesen Sie, Mann, lesen Sü, wenn Sie nur können, und Sie werden dem alten Depeschenmenschen noch einmal dankbar sein.«
Begeistert war ich von der Arbeit der Zeitung. Das kleine Zimmerchen bei der Witwe Dougherty sah mich nur zur Schlafenszeit, denn die engen, ungemütlichen, lärmerfüllten Redaktionsräume der Westlichen Post waren mir ein Paradies, das unwiderstehlich lockte. Ich war der erste, der morgens kam, und der letzte, der spät nachts ging. Wenn ich in der Frühe das Redakteursexemplar durchstudierte und in richtiger Jungeneitelkeit die Depeschen, die ich bearbeitet hatte, mit dem Rotstift anstrich, war ich stolz wie ein König und fand bescheiden, daß doch ein gewaltig großer Teil der Zeitung aus meiner Feder hervorgegangen war ... Und wenn der gute alte sächsische Doktor brummte: »Sü machen sich – Sü machen sich, mi fili!« dann hätt' ich mit keinem Dollarkönig in keinem Dollarwolkenkratzer getauscht. Ich glaube, ich war eitel wie ein Pfau, wie es Bruder Leichtfuß ja sein mußte nach dem Riesensprung vom Kesselputzer zum Redaktionstintenfaß – und oft dachte ich mit jenem Respekt, mit dem man an eingetroffene Prophezeiungen denkt, an die Worte, die mir der alte Rektor des Gymnasiums von Burghausen einst ins Dimmissionszeugnis geschrieben hatte: »Die Leistungen dieses Schülers hätten weit bessere sein können; hervorzuheben wäre nur eine gewisse Gewandtheit im deutschen Aufsatz und sein Interesse für die englische Sprache.« Hoh! Diese Gewandtheit und dieses Interesse brachte mir jetzt zwölf Dollars in der Woche und Träume, die unter Brüdern Hunderttausende wert waren. Und glückselige Briefe schrieb ich nach Hause, so stolz, als sei meine Ernennung zum Chefredakteur nur eine Frage höchst kurzer Zeit –
War der Lausbub lächerlich eitel, so war er mindestens ebenso neugierig und dreimal so enthusiastisch. In dem Enthusiasmus rosenroter Jugend, der über die schwierigsten Schwierigkeiten mit einem Hopla-Hop hinwegsetzt, weil er sie gar nicht erkennt! Jahre später hörte ich einmal bei einem Klubdiner von Zeitungsmenschen in New York einen Toast von Jakob Pulitzer, dem großen Zeitungsmann, der die Zirkulation seiner Zeitung »World« in kaum einem Jahr auf eine halbe Million hinaufgetrieben hatte und sich vor einigen Jahren erschoß, weil er unter der Last seiner ungeheuren Pläne zu einem armen Nervenbündel geworden war.
