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1476
melde dich Norden in
diesen Tagen: erwarten
Vaters Rückkehr, wohne
immer Friedrichstr. 108
Noch lagert Morgendunst über Berlin, die ersten Frühblätter werden verkauft, kaum hat der erste Straßenbahnzug sein Depot verlassen, vereinzelt noch sind die Passanten, Arbeiter, Bahnbeamte, Leute, die die Büros öffnen.
Doch in dem großen roten Hause am Alexanderplatz herrscht schon reges Leben. Morris und Holl haben an dem großen Arbeitstisch des Doktors Platz genommen, jeder von ihnen hält die Morgenausgabe mit der scheinbar so harmlosen Annonce in der Hand.
»Ich erinnere mich«, überlegt Morris, »daß sie sich in London desselben Mittels bedienten, um möglichst ohne Gefahr zusammenzutreffen.«
»Sie wissen natürlich, daß alle Polizeiorgane der ganzen Welt auf sie aufmerksam gemacht sind und daß sie sich nirgendwohin schreiben können, ohne Verdacht zu erregen. Es ist wirklich der reine Zufall, daß mir das Blatt in die Hand fiel.«
Dr. Voß saugt nachdenklich an seiner unvermeidlichen Zigarre. »Sehr schön. Was besagt nun die Annonce – anscheinend soll jemand Norden 1476 anrufen und sich dort eine Auskunft holen? Eigentlich erscheint mir das fast zu unkompliziert, vielleicht eine Finte. Und was fangen wir jetzt mit dem Vater und der Friedrichstraßenadresse an? Das interessiert mich am meisten. Holl, eine feine Denkaufgabe für Sie!«
Der Assistent überliest zum soundsovielten Male die verdächtige Anzeige; man kann in die paar Worte den verschiedensten Sinn hineinlegen, möglicherweise sogar Unsinn.
Morris wickelt gelassen ein Stückchen Kaugummi aus der Umhüllung. »Was halten Sie davon, Doktor, wenn wir auf jeden Fall versuchen, die Bande – vorausgesetzt, daß sie sich wirklich bereits hier befindet oder in diesen Tagen hier eintrifft – in eine Falle zu locken?«
»Hm. In was für eine Falle?«
Morris scheint zu lächeln, es ist schwer, in seinem Gesicht irgendeine Regung zu erkennen.
»Ich glaube nicht, daß Sie sehr erbaut sein werden. Ich dachte mir das ungefähr so, daß Sie ein hervorragendes Kunstinstitut dazu bewegen, eine Ausstellung zu veranstalten oder ein besonders wertvolles Objekt auffällig anzupreisen. Vielleicht gehen uns die Kerle auf den Leim und versuchen das Wertstück an sich zu bringen. Leute dieses Formats können einfach einer Gelegenheit nicht widerstehen, es hypnotisiert sie geradezu; wir bewachen natürlich das Objekt unauffällig und fassen sie. Wenn wir Glück haben und alles klappt, warum soll es nicht klappen?!«
Der Doktor sieht nachdenklich vor sich hin.
»Das muß natürlich überlegt werden. Ich denke, wir nehmen zuerst unsere Nachforschungen nach dem Sinn und Zweck der Annonce wieder auf. Kommen wir so nicht ans Ziel, dann muß versucht werden, ein geeignetes Wertobjekt als Köder zu bekommen. Ich werde mich auf jeden Fall sofort mit den in Frage kommenden Kreisen in Verbindung setzen, inzwischen wird Holl Näheres über die Annonce in Erfahrung bringen.«
Morris nickt zufrieden. »Ich glaube bestimmt, Doktor, daß wir auf diese Weise ein Resultat erzielen werden.«
Dr. Voß wendet sich seinem Assistenten zu: »Also, Sie sind ungefähr im Bilde, nicht wahr? Sie versuchen erst mal zu erfahren, wer die Nummer 1476 hat, das ist ja ganz einfach; vielleicht finden Sie dann einen Weg, der es uns ermöglicht, auch den Rest zu entziffern. Entweder wird jemand erwartet, den man vorsichtigerweise mit Vater bezeichnet, oder man will uns irreführen, oder Sie finden in Nummer 108 etwas Interessantes!«
Der junge Mann faltet seine Zeitung zusammen und will sich entfernen. Sein Chef winkt ihn noch einmal zurück. »Wie war es übrigens mit der kleinen Marchaud? Sie erzählten mir doch, daß Sie mit der Sekretärin von Brown ein Rendezvous hatten?!«
Er lächelt ein wenig bei dieser Frage.
Der Assistent kann eine leichte Verlegenheit nicht verbergen, man braucht seinem Chef gegenüber nicht gerade eine Berg- und Talbahnfahrt zu erwähnen, auch wenn sie noch so befriedigend ausklang.
»Hat sie Sie etwa versetzt?« fragt der Doktor belustigt.
»Das glaube ich nicht«, meint Morris gelassen.
»Wir waren im Lunapark«, berichtet der Assistent, »nachher trafen wir sogar Brown, ganz zufällig, er schimpfte mächtig auf die Polizei.«
»Aha! Und auf die Versicherung?!« Dr. Voß lacht und kneift schlau ein Auge zu. »Hoffentlich komme ich nicht in die Zwangslage, auch meinerseits den Unwillen dieses Herrn zu erregen. Ich belästige niemand gern.«
*
Norden 1476 ist die Telefonnummer der Pension Metropole. Zehn Minuten, nachdem der Assistent den Hörer aufgelegt hat, betritt er den unsauberen kleinen Vorraum des Hauses; die Pension ist von zahlreichen Ausländern bewohnt, Artisten aus allen Weltecken nehmen hier für die Dauer ihres Engagements Logis, bescheidene, anspruchslose Leute, die tagsüber in dem Restaurant im Erdgeschoß bei Tee und Karten den Beginn der Vorstellungen abwarten. Holl findet nichts Verdächtiges, keinen Verbrecherschlupfwinkel.
»Ich suche hier einen Bekannten«, wendet er sich an den Portier.
»Wie heißt er denn?«
»Das ist es ja eben!« Dabei hält er ihm die Zigarettenschachtel hin. »So'n ausgefallener Name – darf ich mal schnell im Fremdenbuch nachsehen?« Ohne Verdacht zu erregen, kann er sich mit den Eintragungen beschäftigen. Sacha O'Kawaki und Frau aus Tokio – Fedor Stalmin aus Riga – René Philippe, Brüssel – Artisten, nichts als unverdächtige Artisten, Jongleure, Akrobaten, Zauberkünstler, Tänzerpaare. Er klappt das Buch zu und überläßt dem Portier großmütig die ganze Schachtel Zigaretten, man kann nie wissen, ob man seine Dienste nicht noch einmal braucht.
