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2.

»Mister Jenkins läßt bitten«, sagte der Hotelpage höflich. Er stand mit abgezogener Kappe an der Tür des Zimmers. Dorothy Crane trat ein. Joe Jenkins kam ihr mit ausgestreckten Händen entgegen. Er ließ seine grauen Augen teilnehmend auf ihr ruhen. Sie trug ein schwarzes Kleid und einen Persianerpelz; die dunklen Farben unterstrichen die tiefe Blässe ihres Gesichtes. Ihre Augen, die in fieberhaftem Glanz leuchteten, verrieten eine schlaflose Nacht.

»Bitte, setzen Sie sich, Miß Crane. Wie fühlen Sie sich heute?« fragte Jenkins teilnehmend.

»Ich habe kein Auge geschlossen diese Nacht. Die furchtbare Ungewißheit läßt mich nicht ruhen. Helfen Sie mir doch, Mister Jenkins. Helfen Sie mir, meinen armen Vater zu retten!«

Dorothy brach in Weinen aus.

Jenkins nahm ihre Hand. »Sie dürfen Vertrauen zu mir haben, Miß Crane«, sagte er mit großer Herzlichkeit. »Glauben Sie mir, ich werde nichts unversucht lassen, Ihren Vater zu finden.«

»Sagen Sie mir aufrichtig, Mister Jenkins, was ist Ihre Meinung: ist mein Vater noch am Leben?« Sie sah ihn fast flehend, mit angsterfüllten Augen an.

»Vorläufig besteht nicht die geringste Veranlassung, das Gegenteil anzunehmen«, sagte der Detektiv ruhig.

Dorothy führte ihr Tuch an die Augen. Der Ausdruck ängstlicher Spannung wich aus ihren Zügen. Sie ließ sich schwer und müde in einen Sessel fallen.

Jenkins zog ein Zigarettenetui. »Sie erlauben?«

Sie nickte schweigend.

»Es ist nicht zu leugnen«, sagte der Detektiv und sah nachdenklich in den Rauch seiner Zigarette, »das Verschwinden Ihres Vaters ist unter mysteriösen Umständen erfolgt. Soweit wie ich die Dinge bis jetzt übersehen kann, dürfte es sich so zugetragen haben: Ihr Vater hat den Besuch eines Fremden empfangen. Das Erscheinen dieses Mannes und seine Botschaft oder seine Forderung – wir tasten da vorläufig noch im Dunkeln – hat Ihren Vater erregt oder beunruhigt. Dann findet er diese geheimnisvolle Warnung auf seinem Schreibtisch. Jetzt weiß er, daß er bedroht ist. Aber ehe er noch seine Gegenmaßregeln treffen kann, ist der Feind ihm schon zuvorgekommen ...«

»Mein Vater hatte keine Feinde«, warf Dorothy leise ein.

Jenkins lächelte. »Das wissen wir selbst oft am wenigsten. Wir glauben, niemandem je ein Unrecht zugefügt zu haben, und doch hat irgendein unbedachtes Wort, eine allzu schnelle unüberlegte Handlung uns einen bitteren Feind geschaffen. Mister Crane hatte vielleicht keinen persönlichen Feind. Aber möglicherweise – nein sicher – wußte er um eine Sache, die einem anderen zum Verderben werden konnte. Das beweist die Tatsache der Warnung: Lassen Sie die Hände von der Alina-Sache! Ich sagte Ihnen schon gestern nacht, Miß Crane, ich kam nicht zufällig in das Haus Ihres Vaters. Ein Brief, ja ich möchte beinahe sagen, ein Hilferuf Mister Cranes, veranlaßte mich, ihn aufzusuchen. Der Nebel war schuld daran, daß ich zu spät kam. Inzwischen hatten die Feinde schon gearbeitet.«

Dorothy beugte sich im Sessel vor. Sie zerknüllte nervös ihr Taschentuch zwischen den Händen. »Was, glauben Sie, ist mit meinem Vater geschehen?«

Jenkins zerdrückte den Rest seiner Zigarette. Er erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. »Es sind da zunächst viele ungelöste Fragen. Selbst wenn wir annehmen, daß es dem Verbrecher gelang, ungehört und ungesehen vom Personal sich Eingang ins Haus zu verschaffen, bleibt es doch ein Rätsel, wie er die Tür des Tresorzimmers öffnen konnte. Denn das Geheimnis des Mechanismus war doch nur Ihrem Vater bekannt. Nicht wahr, Miß Crane?«

»Zweifellos.«

»Ich kombiniere nun so: Mister Crane hatte sich bereits zur Ruhe gelegt, als irgendein verdächtiges Geräusch seine Aufmerksamkeit erregt haben muß. Er war umsichtig genug, das Telephon zum Tresorzimmer umzuschalten. So war er für alle Fälle gesichert. Der Eindringling muß ihn beim Öffnen der Tresortür beobachtet haben. Dabei entdeckte er, wie der Mechanismus zu bedienen war, und dann ...«

»Und dann?« wiederholte Dorothy atemlos.

»Dann sah Mister Crane wie sich die Tür des Zimmers öffnete – diese Tür, die doch nur er zu bedienen imstande war. Da rief er die Polizeistation an. Aber er konnte nicht alles sagen.«

»Der Verbrecher schlug ihn nieder«, schrie Dorothy verzweifelt auf.

Jenkins schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, daß es zu einer Gewalttat kam.«

»Um Gottes willen, weshalb sprach denn mein Vater nicht weiter?«

»Es war ihm nicht mehr möglich – er verlor das Bewußtsein.«

»Er verlor das Bewußtsein?« fragte sie ungläubig.

»Ja. Allerdings wohl kaum vor Schreck. Er war betäubt worden. Dieser Verbrecher ist mit großem Raffinement vorgegangen. Er hat weder Chloroform noch Äther benutzt, um sein Opfer zu betäuben. Er wußte genau, daß der süßliche Geruch dieser Narkotika ihn noch nach Stunden verraten hätte. Er hat ein besseres Mittel angewendet. Opium.«

Dorothy blickte erstaunt auf. »Opium?« wiederholte sie. »Kann man denn damit einen Menschen augenblicklich betäuben?«

»Ihr Zweifel ist durchaus berechtigt. Sie erinnern sich, Miß Crane, daß Inspektor Bramwell unter dem Lager jenes verdächtigen Burschen einige Pflanzen fand, die wir als asiatischen Mohn erkannten.«

»Sie halten also diesen Menschen für den Täter?«

»Er ist immerhin einigermaßen verdächtig. Jedenfalls steht fest, daß er verschwunden ist. Wahrscheinlich ist er auch der Überbringer der geheimnisvollen Botschaft gewesen, die Ihr Vater auf seinem Schreibtisch fand.«

»Dann stand dieser Bursche wohl auch in Verbindung mit dem fremden Besucher?«

»Das möchte ich so ohne weiteres nicht bejahen. Mir scheint es fast, als ob dieser fremde Mann und der Gärtnerbursche zwei sich bekämpfenden Gruppen angehörten.«

Dorothy stützte den Kopf in die Hand. »Mein Gott«, sagte sie leise, »wie seltsam und unheimlich sind alle diese Dinge.«

»Und doch sind da gewisse Anhaltspunkte, die auf eine – wenn auch geringe – Spur hinweisen. Während meines Aufenthaltes in den Großstädten Indiens ist mir diese Art, Menschen zu betäuben, oft begegnet. Die Straßenräuber verwenden eine bestimmte Mischung von Alkaloiden zu solchen Zwecken. Eine Mischung hochgradig betäubend wirkender Pflanzensäfte. Zusammengesetzt aus den Säften des Bilsenkrautes, das jenes furchtbare Gift Hyoscyamin liefert, und dem Alkaloid des Koka-Strauches. Der Verbrecher reibt seine Hand mit dieser gefährlichen Mischung ein und führt sie an den Mund und die Nase seines Opfers. Eine tiefe Ohnmacht ist die unmittelbare Folge dieses Angriffs. So ist auch Mister Crane betäubt worden.«

»Sie meinen also, Mister Jenkins, mein Vater hat sich gar nicht verteidigen können?«