»Meine Herren – es lebe die Jugend!« toastete Jakob Pulitzer. »Die Jugend lebe; die tolle unverschämte Zeitungsjugend, meine Herren, die voller Arbeitskraft ist und voller Begeisterung; die noch enthusiastisch genug ist, um in einem Reporterstückchen ein welterschütterndes Ereignis zu sehen! Geben Sie mir Jugend, meine Herren, die nichts Besseres verlangt, als zwölf Stunden im Tag arbeiten zu dürfen, die nichts weiß von Geld und Frauen und Lebenskunst, die darauf losstürmt und naiv schildert, was sie sieht – und ich zeige Ihnen den Weg zum großen Zeitungserfolg. Männer von weiser Erfahrung als kommandierende Generäle an der Spitze der Ressorts und tolle Jugend in Reih und Glied! Wir lenken nur. Wir sichten. Die rohen Werte aber schafft die Jugend. Es lebe die Zeitungsjugend, meine Herren!«
Mein Enthusiasmus kannte keine Grenzen. Es schien mir, als sei das alte Sprichwort herumgedreht – als müsse es heißen: Aller Anfang ist leicht! Dem Jungen, der keine Verantwortung kannte und auf sie gepfiffen haben würde, hätte er sie gekannt, der kaum die Anfangsgründe des Journalismus kennen gelernt hatte, schien das Getriebe der Zeitung ein Spiel. Die rasche Arbeit des Depeschenübersetzens ließ viel freie Zeit übrig, die es mir erlaubte, dutzende und aberdutzende von englischen Zeitungen im Tag zu lesen und nach Herzenslust umherzuschnüffeln. Ueberall pfuschte ich hinein. Herr Pressenthin, mit dem Spitznamen Herr Referendar, den er aus seiner deutschen Juristenzeit mit hinübergenommen hatte ins neue Land, versah das wichtige Ressort der Polizeireportage und trieb sich tagsüber auf der Polizei und in den Gerichten herum. Wenn er dann abends kam, war der Hüne mit dem urgemütlichen sanftgeröteten Gesicht und den biervergnügten Aeuglein todunglücklich. Und wenn er endlich seine sieben Bleistifte gespitzt und seine Notizen zurechtgelegt hatte, ließ er sich vorerst eine Flasche Bier holen. Dann fing er an zu jammern:
»Ogottogottogottogott, das Leben ist schwer und zeitraubend – ogottogott, was soll ich nun wieder schreiben über den Mist!!«
Fünf Minuten darauf hatte er sich sicher in irgend einer schauerlichen Partizipialkonstruktion so festgerannt, daß er beinahe weinte! Mir war's ja eine persönliche Ehrung, wenn ich nur arbeiten durfte, und so manche gräßliche Polizeigeschichte hab' ich zusammengedichtet, während der gute Referendar mit seiner Bierflasche auf und abging und mir die Tatsachen diktierte. Dafür hatte er dann immer das gleiche Lob: »Menschenskind, Sie sind gewandt wie ein Affe ...«
Und da war im Nebenraum ein schwindsüchtiger armer Teufel, ein stiller junger Mensch, stets tief über den Zeichentisch gebeugt.
»Darf ich zusehen?« pflegte ich Herrn Westermann, den Zeichner, zu fragen. »Aber es ist mir ja eine Ehre, Herr Kollege!«
Dann konnte ich stundenlang zusehen, wie die Stahlnadel Linien und Schraffierungen in die Kreidefläche grub. Es war ein eigentümliches Illustrationssystem, jetzt schon längst veraltet, glaube ich. Herr Westermann zeichnete die Illustrationen der Tagesereignisse mit seinem Stahlstift in mit harter Kreide dick ausgelegte Zinkplatten. Mit fabelhafter Geschicklichkeit. Sobald der Stift die Zinkplatte erreichte, (durch die Kreidelage durchkratzend) bedeutete das Auftauchen des grauen Zinkuntergrundes den wirklichen Zeichenstrich, dick oder dünn, je nachdem der Untergrund bloßgelegt wurde. Diese Kreideplatten, mit Blei ausgegossen vom Stereotypeur, ergaben ein Negativ, das dann stereotypiert und so im Druck zum Positiv ward.
Oder auf einmal schlug schrill der Feuertelegraph an, der die Redaktion mit der Hauptfeuerwache verband – eins, zwei, drei Schläge. Großfeuer – Pause, ein, zwei, sieben Schläge – im 7. Distrikt. Ein Blick auf die Feuerdistriktkarte, die an der Wand hing, und holtergepolter sauste ich mit dem Feuerreporter und dem Zeichner die Treppe hinunter. Während der Feuerreporter die wichtigen facta zusammentrug, Brandursache, Versicherungshöhe und dergleichen, stand ich nur und schaute, und schrieb dann in fliegender Eile ein Bild des Geschauten nieder, um in Seligkeiten zu schwelgen, wenn der Lokalredakteur meine Federphotographie in Borgis durchschossen zum Setzen gab.