Grübelnd geht er die Straßen entlang.
Die Sommerhitze verändert das Straßenbild wie eine Zeitlupe, alles scheint zu kriechen, sich zu schleppen. Das Durstgefühl erinnert ihn daran, daß er sich zum Mittagessen mit Eddie verabredet hat – eigentümlich, wie einem eine anfänglich so harmlose Bekanntschaft zu schaffen machen kann. Schon scheint es ihm unvorstellbar, daß er einen Tag lang die kleine Eddie Marchaud nicht zu sehen bekäme oder nicht wenigstens ein paar Worte mit ihr spräche. Gerade ihre Zurückhaltung, ihre fast ängstliche Schüchternheit macht sie so anziehend. Und dann dieser Abend im Lunapark! Der junge Mann hat sicherlich schon viele derartige Abende verlebt – aber dieser ist in irgendeiner Art anders. Man kann ihn nicht vergessen.
Eddie erwartet ihn in dem Lokal, in dem sie sich treffen wollten; gleich beim Eintreten sieht er sie sitzen, sie trägt einen kleinen hellgrauen Wildlederhut, den sie verwegen auf die Seite gerückt hat. Der Assistent macht mit einem gewissen Behagen die Entdeckung, daß sich ein halbes Dutzend Herren aller Kategorien um den Tisch seiner Freundin gruppiert haben und auf die verschiedenste Art und Weise ihre Aufmerksamkeit zu wecken suchen.
Es ist übrigens sehr kurzweilig, einmal die anderen bei dieser zeitvertreibenden Beschäftigung zu beobachten. Einer zählt auffällig sein Geld, der andere klappt die Zeitung wie eine Fahne auf und nieder. Es gibt schließlich Männer, die alle Skalen ihres verführerischsten Lächelns durchprobieren; sie entwickeln dabei eine unglaubliche Geduld. Menschen, die schimpfen, wenn sie eine Sekunde länger beim Einsteigen in die Untergrundbahn warten müssen, verbringen ganze Viertelstunden mit nichts als mit Lächeln. Nachdem der junge Mann sich mit dem Bewußtsein des Überlegenen vollgesogen hat, tritt er an den belagerten Tisch heran und begrüßt die Wartende. Er hat die Genugtuung, daß die Gesichter an den Nebentischen blaß vor Wut werden wie die Tischdecken.
Die junge Dame mit dem hellgrauen Wildlederhut saugt mit Ausdauer eine Orangeade, ihre Augen blicken Holl mitleidfordernd an. Es ist so entsetzlich warm in Berlin.
Warum hat Brown sie nicht lieber auf eine Seereise mitgenommen? Aber ihr Tischnachbar bemerkt diesen Blick scheinbar nicht. Dabei ist er sonst von einer geradezu rührenden Besorgtheit um sie. Er starrt wie gebannt auf die kleine weiße Hand der Sekretärin. Denn diese Hand hält eine Zeitung – es ist die Morgenausgabe, die Seite der Morgenausgabe, auf der die verdächtige Annonce steht! Als der Kellner die Bestellungen entgegengenommen hat, bemüht sich der Assistent, seine Gedanken irgendwie zu ordnen, in irgendeine vernünftige Reihenfolge zu bringen; aber es hilft nichts, der Verdacht hat sich jetzt festgefressen, er ist da – die kleine, scheinbar so unschuldige Marchaud steht in Verbindung mit den Verbrechern, ist vielleicht selbst Mitglied einer weitverzweigten Kolonne. Ihre Aussagen in Arras und Paris, ihre Widersprüche, das seltsam zufällige Zusammentreffen mit ihrem Chef im Lunapark, all das verdichtet sich zu dem einzigen schrecklichen Wort: Verdacht!
»Sie interessieren sich sehr für Annoncen?« fragt er mit blecherner Stimme.
Sie sieht ihn unbefangen an. »Was meinst du damit, chéri?«
Er fährt sich ärgerlich über die Stirn. In seiner Erregung hat er vergessen, daß sie sich seit jenem Abend duzen. »Ich wundere mich, daß du die langweiligen Annoncen liest!« sagt er verbissen. Sie wölbt den kleinen roten Mund, ihre Hand kommt schmeichlerisch näher, bis sie auf der seinen liegt: »Wenn du mich so lange warten läßt, lese ich alles mit – wenn ich nicht lese, will sich jede Minute jemand an meinen Tisch setzen!«
Das erscheint logisch.
Ein dummer Zufall also?
Während des Essens grübelt er über Zusammenhänge nach, die er zu ahnen glaubt und die doch noch ganz vage und rätselhaft sind, hin und wieder beobachtet er sie verstohlen, sie bemerkt es nicht. In ihrer reizenden Art sprudelt sie ihre großen und kleinen Neuigkeiten heraus, weiht ihn in ihre zukünftigen Toilettenpläne ein, oh – ein Complet läßt sie sich machen und einen winzigen dunkelblauen Hut dazu.
Er wird unbedingt dazu einen hellen englischen Anzug tragen müssen, genau denselben, wie ihn sich Brown gekauft hat!
Er schüttelt den Kopf gedankenvoll.
Man kann es nicht glauben, daß dieses entzückende, verführerische Geschöpf eine Komplizin sein soll, Mitwisserin von Verbrechen; unzählige Fragen liegen ihm auf der Zunge, er möchte sie aushorchen, bis er endlich Gewißheit hat. Lieber die schreckliche Tatsache wissen, als diesen unerträglichen Zustand, dieses Mißtrauen, diese Unruhe. Lieber einen dicken Strich unter alles machen, was mit ihr zusammenhängt, vergessen, sich in Arbeit stürzen! Aber er wagt keine einzige seiner Fragen zu stellen, er nickt mechanisch, wenn sie eine Bejahung wünscht, redet ihr mit herkömmlichen, nichtigen Worten die kleinen Sorgen aus, fühlt ihre warme, schmale Hand über die seine gleiten, hört sie lachen und sprechen. Kann ein Mensch so heucheln, sich so verstellen? Nein! Kein Mensch kann das. Oder doch? Vielleicht ist gerade die Sekretärin eine solche Schauspielerin, die ihre betörende Maske geschickt zu verwenden weiß, vielleicht.
Am Nachmittag sucht er noch das Haus Nr. 108 auf. Auch hier findet sich keinerlei Spur, die einen Zusammenhang mit der Zeitungsannonce aufdecken kann.
