Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Langsam glitt der D-Zug London – Southampton aus der Halle der Victoria Station. Im Dunst der trüben Wintersonne verlor sich das Geäst der Schienenstränge; polternd dröhnten die Weichen unter den mächtigen Achsen der Lokomotive.
Das Häusergewirr von Pimlico nahm den Zug auf; zur Rechten glänzten die Wasser des Grosvenor Kanals. Allmählich ging der gleitende Takt der Räder in ein schnelleres Tempo über; wenige Minuten noch, und der Zug nahm die volle Geschwindigkeit auf. Es war um die Mittagszeit. Die Türen der Abteile rollten einschnappend zurück, die Passagiere schlenderten zum Speisewagen – zum Lunch.
Die Kellner servierten eifrig, und in das feine Klirren des Geschirrs und der Gläser, das rhythmisch die Schwingungen des Wagens begleitete, mischte sich bald das fröhliche Lachen und Plaudern der Tafelnden.
Der Zug durchfuhr in unvermindertem Tempo Grosvenor Road Station; dann schlugen die Räder mit schmetterndem Echo über die Gleise der breiten Eisenbahnbrücke. Dort, in jener flimmernden Ferne, über der die Wintersonne glänzte, tauchten die Kuppen der Bäume des Battersea Parks auf.
Die Kellner wechselten die Gedecke; die Stimmung im Speisewagen belebte sich. Weingläser klangen grüßend gegeneinander; Blicke suchten und trafen sich – ein leiser Flirt begann sich zu entspinnen.
Dorothy sah gedankenvoll durch das Fenster auf die Telegraphenstangen, die in endlosem Reigen vorüberglitten. Das dunkle Blau ihres Tuchkleides unterstrich die tiefe Blässe ihres Gesichtes. Ihre graublauen Augen waren von dunklen Schatten umgeben.
Joe Jenkins saß ihr gegenüber. Seine Blicke ruhten mit besorgtem Ausdruck auf seiner Begleiterin. Er legte beruhigend die Hand auf die ihre.
Dorothy drehte sich zu ihm herum; ihre Augen schimmerten feucht.
»Sie müssen sich zwingen, zu essen, Miß Dorothy«, sagte der Detektiv und wies ermunternd auf die Speisen. »Darf ich Ihnen etwas von diesen gedämpften Lammrippchen vorlegen? Sie sind ganz vorzüglich. Der Körper fordert sein Recht, auch wenn das Gemüt trauert.«
Dorothy lächelte – ein wehes, verlorenes Lächeln. »Lord Haddington hat sich gestern von mir verabschiedet, Mister Jenkins. Er tritt eine größere Reise an.«
Der Detektiv nickte. »Ich weiß. Die Regierung will jetzt den Kampf gegen den Rauschgifthandel in großem Umfang aufnehmen.«
»Ist Sir Ernest auch der Meinung, daß der Überfall auf meinen Vater mit diesen Dingen irgendwie in Verbindung steht?«
»Ja, er ist darin mit mir einer Meinung. Nur in den Methoden der Verfolgung stimmen wir nicht ganz überein.«
Der Kellner brachte die Mokkatassen. Eben verließ der Zug Battersea Park Station, und seine jetzt wieder vollerlangte Geschwindigkeit ließ Geschirr und Gläser im Schütteln des Wagens in feinen Tönen erklingen.
»Es ist, wie ich schon sagte«, nahm Jenkins wieder das Wort, »eine ganz raffinierte Gesellschaft, mit der wir zu tun haben. Scotland Yard und die Regierung werden einen harten Strauß mit diesen Leuten ausfechten müssen. Ich bin überzeugt, daß hier ganz andere Mittel zur Bekämpfung anzuwenden sind, als es bisher der Fall war.«
Dorothy seufzte. »Hat sich denn nicht der geringste Anhaltspunkt für das geheimnisvolle Verschwinden meines Vaters ergeben?« fragte sie beklommen.
Jenkins schüttelte den Kopf. »Es war vorauszusehen, daß die Verbrecher nach einem wohlüberlegten Plan spurlos in London untertauchen würden. Aber ich habe das ganz sichere Empfinden, daß Mister Crane noch am Leben ist. Nicht aus einem vagen Gefühl heraus sage ich das, Miß Dorothy, sondern weil ich annehme, daß es den Verbrechern nur darum zu tun war, Ihren Vater für einige Zeit verschwinden zu lassen.«
»Wollen Sie mir jetzt, da wir London hinter uns haben, verraten, weshalb Sie so unbedingt darauf bestanden haben, daß ich sofort unser Haus in Kensington verlassen sollte?« fragte Dorothy und sah voll ängstlicher Spannung auf den Detektiv.
»Um es ganz offen zu sagen: ich fürchtete für Ihre Sicherheit. Trotzdem Bramwell auf meine Veranlassung Tag und Nacht Ihr Haus beobachten ließ. Gewisse Erfahrungen der letzten Tage sagten mir deutlich, daß in diese Affäre Personen verwickelt sind, denen man kaum ein Mißtrauen entgegengebracht hätte. Ich mußte also zu verhindern suchen, daß Sie mit Fremden in Berührung kamen.«
»Und Sie selbst, Mister Jenkins – weshalb verlassen Sie London?«
»Weil ich dort im Augenblick entbehrlich bin. Bramwell arbeitet in Verbindung mit den Beamten des Ressorts im Auswärtigen Amt. Ich selbst verfolge jetzt eine andere Spur.«
Dorothy ergriff die Hand des Detektivs. »Sie haben eine Spur?« fragte sie erregt.
»Ja. Möglicherweise führt sie uns schneller zum Ziel als alles andere.«
Ihre Augen leuchteten auf. »Mister Jenkins«, sagte sie mit stockender Stimme, »darf ich wissen ...?«
»Selbstverständlich.« Jenkins nickte. »Es ist ganz einfach: ich suche jetzt zunächst Ihren Verlobten.«
Dorothy setzte mit leichtem Zittern die Tasse nieder. Mit großen fragenden Augen blickte sie auf den Detektiv.
»Lord Haddington hat vor Monaten, wie er mir sagte, bei der italienischen Regierung angefragt. Man hat ihm eine etwas orakelhafte Antwort erteilt. Mister Testi gelte in Rom als verschollen. Mit dieser Auskunft war nicht viel anzufangen. Ich habe nun – durch Vermittlung des amerikanischen Botschafters in Rom – eine neue Anfrage über den Verbleib Mister Testis an die Regierung gerichtet.«
Dorothy krampfte die Hände zusammen; jeder Blutstropfen schien aus ihrem Gesicht gewichen. »Was haben Sie erfahren?« fragte sie tonlos.
»Nun, diesmal ist man in Rom etwas mitteilsamer gewesen. Mister Testi, so schrieb man dem Botschafter, ist vor einigen Monaten in einen Prozeß verwickelt gewesen; einen Hochverratsprozeß.«
Dorothy unterdrückte einen Aufschrei. »Francesco ist ...«
Jenkins hob beschwichtigend die Hand. »Es soll sich um einen Anschlag auf einen Minister gehandelt haben. Um ein antifaschistisches Komplott.«
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein, das ist unmöglich. Francesco ist der glühendste Patriot. Er selbst stammt aus einer altadeligen Familie. Er hat mir einmal die Geschichte seiner Ahnen erzählt. Nein, nein, das ist nicht denkbar!«
»Die Tatsache bleibt bestehen, daß ein Signor Francesco Testi, Sekretär bei der italienischen Botschaft in London, des Hochverrats angeklagt, als schuldig befunden und verurteilt wurde. Mehr zu sagen, lehnte die Regierung aus politischen Gründen ab.«
Dorothy zerknüllte nervös ihr Taschentuch zwischen den Fingern. »Das würde bedeuten, Testi sitzt im Gefängnis?«
»Zweifellos. Wahrscheinlich aber ist sein Schicksal noch schlimmer. Er wird zu Strafarbeit verurteilt sein. Sein Hilferuf beweist das; dieses Schreiben, das der Ermordete Ihrem Vater überbrachte und das die Verbrecher bei ihm suchten.«
»Was gedenken Sie zu tun, Mister Jenkins?« flüsterte Dorothy.
