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Der Zug rattert über die Lombardsbrücke. Um kein unerwünschtes Aufsehen zu erregen, haben die Kommissare beschlossen, nicht am Hauptbahnhof, sondern erst am Dammtor unbemerkt den Zug zu verlassen. Dr. Voß und Morris erheben sich von ihren Plätzen. Draußen huscht das lichterne Panorama der Hamburger Nacht vorüber, ein kühler Wind streift von der Alster herüber in das Abteil. Dr. Voß hüllt sich in seinen faltigen grauen Allwettermantel, in dem er aussieht wie eine hagere graue Maus. Der Wagen schwankt unter den einsetzenden Bremsen quietschend, der Doktor geht mit unsicheren Schritten zur Tür und schiebt sie krachend zu. »Also, meine Herrschaften, wir haben nicht viel Zeit zu verlieren – morgen muß alles erledigt sein! Es muß! Sie, Holl, melden sich sofort auf dem Hauptpolizeiamt. Wir haben angefordert Motorradfahrer, ferner zwei Bereitschaften, die mit sich zu führen haben: erstens Scheinwerfer, zweitens Gasbomben, drittens Tränenbomben, viertens ein Maschinengewehr, fünftens soll auf alle Fälle ein Feuerlöschboot postiert werden, da gehen Sie am besten selbst zur Hafenwache und besehen sich den Schaden. Transportwagen brauchen wir auch noch!«
Der Assistent wiederholt langsam die Anordnungen seines Chefs und notiert sie gleichzeitig. »Wo treffen wir uns?« fragt er, als er alles notiert und wiederholt hat.
Dr. Voß überlegt einen Augenblick: »Ich glaube, es ist am besten, wenn Sie uns auf der Hauptwache erwarten!« Er sieht den anderen Kommissar fragend an. Morris nickt. »Also Holl«, schließt der Doktor schnell, »machen Sie alles gut, damit wir nachher nicht warten müssen, alle Chancen hängen von der Schnelligkeit unserer Aktion ab!« Der Assistent verläßt rasch den Wagen, sie können ihn noch sehen, wie er mit großen Schritten, ohne nach rechts oder links zu sehen, dem Ausgang zueilt.
Erst als sich der Bahnsteig geleert hat, folgen ihm die Kommissare. Draußen erwartet sie bereits das Polizeiauto und bringt sie sofort zur Hauptwache. Dr. Voß teilt unterwegs seinem Kollegen mit, daß sie auf der Hauptwache mit dem Hamburger Vizepolizeipräsidenten konferieren würden, weil die amtlichen Stellen nicht ohne allerletzte Notwendigkeit eine derartige Aktion wie die geplante unternehmen wollten.
»Zunächst habe ich mal die Erlaubnis erwirkt, die Vorbereitungen treffen zu dürfen – na, vielleicht fangen die Herren so 'ne Bande mit dem Schmetterlingsnetz!« Das Auto hält, sofort wird die Tür geöffnet, die Kommissare werden gebeten, im Büro einen Augenblick zu warten.
Morris lächelt fein.
Aber Dr. Voß sieht es doch. »Wir sind eben die dummen Hanswürste – wir sind bloß die Krakehler, wir wollen uns wieder mal 'nen Fez machen!« wettert er wütend.
Drinnen im Nebenzimmer hört man mehrere Stimmen durcheinanderreden.
»Aber, meine Herren, muß es denn gleich ein ganzer Aufmarsch sein?«
»Es geht doch nicht anders!«
»Aber ich sage Ihnen ...!«
»Bitte, bitte, bitte!«
Dann öffnet ein älterer Herr mit weißem Vollbart die Tür und geht auf Dr. Voß zu: »Tag, lieber Voß!« Er verbeugt sich zu Morris: »Schwerlingt ist mein Name.«
»Ja, das ist unser Londoner Bundesgenosse!« überbrückt Dr. Voß eine kleine Pause.