*
Bei Einbruch der Dunkelheit verläßt Dr. Voß das Polizeipräsidium. Unten erwartet ihn das Dienstauto. »Ich brauche Sie heute nicht mehr – holen Sie mich morgen früh wie gewöhnlich ab!«
Er grüßt und geht schnell zum Alexanderplatz, der ihn mit grellen weißen Lichtern und weit aufgerissenen Erdhöhlen empfängt. »Wirklich eine liebliche Gegend hier, wo man sein halbes Leben verbringt«, murmelt er ingrimmig. Dabei könnte er sie sich um keinen Stein anders vorstellen und will sie auch gar nicht anders haben. »Hallo, halt!«
Er steigt in die Taxe ein.
»Fahren Sie mich nach der Museumstraße, Nationalgalerie!«
Der Schofför brummt ein »Woll, woll« und fährt an. Vermutlich hat er seine eigenen Gedanken über den Fahrgast, der nachts ausgerechnet zur Nationalgalerie fahren will. Von den Bildern wird er kaum viel zu sehen bekommen.
Dr. Voß will keine Bilder sehen. Er verläßt das Auto ohne große Eile und geht in das Büro des großen Hauses auf der Museumsinsel. Es ist wunderbar still jetzt, nur ein paar Vögel surren über die Spree. Der Wärter ist bereits informiert: »Herr Geheimrat warten schon auf Herrn Kommissar.«
Dr. Voß betritt den großen, tiefen Raum, dessen Wände mit dickem, grünem Leder gepolstert sind. Absolut schalldicht.
»Guten Tag – äh – gute Nacht, lieber Doktor«, begrüßte ihn der alte Herr gutgelaunt, »bitte, nehmen Sie Platz!«
Voß läßt sich in den weichen Sessel nieder und sieht sich unwillkürlich um; man ist hier wie in einer anderen Welt.
»Also, Herr Kommissar«, leitet Geheimrat Becker jetzt die Unterhaltung ein – »was verschafft mir die Ehre, die Kriminalpolizei in diesen geheiligten Hallen begrüßen zu dürfen?« Er lächelt behaglich, alles ist hier Ruhe und ein bißchen – Weltentrücktheit.
Voß macht ein bedenkliches Gesicht. Es ist nicht so einfach, hier einzudringen mit einer üblen Skandalaffäre.
»Um es gleich vorwegzunehmen, Herr Geheimrat, ich komme Ihnen da mit einem recht sonderbaren und recht unbequemen Anliegen. Sie haben sicherlich die Vermont-Auktion verfolgt – und auch das Nachher?!« Er sieht den anderen abwartend an.
»Natürlich, natürlich! Unerhörter Skandal, so etwas. Glaube außerdem, Brown persönlich gut genug zu kennen, streng reeller Mann – Selfmademan reinsten Wassers! Ja – ich finde das Verhalten der französischen Behörden geradezu skandalös – was haben wir übrigens daran für ein Interesse?«
Dr. Voß rückt hin und her. Wenn dieser alte Herr schon das Vorgehen der Pariser Kommissare als »skandalös« zu bezeichnen liebte, dann war in ihm schwerlich der geeignete Helfer zu erwarten: man mußte es versuchen.
»Es handelt sich kurz darum: Unser Londoner Kollege Morris, Kriminalkommissar Morris von Scotland Yard, vermutet, daß die Bande, die Paris unsicher gemacht hat und vielleicht auch Mister Brown in diese unerquickliche Situation versetzte – daß eben diese Bande identisch ist mit einer berüchtigten englischen Verbrecherkolonne, die unter der Führung eines gewissen Charles Pall sich jetzt auf den Raub wertvoller Kunstgegenstände spezialisiert. Nun befinden sich aller Wahrscheinlichkeit nach diese angenehmen Zeitgenossen momentan in Berlin; wir müssen versuchen, sie unschädlich zu machen, denn sie rauben nicht nur Bilder, sie vernichten auch rücksichtslos Menschenleben. Nach Morris' Ansicht gibt es nur eine einzige Möglichkeit, wir stellen ihnen eine Falle. Deswegen komme ich zu Ihnen zu so ungewöhnlicher Stunde. Man braucht mich nämlich nicht gerade bei meinem Besuch zu erwischen!«
Er macht eine kleine Kunstpause.
»Sprechen Sie weiter«, fordert der Geheimrat auf und betrachtet ihn sehr aufmerksam, »weshalb sind Sie also hier?«
»Ich möchte Sie bitten, Herr Geheimrat, eine Ausstellung irgendwelcher kostbarer Bilder zu veranstalten, wir werden sie geschickt propagieren und warten, bis man bei Ihnen einbricht.«
Der alte Direktor ist verblüfft. Ein Einbruch in die Berliner Nationalgalerie – sozusagen unter gütiger Mitwirkung der Polizei –, das geht zuerst über seinen Horizont.
»Wie – wie stellen Sie sich das denn vor, Doktor, um's Himmels willen, bedenken Sie denn gar nicht die Tradition dieses Hauses?!«
Dr. Voß lächelt nicht mehr. »Eben weil ich sie bedenke, fühle ich mich verpflichtet, weil man mir diesen Fall übertragen hat, weil ich für die Sicherheit dieses Hauses zu sorgen habe! Es scheint, daß die Bande die verlangten Objekte raubt, Fachleute übermalen die Bilder, dann schmuggelt man sie nach Amerika. Bei ihren zahlungskräftigen Hehlern nehmen sie einen kräftigen Vorschuß, die Bilder bleiben ein, zwei Jahre liegen, später werden sie unter der Hand verkauft. Amerika ist ja groß und so vollgepfropft mit Seltenheiten, daß es gar nicht mehr auffällt.« Er sieht wieder den Geheimrat abwartend an.
Der alte Mann rückt entsetzt an seiner Brille. »Aber deswegen kann ich doch nicht den Ruf der Nationalgalerie aufs Spiel setzen. Sehen Sie, lieber Doktor, ich bin ja gewiß nicht rückständig, aber ich glaube kaum, daß wir miteinander einig werden.«
»Menschenleben in Gefahr!« betont der Kommissar sehr ernst.
Der Geheimrat wird wütend: »Zum Teufel mit Ihren Menschenleben! Es handelt sich hier um eins der bedeutendsten Museen der Welt, ich habe es zu betreuen, ich bin dafür verantwortlich!«
Dr. Voß steht auf. »Ich bedaure unendlich, Sie gestört zu haben, Herr Geheimrat, ich werde mich leider an Ihre vorgesetzte Behörde wenden müssen!«
»Tun Sie das!« antwortet der Geheimrat eisig.