»Ihren Verlobten aufzusuchen. Es gehört ja nicht viel Kombinationstalent dazu, anzunehmen, daß – wenn Mister Testi deportiert worden ist – er sich wahrscheinlich auf der Insel Alina befindet. Erinnern Sie sich der Warnung: ›Lassen Sie die Hände von der Alina-Sache?‹ Ich sehe meine nächste Aufgabe darin, alles zu versuchen, Ihren Verlobten zu finden und ihn zu befragen.«
Die Kellner räumten die Tische ab; in den Gängen drängten sich neue Gäste.
Jenkins erhob sich. »Wollen wir in unser Coupé gehen?«
Während die beiden sich den schaukelnden Wagenkorridor entlangtasteten, sagte der Detektiv: »Ich verhehle mir die Schwierigkeiten dieses Versuchs keineswegs. Ich fürchte, daß man mir nicht erlauben wird, mit einem politischen Gefangenen zu sprechen.«
»Und was dann?« fragte Dorothy stehenbleibend.
Jenkins zuckte die Achseln. »Das ist eine Frage, die ich im Augenblick noch nicht zu beantworten vermag. Aber dort ist unser Coupé. Bitte, entschuldigen Sie mich noch einige Minuten. Ich möchte hier draußen im Gang noch eine Zigarette rauchen.«
Der Zug hatte die letzten Häuser von Clapham Junction hinter sich gelassen und raste jetzt durch das flache Land. Die Sonne, die endlich den grauen Dunst überwunden, lag strahlend über den weiten Wiesen und über den glitzernden Wasserläufen. Nebelverhangen stieg in der flimmernden Ferne der dunkle Rand der Wälder auf. Durch den monotonen Lärm der rollenden Räder vernahm Jenkins das Geräusch einer Coupétür, die behutsam zurückgeschoben wurde und schnappend ins Schloß einklinkte. Er drehte sich um. Aus dem Abteil Dorothys war ein Mann getreten, der jetzt langsam – ihm den Rücken kehrend – den Korridor hinunterging. Jenkins konnte sich nicht auf diesen Reisebegleiter besinnen. Vorhin, als sie zum Lunch in den Speisewagen gegangen waren, hatten sie das Coupé mit niemand geteilt.
Im plötzlichen Gefühl eines unbestimmten Argwohns ging der Detektiv zum Abteil zurück.
In den Kissen des Wagens lag Dorothy mit geschlossenen Augen. Ihr Kopf war nach hintenüber gefallen, die Hände lagen schlaff auf den Polstern. Jenkins riß die Tür auf; ein fader, süßlicher Geruch schlug ihm entgegen. Mit einem raschen Blick sah er, daß Dorothys Handtasche und auch seine Reisetasche gewaltsam durchwühlt waren. Er riß das Fenster herunter, um die frische Luft hereinströmen zu lassen; dann lief er den Gang hinunter. Ein Schaffner kam ihm entgegen. »Bemühen Sie sich um die Dame da drinnen, dort – die zweite Tür. Wo ist der Zugführer?« Jenkins wartete die Antwort des verblüfften Beamten nicht ab. Er ging hastig durch die schaukelnden Gänge, sein scharfer Blick streifte die vorüberhastenden Reisenden. Vor dem Speisewagen traf er auf den Zugführer; mit wenigen Worten war der Mann unterrichtet.
»Hm«, sagte der Beamte bedächtig, »'ne schwierige Sache, Mister Jenkins. Wie wollen Sie den Mann in dem überfüllten Zug finden? Noch dazu, wo Sie ihn nicht mal genau kennen.«
»Wo halten wir zuerst?« fragte der Detektiv.
»Nirgends mehr, Mister Jenkins, wir fahren jetzt glatt durch bis Southampton.«
»Gut. Bei dieser Geschwindigkeit kann der Mann den Zug schwerlich verlassen. Wir wollen zunächst nach der Dame sehen.«
Die beiden gingen ins Coupé zurück. Dorothy lehnte blaß und schwer atmend in den Polstern. Sie ergriff Jenkins Hand und sah hilfeflehend in seine Augen. »Er war es«, flüsterte sie, »der Mann aus dem Garten – ich habe ihn deutlich erkannt.«
»Was ist geschehen, Miß Dorothy, können Sie sich darauf besinnen?«
Sie nickte. »Ja«, sagte sie mit schwacher Stimme, »als ich die Coupétür öffnete, sah ich einen Mann, der über den Sitz gebeugt stand und in Ihrer Handtasche wühlte. Er drehte sich bei dem Geräusch schnell um – ehe ich fähig war, einen Laut von mir zu geben oder das Coupé zu verlassen, hatte er mich beim Handgelenk gepackt und auf den Sitz geschleudert. Er sprach kein Wort. Das Entsetzen lähmte mich derart, daß ich nicht die Kraft besaß, mich zu bewegen oder zu schreien.« Dorothy holte tief Atem und schauerte leise zusammen. »Die Angst schnürte mir die Kehle zu. Plötzlich hob der Mann die Hand an meine Stirn und strich mir über das Gesicht. Er ging dann ganz ruhig zur Tür, aber sein stechender Blick war auf mich gerichtet. Jetzt schienen mir die Umrisse seiner Gestalt wie verschwommen; ich fühlte eine bleierne Schwere in meinen Gliedern – und dann verlor ich das Bewußtsein.«
Jenkins wandte sich an den Zugführer. »Es wird das beste sein, ein Telegramm mit möglichst genauer Beschreibung des Mannes an den Stationsvorstand in Southampton aufzugeben. Man muß die Ausgänge des Bahnhofs besetzen. Miß Dorothy wird uns das Aussehen des Mannes beschreiben können.«
»Haben Sie ihn im Zuge nicht gefunden?« fragte sie ängstlich.
In diesem Augenblick ging ein furchtbarer Ruck durch den Zug. Koffer fielen krachend aus den Gepäcknetzen, Fenster rasselten nieder und zerbarsten klirrend. Wilde Aufschreie ertönten aus den Abteilen. Der gleitende Takt der Räder ging in ein irres Stampfen über; es war als ob der Zug über die Schienen hüpfte. Die Luft war von dem betäubenden Getöse der kreischenden Bremsen erfüllt. Drei, vier Stöße ließen die Wagenreihen erzittern. Dann stand der Zug still. Türen und Fenster flogen krachend auf. Der Zugführer war ans Fenster gestürzt und winkte Jenkins. Er deutete mit der Hand nach vorn. »Dort! Dort!« sagte er keuchend.
Vorn am Zuge, aus dem Fenster eines Coupés erster Klasse schwang sich ein Mann. Er ließ sich auf das Trittbrett nieder, sprang mit einem Satz auf den Boden und lief in wahnsinniger Hast über den Schotter des Bahndamms.
Dorothy beugte sich weit aus dem Fenster. »Das ist der Mann – ich erkenne ihn an dem eigentümlichen Mantel. Sehen Sie nur – er reicht ihm fast bis an die Füße!«
Der Flüchtling rollte mehr als er lief die steile Böschung hinunter. Gleich darauf war er in dem dichten Unterholz des Waldes verschwunden.
Der Zugführer blickte betroffen auf Jenkins. »Das ist unerhört«, sagte er, und in seiner Stimme klang der Groll des beleidigten Beamten, »der Kerl hat die Notbremse gezogen, um zu fliehen.«
Jenkins zuckte gleichmütig die Achseln. »Es scheint so«, sagte er trocken, »der Bursche ist entwischt.«
»Was nun?«
»Weiterfahren, mein Lieber.«
Der Beamte schüttelte verständnislos den Kopf; dann gab er dem vor dem Fenster stehenden Lokomotivführer ein Zeichen. »Ich muß ein Protokoll über den Vorfall aufnehmen«, sagte er mürrisch.