Sie gehen mit dem amtierenden Kommissar in sein Arbeitszimmer, aus einer Gruppe von mehreren Herren tritt der Vizepolizeipräsident auf sie zu und schüttelt ihnen die Hand. »Meine Herren, ich weiß, daß nicht viel Zeit zu verlieren ist – Sie sind der Ansicht, in Sankt Pauli sozusagen die Filiale, die Hamburger Filiale der englischen Kolonne entdeckt zu haben, nicht wahr?« – »Jawohl«, sagt Morris, »nach dem Bericht, den ich mir aus London gestern telegrafieren ließ, kann es sich nur um das von mir bezeichnete Haus handeln!«
Der Vizepolizeipräsident dreht sich um. »Sehen Sie, meine Herren, Sie helfen bestimmt nur sich selbst, wenn Sie diese Sache unterstützen. Ich weiß aus eigener Praxis, daß man es nicht gern zu solchen Razzien kommen läßt; aber ich sehe gar keine andere Möglichkeit – entschuldigen Sie, Herr Senator, wollten Sie –?«
»Jawohl«, beginnt der Senator in seinem ruhigen breiten Hamburgisch, »jawohl. Ich meine, man geht nicht eher auf die Hasenjagd, ehe das Gatter zu ist – oder sowas ähnliches, ich bin kein Jäger! Was mich am meisten beunruhigt – die Herren aus Berlin scheinen ihrer Sache noch gar nicht so unbedingt sicher zu sein – und Sie müssen bedenken, meine Herren, was das für einen Auflauf geben wird und was für einen Mordsspektakel, wenn die Polizei da mit ihren Schießprügeln und Bomben anrückt.« Er zuckt die Schultern. Ihm gefällt die schneidige Aktion nicht.
Dr. Voß tritt mitten ins Zimmer, das Licht taucht ihn in gelben scharfen Schein. »Man hat mir wiederholt in letzter Zeit vorgeworfen, ich sei zu lässig, ich patrouillierte nur!« sagt er erregt, »und jetzt – jetzt ist's auch wieder nicht recht, was soll man denn machen, wenn die eigenen Behörden nicht von den Verbrechern befreit werden wollen!« Er sieht sich um. »Ich habe gedacht«, fügt er noch hinzu, »hier alles bereit zu finden, und statt dessen erwartet uns eine wohllöbliche Versammlung und hat Bedenken; morgen – meine Herren – morgen ist es zu spät!«
Der Senator lacht erregt: »Hm, hm, muß das Schlachtfeld gerade nach Hamburg verlegt werden? Offen gestanden – ich habe bei dieser Angelegenheit das peinliche Empfinden, als stürzten wir uns da in ein Abenteuer, das vielleicht im Film ganz nett wirken würde, aber nicht in unserer mit tausend Einschränkungen gepflasterten Wirklichkeit. Haben wir denn die rechtliche Handhabe zu diesem Vorgehen, bedenken Sie doch mit mir die etwaigen Folgen, dürfen wir schon zu so einschneidenden Maßnahmen greifen?«
»Ich glaube, der Schaden ist bereits groß genug!« bemerkt Dr. Voß.
Der Vizepolizeipräsident mischt sich jetzt in die Unterhaltung ein. »Könnten wir nicht ein Kompromiß schließen, meine Herren? Zunächst begeben sich die Herren Kommissare und ein paar Kriminalbeamte zur vereinbarten Zeit zu der von Herrn Morris bezeichneten Stelle; alles, was gebraucht werden könnte, bleibt in geeigneter Entfernung in Ruhestellung, Gewehr bei Fuß sozusagen – wäre das nicht ein Ausweg?« Er sieht auf die Uhr, »es ist nämlich schon gegen zehn, fünf vor zehn genau – Sie sind reichlich spät gekommen, meine Herren!«
»Wir mußten noch das Telegramm aus London abwarten«, antwortet der Doktor mürrisch, – »im übrigen – die Sache geht schief, so wie Sie es vorhaben, es ist nicht die exakte Vorbereitung, wie ich sie sonst gewohnt bin, aber ich füge mich hiermit!«
»Das ist gut, das ist mir sehr lieb, meine Herren«, sagt der Senator sichtlich erleichtert; er drückt allen schnell die Hand. »Also, es bleibt dabei!« Dann verschwindet er schnell, damit nicht etwa eine neue Debatte beginnen kann.
*
Ehe sie ins Hafenviertel abbiegen, bummeln die Kommissare mit ihrem Assistenten noch ein bißchen über die Reeperbahn. Vielleicht ist bummeln nicht der richtige Ausdruck, es hat manchmal etwas für sich, wenn Kriminalkommissare bummeln gehen. Dr. Voß meint, man würde vielleicht einen Bekannten treffen.
Die Lichter der Gaststätten sind bereits erloschen, nur ein einziges großes Ballokal ist noch geöffnet und liegt einsam im grellen Glanz seiner Beleuchtung. Fern in Seitenstraßen glimmen verräterische rote Pünktchen, das Hin- und Hergehen der Mädchen und Frauen, der Liebespaare, Dunkelheit und Wispern in allen Sprachen dieser Erde verleihen der Straße um diese weltentrückte Stunde ein gewisses Etwas, das sie einzigartig macht.