Das Glück erreichte seinen Höhepunkt, als ich nach den ersten Wochen auf einmal fünfzehn Dollars Wochengehalt bekam und zu allerlei selbständigen Reporteraufgaben in die großen deutschen Vereine und auf ihre Bälle geschickt wurde, denn es war ja Faschingszeit. Man wurde feierlich empfangen auf solchen Bällen! Die Ehrenkarte der Westlichen Post war ein Talisman, der ganz mechanisch die schönsten Verbeugungen der Herren Vereinsvorstände produzierte, Vorstellungen nach links und rechts, Liebenswürdigkeiten von jungen Damen, und – vor allem eine sauber ausgeschriebene Liste der »prominenten« Teilnehmer, damit der Herr Doktor (ich!) von der Westlichen Post auch ja niemand vergaß. Und der Herr Doktor wurde stets zu Sekt eingeladen –
Klar und scharf traten auf den Bällen und Festlichkeiten von Turnvereinen und Liedertafeln die Eigentümlichkeiten des Deutschamerikanertums hervor. Der sonderbare Kampf zwischen alter Anhänglichkeit an die Heimat und dem Anpassenmüssen an das neue Land. Zum allergrößten Teil waren die St. Louis'er Deutschen der wohlhabenden Kreise schon längst amerikanische Bürger geworden und behalfen sich, so gut es eben ging, mit dem alten Deutschamerikanermotto:
»Unser Deutschland ist uns die Mutter, zu lieben und zu ehren: das Land des Sternenbanners ist uns die Frau, mit der man durch dick und dünn geht ...«
Sie pflegten deutschen Sang und deutsche Gemütlichkeit, tranken deutsches Bier und importierten deutsche Kartoffeln aus den Vierlanden, weil sie doch anders schmeckten als die wässerigen amerikanischen Gewächse. Sie wetterten gegen das verdammte Muckertum und die Weiberwirtschaft in der amerikanischen Gesellschaft, und arbeiteten mit Geld und Einfluß gegen die frömmelnde Sonntagsheiligung, die Theater und Restaurants am Sonntag hermetisch verschloß. Aber sie zersplitterten sich auch in Kleinigkeiten der Vereinsmeierei und persönlichen Eifersüchteleien: zersplitterten sich so, daß die ungeheure politische Macht, die das Deutschtum von St. Louis bedeutete, niemals geschlossen in die Wagschale geworfen werden konnte. Deutsch fühlten sie sich auf ihren Festen. Im Alltagsleben aber hatte das Muß der Dollarjagd, die Formlosigkeit, die Hast, das Vorwärtspeitschen des »amerikanischen« Geschäftsmannes sie in den Krallen. So naiv ich war, so lachte ich doch, als mir ein merkwürdiger deutscher Herr, der mir als sehr reich und »prominent« geschildert worden war, auf solch einem Ball einmal sagte:
»Es ist 'was Schönes um die deutsche Gemütlichkeit, aber beim Dollar hört die Gemütlichkeit auf. Mei' Sohn lacht, wenn ich will, daß er deutsch sprechen soll, und sagt er könn' kei' money machen mit dem Deutschreden!«
Selbst auf den deutschen Bällen sprach ja das junge Volk nur Englisch und redete höchstens mit den Eltern ein barbarisches Gemisch von Deutsch und Englisch:
» Poppa (Papa) gib mir ein wenig small change (Kleingeld): ich mecht mir ein ticket (Karte, in diesem Fall: Los) für die lottery kaufe! Es gibt schene prizes von valuable (wertvolle) Gegenstände –«
Und ebenso barbarisch mahnte die brave Mama, während der Papa das Kleingeld aus der Hosentasche zog: »Eeh nur, mein Kind; aber tanz' mer net zu much (viel), »damit du mir keine Kohld ketsche tust!« ( to catch cold – sich eine Erkältung zuziehen.) Und eine bildhübsche junge Dame sagte mir einmal als höchstes Kompliment: »Sie sehen wirklich gar nimmer deutsch aus!«