»Daran kann ich Sie nicht hindern. Aber ich habe eine Bitte. Die Dame und ich möchten den Zug in Wimbledon verlassen. Ist es möglich, dort einen Augenblick zu halten?«
Der Zugführer schüttelte mit strenger Miene den Kopf. »Das ist gänzlich ausgeschlossen, Mister Jenkins. Wir haben schon jetzt fast acht Minuten Verspätung.«
Jenkins blickte auf die vorüberrasende Landschaft – bei dieser Geschwindigkeit würde der Zug in wenigen Kilometern schon seine Verspätung eingeholt haben. »Lieber Freund«, sagte er und klopfte dem Beamten auf die Schulter, »ich bin im Staatsdienst. Lassen Sie in Wimbledon zwei Minuten halten. Jede Verantwortung übernehme ich.«
Der Zugführer salutierte. »Allright, Sir!« Die Tür rollte hinter ihm ins Schloß.
»Miß Dorothy, fühlen Sie sich kräftig genug, einen Flug zu machen?«
»Wir haben in Wimbledon Anschluß nach Croydon«, sagte Jenkins erklärend, »ich halte es für besser, diesen Herrschaften in Southampton nicht zu begegnen.«
»Ich verstehe Sie nicht ganz, Mister Jenkins.«
Der Detektiv sah auf die Uhr. »Machen Sie sich schon zum Aussteigen bereit, Miß Dorothy. In zwölf Minuten etwa sind wir in Wimbledon.« Er half ihr in den Mantel. »Sehen Sie«, fuhr er fort, »dieser Bursche – ob er Sie nun lediglich durch sein Auftauchen in Angst versetzen sollte, oder ob er bei mir noch immer den Brief zu finden hoffte –, dieser Bursche hat uns jedenfalls verraten, daß man uns nicht aus den Augen läßt. Ich möchte den Leuten einen Strich durch die Rechnung machen. Ändern wir also unsere Route. In Croydon haben wir direkte Flugverbindung bis Paris. Dann wählen wir, immer um Zeit zu gewinnen, den Landweg nach Genua. Dort erst nehmen wir den Dampfer nach Palermo. Damit verlieren uns die Herrschaften aus den Augen.«
Die Bremsen knirschten. Langsam fuhr der Zug in die Station. Der Detektiv warf einen Blick auf die beleuchtete Bahnhofsuhr. »Es klappt«, sagte er befriedigt. »In einer Viertelstunde haben wir Anschluß nach Croydon.«
*
Das zierliche weißleuchtende Küstenschiff der Traffico Internazionale verließ den Hafen von Palermo. Die schneeigen Sonnensegel des Fahrzeugs warfen in zitternden Reflexen die Strahlen der südlichen Sonne zurück. In der weichen Dünung des Hafens glitt das Schiff am Pier der Foro Umberto langsam aus dem Golf.
Im Heck des Dampfers stand Dorothy Crane, und ihr Auge schweifte trunken über die märchenhafte Schönheit der Landschaft. Ein wehes Gefühl stieg in ihr auf. Die Erinnerung an schimmernde Stunden, die sie vor langer Zeit hier an der Seite des Geliebten genießen durfte. Es war ihr, als hörte sie noch seine leise dunkle Stimme, dieses klangvolle, sinnliche Organ, das selbst die harten Laute der englischen Sprache in ein wohliges »smorzando« gehüllt hatte. Mit welchem Stolz, welcher lodernden Begeisterung hatte er ihr die Schönheiten Palermos gezeigt. Die in verschwenderischer Üppigkeit der Blüten prangenden Gärten, die fruchtüberladenen Bäume der conca d'oro, das überwältigende Schauspiel des Sonnenaufgangs, der die Gipfel des schneebedeckten Monte Pellegrino mit flammendem Gold überzieht, während unten am Golf die schlafende Stadt noch in wallende Nebel getaucht ist.
Wie ein verzauberter Garten dehnte sich ringsum die Kette der sanften Hügel, und der Landwind trug berauschende Düfte der Olivenhaine herüber.
Wehmütig senkte Dorothy den Kopf. Ja, das war das Land, von dem sie geträumt, dieser ewige Sommer, den sie ersehnt, dieser strahlende Sonnenglanz aus dem azurblauen Himmel – das lebendig gewordene Märchenland ihrer Jugendzeit. Das Schiff glitt an den Molen vorbei – die weite graublaue See tat sich auf: das Tyrrhenische Meer.
Dorothy warf einen Blick auf die verschwindende Stadt. Langsam versanken die Kuppeln der Paläste, die Türme. Monreale, eingebettet in das Grün der Olivenhaine, grüßte herüber. Sie wandte sich seufzend von dem zauberhaften Bild und ging nach dem Vorderdeck.
Dort stand Joe Jenkins.
Dorothy deutete nach rückwärts. »Man kann sich nicht sattsehen, nicht wahr, Mister Jenkins? Es ist eine fast verschwenderische Schönheit der Natur.«
»Gewiß«, sagte Jenkins, »Sie haben recht. Es ist eine so gewaltige Schönheit, daß man darüber ihre Schattenseiten vergißt.«
Dorothy blickte betroffen auf, und in ihre Augen trat ein unruhiger Ausdruck. »Wie lange fahren wir bis Alina?« fragte sie.
»Wir werden kaum drei Stunden gebrauchen. Das Schiff macht schnelle Fahrt.«
Sie schwieg. Ihr Blick war in die blaue Weite gerichtet, dorthin, wo in der klaren, seidigen Luft die Felsen der Liparischen Inseln auftauchten. »Haben Sie dem Gouverneur unser Kommen telegraphiert?« fragte Dorothy zaghaft.
»Ja. Oberst Sperelli erwartet uns.«
»Sie glauben, daß wir keine Schwierigkeiten haben werden?«
»Ich kann nur sagen, daß der Gouverneur mit größter Liebenswürdigkeit sich bereit erklärt hat, uns zu empfangen.«
»Ob es – ob ich auch die Erlaubnis erhalte, Testi zu sprechen?« Sie blickte angstvoll auf ihren Begleiter.
»Das ist kaum anzunehmen. Die Bestimmungen im Verkehr mit den Strafgefangenen sind sehr scharf.«
Dorothy seufzte. »Werde ich ihn wenigstens sehen?«
»Vielleicht ist es überhaupt besser, Sie bleiben an Bord, Miß Dorothy. Ich fürchte, Sie muten sich ein wenig zu viel zu.«
Sie unterbrach ihn mit einer schnellen Handbewegung. »Ich kann alles ertragen, Mister Jenkins, alles. Nur die Nervenspannung des Ungewissen martert mich.«
Das Schiff hielt den Kurs an der Küste. Ein herrliches Panorama tat sich auf, ein unermeßlich weiter Blick auf blühende Gefilde, grünende Rebengelände. In stillen, verträumten Buchten nisteten Fischerdörfer an steilen Bergabhängen. Sonnendurchglutet lag das Land, überragt von den schneebedeckten Gipfeln.
Ein Riff, kahl, von bizarren Formen, war der Küste vorgelagert. In einem weiten Bogen umfuhr der Dampfer das kleine Vorgebirge. Dort hinter dem zerklüfteten Gestein schimmerte es hell. Weißer Badestrand leuchtete auf – eingebettet wie eine Muschel lag ein Ort, ein mondäner Badeort. Aus dem saftig schimmernden Grün der Zitronen- und Orangenwälder hoben sich die breiten, fensterübersäten Fassaden der Hotelpaläste. In bläulichgedämpfter Färbung umschatteten knorrige Ölbäume die Straßen, die in malerischen Windungen zum Meere abfielen.
Der junge Schiffsoffizier trat grüßend an Dorothy heran. »Portorose«, sagte er nicht ohne Stolz, mit einer weit ausladenden Handbewegung auf das Landschaftsbild vor ihren Augen. »Portorose, Signora, der schönste Ort neben Taormina«, fügte er hinzu.