Als Dr. Voß durch die dunkle Säulenhalle geht, hat er das unangenehme Gefühl, daß ihm jemand folgt. Jemand, den er nicht sehen kann, der sich irgendwo hinter den Steinquadern verbirgt. Er bleibt mißtrauisch stehen und sieht sich um.
Fern rollt ein Stadtbahnzug über die Brücke, mit Lichtern, die im dunklen Wasser widerglänzen. Es ist ganz still hier, auf der ganzen Insel, dieser kleinen verträumten Kunstinsel im Herzen der riesigen Stadt. Er blickt nochmals zurück, dann geht er schnell zum Lustgarten hinüber, wo er ein paar Leute sieht.
Wenige Minuten später blenden die Lichter der Linden auf. Mit einer gewissen Beruhigung sieht er die gewaltige Autoauffahrt vor dem Opernhaus.
*
Am nächsten Tage melden sich zwei Herren in der Kunsthandlung van Hees, Unter den Linden. Der Besitzer ist nicht anwesend, sein Stellvertreter empfängt sie.
»Sie müssen verzeihen, mein Herr«, beginnt Doktor Voß sofort, »daß ich Ihnen keinen Namen nannte und uns auch nicht anmelden ließ, mein Name ist Dr. Voß, Kriminalkommissar, dieser Herr ist Kriminalkommissar Morris aus London.«
»Ich darf die Herren wohl in mein Büro bitten«, unterbricht ihn der andere, »Güllner ist mein Name.«
Sie nehmen in dem kleinen Raum Platz, Herr Güllner macht ein abwartendes Gesicht; sichtlich ist ihm nicht ganz behaglich.
»Sie haben Vollmacht, mein Herr?« vergewissert sich Morris.
»Ich habe jede Vollmacht, selbstverständlich!«
»Also, es handelt sich darum, Herr Güllner«, beginnt Dr. Voß wieder und dämpft seine Stimme etwas, »wir möchten Sie bitten, eine besonders wertvolle Ausstellung zu veranstalten, wir werden natürlich die Kosten der Propaganda tragen. Ich hoffe, daß dann bald bei Ihnen eingebrochen wird, das wäre alles.«
»Mehr nicht?!« meint Herr Güllner ironisch und macht ein maßlos verblüfftes Gesicht.
»Wie stellen Sie sich prinzipiell zu der Angelegenheit?« fragt Dr. Voß. »Ich meine, kommt unser Vorschlag für Sie überhaupt in Frage?«
Der Kunsthändler überlegt.
»Sehen Sie, Herr Kommissar, unsere Firma ist ja sozusagen die erste Berlins – erstrangige Kollektivausstellungen finden bei uns dauernd statt; allerdings nicht, damit eingebrochen wird!« fügt er schnell hinzu.
Voß will eine Erklärung abgeben, doch der zweite Chef des Hauses van Hees kommt ihm zuvor: »... als Kenner des internationalen Marktes weiß ich nun natürlich, warum Sie hier sind, Herr Kommissar. Ich darf wohl annehmen, daß es sich um Maßnahmen handelt, die in Verbindung mit der geraubten Cowper-Madonna zu bringen sind. Sonst wäre ja wohl auch nicht der Herr aus London anwesend. Ich glaube Ihnen bei ruhiger Betrachtung der Sachlage schon jetzt sagen zu können, daß unsere Firma selbstverständlich alles tun wird, was die Arbeit der Kriminalpolizei unterstützen könnte. Ich werde Ihren Vorschlag mit Herrn Hees durchsprechen. Er wird morgen hier sein.«
»Sehr schön«, sagt Dr. Voß überrascht und erfreut, »endlich ein Vernünftiger. Ich kann Ihnen versichern, daß Sie sich selbst den größten Dienst erweisen, wenn Sie uns helfen, die Bande unschädlich zu machen!«
»Weiß ich, weiß ich! Eine Frage noch, Herr Kommissar: die Propaganda wird uns vergütet, die Risiken nimmt die Behörde ebenfalls auf sich?!«
Die Kommissare tauschen einen Blick. »Ich glaube Ihnen dieses zusagen zu können.«
»Dann ist wohl für heute alles besprochen. Sie entschuldigen, meine Herren, ich sehe eben, daß ein Kunde mich erwartet.«
Eine kleine gelbe Lampe flammt auf.
»Vielleicht haben Sie Interesse für die Bilder?« meint er noch im Hinausgehen verbindlich, »wünschen Sie durch unsere Ausstellungsräume geführt zu werden?«
Die Kommissare müssen dankend ablehnen. Sie begeben sich unverzüglich in das stille Zimmer in dem großen roten Haus zurück. Dort arbeiten sie – wie zwei emsige Spinnen – an ihrem Netz.
*
»Freitag nacht elf Uhr!«
Diesen kurzen Befehl erhalten einige besonders zuverlässige Beamte der in Verbrecherkreisen am meisten gefürchteten Fahndungsabteilung, die unter der Führung des Kriminalkommissars Dr. Voß steht. Im allgemeinen genügt der Hinweis, daß »der Doktor« draußen sei, um allen Unterweltgrößen die Kampflust zu nehmen.
Um dreiviertel elf versammeln sich die Kriminalbeamten im Innenhof des Polizeipräsidiums, punkt elf Uhr verlassen zwei Kraftwagen die Tore in der Alexanderstraße und an der Stadtbahnfront und fahren schnell und ungesehen einem allen Uneingeweihten vollkommen unbekannten Ziele entgegen.
»Wir wollen uns jetzt die Arbeit einteilen«, sagt der Doktor, als sie die Königstraße entlangfahren, »Sie, Holl, werden den Wachdienst in der Kunsthandlung van Hees versehen. Sie müssen sehr aufmerksam und sehr schnell sein. Das Bild, das vielleicht gefährdet ist, ist eine Million Mark wert; ich kann mich ja auf Sie verlassen.«
Der junge Mann nickt eifrig.
Diese nächtlichen Streifen üben auf jeden Kriminalisten einen starken eigenen Reiz aus, es ist mehr als reine Pflichterfüllung. Nur besonders Befähigte, die sorgfältig für diesen Dienst an der Allgemeinheit ausgewählt werden, dürfen daran teilnehmen.
Man ist zum Kriminalisten geboren, wie man zum Kaufmann, zum Künstler, zum Soldaten von Natur aus Gaben mitbringen muß.
Kurz hinter dem Lustgarten verläßt Holl den Wagen.