*
Der Strom liegt still und schwer wie schwarzes Blei, die Wolken ziehen schnell über den blaßgrauen Himmel, der Mond ist verdeckt. Die drei Wanderer können sehen, wie in Steinwärder und weiter hinauf die Werften schwärzlich aufragen. Verstreut im Hafenbassin liegen die Schiffsrümpfe, dunkle riesige Massen, einzeln und ganze Herden, hie und da steigt aus einem Schornstein ganz still melancholischer Rauch. Eine Pinasse schaukelt hinüber, irgend jemand muß an Bord sein, der Harmonika spielt. Schwermütig ziehen die Töne.
»Es ist seltsam«, sagt der Doktor, »immer wenn man hierherkommt, abends oder nachts – dann ist das so still und gottverlassen und auf irgendeinem Kahn spielen sie Dudelkasten! Sehen Sie sich das alles gut an, junger Mann«, wendet er sich an Holl, »wer weiß, ob Sie morgen noch leben!«
»Warum nicht?« fragt der etwas forciert. »Was soll denn passieren?«
»Ach, wissen Sie, junger Mann – bei solchen Rendezvous wird hin und wieder geschossen!« sagt Morris und klopft mit der Eisenspitze des Stockes ein paar helle feste Schläge auf das Pflaster. Der Assistent will etwas sagen, aber die beiden Kommissare sehen an ihm vorbei – anscheinend ist jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Sicherlich denken sie, daß ihr Beruf wirklich kein filmromantischer ist, aber möglicherweise ein »eigener«. Man muß Humor dafür besitzen.
»Sie haben alles ausgeführt, was wir besprochen haben?« fragt der Doktor nach einer Weile.
»Jawohl!«
Dr. Voß geht etwas langsamer. »Wie spät haben wir es, Morris – ich glaube, es wird langsam Zeit!«
Morris liest von den Leuchtziffern seiner Armbanduhr die Zeit ab: » Well – 's kann losgehen, Doktor!« meint er gelassen. Nichts kann ihn aus der Ruhe bringen, nicht ein ganzes Haus voller bewaffneter Verbrecher.
Denselben Gedanken muß wohl im Augenblick der Doktor haben, er verzieht seinen Mund: »Ich beneide Sie um Ihre göttliche Ruhe, Morris – die kann Ihnen keiner rauben!«
Morris nickt gleichmütig, als wollte er sagen: ja, die haben wir, und die behalten wir auch!
Ohne daß noch viel gesprochen wird, gehen sie wieder zurück. Ganz plötzlich sind sie am Ausgang der Straße, die in die Gasse mündet, in der sich das verdächtige Haus befindet. Sie biegen in die dunkle Gasse ein.
Hinter den Häusern liegt der träge Wasserspiegel eines Fleetes.
Aus einem Haus klingt das Hämmern einer hackenden, dröhnenden Klaviermusik, unten am Eingang brennt still eine rote Laterne. Irgendwo wird ein Fenster zugeworfen.
Die Kommissare fassen in ihre Hintertaschen und ziehen die Brownings heraus, es wird Ernst.
»Lauf schnell zurück«, flüstert Dr. Voß dem Assistenten zu, »und sieh nach, ob jetzt das Melderad an der Brücke wartet!«
Die Schritte des Assistenten entfernen sich, in dumpfen Intervallen klappen seine Füße gegen die Kopfsteine des Pflasters – jetzt müßte er an der Brücke sein.
Die Kommissare gehen auf das Haus zu, die Brownings mit den Läufen nach unten schußbereit in der Hand.
Dr. Voß drückt kräftig auf die riesige, wunderlich geformte Klinke der Tür – die Tür ist verschlossen. Er späht hinauf – kein Licht. »Verdammt, Morris!«
Morris hebt die Faust und schlägt gegen die Tür: Bum! Bum! Der Schall verfliegt, als sauge ihn das Fleet auf – und das ist das entnervende, die absolute Stille, die den Schlägen folgt. Nur das Klavier hämmert, Weiberstimmen kreischen hinter dünnen Fenstern, ein paar Hausflure weiter raschelt es verdächtig.
Von neuem schlägt Morris mit aller Kraft gegen die Tür, als wollte er sie mit der Wucht der bloßen Fäuste zertrümmern. Bum! Bumbum, bumbumbum!
»Aufmachen! Hallo!«
Er preßt erregt die Kiefer knackend aufeinander – Dr. Voß hat ihn noch niemals so gesehen.
Bumbum – bumbum!