Den dankbaren Blick aus Dorothys Augen quittierte er mit südländischem Feuer. »Si, Signora, das ist das göttliche Portorose, der internationale Badeort. Mit Luxushotels, mit dem Reichtum und der Schönheit der großen Welt – und mit den schönsten Frauen.« Sein dunkles Auge leuchtete auf. »Vermutlich werden Sie dort wohnen, Signora?«
Dorothy schüttelte den Kopf; sie sah sich verlegen lächelnd nach Jenkins um.
Der Detektiv stand an der Reling und blickte zum Hafen hinüber. Der junge Offizier folgte der Richtung seines Blicks. »Ah, Sie bewundern diese Jacht dort, Signore?« fragte er lächelnd.
Jenkins nickte. »Ja, das ist ein verdammt schnittiges Fahrzeug. Wissen Sie, wem das Schiff gehört?«
Der Italiener machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Man kennt den Eigentümer nicht«, sagte er höflich. »Die Jacht liegt erst seit einigen Tagen im Hafen. Der Kapitän ist ein recht unzugänglicher Geselle. Sie müssen nämlich wissen, Signora«, er wandte sich wieder zu Dorothy herum, »die Jacht ist das Tagesgespräch von Portorose. Das heißt, weniger das Schiff, als die Frau, die es bewohnt.«
Der Dampfer machte eine scharfe Wendung; zur Rechten, nördlich der kleinen Bucht, tauchten jetzt die Umrisse einer Insel auf.
»Ist das dort Alina?« fragte Jenkins und wies mit dem Arm auf die zerklüfteten Ufer.
»Si, Signore, das ist die Sträflingskolonie Alina. Die Gefangenen arbeiten dort in den Solfatori. Ja, hier liegen sich zwei Welten gegenüber«, setzte er gesprächig hinzu. Er breitete mit emphatischer Gebärde die Arme aus. »Hier liegt Portorose. Voller Glanz und Reichtum, wie ein schöner Märchentraum. Hier feiert man Feste, hier tanzt man, und schöne Frauen machen das Leben paradiesisch.« Der junge Italiener schwieg einen Augenblick, er rollte schmerzlich das Auge, hob mit einer opernhaften Geste den Arm und sagte: »Und dort ist die Hölle. Ja, man kann es nicht anders bezeichnen. Bitte, nehmen Sie mein Glas. Sehen Sie dort die elenden Baracken? Das sind die Behausungen der Sträflinge. Und sehen Sie dort die schwarzen ausgemauerten Öffnungen im Gestein? Das sind die Calcaroni, in denen das Schwefelgestein gesammelt wird.«
Jenkins warf einen besorgten Blick auf Dorothy, als sie das Glas von den Augen nahm. »Was bedeutet der Rauch, der dort überall aufsteigt?« fragte sie.
»Dieser Rauch schwebt beständig über den brennenden Calcaroni. Man sieht manchmal die Luft zittern über den glühenden Schwefelmassen. Es ist ein furchtbares Leben, das ...«
Jenkins unterbrach den Gesprächigen. »Die Kurverwaltung dieses schönen Ortes sollte alles versuchen, um wenigstens die Aufhebung der Strafkolonie zu erwirken.«
Der Italiener zuckte die Achseln. »Non c'è chi fari«, sagte er gleichmütig. »Manchmal, wenn der Wind von der See weht, trägt er die mephitische Luft der Schwefelminen herüber. Aber wenn der Wind vom Land kommt, in stillen heißen Nächten, dann weht er die Klänge der Jazzmusik aus den Hotelveranden zur Insel hinüber. Man sagt, das seien die Höllennächte der Sträflinge. Sie pressen ihre glühenden Gesichter an die Stäbe der Gitter und starren in die Nacht. Dorthin, wo die Lichter aufglühen, wo ...«
»Sie schildern wirklich sehr anschaulich, Signore, es hört sich an wie ein Kapitel aus Ihres großen Dichters ›Inferno‹«, sagte Jenkins mit leichter Ironie. »Mich interessiert, offen gestanden, die Jacht im Hafen von Portorose weit mehr. Sie sagten vorhin, eine Dame sei an Bord dieses Schiffes?«
Der junge Schiffsoffizier lächelte und warf einen schmerzlichen Blick auf Dorothy. Wenn ich sie trösten dürfte, sie ist so zart – und so entzückend blond. »Si, Signore, diese Dame ist eine Landsmännin von mir, und noch dazu eine berühmte. Sie werden vielleicht schon von der Falieri gehört haben. Elena Falieri.«
»Gewiß. Ist sie schon lange in Portorose?«
»Das Schiff liegt schon seit einer Woche hier. Sie selbst ist erst seit drei Tagen an Bord. Scusi, Signore, wir drehen bei.« Er entfernte sich höflich grüßend.
Der Dampfer stoppte seine Maschinen; langsam begann er sich landwärts zu drehen. Zur Rechten lag im fahlen Glanz einer dunstverhangenen Sonne eine schroffe, zerklüftete Felswand, mit jäh zum Meer abfallendem Ufer. Fast baumlos, im glühenden Brand der Sonne verdorrt: die Insel Alina.
Das Vaporetto der Kommandantur, die Staatsflagge am Heck, schoß heran und legte längsseits des Dampfers bei. Ein Offizier kam an Deck. Jenkins ging ihm entgegen. »Signor Jenkins aus London?« fragte der Leutnant, die Hand an der Mütze.
Der Detektiv nickte. »Ja – und Miß Dorothy Crane.«
Der Italiener schlug die Hacken zusammen. »Oberst Sperelli erwartet Sie.«
Die drei gingen an die Reling. Jenkins legte die Hand auf Dorothys Arm. »Wäre es nicht besser, Miß Dorothy ...?«
Sie stand schon auf der ersten Stufe der Fallreepstreppe. »Dort drüben, Mister Jenkins«, sie wies auf das sonnendurchglühte Land, »dort drüben erfüllt sich vielleicht das Schicksal Francescos. Vielleicht auch meines Vaters Geschick – und wohl auch das meine. Alles andere ist belanglos. Kommen Sie!«
Das kleine Boot schoß in scharfer Wendung auf den Landungssteg zu; zwei Männer sprangen herbei und legten das schwankende Fahrzeug fest. Dort auf dem steinigen Geröll der Uferstraße stand ein kleines Detachement Carabinieri, die Gewehre am kurzen Riemen an der Schulter.
»Signore«, wandte sich der Offizier mit ernster Miene an Jenkins, »ich muß Sie und die Signora bitten, sich auf dem Weg zur Kommandantur weder umzusehen, noch zu sprechen.«
Jenkins lächelte. »Vielleicht verbinden Sie uns auch die Augen?«
Der Italiener runzelte die Brauen, er öffnete die Lippen zu einer heftigen Antwort. Aber er unterdrückte seinen Ärger, drehte sich kurz um und trat an die Spitze der kleinen Abteilung. »Avanti!«
Die Soldaten setzten sich mit schnellen trippelnden Schritten in Bewegung. Zwischen ihren Köpfen hindurch warf Jenkins einen prüfenden Blick auf die Umgebung. Eine schnurgerade Straße, staubig und sonnenverbrannt, zu beiden Seiten von knorrigen, niedrigen Bäumen flankiert, führte ins Innere der Insel. Rechts und links auf den mit spärlichem Gras bewachsenen Hügeln zeigten sich die tiefen ausgemauerten Öffnungen der brennenden Calcaroni. Die Abhänge schienen wie mit weißen Blasen übersät, von denen ein bläulicher leichter Dunst aufstieg.
Überall standen uniformierte Wärter umher, das Gewehr im Arm. Schwerbewaffnete Patrouillen der Carabinieri marschierten in der Richtung der langgestreckten Baracken, die am Ende der Straße lagen. Eine steile, zinnengekrönte Mauer, überragt von festungsähnlichen Türmen und Gebäuden, schloß dieses Barackenlager von der Straße ab.