Ein paar Häuser von der Kunsthandlung entfernt steht ein Wurstmaxe mit seiner Blechkiste, eine Version des »Betrunkenen«; immer muß die Polizei darauf bedacht sein, den Verbrecher im ungewissen zu lassen, ständig müssen neue unbekannte Maßnahmen getroffen werden.
Der Beamte, der als Wursthändler verkleidet ist, mustert Holl unter fast geschlossenen Lidern, er rührt einmal mit dem Holz an seinen Blechkasten. Informiert.
Der Assistent biegt schnell um die Ecke, der Portier läßt ihn ein. Er durchquert den Vorraum, den er von seinen Besuchen kennt. Dahinter liegen die Ausstellungsräume. Sie liegen in einem matten gelben Licht, das die Notbeleuchtung schimmrig verteilt.
Es raschelt in einer Ecke.
Der junge Mann bleibt wie angewurzelt stehen, im selben Moment blendet kräftiges weißes Licht aus einer Blendlaterne, er kann nichts machen, er versucht den Revolver zu ziehen.
»Stehenbleiben!«
Hinter der Staffelei, die schräg gestellt ist, erhebt sich ein Mann, der da gekauert haben muß, er kommt auf ihn zu, den schußbereiten Revolver in der Hand. »Hoffe, Herr Holl, Sie haben sich nicht allzusehr erschreckt!« sagt er in Morris' Tonfall. Es ist ein Kriminalbeamter, der hier versteckt ist und der sich diesen nicht ganz unbedenklichen Scherz mit seinem jungen Kollegen gemacht hat. Der Assistent beginnt sich wieder zu regen; er ist ärgerlich. »Wenn das alles ist, was du kannst!« Der andere kehrt auf seinen Beobachtungsposten zurück. »Komm rüber, Holl, es könnte sonst passieren, daß uns die Kontrolle erwischt oder daß die Einbrecher wegrennen!« Er kauert sich gleichmütig nieder; wenn man jahrelang im Dienst steht, verliert selbst der Kampf gegen das Verbrechen seine Romantik.
»Was ist bei euch los?« fragt er, als Holl bei ihm sitzt.
»Bis jetzt noch nichts; der Doktor meint ja, daß es an einer von beiden Stellen zum Klappen kommen wird, entweder hier oder in der Nationalgalerie.«
»Ich trete gern zurück«, brummt der andere.
Langsam vergeht die Zeit, Stunde um Stunde, ohne daß etwas geschieht. Sie wachen abwechselnd.
Von der gegenüberliegenden Wand blickt der »Mann mit der Thorarolle« herab; faszinierend leuchtet der stete Glanz seiner bräunlichen Mandelaugen, die etwas breiten weißen Hände fassen sich über dem Schoß.
Wie lange Holl das kostbare Bild betrachtet hat, weiß er nicht, es übt eine geradezu magische Anziehungskraft aus.
Ein Telefon schrillt. Gleich darauf erscheint der Portier: »Herr Holl?!« ruft er halblaut. Der Assistent folgt ihm durch das graue Dämmer der Säle, neben einer kleinen Holztreppe befindet sich der Apparat: »Hallo! Wer ist dort?« »Holl, kommen Sie sofort zur Nationalgalerie, Sie finden mich unten am Eingang!« »Wer ist denn da – was denn?« fragt er ein paarmal. Er ist nicht ganz sicher, ob es sein Chef gewesen ist.
Aber es bleibt keine Zeit für lange Überlegungen, er verständigt kurz den Beamten, der das Bild bewacht, und verläßt das Haus. Ein erfrischender Hauch strömt vom Tiergarten her, von tauigen Bäumen und Wiesen, der Morgen graut.
Die Taxe rollt die menschenleeren Linden entlang, es beginnt zu regnen; die Tropfen schlagen ihm feucht ins Gesicht. Er sucht nach dem Taschentuch; dabei greift er etwas Hartes, einen kleinen viereckigen Gegenstand. Er nimmt ihn heraus, es ist ein kleiner vergoldeter Rahmen, darin ist ein Bild Eddie Marchauds. Ihr Kopf blickt ihn lachend an. Sie muß ihm das Bildchen in die Tasche geschmuggelt haben; in der Aufregung, die die Stunden vor der nächtlichen Unternehmung mit sich brachten, hat er es nicht bemerkt. Er hält das Bild in der Hand, bis er am Ziel ist. Mit schnellen Schritten durchquert er den Lustgarten, ein wenig atemlos erreicht er den Eingang des Gebäudes. Lehnt dort nicht die Gestalt des Doktors? Als er nähergeht, erkennt er, daß er sich getäuscht hat, niemand ist dort, nur der Schatten eines schwankenden Zweiges malt ziehende Gestalten an die Mauern.
Kein Mensch ist zu sehen!
Unruhig sucht er die Treppen, den Vorplatz ab, endlich sieht er die Tür einer Wärterbude offenstehen. Drinnen sitzt der Doktor, er telefoniert gerade. Als er seinen Assistenten im Eingang bemerkt, hält er erstaunt im Sprechen inne.
»Wo kommen Sie denn her, Holl?«
Der junge Mann erblaßt. »Hatten Sie mich nicht vor fünf Minuten herbestellt, Herr Doktor? Sie hatten mich doch angefordert!«
Dr. Voß legt schnell den Hörer auf. »Ich? Da stimmt etwas nicht, ich habe gar nicht daran gedacht, Sie anzurufen. Vor fünf Minuten, sagen Sie? Ganz ausgeschlossen, ich werde niemals im gefährdeten Haus anrufen, die Kerle würden ja sofort aufmerksam werden, die hören doch das Gras wachsen – sofort zurück, mein Lieber, ich komme gleich nach!« Der Assistent hat noch nicht die Tür hinter sich geschlossen, als aus der Richtung der Galerie lautes Rufen und Pfeifen einsetzt, man hörte eine Stimme dazwischen, die Stimme des Kommissars Morris, ein paar dumpfe Schläge hallen auf.
Schüsse!
Peng, peng, peng!
Der Wächter reißt von außen die Tür auf, der Lichtschein der Tischlampe fällt weit hinaus, die große Granittreppe hinauf. Die mächtigen steinernen Figuren heben sich plastisch ab im aufkommenden Tag im gelben springenden Lampenlicht.