»Aufmachen, aufmachen!!«
*
Das nächtliche Gesicht der Gasse verändert sich zu einem traumhaften, alpdruckartigen Grinsen. Fenster klappen klirrend auf und Köpfe erscheinen. Die Köpfe des Fleets, wirre, zottlige Männerschädel, dahinter drängen sich Frauen.
Da, wo das Klavier spielt, fällt jetzt heller Schein über das Wasser – es leuchtet grade auf einen toten treibenden Fisch –, eine ganze Horde von Gästen und Mädchen drängt sich hinter den Fenstern, an einem wird dabei die gelbe Gardine heruntergerissen und flattert heraus als zerknitterte Fahne. Die Leute, die an den Fenstern stehen, drehen sich dann und wann um und rufen ins Zimmer zurück. In der Nähe und entfernter rasseln die Hausschlüssel, Gestalten kommen heran, die in der Dunkelheit zu verschwimmen scheinen. Morris hämmert immer noch gegen die Tür. Dr. Voß sieht sich schnell um, dann gibt er einen Schuß gegen das Fenster ab. Die Kugel durchschlägt das Glas, das zersplittert – und dann hallt es dumpf zurück. Hinter dem Fenster muß eine Holzwand sein.
Das Haus ist verbarrikadiert!
Der Schuß hat die Gasse in einen bösen, summenden Dämon verwandelt, es sieht und spricht und ruft und kichert. Um die beiden Männer hat sich ein ganzer Kreis seltsamster Gestalten geschlossen, ein Kerl tritt zu Dr. Voß und fragt in tiefstem Baß, was er hier mache.
»Scher dich zum Teufel!« brummt der Kommissar.
Als habe der Kerl nur auf die Gelegenheit gewartet, schlingt er jetzt überraschend seine muskulösen Arme um den Beamten und versucht, ihn zu Boden zu reißen. Irgendein Helfershelfer stellt ein Bein zwischen die Ringenden, ein anderer tritt dem Doktor in den Rücken; er taumelt.
Ein wirres Geschlage und Getrete beginnt, mit Mühe können sich die beiden Kommissare der Übermacht erwehren. Morris ist im Nu gegen die Wand gedrückt, man greift ihm unter die Arme und versucht, ihm die Finger auseinanderzuklemmen. Ehe es so weit kommt, schießt er seinen Revolver ab, einmal, zweimal; der dritte Schuß verändert schon wieder die Richtung, er schlägt in das überstehende Dach und läßt Stuck und Ziegelstücke krachend herunterprasseln.
Schon antworten auf diese alarmierenden Schüsse hin von fern und nah die Sirenen der Polizei. Von der Brücke her biegen wie flitzende schmale Hunde die Motorräder ein, einen Augenblick lang blinken die Laternen hell auf und ziehen einen schmalen weißen Strich über das Fleet, dann knattern die Motoren in nächster Nähe, die Räder holpern noch ein Stück über die Pflastersteine, dann verstummt das Gerassel mit einem kurzen schrillen »sssssspfiiii!«
Der Haufen jagt auseinander und verschmilzt wieder mit dem nächtlichen Dunkel. Der Doktor reckt sich ein paarmal kräftig, ein heftiger Schlag muß seinen Arm etwas verstaucht haben, es tut scheußlich weh; aber er hat jetzt keine Zeit für dergleichen. Er tritt mit Morris zur Seite.
Die Tür des belagerten Hauses wird jetzt erbrochen, die Polizisten machen Zeichen und gehen etwas zurück, sie schieben die Tür auseinander, öffnen ist nicht möglich, weil dahinter schwere Schränke und Kisten aufgestellt sind.
Der Doktor winkt den Assistenten heran und gibt Auftrag, die Mannschaften mit den Tränen- und Gasbomben heranzuholen. »Auch Handgranaten!« ruft er ihm noch nach; Holl schwingt sich zu einem Motorradfahrer und saust mit ihm davon.
Auf der Brücke am Ende der Gasse ist es ganz hell geworden vom weißen Licht der Automobile. Dahinter wächst das Summen und Brummen einer drängenden Menschenwelle. Ein paar Leute kommen im Laufschritt heran, der Vizepolizeipräsident ist unter ihnen, er will persönlich die Aktion verfolgen.
Gerade als er den Hauseingang passiert, wird aus dem Dunkel heraus geschossen, die Kugeln pfeifen haarscharf an ihm vorüber, rasch verhallen die Schüsse: »Tacktack – tack!«
Dr. Voß reißt den Vizepräsidenten schnell zur Seite. »Die Kerle sind wahnsinnig da drinnen!« knurrt er gereizt. Er fühlt sich persönlich für jedes Menschenleben haftbar und verantwortlich, das bei dieser Polizeiaktion, die unter seiner Leitung steht, zu Schaden kommen sollte – auch für das der Belagerten.