»Sein jäh unterbrochener Hilferuf beweist das. Auch hat der am Telephon lauschende Beamte der Polizeistation nicht das geringste Geräusch eines Kampfes gehört. Aber auch die Spuren, die ich im Teppich gefunden habe, bestätigen, daß Mister Crane in tiefer Ohnmacht lag, als man ihn aus dem Zimmer schleppte. Denn nur ein Körper, dessen Glieder in ihren Bewegungen gelähmt sind, kann derart tiefe Einbuchtungen im Gewebe hinterlassen.«

»Wie erklären Sie es sich aber, Mister Jenkins, daß der Verbrecher das Haus verlassen konnte, ohne vom Personal gehört zu werden?«

»Er kann, das würde ihm nicht einmal große Schwierigkeiten bereitet haben, über die Mauer des Parks entwichen sein. Aber dann hätte man Spuren an der Wand oder auf den Wegen gefunden.«

»Wie konnte er denn sonst fortkommen, Mister Jenkins? Vorn, an der Gartenpforte hätte ihn der Gärtner bestimmt gehört.«

»Sehr einfach, Miß Crane, er brauchte sich ja nur der Schlüssel zu bedienen, die Ihr Vater in seiner Tasche hatte. Ich habe mich davon überzeugt, daß er durch die kleine Parktür gegangen ist.« Der Detektiv griff in die Tasche und legte einen hellen Stoffknopf auf den Tisch. »Ich habe Hawley gefragt: es ist ein Knopf von dem Pyjama Ihres Vaters.«

Dorothy schossen die Tränen in die Augen. »Ich halte diese entsetzliche Spannung nicht mehr aus, Mister Jenkins. Meine Nerven zerreißen.« Sie trat mit gerungenen Händen auf den Detektiv zu. »Wir müssen einen Aufruf erlassen. Eine Belohnung aussetzen. Selbst die schrecklichste Gewißheit ist eher zu ertragen als diese  ...«

Jenkins legte der Erregten die Hand auf den Arm. »Sie dürfen nicht den Kopf verlieren, Miß Crane«, sagte er mit warmer Stimme, »wir müssen sehr bedacht vorgehen. Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir es mit ganz abgefeimten Spitzbuben zu tun. Es wäre ganz verkehrt, in aller Öffentlichkeit zu arbeiten. Ich habe deshalb auch schon mit Bramwell telephoniert und ihn gebeten, den Fall nicht der Presse mitzuteilen. Glücklicherweise ist von der Polizeistation am Gloucester Square auch bisher keine Meldung an die Zeitungen gegeben worden.«

»Sie wollen sich also der Sache annehmen, Mister Jenkins?« fragte Dorothy hastig.

»Selbstverständlich. Ich sagte Ihnen ja schon, daß Ihr Vater mich um meine Hilfe bat. Hier ist sein Brief.«

Wieder füllten sich Dorothys Augen mit Tränen, als sie die Zeilen ihres Vaters überlas. Mr. Cranes Brief lautete:

 

Kensington-West 16. Victoria Grove.

Mein lieber Mr. Jenkins!

Gestern las ich in der »Times« von Ihrer Ankunft in London. Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie schon heute mit einer privaten Angelegenheit belästige. Aber es handelt sich vielleicht um ein Menschenleben. Ich brauche Ihren Rat, Ihre Hilfe. Mir droht eine schwere Gefahr. Darum kommen Sie sofort, Mr. Jenkins; ich bitte Sie inständig darum.

Ihr sehr ergebener
Wilbur Crane.

P. S. Den beifolgenden Brief übersende ich Ihnen, weil er bei mir nicht gefunden werden darf. Bewahren Sie ihn sorgfältig auf.

 

Dorothy gab dem Detektiv das Schreiben zurück. »Ich verstehe dies alles nicht«, sagte sie mit leiser Stimme. »Es scheint fast, als ob mein Vater in irgendeine gefährliche Sache verwickelt war. Darf ich auch den anderen Brief lesen?«

»Gewiß. Er ist noch rätselhafter als die Zeilen Ihres Vaters.« Jenkins gab ihr das schmale Blatt hinüber. Es war stark zerknüllt; die vielen Falten machten die Schrift fast unleserlich. Man sah dem Papier an, daß es ohne Umschlag in der Tasche getragen worden war. Fingerspuren und Flecke zeigten sich in großer Menge auf dem Blatt.

Dorothy warf einen raschen Blick über die Zeilen. Sie unterdrückte einen Aufschrei. Mit großen, aufgerissenen Augen starrte sie auf das Papier. Ihre Hände zitterten, und aus ihrem Gesicht war jeder Blutstropfen gewichen. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Einen Augenblick preßte sie die Hand vor die Augen. Dann wieder bohrte sich ihr Blick in das Papier. Ihre blassen Lippen murmelten unverständliche Worte.

Jenkins ergriff die Hände des Mädchens – sie waren eiskalt. »Ruhig, nur ruhig, Miß Crane, was ist Ihnen?«

Dorothy atmete schwer. »Mister Jenkins«, stammelte sie, »um Gottes willen, sagen Sie mir, woher kommt dieser Brief?«

»Ich weiß das sowenig wie Sie, Miß Crane. Ihr Vater wollte gewiß mit mir darüber sprechen.«

Hilflos blickte sie zu dem Detektiv hinüber.

»Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte Jenkins besorgt.

Sie schwieg. Immer wieder suchten ihre Augen in den Zeilen. »Nein«, murmelte sie, »ich täusche mich nicht. Das ist seine Schrift. Kein Zweifel!«

Jenkins trat an ihren Stuhl. »Miß Crane, wollen Sie mir nicht sagen, was Sie so erregt?«

Dorothy nickte. »Dieser Brief«, gab sie mit gepreßter Stimme zur Antwort, »dieser Brief kann nur von meinem Verlobten geschrieben sein. Es sind seine Schriftzüge.«

»Ihrem Verlobten? Sie sind verlobt?«

Dorothy senkte die Augen. »Ich war es«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.

Eine Pause entstand. Jenkins war zum Fenster getreten und blickte auf den Platz hinaus.

Bedrückende Stille lag im Zimmer. Dorothy hatte sich erhoben; sie trocknete ihre Tränen. »Ich will Ihnen alles erzählen, Mister Jenkins. Vielleicht dient Ihnen das zur Lösung des Rätsels. Ja, ich war verlobt. Mein Bräutigam war Sekretär der italienischen Botschaft in Paris. Wir lernten uns dort kennen. Als mein Vater und ich einen Ausflug nach Taormina machten, begleitete er uns. Bald darauf waren wir verlobt. Francesco – mein Verlobter hieß Francesco Testi – ließ sich nach London versetzen. An die hiesige italienische Gesandtschaft. Aber er schien mit seiner Tätigkeit in Downing Street nicht zufrieden zu sein. Bis er eines Tages von seinem Ressortchef mit einer besonderen Mission betraut wurde.«

Dorothy unterbrach sich. Ein wehmütiges Lächeln stand in ihrem Gesicht. »Natürlich hat mir Francesco nie gesagt, welcher Art die Mission war, die ihn beschäftigte. Er deutete gelegentlich einmal an, daß er vielleicht in nächster Zeit eine größere Reise antreten müsse.«

»Wissen Sie vielleicht, ob es eine politische Angelegenheit war, die Ihr Verlobter zu bearbeiten hatte?«

»Ich glaube das kaum, Mister Jenkins. Er arbeitete für ein besonderes Ressort in Verbindung mit dem Foreign Office; im Auftrage der italienischen Regierung.«

»Ist Ihnen bekannt, ob er sich mit seinen englischen Kollegen gut stand?«

»Bestimmt. Er hat Golf und Tennis mit ihnen gespielt. Sie haben ihn im Carlton Club eingeführt, trotzdem dieser Klub nur geborenen oder naturalisierten Engländern zugängig ist.«

»Kannten Sie seine Freunde?«

»Einige. In letzter Zeit war er besonders mit Sir Ernest Haddington befreundet.«

»Sir Haddington«, fragte der Detektiv interessiert, »Haddington, vom Auswärtigen Amt?«

»Ich glaube. Francesco hatte viel mit ihm zu tun. Er sagte mir, daß sie zusammen in der bewußten Angelegenheit zu arbeiten hätten.«

»Hm«, sagte Jenkins nachdenklich, »darf ich Sie bitten, weiterzuerzählen, Miß Crane?«

Sie legte die Hand über die Augen. Ein schmerzlicher Zug stand um ihre Mundwinkel. »Jetzt kommt eine sehr traurige Erinnerung für mich, Mister Jenkins. Ein schmerzliches Erlebnis. Eines Tages trat Francesco die erwähnte Reise an. Sie führte ihn nach Paris und Marseille. Anfangs schrieb er mir regelmäßig. Entzückende, von Liebe und Sehnsucht überströmende Briefe. Dann schlich sich ein seltsamer kalter und fremder Ton in seine Zeilen. Immer spärlicher wurden seine Briefe. Zuletzt waren es nur noch Berichte. Manchmal kam dazwischen ein glühender Brief voller Liebesbeteuerungen und quälender Selbstanklagen. Dann hörte ich nichts mehr von ihm. Ich schrieb dringend, bat um ein Lebenszeichen. Keine Antwort. Ich telegraphierte. Ohne Erfolg. Da bat ich meinen Vater, mit mir nach Paris zu fahren. Ich depeschierte Francesco unsere bevorstehende Ankunft. Ein dringendes Telegramm kam zurück: es wäre zwecklos – er stände vor der Abreise nach Marseille.