Der Führer des kleinen Trupps drehte sich um. »Attenzione!« erscholl sein kurzes Kommando. Die Soldaten legten die Hand an den Gewehrriemen; ihre Reihen schlossen sich enger um die Eskortierten.
Langsam, in einem schwerfälligen und müden Trott, kam ihnen eine Abteilung von Sträflingen entgegen. Die grauen, in sackartige Kittel gekleideten Gestalten verschmolzen fast mit dem düster-farblosen Grau der Umgebung. Die Männer hielten die Hände auf dem Rücken, ihre Köpfe waren zur Erde gesenkt. Die stumpfe Gleichmäßigkeit ihrer müden Bewegungen hatte etwas Automatisches an sich. Sie blickten nicht auf, als sie den Soldaten begegneten.
Plötzlich entstand Unruhe in den Reihen des Trupps – einer der Sträflinge taumelte und schlug hin. Die anderen gingen gleichmütig weiter; aber jetzt hoben sie die Köpfe.
Jenkins sah in Mienen, in denen Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und tödlicher Haß sich mischten. Der stechende Blick dieser tiefliegenden, umschatteten Augen glomm auf in tierischer Begierde beim Anblick der schönen, jungen Frau, die zwischen den Soldaten ging. Ein Wärter beugte sich zu dem Gestürzten und stieß ihn mit dem Fuß in die Seite. Stöhnend raffte sich der Mann auf und taumelte wankend weiter.
In diesem Augenblick fühlte Jenkins, wie sich die Hände Dorothys in seinen Arm krallten. Sie lehnte totenbleich, mit halbgeschlossenen Lidern an seiner Schulter.
»Was ist Ihnen, Miß Dorothy?« fragte er besorgt.
Sie hielt die Hand vor die Augen. »Francesco«, stammelte sie mit bebenden Lippen, »er war es.«
Jenkins sah sich nach dem Sträflingstransport um. Der Gestürzte hatte die vorangehende Gruppe wieder erreicht – eine Staubwolke hüllte die Männer ein.
»Bitte, mir zu folgen«, sagte der Offizier kurz. Er ging den beiden voran, durch das große düstere Tor der Mauer, auf das graue, mit dem italienischen Wappen geschmückte Kommandanturgebäude zu.
In den düsteren, fensterlosen Gewölben der Korridore hallte der Schritt von den Wänden. Der Offizier öffnete die Tür zu einer Kanzlei. Ordonnanzen sprangen bei seinem Eintritt von den Stühlen. Er ging mit schnellen Schritten zu der hohen Tür des Nebenzimmers und öffnete sie weit.
Dorothy und Jenkins traten ein.
Hinter einem breiten Schreibtisch in der Mitte des Zimmers erhob sich die straffe Gestalt des Gouverneurs Sperelli. Ein freundlicher, älterer Herr, das weiße Haar militärisch kurz geschnitten, trat Jenkins entgegen. Er verbeugte sich leicht vor Dorothy. Mit einer knappen Handbewegung lud er zum Sitzen ein. Sein Blick streifte mit aufrichtiger Bewunderung das schöne, bleiche Gesicht seiner Besucherin. »Sie haben den Wunsch geäußert«, begann er mit einer tiefen, etwas schnarrenden Stimme, »Näheres über den Strafgefangenen Francesco Testi zu erfahren.«
Er schlug ein vor ihm liegendes Aktenstück auf und überlas murmelnd einige Sätze. »Erminio Flavius Francesco Testi, geboren am fünfundzwanzigsten Mai achtzehnhundertachtundneunzig zu Florenz, zuletzt Sekretär der italienischen Botschaft in London ... angeklagt«, hier hob der Gouverneur die Stimme, »angeklagt wegen politischer Umtriebe und verurteilt nach Überführung zu dreijähriger Strafarbeit auf Alina. Gegeben zu Rom am vierzehnten Juni.«
Sperelli schloß den Aktendeckel und blickte halb bedauernd, halb mit amtlich strenger Miene auf Dorothy.
Jenkins räusperte sich. »Es wäre Miß Dorothy sehr erwünscht, Herr Oberst, zu erfahren, welcher Art diese politischen Umtriebe gewesen sind, deren sich Signor Testi schuldig gemacht haben soll.«
Der Kommandant strich sich den Schnurrbart und schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich bin untröstlich«, sagte er, seine rauhe Stimme zu einem liebenswürdigen Ton zwingend, »es ist mir nicht möglich, der Signorina eine Auskunft darüber zu erteilen.«
Dorothys Augen füllten sich mit Tränen. »Mein Verlobter war ein glühender Patriot – er kann nur das Opfer irgendeines Feindes geworden sein. Er ist unschuldig!«
Sperelli zuckte die Achseln. »Ich vermag das nicht zu entscheiden, Signorina. Ich habe hier keine Meinung zu äußern.«
»Herr Oberst«, nahm Jenkins das Wort, »wir haben Beweise, daß Testi in der Lage ist, eine Aussage zu machen, die wahrscheinlich ein ungeheures Verbrechen aufhellen würde. Vielleicht, nein sicher, würde es mir nach einer Aussprache mit Testi auch möglich sein, Miß Cranes Vater aufzufinden und damit manche geheimnisvollen Zusammenhänge aufzuklären. Möglicherweise auch diese Anklage, der Testi zum Opfer gefallen ist.«
Der Kommandant betrachtete aufmerksam seine Fingernägel; er erhob sich und ging einige Schritte im Zimmer auf und ab. »Ich gewinne immer mehr die Überzeugung, Mister Jenkins, daß Sie mit Ihrem Anliegen hier am falschen Ort sind. Warum haben Sie nicht eine Eingabe gemacht? In Rom, beim Innenministerium?«
»Ich sagte Ihnen bereits, Herr Oberst, es handelt sich um ein Menschenleben. Ehe in Rom der Instanzenweg durchlaufen wäre, könnte es schon zu spät sein. Nein, ich muß Francesco Testi hier sprechen – ein Wort von ihm vermag vielleicht ...«
Ein kurzes Klopfen an der Tür ließ Jenkins verstummen. Der junge Offizier stand in dienstlicher Haltung auf der Schwelle.
»Was gibt es?« fragte Sperelli.
Der Angeredete warf einen kurzen Blick auf die Besucher seines Chefs und trat einen Schritt näher. »Rapport der Baracke zwölf. Die Belegschaft revoltiert!«
Der Oberst fuhr auf. »Was ist geschehen?«
»Die Sträflinge haben sich über das Essen beschwert. Die Wärter haben darauf die Eßkübel ausgeleert. Dabei sind sie von den Sträflingen angefallen worden.«
»Elende Zucht – ewig derselbe Ärger!« Sperelli schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ordnung schaffen!«
Der Offizier blieb salutierend an der Tür des Zimmers stehen.
»Was wollen Sie noch?« fragte der Oberst ungeduldig.
»Es ist ein drahtloses Telegramm eingelaufen, Herr Oberst. Von Bord der Jacht ›Elena‹. Signora Elena Falieri kündigt ihren Besuch für morgen an.«
Jenkins horchte auf. Die Falieri auf Alina? War das ein privater Besuch, die Befriedigung irgendeiner Laune, ein Spielen mit der Gefahr? Oder hatte die Falieri eine bestimmte Absicht, verfolgte sie einen Zweck mit diesem Besuch?
»Unmöglich – lassen Sie abtelegraphieren, Leutnant Volta«, befahl Sperelli. »Warten Sie, ich werde Ihnen die Antwort diktieren. Einen Augenblick, bitte«, wandte er sich entschuldigend zu Dorothy, »ich stehe gleich zu Ihrer Verfügung, Signorina.« Er riß ein Blatt von dem Notizblock. »Drahten Sie zurück: ›Entzückt von der Absicht Ihres Besuches. Muß aber bitten, morgen nicht zu kommen. Befürchte Unruhen unter den Sträflingen. Sperelli.‹ So. Jeder Versuch einer Landung der Jacht muß unterbunden werden.«
Leutnant Volta verließ salutierend das Zimmer.