Ausnahmen waren da: starke, selbstbewußte deutsche Männer. Die Mehrzahl aber lebten in einem sonderbaren Zwiespalt völkischer Gefühle – bald deutsch empfindend, bald von der sonderbaren Angst gepackt, vom Vollblutamerikanertum als nicht ganz gleichwertig angesehen zu werden. Sie kreuzten die deutsche Flagge und das amerikanische Banner in ihren Vereinssälen und wußten nicht, sollten sie nun links schielen oder rechts, sollten sie nun Deutschland, Deutschland über Alles singen oder Heil dir, Amerika! Sie waren manchmal ein ganz klein wenig komisch und wirkten sonderbar in ihrer Zwiespältigkeit in kleinen Dingen. Und dennoch hatte dieses amerikanische Deutschtum einen gewaltig großen Zug, der hoch über allen Eigentümlichkeiten stand: Den ehrlichen Instinkt des deutschen Mannes, der sich die Finger sauber hielt von den Geldschwindeleien und der schmutzigen Wühlarbeit der Stadtpolitik, der seine Frau ehrte, ohne sie zum Luxusspielzeug zu machen wie sein amerikanischer Nachbar – der nur einen greulichen Fluch übrig hatte für die Salbung und den Sonntagsschwindel amerikanischer Pfaffen. Und immer stärker wird das Rückgrat der deutschen Männer in Amerika, je stärker das Reich wird: immer größer die Zahl der Deutschen, die in den Vereinigten Staaten tüchtige Arbeit leisten und doch stolz Deutsche bleiben. Die es nicht so wie früher für richtig halten, nach sechs Monaten in Dollarika vors Gericht zu laufen und die berühmte Formel der Bürgererklärung zu schwören:
»Ich erkläre es unter Eid als meine Absicht, Bürger der Vereinigten Staaten von Nordamerika werden zu wollen, und sage allen europäischen Königen und Prinzen und Potentaten die Treue ab, insonderheit dem deutschen Kaiser ...«
Bruder Leichtfuß lernte sehr viel in jenen Tagen, ohne es auch nur im geringsten zu wissen. Gedankenlos, so wie ein Kind an der Milchflasche saugt, sog er allerlei wertvolles Wissen in sich ein. Er schnüffelte bei den Setzmaschinen herum und lernte es, das Negativ gesetzter Lettern zu lesen; er gewöhnte sich an die Schriftarten und ihre Namen; er trieb sich in der Stereotypie umher. Der alte Chefredakteur Pretorius der Westlichen Post, der einst Gouverneur von Missouri gewesen war, und auf dessen Stimme heute noch das offizielle Amerika horchte, gab in seinen kurzen Leitartikeln ein wunderbares Beispiel von Knappheit und Klarheit – der Depeschenredakteur lehrte mich flüssigen Stil und brachte mich dahin, zwischen Wesentlichem und Nebensächlichem unterscheiden zu können – der Lokalredakteur predigte immer wieder:
»Lernen Sie sehen! Wo Sie auch noch hinkugeln mögen in Ihrem jungen Leben und was Sie auch noch anfangen mögen mit sich, lernen Sie sehen! Es wird Ihnen unbeschreiblich nützen. Aus dem Sehen von Einzelheiten erst erwirbt man sich den Blick für den großen Zug des Ganzen. Aus der Gabe, scharf zu sehen, erwächst das Können – für den Zeitungsmann und überall im Leben. An diesem Schreibtisch hier saß einst ein Mann, der einer der größten war in dieser Kunst: Karl Schurz. Jawohl, Karl Schurz war einst Chefredakteur der Westlichen Post und ist heute noch Aktionär. Er, der Deutsche, der es in Amerika zum Minister brachte, konnte sehen, und deshalb konnte er mit unbeschreiblicher Schönheit schildern – weil er in Bildern schrieb und sprach, riß er die Masse mit sich und schritt von Sieg zu Sieg in der Politik. Sehen lernen! Aus den feinen Strichen vieler Einzelheiten entsteht das große Federbild!«