Das sah aus wie eine Absage. Mein Vater verbot mir nun zu schreiben. Es waren schreckliche Tage für mich. Endlich erfuhr ich Näheres.«

Dorothy senkte den Kopf. Ihre Lippen verzogen sich schmerzhaft; sie unterdrückte das aufsteigende Schluchzen. »Ein Geschäftsfreund meines Vaters kam aus Paris. Er erzählte, er habe Francesco dort gesehen. Er sei stets in Begleitung einer jungen schönen Frau gewesen. Er habe ihn in der Oper, in Auteuil, im Bois, bei Ciro gesehen. Stets wäre die Dame an seiner Seite gewesen. Ich wollte es nicht glauben. Ich zweifelte nicht an Francescos Treue – und betrog mich selbst mit Hoffen und Zuversicht. Bis dann der Brief kam, der alles zerstörte. Er bat mich, ihn freizugeben. Eine Frau sei in sein Leben getreten, eine Frau, die ihn bezaubert habe und von der er niemals lassen könne ...«

Dorothy vergrub den Kopf in die Hände. Die Tränen erstickten ihre Stimme.

Joe Jenkins verharrte in Schweigen. Er nahm den Zettel zur Hand und überlas prüfend die wenigen Zeilen. Der schmale Streifen war mit einer charakteristischen Handschrift bedeckt. Ohne Ortsangabe und ohne Datum. Auch die Anrede fehlte.

 

»Helfen Sie mir! Befreien Sie mich aus dieser Hölle, in der ich zugrunde gehe! Vertrauen Sie dem Überbringer dieser Botschaft. Ich bin hinter ein Geheimnis gekommen, das für Ihr Land von größter Bedeutung ist.

Helfen Sie schnell – ehe es zu spät ist!«

 

Die Schriftzüge waren fast verwischt, als wären sie nicht mit Tinte sondern mit einer künstlich hergestellten Farbe geschrieben.

Endlich hob Dorothy den Kopf. Ihre brennenden Augen richteten sich hilfeflehend auf den Detektiv.

»Sie täuschen sich nicht? Das ist tatsächlich die Handschrift Ihres Verlobten?« fragte er und wies auf das Blatt in seiner Hand.

Statt aller Antwort öffnete Dorothy ihre Tasche, sie entfaltete einen Brief. »Vergleichen Sie selbst«, sagte sie mit einem schmerzlichen Lächeln, »es ist sein Abschiedsbrief. Ich trage ihn noch immer bei mir.«

Der Detektiv warf einen Blick auf das Blatt. Ja – das waren dieselben charakteristischen Schriftzüge wie sie das ominöse Schreiben aufwies. Mit diesen wenigen, aber beredten Zeilen rief Francesco Testi um Hilfe. Hing das nun mit der »Alina-Sache« zusammen, von der jene drohende Warnung sprach? Ohne Zweifel wußten also die Verbrecher, daß Mr. Crane diesen Hilferuf erhalten hatte. Jener fremde Besucher hatte gesprochen, und Crane mußte nun wissen, wo er Testi finden würde; welche Mittel er anzuwenden hatte, um dem Verzweifelnden zu helfen und sein Geheimnis zu erfahren. Dieses Geheimnis, das von gefährlicher Natur sein mußte. Es hatte Testi in eine anscheinend höchst bedrohliche, ja schreckliche Situation gebracht. Zweifellos besaßen die Verbrecher überall ihre Spione; sie zögerten nicht, Mr. Crane verschwinden zu lassen, als sie diesen Hilferuf in seiner Hand wußten und annehmen konnten, daß der Überbringer alles übrige verraten würde. Sie sandten Crane eine Warnung ins Haus. Aber dann, als sie beobachteten, daß er – trotz ihrer Drohung – zum Schlage ausholte, kamen sie ihm zuvor.

Der schrille Ton der Telephonglocke zerriß die Stille im Zimmer. Jenkins ging zum Apparat. Er wechselte nur wenige Worte mit dem Anrufenden, dann hängte er nachdenklich den Hörer ein. »Inspektor Bramwell ruft an«, sagte er, »man hat soeben in einem Quartier der Heilsarmee in Low-Shadwell die Leiche eines Mannes gefunden, die ...«

Dorothy sprang verstört von ihrem Sessel auf. »Mein Vater!« schrie sie gellend.

Jenkins schüttelte den Kopf. »Nein – aber vielleicht jener fremde Mann, der Ihren Vater besuchte. Man fand in seiner Tasche ein Stück Papier mit dem Namen und der Adresse Ihres Vaters.«

Dorothy atmete erleichtert auf. »Ich möchte mit Inspektor Bramwell sprechen. Ist er jetzt in Scotland Yard?«

»Er bittet mich, gleich dorthin zu kommen. Auch Hawley soll mitkommen; er ist ja der einzige, der den Fremden rekognoszieren könnte.«

»Hawley sitzt unten in meinem Wagen, Mister Jenkins.«

»Umso besser. Erlauben Sie, Miß Crane, daß er sofort  ...«

»Ich möchte Sie bitten, mich mitzunehmen, Mister Jenkins«, sagte sie zaghaft.

Der Detektiv machte eine bedenkliche Miene. »Ich fürchte, Sie muten sich zu viel zu.«

»Bitte, bitte«, sagte sie drängend. »Ich komme so besser über diese fürchterlichen Stunden hinweg.«

Die beiden verließen das Hotel.

Der alte Haushofmeister stand vor dem wartenden Auto und sah seiner jungen Herrin mit besorgter Miene entgegen.

Jenkins trat zu dem Chauffeur. »Low-Shadwell, New-Docks, Ecke Dean Street. Aber fahren Sie zunächst bei Scotland Yard vor. Inspektor Bramwell erwartet uns.«

Der Wagen sprang an.

*

Die frühe Dämmerung des trüben Februartages senkte sich über die City. An den Fassaden der Häuser blitzten die Lichtreklamen auf. Die Flammenschriften der Music Halls und der großen Variétés glänzten auf und erloschen. Buntfarbige Lichter schrieben Worte in den nächtlichen Hintergrund. Flammenfackeln warfen Tageshelle in die abendliche Stadt. Bogenlampen, aufgereiht in leuchtenden Schnüren, hingen inmitten der endlosen breiten Straßen und warfen ihren milchigen Schein auf das Pflaster. Der dunkle Himmel überzog sich mit glutrotem Dunst. Durch das Gewühl der Mammut-Omnibusse, der Trams, Autos und Radfahrer schob sich eine dichtgedrängte Menschenmenge. Unerschütterlich, in eherner Ruhe, stand der »Bobby« in der Mitte des Square und dirigierte kaltblütig den rasenden Strom der Fahrzeuge und Menschen.

Als Dorothys Auto den mächtigen Platz des Trafalgar Square verließ und in die breite Whitehall einbog, dröhnte vom nahen Parlamentsgebäude die bronzene Stimme des »Big Ben« sechs Schläge. Jetzt fuhr der Wagen an den Riesengestalten der Kürassiere vorbei, die, mächtigen Statuen gleich, das Portal des Quartiers der Horse-Guards bewachten. Dann bog er in schneller Fahrt in die Parliament Street ein. Dort drüben zur Linken lag der düstere Block von New Scotland Yard.