»Hierher!« ruft Voß und läuft die Treppe hinauf. Der Assistent folgt ihm, während sie die Revolver entsichern, telefoniert der Wächter das Überfallkommando an. Die Beamtin, sicherlich im Halbschlaf, glaubt sich zu verhören. Sie wiederholt ein paarmal: »Nationalgalerie – Nationalgalerie!?«
Voß eilt durch die Säle, die im fahlen Frühlicht in weiter Flucht vor ihnen liegen. Er orientiert sich nach dem Lärm, der aus irgendeinem offenen Fenster zu dringen scheint. Man hört jetzt ganz deutlich, wie Morris ruft: »Stehenbleiben – halt – stehenbleiben!« Dann flucht er einen unförmlichen englischen Satz: » You damned fool you are, you gutter snipe, frog eater, what are you working here around?!«
Sie erreichen das Menzelzimmer, über ihnen ist ein quadriertes Oberlicht. »Halt!« bedeutet der Doktor und sieht nach oben. Über ihnen bewegen sich die Schatten zweier Körper schnell hin und her, dazwischen schleift etwas Dunkles – ein Packen? Sekundenlang nur das Trampeln der Füße, das Schleifen der Last – dann hebt der Kommissar entschlossen seinen Revolver und schießt hinauf. In das sofort splitternde Glas mischen sich Rufe und Flüche. Im nächsten Augenblick erscheint das Gesicht von Morris in einer der Schußöffnungen: » Damned – wer schießt denn –, was machen Sie denn da unten, Doktor?!« »Kommissar!« brüllt Voß nach oben, »ich habe Sie zu fragen, was das alles zu bedeuten hat! Was ist denn das für eine Knallerei gewesen, warum benachrichtigt man mich nicht?« Der Schatten des Engländers wächst gigantisch über den Raum, er läßt sich gewandt herab und springt hinunter.
»Komm nach, Esel!« schreit er zu der Öffnung hinauf.
»Haben da Blödsinn gemacht, Ihre Beamten, schießen mich bald an, decken obendrein die Schutzdecken vom Glasdach zurück, wahrscheinlich dachten sie, hier unten die Verbrecher zu finden, wie Fische im Aquarium, what fidgets they are!«
»Wer ist denn oben?« fragt Voß aufgebracht. »Das ist ja eine nette Streifmannschaft. Zum Teufel nochmal!« Morris zuckt resigniert die Achseln, er kann nichts dafür, wenn Berlin versagt, in London wäre so etwas unmöglich.
Während die Beamten durch das zerschossene Dach steigen, hört man in der Wärterbude das Telefon gellen, dann kommt jemand schnell die Treppen herauf, es muß wohl der Wächter sein, er läuft suchend durch die Säle. Alles sieht ihm gespannt entgegen. »Hallo, hierher, hierher! Herr Kommissar – Herr Kommissar –, eben ruft der Wärter von der Firma van Hees an! Das bewachte Bild ist fort, der Polizist ist überfallen worden!«
Kostbare Minuten vergehen, bis sie das Geschäft Unter den Linden erreicht haben. Dr. Voß klopft vor Ungeduld immer wieder mit der geballten Faust auf, Morris murmelt unverständliche Verwünschungen. Der Wagen rast durch aufspritzende Pfützen, die vom Frühregen auf dem Asphalt schillern, ein Nachtbummler singt ihnen ein verrücktes Lied nach, dessen Refrain von den Häuserfassaden zurückklingt.
Und dann sind sie angelangt.
Der Kriminalkommissar schiebt mit einer einzigen Handbewegung den Portier beiseite. Ohne daß es der Mann bemerkt, streift ihn ein prüfender Blick. Unverdächtig, weiß der Doktor sofort. In einem Nebenraum hat man inzwischen den Beamten auf ein Sofa gelegt. Er blutet aus einer erheblichen Verletzung am Hinterkopf. Derselbe Mensch, der noch vor kurzer Zeit mit dem Assistenten gescherzt hatte, ist nun selbst ein Opfer des unbekannten Feindes geworden.
Alles wartet auf den Arzt, der jeden Augenblick eintreffen muß. »Können Sie uns schon sagen, wie alles gekommen ist, geht's schon?« fragt der Kommissar behutsam; er prüft sorgfältig den provisorischen Verband und läßt den Verletzten kleine Schlucke Wasser trinken.
Der Mann versucht, sich etwas aufzurichten.
»Nein, nein, Sie sollen liegenbleiben, Sie müssen sich jetzt schonen, Freundchen – wer hat Sie denn so zugerichtet?«
Der Verletzte sinkt schwach zurück, er ist noch ganz benommen. »Kurz nachdem Holl angerufen wurde und mich verlassen hatte – ich weiß es selbst nicht mehr, auf einmal erhielt ich den Schlag, einen furchtbaren Hieb, er muß gut getroffen haben, ich kann mich dann an gar nichts mehr erinnern!«
Der Doktor wandert nervös hin und her.
»Sie hätten auf keinen Fall Ihren Posten verlassen dürfen, Holl, ohne sich zu vergewissern. Sie mußten sich doch sagen, daß ich Sie hier nicht abrufen würde!«
Der Assistent ist unentschlossen, ob er sich verteidigen soll; er fühlt das Bild der verführerischen kleinen Französin in der Tasche und hat ein vages Gefühl irgendeiner Mitschuld.
Draußen werden Stimmen laut. Jemand fragt: »Wo ist er?« Dann betritt der Arzt von der Rettungsstation den Raum.
Er untersucht eingehend die Verletzung, die er auf einen Schlag oder Stoß mit einem scharfkantigen Gegenstand zurückführt.
»Sieht es böse aus?« fragt der Kommissar besorgt.
Der Arzt wirft einen prüfenden Blick auf das Gesicht des ruhig liegenden Mannes: »Ich hoffe nein! Wahrscheinlich ist in ein, zwei Wochen alles gut, wenn keine Komplikationen eintreten.«
Die Gehilfen heben den Verwundeten auf eine Bahre, im Zimmer macht sich jetzt ein starker Geruch von Desinfektionsmitteln bemerkbar.
Während die anderen den Raum verlassen, untersuchen die Kommissare und der Assistent jeden Fleck, jeden Winkel nach Spuren.
Draußen ist es inzwischen hell geworden.
Ein dunstender Sommermorgen, den schon die gellenden Signale der vorüberfahrenden Automobile durchschneiden.
*
Geheimrat Becker von der Nationalgalerie trifft als erster im Polizeipräsidium ein.
Er setzt sich umständlich in einen Sessel, schneuzt sich geräuschvoll und blickt alle freundlich an. Dr. Voß, der auf seinem Schreibtisch das eben eingegangene Material ordnet, sieht gedankenvoll auf den Mann aus London, den er im stillen Sherlock Holmes jr. nennt und der jetzt anscheinend die Straße studiert oder die Omnibusse, die schwankend hin und her fahren. Zuletzt mustert er noch den Assistenten, der am Schrank lehnt und düster vor sich hinblickt. Wahrscheinlich denkt er über den Fehler nach, den er heute nacht begangen hat und der sich so verhängnisvoll auswirkte.