Vor allem aber kristallisierte sich mir aus dem täglichen Lesen unzähliger amerikanischer Zeitungen und Zeitschriften in ganz mechanischem und instinktivem Erfassen ein scharfes Bild amerikanischer Dinge heraus. Die Kämpfe, die Ziele der beiden großen politischen Parteien des Landes. Das Getriebe des Tages. Tausend beleuchtende Einzelheiten über Frauen, über Gesellschaft, über Sitten. Dann technische Dinge: Die Raffiniertheit der Überschriften, die Federschilderungen in Sensationsprozessen, die ein prachtvolles Beispiel dafür waren, wie aus einer Unzahl von kleinen Bilderchen der große Eindruck geschaffen werden konnte. Ein unbewußtes Lernen war es. Ein Gezwungenwerden zum Denken, zum Mitbeobachten des sausenden Rades der Zeitereignisse. Und dann war da das naive Bewußtsein des jungen Menschen, daß hinter ihm die Macht der großen Zeitung stand. Das gab merkwürdiges Selbstvertrauen! Die Visitenkarte mit der Bemerkung links unten in der Ecke » on the editorial staff of the Westliche Post« öffnete alle offiziellen Türen, und bei Erkundigungen im Rathaus oder bei der Polizei wurde man mit unbeschreiblicher Liebenswürdigkeit behandelt. Der Amerikaner weiß die Macht der Presse zu schätzen.
Mir ist die Geschicklichkeit unvergeßlich, mit der der Polizeichef von St. Louis mich einmal in seinen Dienst einspannte. Vom Polizeihauptquartier war telephoniert worden, man möchte einen Redakteur senden, und da Pressenthin auf irgend einer Gerichtsverhandlung war, mußte ich hingehen.
»Sie sprechen ja englisch, als seien Sie im Lande geboren,« sagte der Mann mit dem kurzgeschorenen Schnurrbart und den scharfen grauen Augen, als ich mich mit einigen Worten vorgestellt hatte. »Ich freue mich stets, wenn ich immer wieder sehe, mit welchem Talent gebildete junge Deutsche sich in unsere Sprache und unsere Art einarbeiten. Rauchen Sie?« (Der Polizeichef bot mir eine Zigarre an.) »Es ist mein Prinzip, den Herren von der Presse gegenüber stets ohne Rückhalt zu sprechen, damit der jeweilige Fall klar daliegt. Ich werde Ihnen also alles über den Fall mitteilen, was ich selbst weiß, unter der Voraussetzung, daß Sie solche Einzelheiten unterdrücken, bei denen ich dies besonders bemerke. Sind Sie damit einverstanden?«
»Ja, gerne.«
»Es handelt sich um einen Mord, und zwar um einen besonders für Ihr Blatt interessanten Fall. Heute früh um fünf Uhr wurde im Hause Nummer 763 der Sunbury Avenue (das ist eine unserer elegantesten Villenstraßen, wie Sie ja wissen werden) um Hilfe gerufen. Der Polizist auf Patrouille eilte herbei und fand ein händeringendes Dienstmädchen, die ihn in den ersten Stock führte. Das Haus ist eine kleine Villa. Dort lag in einem Schlafzimmer eine alte Dame erschossen auf blutüberströmtem Fußboden. Ich wurde aus dem Bett geholt und war um 5 ½ Uhr mit meinen Detektiven an Ort und Stelle. Folgendes sind die ermittelten Tatsachen: Das Haus gehört einem Herrn Nolden, einem Deutschamerikaner, Kassier der Schlitzschen Brauerei. Mister Nolden befindet sich augenblicklich auf einer Geschäftsreise im Süden. Die Erschossene war seine Frau. Eine Waffe wurde nicht gefunden, und alle Anzeichen deuten auf Mord, dem ein Kampf vorhergegangen sein muß, da die Möbel in Unordnung und die Teppiche verschoben waren. Auf dem