Der Chauffeur zog die Bremse. Inspektor Bramwell trat grüßend an den Schlag und nahm schweigend im Wagen Platz. Der Chauffeur schaltete den dritten Gang ein. Am Victoria Embankment entlang, nahm das Auto den Weg zum Eastend.

Feuchter Nebel stieg in flatternden Schwaden von der Themse auf. In den dunklen Wellen des Stroms brachen sich die Lichtreflexe der Bojen und Fährschiffe. Dumpf heulten die Sirenen der großen Dampfer von den nahen Docks herüber.

Dort war London-Bridge mit ihrem riesigen ununterbrochenen Strom des Menschen- und Wagenverkehrs.

Düster, schattenhaft stiegen Zinnen und Türme in den dunklen Nachthimmel: der Tower. Das Gewirr der Gassen und Gäßchen um die Docks nahm den Wagen auf.

Kalter Wind kam vom Wasser und fing sich zwischen den niedrigen Häusern der engen, krummen Straßen. Immer spärlicher wurde die Beleuchtung. Mit Mühe nur fand sich der Chauffeur in den winkligen Gassen zurecht.

Aus den niedrigen Kellereingängen der düsteren Häuser drang ekler Geruch. Primitive Aushängeschilder kündigten in den Sprachen aller Nationen armselige Nachtquartiere an. Vor den Stufen der kellerartigen Gewölbe drängten sich verdächtige Gestalten.

Eine Sackgasse zwang den Chauffeur zum Halten. Aber dort hing die Laterne, auf derem weißen Glas sich das Quartier der Heilsarmee ankündigte. Über dem schmalen Eingang flatterte ein Leinenplakat im Wind. Der Regen hatte die Schrift fast verlöscht. Das Licht der Laterne warf einen ungewissen Schein auf die tröstenden Worte: Lasset Euch versöhnen mit Gott.

Eine Menschenmenge drängte sich vor dem Hause. Bettler, Obdachlose, Vagabunden und verschämte Arme. Die Hetzjagd der armen Teufel – diese täglich sich wiederholende Jagd nach Brot, nach Arbeit, nach einem Penny oder nach einem Unterschlupf für die Nacht – war für heute beendet. Hier winkte Ruhe und Frieden.

Mit aufgeklapptem Kragen, die Hände in den Taschen der zerlumpten Röcke vergraben, harrten die Ärmsten auf Einlaß. Blasse Mädchen, den Kopf versteckt hinter dem Rand der blauen Kiepen, verteilten die Brot- und Suppenmarken. Niemand dieser abgehetzten, müden Menschen hob den Blick, als das Auto vorfuhr.

Bramwell stieg aus und ging zu dem Mann mit der breitrandigen Tellermütze, der die Mädchen in ihrer Arbeit unterstützte. Der junge schmalbrüstige Mensch grüßte ernst und wies in das Innere des Hauses. Der Inspektor winkte den anderen.

Dumpfe, schwere Luft schlug den Eintretenden entgegen. Ein Soldat führte sie durch den engen, schlechtbeleuchteten Gang. Aber aus der Tür zur Linken fiel heller Lichtschimmer auf den Korridor. Man sah in einen primitiven, aber sauberen Saal. Auf den Holzbänken saßen dichtgedrängt die Männer. Ihre feuchten Kleider dampften in dem warmen Raum. Der Dunst des Essens stand in der dicken Luft.

Harmoniumspiel und Chorgesang klang auf. Die hellfrischen Mädchenstimmen übertönten das dumpfe Klappern der Zinnlöffel in den Näpfen.

Dorothy warf schaudernd einen Blick auf diese Ansammlung menschlichen Elends. Sie lehnte sich auf den Arm des alten Hawley.

Der Soldat blieb in der Tür eines schmalen Zimmers stehen. An der kahlen Wand zischte eine spärliche Gasflamme aus einem kurzen Arm. Ihr bläuliches Licht spielte mit zuckendem Schein um eine am Boden liegende Matratze. Ein dünnes schwarzes Laken verhüllte den daraufruhenden Körper.

Bramwell zog das Tuch von dem Gesicht des Toten. Er winkte Hawley heran. Der alte Mann warf einen scheuen Blick auf die wächsernen Züge des vor ihm Liegenden. »Ja«, nickte er, »das war der Mann, der Mister Crane sprechen wollte. Ich erkenne ihn bestimmt wieder.«

Der Inspektor breitete das Tuch wieder über den Toten. »Es ist seltsam«, wandte er sich an Jenkins, »es sieht fast so aus, als bestände ein Zusammenhang zwischen dem Verschwinden Mister Cranes und dem Tode dieses Mannes.«

»Hat man die Todesursache schon festgestellt?«

»Ja. Der Distriktsarzt konstatierte: Vergiftung.«

»Haben Sie den Befund des Arztes?«

»Hier.« Bramwell entfaltete den Schein.

»Hm«, Jenkins sah gedankenvoll auf den Toten zu seinen Füßen, »Vergiftung durch Akonitin. Also auch durch ein Alkaloid – das giftigste von allen.«

»Könnte hier nicht Selbstmord vorliegen?« fragte Dorothy.

Bramwell schüttelte den Kopf. »Nicht anzunehmen. Die Kleider des Mannes sind bei seiner Aufnahme im Asyl desinfiziert worden. Wo sollte er das Gift verborgen haben?«

»Hat man den Toten agnosziert?«

»Vielleicht.«

»Vielleicht? Was wollen Sie damit sagen, Inspektor?«

»Das ist auch eine merkwürdige Geschichte, Mister Jenkins«, sagte Bramwell und rieb sich bedächtig das Kinn. »Papiere oder irgendwelche Dokumente hat man bei dem Toten nicht gefunden. Es sieht fast so aus, als ob sie ihm geraubt wären.«

»Woraus schließen Sie das?« fragte Jenkins lächelnd.

»Der Mann war sehr ordentlich gekleidet. Aber die Brusttasche seines Jacketts war zerfetzt. So als ob jemand mit Gewalt das Futter zerrissen hätte. Im Innern dieser Tasche fanden wir einen Zettel. Eine Anweisung auf einen Zwischendeckplatz für den Dampfer ›Lahore‹. Es ist ein Frachtdampfer der East India Company. Das Schiff liegt am Sankt Catherine Dock. Sollte heute Nacht in See gehen.«

»Haben Sie bei der Gesellschaft angefragt?«

»Natürlich. Und nun kommt wieder das Seltsame: ein Zwischendeckplatz ist vorgestern von Mister Crane belegt und bezahlt worden. Der Mann, der sich das Ticket mit dem Ausweis Mister Cranes abholte, ist identisch mit dem Toten hier.«

Dorothy blickte befremdet auf den Detektiv.

Jenkins wiegte den Kopf. »Ein Name war nicht angegeben?« fragte er.

»Nein.«

»Und hat ein anderer das Ticket vorgewiesen?«

Bramwell verneinte. »Der Clerk im Büro sagte mir, daß der Platz unbelegt blieb.«

»Das ist in der Tat seltsam«, sagte Jenkins. »Ich bin ganz Ihrer Meinung, Inspektor. Dieser Mann hier ist nicht freiwillig gestorben. Es besteht da ein Zusammenhang zwischen diesem – ich darf wohl sagen – Mord und dem plötzlichen Verschwinden Mister Cranes. Hier sind die gleichen Verbrecher am Werk gewesen. Das beweist schon die Gleichartigkeit der angewendeten Mittel.«

Der Detektiv sah auf die Uhr. »Bramwell, verschaffen Sie mir schnellstens ein Bild dieses Toten. Ich brauche es noch heute abend. Lassen Sie das Photo in der Polizeistation abgeben, die an der Ecke der Marlborough und Poland Street liegt. Ich werde es dort abholen.«

Bramwell richtete einen fragenden Blick auf Jenkins.

Der Detektiv wandte sich zur Tür. »Hier ist wohl nichts mehr für mich zu tun, denke ich. Dagegen möchte ich jetzt einen kleinen Spaziergang durch Soho machen.«

Bramwell zog die Schultern hoch und unterdrückte ein spöttisches Lächeln. Jenkins klopfte ihm jovial auf den Rücken. »Ja, mein Lieber, Sie haben ganz recht. Es besteht verdammt wenig Aussicht, da unten eine Spur zu finden. Aber ich habe das Gefühl, als ob sich dieser Spaziergang noch irgendwie lohnen wird.«

»Viel Vergnügen«, erwiderte der Inspektor lakonisch.