»Also das ist das – Karnickel?« sagt endlich der Geheimrat und glaubt damit das richtige Bonmot für die Situation gefunden zu haben.
Der Doktor sieht einen Augenblick von seiner Arbeit auf: »Man muß alles selber machen, Herr Geheimrat, die alte Geschichte, kein Verlaß, auf niemanden!« Er wirft dem Assistenten einen strafenden Blick zu. Morris dreht sich langsam am Fenster um.
»Ich weiß, Herr Doktor«, antwortet der Assistent gepreßt, »daß ich mich nicht so schnell hätte bluffen lassen dürfen – ich habe ein großes Unglück angerichtet, ich weiß es.«
Sein Chef rollt die Augen: »... eine Million Mark, na Freundchen, hoffentlich haben Sie einen Scheck bei sich und Schmerzensgeld für Ihren verletzten Kollegen.«
»Der Irrtum ist immerhin verständlich«, meint Morris gemessen, »diese Nacht war eben alles verhext; mich hätt's beinah auch erwischt, die Bande hat tatsächlich mehr Glück als Verstand!«
Der Doktor sieht den Geheimrat an.
»Ich weiß nicht, was ich den Leuten sagen soll, ich weiß es wahrhaftig noch nicht; es ist jedenfalls die größte Blamage meines Lebens. Wenn ich den Abschied nehmen muß, kann ich mich bei meinem hoffnungsvollen Assistenten bedanken.« Er dreht sich nach dem jungen Mann um: »Werden Sie wenigstens eine Lehre aus diesem Vorfall ziehen, Unglücksmensch, warum sind Sie nur so voreilig gewesen?«
Holl schweigt beharrlich. Sein Ehrgeiz ist getroffen, auch ein Kriminalbeamter ist nur ein Mensch, und ein Mensch macht Fehler. Aber sein Fehler kostet eine Million Mark, ganz abgesehen von dem Verletzten.
Aber nun geschieht etwas Merkwürdiges.
Draußen werden Schritte vernehmbar, die auf den Steinfliesen des Korridors widerhallen, Stimmen sprechen laut und aufgeregt.
»Die Herren van Hees und Güllner!« sagt der Doktor bedeutungsvoll. Der Geheimrat setzt sich in Positur, er sieht dabei den Assistenten an, als wollte er sagen: Na, mach dein Testament, mein Freund! Auch Morris beendet seinen Spaziergang am Fenster und kommt interessiert näher.
Der diensttuende Beamte meldet die Herren. »Ich lasse bitten«, sagt Dr. Voß und erhebt sich.
In der Tür erscheint zuerst Güllner. Er sieht sich einen Augenblick lang um, erkennt den Geheimrat und verbeugt sich vor ihm, dann schüttelt er dem Kommissar herzlich die Hand: »Ich gratuliere!«
Hinter ihm betritt der andere Inhaber der Firma, Herr van Hees, das Zimmer. Auch er schüttelt dem Doktor liebenswürdig die Hand.
Der alte Geheimrat glaubt zu träumen, er kann einfach nicht länger an sich halten: »Was – was, wozu gratulieren Sie denn eigentlich, meine Herren? Sie sind wohl noch nicht informiert?« Er schlägt sich fassungslos an die Stirn.
Der Kommissar kostet seine Überraschung erst eine kleine Weile aus, ehe er beliebt, ihn aufzuklären: »Der gestohlene Rembrandt war natürlich nur eine Kopie, die wir unauffällig eingeschmuggelt haben. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß die Polizei Millionenwerte aufs Spiel setzt? Hahaha!«
Morris sieht seinen Kollegen verblüfft an; sogar das Gummikauen vergißt er. »Das Bild war nicht echt – und das wußten Sie?!«
Dr. Voß lacht immer noch gut gelaunt. Er liebt Überraschungen, je größer und unerwarteter, desto besser! »Sie dürfen mir es nicht verübeln, Kollege, daß ich Sie nicht einweihte. Das nächste Mal können Sie mich dafür überraschen!«
Das Gesicht des Assistenten hellt sich merklich auf, als Güllner erklärt: »Eine Bombenreklame für uns natürlich, der ganze Laden ist gestopft voll!« Der Geheimrat betrachtet noch immer abwechselnd den einen und den anderen mit Augen, wie sie erstaunte Kinder manchmal haben.
»Wenn mein Kriminalbeamter keinen Schaden zurückbehält«, meint der Doktor, »dann bin ich wirklich ganz zufrieden, denn jetzt werden wir den Kerlen auf die Schliche kommen.«
Diese Bemerkung ist für die beiden Chefs der Firma van Hees das Zeichen, die Brieftaschen zu ziehen: »Bitte, dies dem Herrn zukommen zu lassen, unbekannterweise natürlich!«
»Bringen Sie's ihm selbst«, sagt der Doktor zu seinem Assistenten.
Morris geht mit großen Schritten auf und ab. Plötzlich bleibt er stehen: »Haben Sie noch einen Augenblick Zeit, meine Herren?« Die beiden Kunsthändler bejahen. »Ist Ihnen, meine Herren, eine Dame mit Namen Ora Lee bekannt?«
Hees sieht Güllner an, anscheinend will oder kann er sich nicht besinnen. »Natürlich«, sagt nach einigem Überlegen sein Sozius, »das ist doch die Witwe des verstorbenen amerikanischen Millionärs, steinreich, auf jeder Auktion. Ich glaube sogar, daß sie sich zur Zeit in Berlin aufhält.«
»Wie kommen Sie darauf, Herr Kommissar?« fragt Hees. Morris überhört die Frage.
»Herr Geheimrat, kennen auch Sie diese Dame?«
Becker überlegt eine Weile. »Ich glaube, diesen Namen in Verbindung mit der internationalen Kunstwelt bereits gehört zu haben; ich kann aber nichts beschwören!«
Morris dreht sich zu Dr. Voß herum: »Ich glaube, ich kann Ihnen eine interessante Mitteilung machen, Herr Kollege.«
Die Herren verabschieden sich; Hees und der Geheimrat fachsimpeln bereits und haben für Skandale und Verbrechen keinerlei Interesse mehr. Das Wichtigste ist, daß die Lichtverhältnisse im rechten Seitenflügel des Museumsneubaus einer gründlichen Revision unterzogen werden. Es gibt nämlich eine neuartige Glasdachkonstruktion – einzigartig!