Es schien, als hätte der Kommandant seine Besucher vergessen. Er nahm den Hörer des Telephons und gab mit scharfer, rauher Stimme hastige Instruktionen. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, stand er am Fenster und blickte sinnend in den Hof. »Signorina – und auch Sie, Mister Jenkins«, er drehte sich brüsk zu den beiden herum, »Sie haben gehört, was hier vorgeht. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, daß ich jeden Augenblick den Ausbruch einer Revolte erwarte. Der Aufenthalt auf der Insel ist also mit größter Gefahr für Sie verknüpft. Ich darf Sie wohl bitten, so schnell wie möglich Ihren Besuch abzubrechen.«
Dorothy blickte mit hilflosem Ausdruck auf den Detektiv.
»Und meine Rücksprache mit Testi?« fragte Jenkins.
»Unter diesen Umständen, mein Herr, ist es mir natürlich unmöglich, eine Unterhaltung zwischen Ihnen und dem Gefangenen zu gestatten.«
»Sie hatten mir Ihre Zusage bereits telegraphisch gegeben, Herr Oberst.«
»Unter anderen Voraussetzungen. Ich bedaure, mein Wort zurückziehen zu müssen.«
»Miß Crane wird, wenn Sie es wünschen, die Insel sofort verlassen. Was mich betrifft, so muß ich darauf bestehen, den Gefangenen Testi zu sprechen.«
Der Oberst richtete sich auf; mit schneidender Stimme sagte er: »Hier bestimme ich einzig und allein!« Er drückte auf den Klingelknopf. »Leutnant Volta soll diese Dame und den Herrn sofort unter Bedeckung zum Vaporetto bringen«, rief er der eintretenden Ordonnanz entgegen.
»Einen Augenblick, Herr Oberst«, Jenkins kühle Stimme kam durch das Zimmer. »Darf ich Sie daran erinnern, daß ich hier gewissermaßen im Auftrage der englischen Regierung stehe? Ich bin im Begriff, ein Verbrechen aufzuklären, das über die privaten und rein menschlichen Interessen hinaus, eine kriminelle Frage von internationaler Bedeutung aufrollt. Wenn Sie mich daran hindern wollen, mit Testi zu sprechen, so muß ich mich natürlich der Gewalt fügen. Andererseits möchte ich Sie, Herr Oberst, jedoch auf die Konsequenzen aufmerksam machen, die dadurch entstehen, wenn ...«
Sperelli unterbrach den Sprechenden mit einer knappen Handbewegung. »Basta – bitte, überlassen Sie mir die Verantwortung für meine Anordnungen. Überdies«, setzte er mit einem spöttischen Lächeln hinzu, »welchen Wert könnte Testis Aussage für die englische Regierung haben? Die Aussage eines – Hochverräters!«
»Herr Oberst!« Dorothy blickte betroffen auf den Offizier.
Jenkins räusperte sich. »Bitte, überlassen Sie mir die Bewertung der Aussage Testis, Herr Oberst. Jedenfalls – von der berühmten romanischen Galanterie und Liebenswürdigkeit scheint mir nach dem Kriege nicht mehr viel übriggeblieben zu sein.«
Sperelli biß sich auf die Lippen. »Ich bitte um Verzeihung. Es ist keine sehr angenehme Situation hier; dieses ständige Leben auf einem Pulverfaß bringt schon eine gewisse nervöse Reizbarkeit mit sich. Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Mister Jenkins.« Der Gouverneur blickte auf die Uhr. »Um sechs Uhr habe ich mein tägliches Dienstgespräch mit Rom. Wenn der Staatssekretär seine Genehmigung zu dieser Unterredung mit Testi gibt – molto bene! Sie haben gehört, wie die Dinge hier liegen, das Risiko Ihres Aufenthaltes müssen Sie selbst übernehmen.«
»Ich danke Ihnen, Herr Oberst. Mein Beruf hat mich schon vor größere Gefahren gestellt. Erlauben Sie, daß ich Miß Crane zum Vaporetto hinunterbegleite?«
Der junge Offizier betrat das Zimmer.
»Führen Sie die Dame unter Bedeckung zum Boot. Wie stehen die Dinge draußen?«
»Bedenklich, Herr Oberst. Es kann jeden Augenblick ...«
»Also bringen Sie die Dame schleunigst in Sicherheit. Es dürfte besser sein, Mister Jenkins, Sie verabschieden sich gleich hier.«
Dorothy schlug ihre Augen mit einem Ausdruck hilfloser Angst zu dem Kommandanten auf. »Ich habe eine Bitte, Herr Oberst«, sagte sie leise.
Sperelli, bemüht, seine Schroffheit von vorhin wieder gutzumachen, legte mit emphatischer Gebärde die Hand aufs Herz. »Befehlen Sie über mich, Signorina!«
»Francesco – ich meine Testi, brach auf dem Weg zur Arbeit zusammen. Er ist krank – ich sah es ihm an. Können Sie ihm nicht eine andere – eine leichtere Arbeit zuteilen? Um der Barmherzigkeit willen, Herr Oberst?«
Sperelli blickte einen Augenblick in die flehenden Augen seiner Besucherin; dann wechselte er einige Worte mit dem Offizier. »Es wird veranlaßt, Signorina. Testi soll abgelöst werden. Darf ich mich von Ihnen verabschieden, ich muß meinen Inspektionsgang antreten. Leben Sie wohl, Signorina. Wir sehen uns noch später, Mister Jenkins – a rivederci!«
Der Detektiv wandte sich zu dem jungen Offizier. »Wann geht der nächste Dampfer nach Palermo?«
»Um sechs Uhr von Portorose.«
»Nehmen Sie auf jeden Fall das Schiff, Miß Dorothy. Erwarten Sie mich morgen im Laufe des Tages in Palermo.«
Dorothy gab Jenkins die Hand. »Mir ist ... ich habe ein unheimliches Gefühl der Angst, Mister Jenkins. Lassen Sie mich nicht zu lange allein.«
»Wir sehen uns morgen«, sagte Jenkins und nickte ihr tröstend zu. Er trat zum Fenster; er sah wie Dorothy inmitten ihrer Eskorte sich bemühte, mit der eigentümlich trippelnden Gangart der Carabinieri Schritt zu halten. Zwischen den gebräunten Gesichtern der Soldaten leuchtete ihr blasses Antlitz. Sie drehte sich um, und ein wehes Lächeln stand um ihre Lippen, als sie Jenkins hinter den Fenstern erblickte.
Der Detektiv trat ins Zimmer zurück. Behutsam öffnete er die schmale Tür zum Nebenraum. Das Gelaß war leer, eine hohe Glastür führte auf den Balkon. Jenkins blickte durch die Scheiben. Unten lag ein von kahlen Mauern umgebener Hof, roh gepflastert und ohne Schatten. Die schrägen Strahlen der Sonne streiften das Rund des Platzes, ohne ihn zu erhellen. In den Nischen der Mauerwinkel lagerte schwärzliches Dunkel, die hohen Quaderwände des Wachtturmes standen drohend und düster im ungewissen Licht der heraufziehenden Dämmerung.
Unten im Hof machte eine Abteilung von Sträflingen ihren Abendspaziergang. Sie schritten im Kreis, die Hände auf den Schultern des Vordermannes. Die meisten hielten die Köpfe gesenkt, andere starrten ins Leere, mit den stumpfen, glanzlosen Augen der Lichtentwöhnten.
Lastendes Schweigen lag über dem Platz – das Klappern der nägelbeschlagenen Schuhe klang nur gedämpft unter den kurzen schweren Schritten der Männer. Das Gewehr schußbereit in der Hand stand ein Wärter in der Mitte des Kreises. Seine Augen folgten unablässig den grauen Gestalten, deren Trott sich wie ein aufgezogenes Gangwerk um seine Achse drehte.
An der Mauer verteilt standen andere Wärter, alle mit dem Gewehr am Riemen über der Schulter.