Sie gingen durch den schmalen Korridor dem Ausgang zu. Dorothy drängte sich an Jenkins heran. »Einen Augenblick, bitte, Mister Jenkins.«

Der Detektiv ließ die anderen vorangehen. In der ungewissen Beleuchtung sah er Dorothys Augen mit flehendem Ausdruck auf sich gerichtet. »Sie müssen mich mitnehmen, Mister Jenkins«, sagte sie leise.

»Nach Soho? Unmöglich, Miß Dorothy!«

Sie blieb stehen und hielt ihn am Ärmel fest. »Sagen Sie nicht unmöglich, Mister Jenkins. Unmöglich ist es, daß ich jetzt allein nach Hause fahren sollte. In unsere Wohnung, die mir verwaist vorkommt und verödet. Die Aufregung und Ungewißheit ist zu schrecklich. Schrecklicher als alles, was ich noch erleben könnte. Nicht wahr, das können Sie doch verstehen? Allein in meinem Zimmer – nein, nein –, das halte ich nicht aus!« Sie barg ihr Gesicht in den Händen.

»Nein, Miß Dorothy, es geht nicht. Es geht wirklich nicht. Ich darf Sie dieser Gefahr nicht aussetzen ...«

»Gefahr?« unterbrach sie ihn brüsk. »Glauben Sie im Ernst, Mister Jenkins, eine Gefahr würde mich zurückhalten? Wenn ich weiß, ich könnte Ihnen helfen, meinen Vater zu finden oder auch nur eine Spur von ihm zu entdecken, sollte ich da einer Gefahr ausweichen? Täten Sie es, Mister Jenkins? Gewiß nicht. Sie treibt Ihr Pflichtgefühl – nein, Ihre Menschenliebe. Erwarten Sie von einer Tochter weniger?«

Der Detektiv ergriff Dorothys Hand. Er sah mitleidig in ihr blasses Gesicht. »Ich fürchte nur, Ihre Kräfte ...«

Sie schüttelte mit einer energischen Bewegung den Kopf. »Gehen wir«, sagte sie kurz.

Der Chauffeur stand mit abgezogener Mütze am Schlag des Autos. Als Dorothy ihren Fuß auf das Trittbrett des Wagens setzte, hielt Jenkins sie zurück. »Schicken Sie Hawley und den Chauffeur nach Hause«, sagte er, »es dürfte sich empfehlen, für unsere Zwecke ein Taxi zu benutzen.«

»Sie haben recht. John, bringen Sie Mister Bramwell wieder nach Scotland Yard. Dann fahren Sie nach Hause.« Dorothy verabschiedete sich von dem Inspektor.

»Vergessen Sie nicht, das Bild heute abend zur Marlborough-Wache zu schicken, Bramwell«, rief Jenkins dem Davonfahrenden nach.

Die beiden gingen das kurze Stück bis zur High Street hinauf. Ihre Schritte hallten in der engen Gasse wider. Dorothy atmete auf, als sie in den Lichtkreis der breiten Straße traten. Jenkins rief ein Taxi an. »Oxford Street. Ecke Soho Square!«

Ratternd setzte sich der Wagen in Bewegung. »Eine hübsche Strecke vom Eastend bis zum Central-West«, sagte Jenkins lächelnd, »wir werden einige Zeit zu fahren haben.« Er breitete sorgsam eine Decke über die Knie seiner Begleiterin. »Der Wagen fährt gut. Sie sollten versuchen, ein wenig zu schlafen.«

»Ich bin nicht müde; meine Nerven sind in einer fürchterlichen Spannung. Glauben Sie, daß die Spur des Verbrechens nach den Slums führt, Mister Jenkins?«

»Ich nehme es wenigstens an. Aber ich muß Ihnen gestehen, Miß Dorothy, vorläufig tappe ich noch im Dunkeln.«

Dorothy schwieg. Sie blickte durch die Fenster des Wagens. Die Straßen wurden breiter und heller. Jetzt hatte das Auto die Kreuzung Commercial Road East erreicht. Zur Rechten dehnten sich die endlosen Straßenzüge, die nach Whitechapel führten.

Dichte Menschenmassen drängten sich auf den breiten Trottoirs. Es war Sonnabend abend. Die glitzernden Feuerschlangen der Lichtreklamen liefen an den Häusern entlang; an den Straßenecken, vor den grell erleuchteten Kinos und Wirtshäusern staute sich die Menge. Die schreienden Plakate, die überladenen Auslagen der Schaufenster, die brüllenden Stimmen der Händler gaben den Straßen das unverkennbare Gepräge der Vorstadt. Doppelposten der Schutzleute standen an den menschenumbrandeten Ecken.

»Whitechapel«, sagte Dorothy sinnend. »Ich war dort einmal vor Jahren. Mit einer lustigen Gesellschaft. Wir besuchten die Slums. Es war sehr aufregend.«

Joe Jenkins lächelte. »Nun, ich glaube, Whitechapel ist heute besser als sein Ruf. Man muß schon bis an die Peripherie der Stadt gehen, weit hinter Mile End Road, um noch richtige Verbrecherviertel zu finden.«

»Gewiß. Aber damals war es für uns doch ein Erlebnis. Wir haben Laster und Elend genug gesehen. An jeder Ecke glaubten wir Jack the ripper stehen zu sehen. Schaurig!«

Der Detektiv nickte. »Jack the ripper – das klingt schon fast wie eine Legende. Übrigens, wer weiß das heute noch; vielleicht war der Mann gar kein Berufsverbrecher.«

Dorothy sah erstaunt auf den Sprechenden.

»Nun«, beantwortete Jenkins ihre stumme Frage, »so viel steht fest: er ist nie erwischt worden. Die Wahrheit über ihn ist nie in die Öffentlichkeit gedrungen. Manche glauben, er lebe noch heute – und hier in London.«

Dorothy drückte sich fester in die Polster des Wagens und warf einen furchtsamen Blick durch das Fenster.

»Seien Sie unbesorgt«, lachte Jenkins, »auch das gehört ins Reich der Legende.«

Die lange Fahrt war ermüdend. Durch endlose, menschenerfüllte Straßen des Zentrums, durch stille winkelige Gassen, über breite baumbestandene Plätze ging der Weg. Von dem nahen Turm der St.-Pauls-Kathedrale schlug es mit hallenden Tönen. Zehn Uhr. Jetzt erreichte das Auto die innere Stadt. Es bog in die Fleet Street ein. Zur Rechten wuchtete der gotische Bau des Justizpalastes in das Dunkel.

Dorothy schloß die Augen und hing ihren Gedanken nach. Die quälende Sorge um ihren Vater ließ ihre Nerven nicht zur Ruhe kommen. Das bedrückende Gefühl der Hilflosigkeit zermarterte sie. Noch fühlte sie in ihren Gliedern die bleierne Schwere der durchwachten Nacht, noch ängstigten sie die Fieberträume, in denen sie die schrecklichsten Bilder gesehen. Erst der grauende Morgen hatte diese nervenzerrüttenden Visionen verscheucht. Aber der neue Tag war mit neuen furchtbaren Eindrücken auf sie eingestürmt. Sie fühlte, daß sie diesen Dingen mit einer erschreckenden Machtlosigkeit gegenüberstand. Sie empfand wohl, daß hier das Schicksal an der Schwelle wartete – aber sie wußte nicht, wie es zu meistern war.

Ihr Leben war bisher so glatt, so unerschüttert verlaufen. Umgeben von Luxus und Reichtum, beschützt durch die zärtliche Liebe ihres Vaters, waren ihr Leid und Schmerz nichts als Worte, deren Sinn sie nur oberflächlich begriff.

Freilich – die Liebe, die erste Liebe, die ihr junges Herz zu empfinden vermochte, brachte ihr Kummer und Herzleid genug. Aber ihr weiblicher Stolz hatte ihr nicht erlaubt, diesem Schmerz lange nachzuhängen. Gewaltsam erstickte sie alle weichen Regungen, alle schmerzlich-sehnsüchtigen Gedanken, die sie in stillen Stunden überfielen.