Fußboden fanden wir einen ausgerissenen Knopf mit einem Stückchen Zeug noch daranhängend; einen Knopf von einem hellbraunen Mantel. Fußabdrücke eines Männerfußes wurden ebenfalls gefunden, jedoch nur auf der Treppe und auf einer Stelle des Vorplatzes. Die Schußwunde rührt wahrscheinlich von einem 32kalibrigen Revolver her. Nun liegt, da außer dem Dienstmädchen und Frau Nolden niemand im Hause war und Spuren gewaltsamen Eindringens sich weder an den Fenstern noch an den Türen finden ließen, die Annahme nahe, daß das Dienstmädchen einen Liebhaber ins Haus gelassen hat, und daß dieser den Mord mit oder ohne ihr Wissen verübte. Wir haben das Dienstmädchen nicht verhaftet, sie wird jedoch bewacht, um den Mörder abzufassen, wenn er sich ihr nähern sollte. Bitte bringen Sie über das Dienstmädchen gar nichts. Oder nein, deuten Sie so ein bißchen geheimnisvoll an, daß der Chef der Polizei selbst sie zwei Stunden verhörte und daß das Mädchen nicht verhaftet worden sei. Sie ist Irländerin, hübsch, sehr hübsch. So aufgeregt über das furchtbare Unglück, daß sie kaum vernehmbar war. Wahrscheinlich finden wir durch sie den Schlüssel zum Verbrechen. – Nun danke ich Ihnen bestens. Ich habe bereits Detailangaben für Sie zusammenstellen lassen, – hier bitte,« (er reichte mir ein paar Bogen mit Maschinenschrift bedeckt). »Alles Wissenswerte. Genaue Oertlichkeitsbeschreibung und so weiter. Vielen Dank!«
Ich eilte auf die Redaktion und schrieb und schrieb, während der Lokalredakteur selbst in die Sunbury Avenue fuhr, ohne etwas Neues herauszubekommen. Schon war alles gesetzt, als spät abends ein Polizist eine eilige Mitteilung vom Hauptquartier brachte:
»Der Mörder von Frau Nolden ist heute nachmittag vom Polizeichef und dem Detektivsergeanten O'Hara verhaftet worden. Das Dienstmädchen Lizzie Roberts, die Geliebte des Mörders, ist Mitschuldige. Der Mörder heißt Patrick Rafferty und ist Kellner. Die Verhaftung wurde in seiner Wohnung Doverstreet 73 vorgenommen. Sie dürfen verwenden, was ich heute früh über das Dienstmädchen sagte.«
Telephonisch bekam ich noch nähere Einzelheiten über die Verhaftung und beutete dann das Interview mit dem Chef der Polizei weidlich aus ...
»By Jove,« sagte der Lokalredakteur, als ich begeistert die Liebenswürdigkeit des Polizeimannes pries, »Sie sind ein unschuldiges Schaf!«
»Aber wieso denn –«
»Weil Sie nichts merken. Weil dieser geriebene Kapitän Green niemals liebenswürdig ist, wenn er nicht die besten Gründe hat. Sehen Sie, in vier Wochen sind die Wahlen. Er selbst steht und fällt mit seiner Partei, der im Rathaus herrschenden Partei, die sich in den Wahlaufrufen besonders ihrer guten Polizeiorganisation rühmt. Der Polizeichef braucht Reklame gerade jetzt!! Verstehen Sie? Er hat alles geleitet, alles gemacht, alles verhaftet!!! Und ich wette meinen Kopf, Sie Unschuldslamm, daß er, als er mit Ihnen sprach, schon längst von Patrick Rafferty wußte und nur die Spannung vergrößern wollte. Kapieren Sie? Aber die Geschichte macht sich gut – und so mag es ihm hingehen. Hierzulande wie anderwärts ist man der Presse gegenüber nur dann liebenswürdig, wenn man etwas von ihr haben will, mein junger Freund!«
*
Ich war gerade in eifriger Arbeit an einer langen Depesche. Da trat der Lokalredakteur ein – und mit ihm ein dicker Herr, der ein wenig hinkte. Eine fürchterliche Ahnung stieg in mir auf ...