Ein Pfiff zerriß die Stille – wie angewurzelt blieben die Sträflinge stehen. Ein zweites Signal erscholl, und sofort bildeten die Männer eine Kette. Langsam, in einem eigentümlich wiegenden Gang, dicht aufeinandergereiht, schritten sie jetzt zum Eingang des Hauses.
Fast alle Sträflinge waren bereits im Innern des Gebäudes verschwunden, als der zurückbleibende Wärter sich behaglich eine Zigarette anzündete. In diesem Augenblick sah Jenkins, wie einer der Männer sich auf den Rauchenden stürzte und ihm die Zigarette aus dem Mund riß. Ein paar hastige Züge konnte der Sträfling machen, dann traf ihn die geballte Faust des Wärters mitten ins Gesicht. Er stürzte zu Boden. Brüllend warfen sich jetzt die übrigen auf den Wärter. Aber von allen Seiten liefen die Aufseher hinzu; mit Kolbenstößen trieb man die Sträflinge ins Haus.
Jenkins hörte im Nebenzimmer die Stimme des Kommandanten. Er öffnete die Tür. Sperelli stand in der Mitte des Raumes, umgeben von mehreren Offizieren und Aufsehern. Ihre Mienen waren ungewöhnlich ernst, sie wechselten Blicke untereinander, und ihre Augen richteten sich ratsuchend auf den Kommandanten. Der Oberst gab schnelle und kurze Instruktionen. In seiner Stimme klang eine tiefe Erregung auf. »Ah, Mister Jenkins, gut, daß Sie kommen. Der Staatssekretär bewilligt Ihnen die Unterredung mit Testi. Allerdings mit der Beschränkung, daß sie unter Zeugen stattfindet und nicht länger als zwanzig Minuten dauert. Ich selbst aber, Mister Jenkins, sehe mich veranlaßt, die Sprechzeit auf zehn Minuten zu beschränken. Die Umstände erfordern das!«
Der Detektiv machte eine zögernde Handbewegung.
»Bitte, Mister Jenkins«, schnitt ihm der Oberst das Wort ab. »Meine Zeit ist gemessen. In einer Viertelstunde längstens müssen Sie die Insel verlassen haben. Leutnant Volta, Sie sind mir dafür verantwortlich! Und Sie, Sergeant Bissone, führen den Herrn ins Wartezimmer.«
Jenkins folgte dem Aufseher durch die dunklen Kasematten. Er sah sich den Mann von der Seite an. In dem groben, knochigen Gesicht dieses Bauernburschen paarte sich eine schläfrige Stumpfsinnigkeit mit dem Ausdruck einer niedrigen Habgier. Der Detektiv, gewohnt, Menschen nach ihrem Äußeren abzuschätzen, las in den plumpen Zügen dieses Sizilianers wie in einem offenen Buch. Dieser Mensch mochte jede Gelegenheit wahrnehmen, seine bestialische Roheit an den Gefangenen auszulassen. Ebenso würde er auch nie seinen Vorteil aus den Augen verlieren, selbst um den Preis einer Pflichtverletzung.
Der Sergeant öffnete die Tür zu einem kleinen niedrigen Zimmer. Dumpfe, säuerliche Luft schlug den Eintretenden entgegen. »Warten Sie hier; ich werde den Gefangenen holen«, brummte der Aufseher mürrisch.
Jenkins hielt dem Soldaten die Zigarrentasche hin. »Nehmen Sie«, sagte er freundlich.
Zögernd hob der Mann die Hand. »Ich bin im Dienst, Signore.«
Der Detektiv trat dicht an ihn heran. Er machte eine nicht mißzuverstehende Geste mit Daumen und Zeigefinger. »Ich muß den Gefangenen allein sprechen – und länger als die paar Minuten, mi capisce amico?«
Der Sergeant Bissone kniff ein Auge zu und musterte Jenkins mit einem abschätzenden Blick. »Gleich kommt der Leutnant, um Sie ans Boot zu bringen«, sagte er lauernd.
Jenkins schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Das sollen Sie eben verhindern, Mann.«
»Non c'è chi fari«, Bissone zuckte die Achseln; er wandte sich gleichmütig zur Tür.
Jenkins ging dem Sergeanten nach und hielt ihn am Ärmel fest. »Zehn Pfund für Sie, wenn Sie mir den Offizier fernhalten«, flüsterte er.
Die dunklen Augen des Sizilianers glühten auf. Dumpfes Pflichtgefühl und gewohnter Zwang rangen mit brennender Habgier. In seinen brutalen Zügen spiegelte sich der schwere innere Kampf. »Das ist eine gefährliche Sache, Signore.« Er schüttelte mißmutig den Kopf.
Jenkins zog die Brieftasche und ließ die Geldscheine durch die Finger gleiten. Mit gierigen Augen verfolgte Bissone die Bewegung. Er sah die dünnen weißen englischen Banknoten in den Händen des Detektivs – dieses schöne gute Geld, soviel besser als die arme einheimische Währung ... er griff hastig nach den Scheinen. »Grazie, Signore«, sagte er mit heiserer Stimme.
Jenkins zog die Hand zurück. »Später, amico – erst bringen Sie Testi her.«
Der Sergeant warf ihm einen haßerfüllten Blick zu, dann verließ er schweigend das Zimmer.
Jenkins ging ungeduldig in dem kleinen Raum auf und ab. Es war weniger das Gefahrvolle der Situation, das ihn mit einer leichten Nervosität erfüllte, als die Spannung der Ungewißheit. Alles kam auf die paar Minuten an, in denen er mit Testi allein sprechen mußte. Würde der Gefangene – ohne Zweifel bestürzt durch diesen plötzlichen Kontakt mit der Außenwelt – sofort erfassen, um was es hier ging? Wenn Testi nun durch die lange Haft, durch die schwere gesundheitzerstörende Arbeit in den Minen so geschwächt war, daß er die Zusammenhänge nicht begriff? Jenkins wußte, daß ihm keine Zeit blieb zu langen Erklärungen, selbst wenn der Sergeant wirklich den Offizier etwas länger zurückhalten konnte. Und Bissone – wenn der Bursche nun hinging und seinem Vorgesetzten alles verriet? Dann war alles vergebens – er würde Testi überhaupt nicht sehen.
Ein unbestimmtes Geräusch kam aus der Tiefe des Hauses – es schien in einem heimlichen und gefahrvollen Leben zu vibrieren; seltsam feindselig war alles, geladen von einer drückenden, unerträglichen Atmosphäre.
Irgendwo ging ein Glockensignal; irgendwo öffneten sich Türen und schlossen sich wieder mit dumpfem, lang nachhallendem Dröhnen. Erregtes Murmeln kam von draußen, Schlüssel klirrten. Im Hof erscholl der Marschtritt aufziehender Wachen. Helle Kommandos ertönten. Gewehrkolben rasselten auf das Pflaster.
Ein Schritt klang auf.
Jenkins blickte zur Tür; in ihrem Rahmen stand Sergeant Bissone – allein. »Der Gefangene Testi ist krank, er kann die Zelle nicht verlassen.«
Jenkins nickte; er fühlte: hier wurde eine Erpressung versucht. Aber es war kein Augenblick zu verlieren, in der nächsten Minute schon konnte alles zu spät sein.