Der Mann, dem sie ihr ganzes Herz geschenkt und der sie so grausam betrogen hatte, sollte für sie tot sein. Ausgelöscht jede Erinnerung an ihn für alle Zeit. Aber nun war plötzlich alles wieder aufgewühlt worden in ihr. Seine Schriftzüge rissen sie wieder zurück in die Tage des Glücks und der ersten seligen Liebe. Dieses Lebenszeichen des einst Geliebten, dieser verzweifelte Hilferuf umgab sie mit einer unheimlichen Atmosphäre. Drohende Gefahren legten sich schattenhaft um ihr Leben. Ihre müden, überreizten Nerven sehnten sich nach Gewißheit. Nach dem Anblick ihres Vaters, nach seiner Stimme, seinem Lachen. War es nur eine Nacht und ein Tag, seit sie ihn zuletzt gesehen? Jeder Sinn für Zeit und Wirklichkeit schien ihr abhanden gekommen. Was erwartete sie nun in dem geheimnisvollen Dunkel, dem sie entgegenfuhr?

»Wir sind am Ziel.« Die ruhige Stimme des Detektivs riß sie aus ihrem Grübeln.

Der Wagen hielt. Jenkins entlohnte den Chauffeur und half Dorothy beim Aussteigen. Sie warf ängstliche Blicke über den weiten Platz, auf dessen baumbestandenes Rund die fahle Beleuchtung der hochmastigen Bogenlampen gespenstische Schatten zeichnete. Der düstere Komplex der Häuser lag drohend und feindselig im Hintergrund. Zur Rechten, zur Linken taten sich die Schluchten dunkler, enger Gassen auf. Niederdrückend wirkten die lichtlosen monotonen Fassaden der schmutzigen Häuser, von denen der Putz bröckelte.

Jenkins nahm den Arm des jungen Mädchens. »Nur ein paar Schritte«, sagte er, »sehen Sie dort die Laterne? Es ist ein kleines Restaurant. Wir werden da unseren Tee trinken. Ich denke, Sie werden hungrig sein.«

Er bog in ein Seitengäßchen ein. Fragwürdige Gestalten huschten an ihnen vorüber, mißtrauische Blicke streiften sie. An den Ecken, im Schutze finsterer Nischen lauerten schlampige Dirnen. In den lasterhaften Gesichtern dieser Frauen standen die schwarz untermalten Augen mit dem glanzlosen stieren Blick der Hoffnungslosigkeit. Betrunkene schwankten an ihnen vorüber – eine Wolke von Gin- und Whiskyduft streifte sie. Über einem schmalen, niedrigen Eingang, zu dem ausgehöhlte schmutzige Stufen führten, hing eine bunte Laterne. Auf ihren rechteckigen transparenten Seiten standen chinesische Schriftzeichen.

Die beiden traten ein.

Dumpfe Wärme schlug ihnen entgegen. Der niedrige Raum war von bunten Papierampeln in ein gedämpftes Licht getaucht. Kleine, weißgedeckte Tische standen an den Wänden, niedrige strohgeflochtene Hocker davor. Die grellen Fächer und Matten an den Tapeten wiesen schlecht verdeckte Löcher auf. Der ganze Raum machte – wenn man näher hinsah – einen enttäuschend nüchternen Eindruck.

Jenkins ging mit schnellen Schritten durch das kleine Lokal. Dort drüben, in der Nähe des Fensters, war ein freier Platz.

Dorothy warf einen Blick in die Runde. Die Männer, die an den Tischen saßen, kleine unscheinbare Gestalten, teils Japaner, teils Chinesen, waren gut gekleidet. Der Schnitt ihrer Garderoben verriet die Schneiderfirma aus der St. James Street. Aber auf ihren schmächtigen, engbrüstigen Körpern wirkte der Sakko trotzdem unbeholfen und unelegant. Ihre klugen Augen hinter den Hornbrillen verrieten Intelligenz. Sie nahmen keine Notiz von den Ankömmlingen. Mit stillen, unauffälligen Bewegungen begleiteten sie ihre leise Unterhaltung. Die Kellnerin, eine schlanke blonde Londonerin, brachte die Speisekarte.

Jenkins nahm sie lächelnd aus Dorothys Hand. »Ich fürchte, Sie werden sich darauf nicht zurechtfinden.« Er überflog prüfend die Karte und gab dem Mädchen seine Bestellung. »Es gibt hier einen prachtvollen Tee. Auch das Essen ist schmackhaft.«

Dorothy rümpfte die Nase. »Ich möchte aber doch lieber  ...« sagte sie zaghaft.

Der Detektiv sah auf seine Uhr. »Es ist noch zu früh. Aber in einer Stunde finden Sie hier die beste Gesellschaft Londons.«

Sie sah ihn voller Erstaunen an. »Und hier glauben Sie eine Spur der Verbrecher zu finden?«

Die Kellnerin brachte den Tee. Zierliche, dünnwandige Schalen, die mit einer duftenden goldgelben Flüssigkeit gefüllt waren. Neben die Tassen legte sie je zwei schmale hölzerne Stäbchen.

»Unser Eßbesteck«, erklärte Jenkins, »wir werden heute abend ein chinesisches Dinner haben. Sie werden manchen Leckerbissen kennenlernen, Miß Dorothy.«

»Kommt man hierher nach Soho, nur um auf chinesisch zu speisen? Das könnte man doch sicher im Zentrum besser haben. Und ungefährlicher.«

»Es ist natürlich ein bißchen Snobismus dabei. Man sucht das Milieu und die Gefahr. Ich vermute aber –«

Die Kellnerin trat an den Tisch. Hinter ihr stand ein kleiner chinesischer Boy mit einem Riesentablett. Unzählige Schüsseln, Näpfe und Schalen standen darauf. Mit großer Geschicklichkeit servierte das Mädchen die einzelnen Gerichte. Dorothy sah mißtrauisch in den Napf. »Wo bleibt der Löffel?« fragte sie schüchtern.

Jenkins wies auf die Stäbchen. »Sie müssen es damit versuchen. Sehen Sie – etwa so.« Er nahm die Stäbchen in die rechte Hand, klemmte sie zwischen den Daumen und die nächsten Finger und hob geschickt die Fleischstückchen aus dem Napf. »Ich habe schon einige Übung darin«, sagte Jenkins. Er blickte mit lächelnder Nachsicht auf Dorothy, die sich vergeblich bemühte, auch nur ein Reiskorn mit den Stäbchen zum Munde zu führen.

Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Kann man nicht wenigstens eine Gabel bekommen?«

Der Detektiv gab der Kellnerin einen Wink. »Es ist nach chinesischen Begriffen barbarisch, die Speisen mit Metall zu berühren. Überhaupt mit der linken Hand zu essen. Die meisten Gerichte sind zudem suppig. Es dürfte also mit der Gabel noch schwieriger sein.«

Dorothy stocherte in dem Napf herum. »Was esse ich denn hier eigentlich?« fragte sie mißtrauisch.

»Oh – das ist eine Delikatesse. Junge Bambusspitzen mit Reis und gedünstete Froschschenkel. Dazu einen gebackenen Auflauf aus Sojabohnen. Kosten Sie nur von dieser fabelhaften Soße. Nicht wahr, Sie müssen doch zugeben, im Grill Room bei Carlton ißt man nicht besser.«

Sie warf einen fast neidischen Blick auf Jenkins, der mit gesundem Appetit die Schüsseln leerte.