*
1476
melde dich Norden in
diesen Tagen: erwarten
Vaters Rückkehr, wohne
immer Friedrichstr. 108
Morris nimmt die bewußte Annonce aus seiner Brusttasche, legt sie auf den Tisch, während er abwartet, bis sich die Tür endgültig hinter den Besuchern geschlossen hat.
»Aha!« ruft der Doktor zurückkehrend vergnügt, »haben Sie das Rätsel inzwischen gelöst? Das wäre ja so etwas wie ein Lichtstrahl in dieser geheimnisvollen Angelegenheit. Was glauben Sie gefunden zu haben?«
Morris streicht das zerknitterte Zeitungsblatt glatt. »Sie werden wahrscheinlich zuerst wenig erbaut von meinen Folgerungen sein, Doktor. Ich gebe schon jetzt zu, daß ich sie selbst für reichlich unerwiesen halte, aber Sie wissen ja, wie oft schon ganz harmlose Dinge Bedeutung gewonnen haben.«
Sie setzen sich alle drei um den großen runden Ecktisch, der Doktor entnimmt dem Etui die bekannte Zigarre; jetzt ist er gerüstet. »Ich ging für mich noch einmal allen Möglichkeiten, die dieses Inserat birgt, nach«, setzt der Engländer seine Erklärungen fort, »und glaube annehmen zu dürfen, daß der Absatz: ›1476 melde dich Norden in diesen Tagen‹ für uns unwichtig ist. Entweder will man die Polizei irreführen und von dem eigentlichen Sinn ablenken, oder der Besitzer der Pension Metropole steckt mit dem Gesindel unter einer Decke und verrät nichts. Zum mindesten ist der Anruf längst erfolgt, denn es ist ja schon einige Zeit her, seit die Annonce aufgegeben wurde.«
Der Doktor nickt. »Verstehe, verstehe!«
»Nun der zweite Teil! Ich untersuchte das Haus Friedrichstraße 108, es ist ganz ohne Zweifel völlig unverdächtig. Daraus folgere ich nun, daß die Ziffer 108 keineswegs nur die Hausnummer bedeuten muß, sondern ebensogut ein Datum, eine Zeit bezeichnen kann!«
Der Doktor hat seine Zigarre langsam aus dem Mund genommen, er beugt sich interessiert über die Annonce: »Donnerwetter – Morris, das ist eine fabelhafte Idee! Diese Möglichkeit gebe ich ohne weiteres zu, sie liegt nahe. Sehen Sie, Holl, das haben wir beide schlecht gemacht, hier können wir was lernen!«
»Nicht so wichtig«, meint der Mann von Scotland Yard gelassen.
Er sieht vor sich hin. »Erwarten Vaters Rückkehr, wohne immer Friedrichstraße 108!« Diesen Satz wiederholt Morris mehrere Male leise, als wollte er ihn sich Wort für Wort einprägen. »Ich behaupte, Doktor, daß dieser Teil der Annonce besagt, daß der, der die Annonce aufgegeben hat, am 10. August ständig die Ankunft einer mit ›Vater‹ bezeichneten Person in Berlin, Bahnhof Friedrichstraße, erwarten wird. Und morgen ist der zehnte!«
Dr. Voß schlägt mit der Faust auf den Tisch: »Großartig! Meine Hochachtung, Kollege. Leuchtet mir alles ein. Nehmen wir nun gleich an, wir postieren uns morgen unauffällig überall auf dem Bahnhof, wo glauben Sie, werden wir die verdächtigen Personen finden? Haben Sie etwa eine ganz bestimmte Vermutung, wer es sein könnte?«
Morris antwortet nicht sogleich auf diese Frage. »Zunächst steht für mich außer Zweifel«, meint er vorsichtig, »daß wir nur einen einzigen Bahnsteig zu bewachen haben, und zwar den, auf dem die aus dem Westen kommenden Fernzüge einlaufen; die verdächtige Person kommt bestimmt aus Frankreich, Holland oder England – andere Möglichkeiten scheiden von vornherein aus. Ich habe nun allerdings einen ganz bestimmten Verdacht – ich wollte eigentlich nicht gern vorher darüber sprechen, weil ich doch noch nicht restlos sicher bin: Ich glaube nämlich, daß Mrs. Ora Lee eine Komplizin Palls ist!«
Er übersieht die Verblüffung der anderen und faltet gelassen das Zeitungspapier zusammen.
»Ora Lee?« fragt der Doktor ungläubig. »Soviel ich weiß, ist die Dame steinreich, sie ist Mitglied der allerersten Gesellschaftskreise, wie sollte sie gerade zu diesen Verbrechern kommen?«
»Das fragt man sich manchmal!« meint der Engländer ingrimmig.
Dr. Voß schüttelt den Kopf, er glaubt nicht recht an diese neue Möglichkeit, vielleicht ist er sogar etwas enttäuscht.
Morris läßt sich nicht beirren. »Ich möchte Sie um folgendes bitten, Herr Kollege. Verschaffen Sie mir die Möglichkeit, morgen, wenn Mrs. Lee auf dem Bahnhof wartet, bei ihr Haussuchung zu halten. Ich glaube bestimmt, daß dort alles erforderliche Material zu finden ist; und wenn wir Glück haben, fassen Sie gleichzeitig Pall oder einen Komplizen. Ich rufe Sie inzwischen an und teile Ihnen mit, ob das gefundene Material zur Verhaftung ausreicht.«
»Das kann ich nicht – das darf ich ja gar nicht«, widerspricht der Doktor erregt. »Bedenken Sie denn gar nicht den Skandal, wenn die Öffentlichkeit erfährt, daß wir grundlos bei angesehenen Persönlichkeiten Haussuchung halten – daß wir x-beliebige Menschen verdächtigen – das geht nicht, hier kann ich Ihnen nicht folgen!«
»Herr Doktor«, antwortet Morris und blickt ihn fest an, »ich verdächtige niemals grundlos, ich halte niemals grundlos Haussuchung – ich muß von dieser Erlaubnis meine künftige Mitarbeit abhängig machen!«
Dr. Voß zieht die Stirn in sorgenvolle Falten, diese Entwicklung des Falles zur Berliner Skandalaffäre kommt ihm sehr ungelegen; andererseits scheint Morris tatsächlich guten Grund zu haben, Antrag auf Haussuchung zu stellen. Er ist immerhin ein anerkannter Kriminalist. Man wird in den sauren Apfel beißen müssen. »Ich will mein möglichstes tun, Kollege«, sagt er endlich, »nach uns die Sintflut.«