Plötzlich stand der Sergeant an seiner Seite. »Sie glauben mir nicht, Signore – ich sehe es Ihnen an. Es ist aber die Wahrheit; Testi ist krank.« Bissone beugte sich zu Jenkins Ohr. »Ich will Sie in die Zelle lassen, Signore ... das kann mich den Kopf kosten ... aber, bei der heiligen Rosalia von Palermo – ich bin arm – meine Frau ist krank ...«
Jenkins griff in die Tasche und drückte die Banknoten in die zitternde Hand des Sergeanten. »Sie sollen noch hundert Lire haben, amico, wenn alles gut geht.«
Bissone griff hinter sich und legte ein Bündel zu Jenkins Füßen. »Hier, Signore, ein Sträflingsanzug. Schnell, ziehen Sie ihn über. Ich nehme Sie als Kalfaktor mit hinein ... schnell!«
Der Detektiv riß mit hastigen Griffen das Bündel auseinander und streifte die weiten sackartigen Beinkleider über. »Und der Leutnant«, fragte er, »er muß doch jeden Augenblick ...?«
Der Sizilianer ballte die Faust; ein verbissener Ausdruck des Hasses legte sich um seine Züge. »Der Leutnant – der Leutnant – wird sobald nicht kommen ...« murmelte er zwischen den Zähnen. Er neigte lauschend den Kopf, als horche er auf die ungewissen Laute, die das Haus zu erfüllen schienen. Behutsam öffnete er die Tür, spähte zu beiden Seiten des halbdunklen Ganges und winkte Jenkins, ihm zu folgen.
Die Türen der Zellen mündeten auf den Korridor, dessen kasemattenartige Wölbungen eine dumpfe Moderluft ausströmten. Hinter den eisenbeschlagenen Türen rumorte es, die Insassen tobten, und ihre Wut machte sich in einem tierischen Gebrüll Luft.
Jenkins warf einen fragenden Blick auf seinen Begleiter.
Draußen knatterte plötzlich eine Gewehrsalve.
Einen Augenblick lang herrschte lähmendes Schweigen ringsum. Dann brach ein infernalisches Geheul los, das krachende Geräusch splitternden Holzes klang auf – und eine scharfe, helle Stimme rief ein kurzes, drohendes Kommando.
Bissone bekreuzigte sich. »Es geht los«, flüsterte er. Mit zitternden Händen schloß er eine Zellentür auf. »Schnell, schnell.« Er drängte Jenkins in den niedrigen Raum.
Der Detektiv entzündete seine Taschenlampe. Dort auf einer Holzpritsche lag eine zusammengekauerte Gestalt. Jenkins beugte sich über den Liegenden. Es war Testi. Aber die Fieberröte, die das Gesicht des Gefangenen bedeckte, seine geschlossenen Augen verrieten Jenkins mit einem Blick, daß er einen Schwerkranken vor sich habe. Von diesem Zusammengebrochenen würde schwerlich etwas von Bedeutung zu erfahren sein.
Jenkins berührte sanft die Schulter des Mannes. »Signor Testi – können Sie mich verstehen? Ein Freund spricht zu Ihnen ...«
Der Gefangene drehte sich zur Seite. Er schlug die Augen auf und starrte verständnislos auf den Fremden.
Der Detektiv nickte ihm aufmunternd zu. »Versuchen Sie, meinen Worten zu folgen, Testi. Geben Sie mir – wenn es Ihnen möglich ist – nur ganz kurze Antworten. Sehen Sie her – kennen Sie diesen Mann?«
Jenkins zog die Photographie des Ermordeten von Low-Shadwell hervor und gab sie dem Gefangenen in die Hand.
Testi starrte mit brennenden Augen auf das Bild; mit einem Ruck sprang er von seinem Lager auf. »Mein Gott, das ist Luigi – er hatte eine Botschaft von mir an ...« Er unterbrach sich und betrachtete den Detektiv mit mißtrauischen Blicken. »Wer sind Sie?« fragte er leise.
»Sie dürfen Vertrauen zu mir haben. Ich bin der Detektiv Joe Jenkins. Man hat mich zu Hilfe gerufen.«
»Mister Wilbur Crane ... war er es, der Sie rief?«
»Ja. Aber auch er ist anscheinend das Opfer eines Anschlags geworden. Er ist ...«
Testi schrie auf. »Ah – ich ahnte es – ich wußte es – er ist unbarmherzig.«
Jenkins ergriff die Hand des Gefangenen. »Kennen Sie seine Feinde und die Ihren? Sprechen Sie – schnell, es steht alles auf dem Spiel. Sie müssen mir mit zwei Worten ...«
Eine gewaltige Detonation ließ Jenkins plötzlich verstummen; das Gewölbe erzitterte in seinen Grundfesten. Steine und Schutt fielen von der Decke und hüllten die Zelle in eine dichte Staubwolke.
Der Detektiv fühlte sich am Arm gepackt und fortgerissen; die heisere Stimme des Sergeanten schlug an sein Ohr. »Fliehen Sie, Signore, schnell, ehe es zu spät ist. Die Sträflinge sind ausgebrochen. Sie sprengen die Minen in die Luft!«
Ein furchtbarer Tumult brach los. In die dumpfen Explosionen der Minen mischte sich das Knattern der Gewehrsalven. Klirrend brachen Eisentüren zusammen; wirres Schreien übertönte die Kommandorufe der Offiziere. Einen Augenblick sah Jenkins ratlos in die von Staub und Dampf erfüllte Zelle. »Testi – hierher – retten Sie sich!«
»Testi!« schrie Jenkins noch einmal.
Plötzlich krachten Schüsse auf dem Korridor. Die Tür der Zelle wurde aufgerissen – Bissone wich leichenblaß zurück. Draußen in den Gängen wälzte sich die Menge der ausgebrochenen Sträflinge. Sie trugen irgendetwas in den Händen, vielleicht Waffen, vielleicht Wurfgeschosse. Eiserne Stangen, Balken, hier und da aufgegriffene primitive Dinge. Ihre wutverzerrten Gesichter mit den blutunterlaufenen Augen ließen sie wie Dämonen der Unterwelt erscheinen.
»Halt!« schrie der Sergeant und hob drohend den Revolver. Aber ein stumpfer Gegenstand schlug krachend auf seinen Schädel – lautlos brach er zusammen. Wieherndes Gelächter begleitete seinen Sturz.
Die Rasenden stürmten weiter; Jenkins fühlte wie er mitgerissen wurde; jeder Widerstand war hier vergeblich. Dumpfe Stöße polterten gegen die Bohlen des Tores. Über das berstende Holz hinweg stürmten die Entfesselten ins Freie. Der Platz vor dem Gefängnis war menschenleer; aber von der Straße her, die zu den Solfatori führte, quoll es in dichten Massen. Auch dort hatten die Revoltierenden ihre Wärter überwältigt. Die beiden Menschenhaufen brandeten ineinander.
Plötzlich zerriß ein peitschendes, knatterndes Geräusch die Luft. Maschinengewehre! Vom Wachtturm her spritzten die Geschosse in die dichtgekeilte Menge. Wilde Schmerzensschreie und Wutgebrüll antwortete diesem bellenden abgehackten Knallen.
Jenkins warf sich zu Boden. Das Maschinengewehr bestrich die schnurgerade Straße zum Meer: hier war ein Entkommen unmöglich. Kriechend, den Körper dicht an den grauen Steinboden gepreßt, schob sich Jenkins zur Seite. Die aufschlagenden Kugeln spritzten Gesteinmassen hoch – die scharfen Zacken rissen blutige Striemen in sein Gesicht. Vorsichtig hob er den Kopf. Dort, das niedrige, aber dichte Gebüsch bot Deckung. Er kroch vorsichtig weiter; die Kugeln strichen dicht über den Boden – er fühlte wie sie seine Haare streiften. Dann plötzlich schwieg das Maschinengewehr; die jäh eintretende Stille legte sich fast schmerzhaft auf die Nerven. Jenkins blickte über den Rand des Gebüsches. Die Böschung fiel steil zum Meer hinab. Er richtete sich auf; aber deutlich vernahm er jetzt die Schritte einer marschierenden Abteilung. Mit einem Satz schwang er sich über das Gebüsch und rannte die Böschung hinab. Laute Anrufe schollen hinter ihm drein; er sah sich nicht um. Dicht an seinem Ohr pfiff eine Kugel vorbei. Jenkins lief die wenigen Schritte über den Strand. Gerade als eine Salve hinter ihm knatterte, warf er sich ins Meer und schwamm in langen Stößen eine Weile unter Wasser.
Drüben – in einer Entfernung von etwa hundert Metern schaukelte eine schlanke weiße Jacht auf den Wellen.
*