Er nickte ihr aufmunternd zu. »Vielleicht halten Sie sich lieber an das Täubchen hier. Es ist mit haschiertem Fleisch gefüllt. Und Pilzen. Wie mir die Kellnerin eben zuflüstert – eine Spezialität des Hauses. Die Karte nennt den Namen: Kuo-chee-Noon. Ist das nicht reizvoll? Es liegt so etwas von den Geheimnissen des Himmlischen Reiches in diesen pikanten Gerichten. Finden Sie nicht auch?«

Dorothy faltete ihre Serviette zusammen. »Ich bin gesättigt«, sagte sie mit müder Stimme. Ihre Augen waren voller Unruhe. Nervös spielten ihre Finger mit den weißen Eßstäbchen. »Sie sprachen vorhin nicht zu Ende, Mister Jenkins. Sie sagten, ich vermute –.«

Jenkins zog das Zigarettenetui und reichte es Dorothy hinüber. »Ja«, sagte er, indem er ihr Feuer gab, »ich bin Ihnen eine Aufklärung schuldig.« Der Detektiv lehnte sich bequem in seinen Stuhl zurück. Seine Augen überflogen mit einem scharfen Blick die anwesenden Gäste. »Um es Ihnen ganz offen zu sagen, Miß Dorothy, ich habe natürlich dieses Lokal nicht ganz zufällig gewählt. Sie fragten mich vorhin, ob ich glaubte, hier eine Spur der Verbrecher zu finden. Ich muß gestehen, es ist nur eine ganz vage Vermutung von mir, daß sich hier etwas aufspüren ließe. Inspektor Bramwell hat mich auf den Gedanken gebracht. Er hat mir verraten, daß er heute nacht dieses Nest hier überholen wird.«

»Eine Razzia? Dieses harmlose Speiselokal sollte ...«

»Es scheint so, als ob dieses harmlose Restaurant nur eine Attrappe ist. Bramwell behauptet, der Wirt betreibe hier nebenbei einen schwunghaften Handel mit Rauschgiften. Irgend etwas stimmt da nicht. Sehen Sie dort beim Büfett die kleine Glastür? Es ist die Telephonzelle. Merkwürdig, ich beobachte seit einiger Zeit, daß Gäste dorthin gegangen sind. Aber sie sind nicht wieder zurückgekommen. Bitte, sehen Sie nicht so auffällig hin. Man könnte aufmerksam werden.«

Jenkins hatte sich langsam erhoben. »Sie entschuldigen mich einen Augenblick, Miß Dorothy.«

Befremdet sah Dorothy dem Detektiv nach. Er schlenderte durch das Lokal. Dort, beim Büfett, an einem kleinen runden Tisch, saß ein Mann – halb hinter einer großen Zeitung verborgen. Jenkins blieb stehen und ließ sich von dem Fremden Feuer für seine Zigarette geben. Dann öffnete er die Tür zur Telephonzelle. Sonderbar, dachte Dorothy, warum läßt er mich hier allein? Er muß doch wissen, daß mir unheimlich zumute ist.

Sie ließ die Blicke im Raum umherschweifen. Das Publikum hatte gewechselt. Die meisten der jungen japanischen Studenten waren gegangen. Gents im Smoking und Frauen in großer Abendtoilette saßen jetzt an den Tischen. Ihre lebhafte, ein wenig zu laute Unterhaltung stand im grellen Gegensatz zu dem gedämpften Gespräch der mongolischen Gäste an den übrigen Tischen.

Das Zimmer war plötzlich erfüllt von Lachen und Zurufen. Das leise Klirren des feinen Porzellans und das Rauschen der buntfarbigen Papierfächer, die den Damen als Spende des Wirts überreicht wurden, gaben dem Raum eine weiche schmeichelnde, fast sinnliche Atmosphäre.

Dorothys Fensterplatz lag etwas abseits von den Tischen. Inmitten dieser lärmenden lustigen Gesellschaft war sie allein und unbeachtet. Ein beklemmendes Gefühl beschlich sie plötzlich. Angst stieg ihr würgend in die Kehle. Ihre Nerven vibrierten unter den Erlebnissen der Nacht. Wo blieb nur Joe Jenkins? Sie blickte hinüber zu der Telephonzelle. Irgend etwas zwang sie, ihre Augen auf jene Tür zu richten, hinter der ihr Begleiter verschwunden war. Wenn ihm nun etwas zustieß dort in den Hinterzimmern dieses unheimlichen Hauses?

Sie wollte aufstehen, fragen, wollte hinter die Tür dieser Zelle sehen. Aber sie blieb wie gebannt sitzen; aus Furcht, jemand auf sich aufmerksam zu machen. Plötzlich schrak sie zusammen. Der Mann dort drüben an dem runden Tisch neben dem Büfett starrte sie unverwandt an. Kein Zweifel, dieser Mensch ließ kein Auge von ihr. Jetzt stand er schwerfällig auf und kam quer durch das Lokal auf ihren Tisch zu.

Dorothy sah ihm entgegen; die Knie zitterten ihr – aber sie war nicht imstande sich zu erheben. Jetzt stand der Fremde neben ihr. Seine schwielige Hand ergriff einen Stuhl. »Sie erlauben, Miß?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, setzte er sich an den Tisch.

Dorothy sprang mit einem unterdrückten Schrei auf. Der Mann hob mit einer beruhigenden Geste die Hand. »Machen Sie kein Aufsehen, Miß«, sagte er leise, »es ist das beste, Sie nehmen wieder Platz.«

Dorothy sah in fassungslosem Staunen auf den Sprechenden. Mechanisch zog sie den Stuhl wieder zu sich heran. Ihr ängstlicher Blick schweifte hinüber zu den Gästen, als erwarte sie von ihnen Rettung aus ihrer bedrängten Lage.

Die Tür des Lokals ging auf. Joe Jenkins trat ein. Merkwürdig, dachte Dorothy, erleichtert aufatmend, warum kommt er von der Straße?

Der Detektiv ging mit schnellen Schritten auf ihren Tisch zu. »Ich danke Ihnen, Jerry, ich bleibe jetzt bei der Dame.«

Der Fremde erhob sich und machte eine plumpe Verbeugung. »Good bye, Mister Jenkins.« Er ging unauffällig durch die Tischreihen und nahm seinen alten Platz wieder ein.

»Ein Beamter von Scotland Yard. Bramwell hat seine Vorposten schon aufgestellt. Ich bat den Mann, ein Auge auf Sie zu haben.« Jenkins lachte. »Vermutlich haben Sie sehr verängstigt ausgesehen. Jerry glaubte, Ihnen durch seine Anwesenheit wieder Mut machen zu müssen.«

»Haben Sie etwas gefunden, Mister Jenkins?« fragte Dorothy hastig.

Er nickte schmunzelnd. »Bramwell wird heute abend einen guten Fang machen.« Jenkins ließ seine Augen mit einem spöttischen Lächeln über die Gäste gleiten. »Ich glaube, alle diese Herrchen und ihre Begleiterinnen werden heute noch ein peinliches Viertelstündchen in Marlborough Station zubringen. Übrigens, dieses Telephon dort ist recht interessant. Man nimmt ahnungslos den Hörer ab. Aber es meldet sich kein Amt. Dafür öffnet sich die Wand wie eine Drehtür. Eine schmale Treppe führt in die oberen Räume.«

»Was haben Sie dort entdeckt?«

Der Detektiv deutete mit einer flüchtigen Handbewegung auf die tafelnden Gäste. »In einer Viertelstunde werden diese Herrschaften alle verschwunden sein. Die Kellnerinnen werden ihnen zuflüstern: ›Time, Ladies and Gentlemen, time.‹ Man verläßt das Lokal; aber nur, um es durch eine Hintertür wieder zu betreten. Denn wegen eines chinesischen Menüs geht der Londoner – Sie bemerkten das vorhin schon sehr richtig – nicht nach Soho.«

»Opium?« fragte Dorothy leise.

Jenkins nickte. »Opium und alles was der Orient sonst noch an Rauschgiften in den Handel bringt. Scotland Yard hat schon den richtigen Tip. Ich habe da oben ganz reizende Kabinette gefunden.«

Er unterbrach sich und blickte auf die Tür. Inspektor Bramwell war eingetreten. In seiner Begleitung befand sich ein Herr im Abendpelz und stumpfen Zylinder. Der Beamte ließ einen schnellen prüfenden Blick über das Lokal gleiten. Die beiden gingen auf Jenkins Tisch zu. Bramwells Begleiter trat mit abgezogenem Hut zu Dorothy. »Meine liebe Miß Crane«, sagte er mit einer weichen, etwas müden Stimme, »mein herzlichstes Mitgefühl. Inspektor Bramwell hat mir alles erzählt. Ihr armer Vater. Es ist schrecklich.«

Dorothy sah verwirrt auf den Sprechenden. »Darf ich die Herren miteinander bekannt machen?«

Der Ankömmling wehrte lachend ab. »Nicht nötig, Miß Crane. Selbstverständlich ist mir der Herr bekannt. Ich darf wohl hoffen, Mister Jenkins, daß auch ich Ihnen ...«

Der Detektiv zuckte die Achseln. »Ich muß gestehen –« sagte er zögernd.