»Guten Morgen, Doktor Morgenstern!« rief Pressenthin. »Gratuliere zur Wiederherstellung! Nun erzählen Sie uns einmal aufrichtig: War es der Punsch oder war's wirklich das Glatteis?«
»Beides – beides. Sie neugieriger Polizeimensch,« lachte der dicke Herr.
Während ich eine Verbeugung machte und vorgestellt wurde, wünschte ich dem Dicken aus tiefster Seele Pest, Cholera und einen zweiten Beinbruch an den Hals, diesem fetten Engel, der mich armen Teufel aus dem Paradies vertrieb. Ein Gesicht muß ich gemacht haben wie der sprichwörtliche Lohgerber, dem die Felle fortgeschwommen sind!
Das war das Ende; ein klägliches Ende, so schien es mir, der zwei Monate des Glücks. Ein trockenes geschäftliches Ende. Eine Gratifikation von fünfundzwanzig Dollars bekam ich als besondere Anerkennung. Und bei der nächsten Gelegenheit würde ich im Redaktionsstab angestellt werden – und ich solle mich recht oft sehen lassen ...
Als ich aus der Redaktion auf die Straße trat, kam ich mir vor wie ein Ausgestoßener. Wie einer, dem Sankt Petrus die Tür zum Himmelreich vor der Nase zugeschlagen hat. Schleunigst lief ich in meine geliebte Bibliothek. Aber die Bücher kamen mir schal vor und die Stille in den Sälen bedrückend, und ich glaube, am liebsten hätte ich geheult damals. Welch' ein Esel Bruder Leichtfuß doch war – welch' ein unbeschreiblich törichter dickköpfiger Junge! Empfindlich wie ein Goldschlägerhäutchen und unpraktisch wie ein Pensionsbackfisch trotz aller Lebensschneid und aller harten Erfahrungen.
So klar lag der Weg da. So einfach wäre alles gewesen! Die guten Menschen auf der Westlichen Post hätten mich, war doch einer liebenswürdiger als der andere, dahin und dorthin protegiert und mir ohne Zweifel im St. Louis'er Deutschtum Stellung verschafft, und im Laufe der Zeiten wäre ich wohlbestallter Redakteur einer großen Zeitung geworden. Ein sonnenklarer Weg!
Es mag Kismet gewesen sein, daß ich mich furchtbar genierte bei den wenigen Besuchen, die ich noch auf der Redaktion machte; daß eine merkwürdige Unruhe und Unzufriedenheit über mich kam. Für einen Narren hätte mich jeder vernünftige Mensch gehalten – denn eines Abends stieg ich im Bahnhof von St. Louis in den Durchgangsexpreß nach San Franzisko, ohne im geringsten zu wissen, was ich in San Franzisko eigentlich wollte!
Reisefieber war es. Tolles Vorwärtsrollen. Unbewußtes Denken an Billy und an unsere Pläne von damals. Der Entschluß zu der Reise von Tausenden Kilometern war in fünf Minuten gefaßt worden; etwas mehr Zeit kostete die Entscheidung: sollte ich heimlich auf Plattformen fahren oder brav bürgerlich bezahlen? Nein, bezahlen! Das Vagabundenreisen von damals hatte seinen romantischen Reiz verloren, denn tausendmal reizvoller war ja die Romantik der Arbeit.