»Ach so«, der andere lächelte ironisch, »ich habe mich anscheinend überschätzt.« Er blickte fragend auf Dorothy. »Darf ich also bitten, Miß Crane, mich vorzustellen?«

»Der Herr ist ein Freund unseres Hauses. Sir Ernest Haddington vom Auswärtigen Amt.« Sie deutete mit einer einladenden Handbewegung auf die leeren Stühle um ihren Tisch.

Haddington sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. »Ich möchte hier nicht erkannt werden«, sagte er leise. Er wandte sich an den Detektiv. »Es freut mich aufrichtig, Sie zu sehen, Mister Jenkins. Ich las gestern in der ›Times‹ von Ihrer Ankunft. Miß Crane darf sich glücklich schätzen, daß Sie sich ihrer Sache annehmen.«

Jenkins verbeugte sich. »Vielen Dank für Ihre gute Meinung, Sir Ernest, ich werde tun, was in meinen Kräften steht. Aber ich bin mir schon jetzt klar darüber, daß es nicht so leicht sein wird, dieses Rätsel zu lösen.«

Bramwell griff in die Tasche. »Hier ist das Bild des unbekannten Toten, Mister Jenkins.« Er legte den Abzug auf den Tisch.

Sir Haddington betrachtete das Bild voller Interesse. »Wie ich höre, Mister Jenkins, suchen Sie die Täter unter einer ganz bestimmten Kategorie von Verbrechern. Unter Rauschgifthändlern. Das interessiert mich ganz besonders. Sie wissen vielleicht, daß ich im Auswärtigen Amt dem Ressort zur Bekämpfung des Rauschgifthandels vorstehe. Ich darf Ihnen verraten, daß wir gerade einen großen Feldzug gegen den Konzern der Drogenschmuggler und -händler eingeleitet haben. Ich bin neugierig darauf, wer meinem Freund Bramwell heute abend ins Netz läuft.«

Der Inspektor schlug sein Notizbuch auf. »Ich habe die Leute aus dem Quartier in Low-Shadwell vernommen. Nach den Aussagen befand sich der Ermordete in Begleitung eines Heilsarmeesoldaten. Aber dieser Soldat ist spurlos verschwunden. Von der Belegschaft des Quartiers fehlt jedoch nicht einer.«

Haddington erhob sich.

Eine seltsame Stille lag jetzt im Zimmer, doppelt fühlbar nach dem Gelächter und der lauten Unterhaltung, die vordem den Raum erfüllt hatte. Die meisten Gäste hatten das Lokal verlassen. Hinten am Büfett waren die Kellnerinnen mit ihren Abrechnungen beschäftigt.

»Ich glaube, jetzt ist es Zeit, Bramwell«, sagte der Lord. Langsam schritt er durch den Raum.

Der Inspektor hatte sich erhoben. Er ging gleichmütig durch die Stuhlreihen und näherte sich der Tür zur Telephonzelle.

Plötzlich krampfte sich Dorothys Hand um Jenkins Arm. Er sah ihr erstaunt ins Gesicht. Sie war totenblaß; ihre Augen starrten schreckerfüllt zum Büfett. Sie rang mühsam nach Atem. »Dort – dort drüben – der Mann – der Mann aus dem Garten«, murmelte sie.

Jenkins folgte der Richtung ihres Blickes. Zwischen den Kellnerinnen stand ein Mann in der Kleidung eines Heilsarmeesoldaten. Der breite Schirm der Tellermütze beschattete sein Gesicht. Jetzt hob er den Kopf.

»Ja, ich täusche mich nicht«, flüsterte Dorothy, »das ist er. Das dunkle Haar, die buschigen Augenbrauen und dieser stechende Blick.«

Der Detektiv drückte ihre Hand. »Vermeiden Sie es, hinüber zu sehen, Miß Dorothy«, sagte er leise, »und bleiben Sie ruhig auf Ihrem Platz. Was auch immer geschehen mag.«

Jenkins war aufgestanden und ging langsam bis in die Mitte des Lokals. Dort blieb er stehen, nahm eine Zigarette aus dem Etui. Er hielt das Feuerzeug mit beiden Händen vor sein Gesicht. Während er die Zigarette anzündete, näherte er sich ganz allmählich dem Büfett.

Der Mann scherzte mit den Mädchen. Jetzt trat Haddington an ihn heran. Anscheinend verlangte er eine Zeitung. Während der Soldat den »Kriegsruf« aus seiner Mappe zog, wechselte Haddington einige Worte mit ihm. Jenkins sah, wie der Mann jäh den Kopf hob. Im gleichen Augenblick warf er die Mappe mit den Zeitungen von sich, stieß die ihn umdrängenden Mädchen beiseite. Mit einem wilden Satz sprang er über das Büfett. Gläser rollten zur Erde und zerschellten klirrend. Die Mädchen kreischten auf.

»Bramwell«, schrie Jenkins, »hierher – schnell! Hier durch den Ausgang! Lassen Sie das Haus umstellen. Zum Teufel, Mann, beeilen Sie sich! Der Kerl entwischt uns!«

Der Inspektor stürmte mit einem Satz durch die Tür.

»Was gibt es?« fragte Haddington, der verständnislos dieser Szene zusah.

Jenkins überhörte die Frage. Er war hinter das Büfett getreten und schob den bunten Glasperlenvorhang beiseite. Ein dunkler Raum lag dahinter. Der Detektiv knipste seine Taschenlampe ein. Das Licht streifte die glatten Wände eines kahlen, unbewohnten Zimmers. Von draußen tönte das knatternde Geräusch eines Motorrades.

Jenkins ging in den Gastraum zurück. Die Kellnerinnen standen dichtgedrängt in einer Ecke und blickten ängstlich auf die Tür. Von Haddington war nichts zu sehen.

Dorothy stand bleich neben ihrem Stuhl. Zwei, drei Männer saßen unbekümmert an den Tischen. Sie mochten solche Zwischenfälle gewöhnt sein.

Ein Schuß zerriß die plötzlich eingetretene Stille. Vielstimmiges Geschrei, gellende Pfiffe kamen von der Straße. Dann vernahm man einen dumpfen Knall. Das klirrende Geräusch zersplitternden Glases folgte. Donnernd hämmerte der gedrosselte Motor eines schweren Wagens vor den Fenstern. Die Scheiben zitterten im Takt der Zylinder.

Die Tür ging auf. Inspektor Bramwell, auf zwei seiner Leute gestützt, schwankte herein. Sein Gesicht und seine Hände waren blutüberströmt; seine Kleidung zerrissen und beschmutzt. Er sank ächzend auf einen Stuhl. Jetzt trat auch Haddington ein, den schußbereiten Revolver in der Hand. »Nun – haben Sie den Kerl?« wandte er sich an den Inspektor.

Bramwell preßte das Taschentuch auf die blutende Stirn. »Den Teufel auch«, er schlug mit der Faust auf den Tisch, »so ein Pech. Ich sause auf meinem Rad um das Haus. Plötzlich sehe ich den Burschen vor mir. Er geht ruhig, an die Mauer gedrückt, als wäre er ein harmloser Passant. Aber wie er meine Maschine hört, schlägt er blitzschnell 'nen Haken. Stürmt an mir vorbei. Ich reiße das Rad herum – jage hinter ihm her. Da fahren mir mit einemmal die Scheinwerfer eines Autos in die Augen. Ich bin vollständig geblendet. Im nächsten Moment rase ich auch schon gegen die Schutzeisen des Wagens. Schöne Schweinerei! Maschine ist hin.«

»Und der Mann?« fragte Dorothy hastig.

Der Inspektor lachte höhnisch auf. »Der Mann – über alle Berge natürlich. Der Teufel soll ihn holen!«

Dorothy sah betroffen auf die Männer. »Und das Auto? Woher kam der Wagen – wem gehört er?«

Joe Jenkins trat hinzu. »Das Auto stand schon vor der Tür als der Bursche hier auftauchte. Ich sah die Nummer: C zweitausenddreihundertfünfundneunzig G. B.«

»C zweitausenddreihundertfünfundneunzig G. B.«, wiederholte Sir Haddington. »Der Wagen gehört mir«, setzte er lächelnd hinzu.

*


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