Aber er kann sie vor ihrem Schicksal nicht mehr retten, sie haben die Aufforderungen der Polizei, »sich zu ergeben«, mit Schüssen beantwortet, fast wäre der Vizepräsident getroffen worden. Im Interesse der öffentlichen Sicherheit darf nicht länger gezögert werden. Nicht eine Minute!
Das Raunen der Menschenansammlung an der Brücke schwingt in einem dumpfen brummenden Ton auf, als das Feuerlöschboot herangefahren kommt. Die Glocke läutet, von elektrischer Kraft gezogen, ununterbrochen, »bimbim – bimbim – bimbim – bim!«
Aus den Fenstern des umstellten Hauses wird von neuem geschossen, alles springt zurück.
Eine verirrte Kugel schlägt gegen ein Metallstück. »Ping!«
»Selbstmörder da drinnen!« bemerkt der Doktor lakonisch.
»Zu dumm, daß ich noch keine gepanzerten Räder durchsetzen konnte!« bedauert der Vizepräsident, er reibt sich aufgeregt das Kinn. »Können Sie nicht ein Maschinengewehr aufstellen?« fragt er den Kommissar, der ruhig neben ihm steht und das Eintreffen der alarmierten Mannschaften erwartet. »Nein, ganz ausgeschlossen!« sagt der Doktor, »Sie sehen ja, Herr Vizepräsident, sowie sich jemand dem Haus nähert, schießen sie wie die Irrsinnigen da drinnen!«
Wie um seine Worte zu illustrieren, beginnt von neuem ein wildes Geschieße, die Geschosse klatschen aufs Wasser, prallen gegen das Pflaster. »Niemand weitergehen!« ruft eine starke Stimme, »Lebensgefahr!« Dr. Voß muß über den besorgten Beamten lächeln. Es wird sich bestimmt niemand vor das Haus wagen.
Jetzt kommen die Lastwagen mit den frischen Mannschaften, der erste fährt die Brücke herauf; die Polizisten steigen ab und laufen geduckt die enge Gasse hinunter. Es ist, als hielte mit einemmal alles den Atem an.
Ein Beamter tritt etwas zurück – er ist noch ganz atemlos vom Laufen. »Ruhiger werden – ruhig zielen!« ermahnt Dr. Voß leise; jetzt hebt der andere den Arm mit eingeübter Bewegung und schleudert einen Gegenstand von zylindrischer Form in den dunklen Schlund der erbrochenen Tür.
Handgranaten!
Das Krachen der Explosion dröhnt laut auf, dann wird es für Sekunden ganz hell, weiß, dann verlischt es.
Ein Regen von Glas übersät sofort die Gasse, in den umliegenden Häusern zerklirren die Fensterscheiben, Frauenstimmen kreischen auf, dazwischen murren dumpfe Flüche der Männer.
Der Vizepräsident, der die ungeheure Last der Verantwortung auf sich ruhen fühlt, dreht sich zu Dr. Voß um, sein Gesicht ist sehr weiß. Er nickt nur mit dem Kopf.
Die Detonationen haben den ganzen Stadtteil in Panik versetzt, irgendein Ängstlicher muß die Feuerwehr alarmiert haben, man hört von nah und fern das Läuten der Signalglocken.
In der Gasse gibt es keine einzige ganze Scheibe mehr. In den Fenstern hocken die seltsamsten Gestalten, sie haben sich eilig etwas übergeworfen, um das Schauspiel mitanzusehen; wie bei einem Stierkampf. Die Zuschauer kommen auf ihre Kosten.
Das Bombardement ist beendet, der Widerstand gebrochen.
Das Haus wird erstürmt!
Hinter den eindringenden Polizeimannschaften wird sofort ein Maschinengewehr aufgerichtet, das im Notfall das Hausinnere bestreichen kann, wenn noch einmal ein Rest von Widerstand aufleben sollte – aber es gibt hier keinen Widerstand mehr, gleich am Eingang unter einem Berg von zertrümmerten Möbeln liegt der erste Verbrecher, der bei dem Kampf ums Leben gekommen ist, die Bemühungen der Sanitätskolonne bleiben erfolglos.
Holl geht mit Kommissar Morris zusammen durch die oberen Stockwerke, sie suchen jeden Winkel und jedes Versteck nach den Flüchtlingen ab – das einzige, was man von Ora Lee findet, ist ein kleiner schmaler Handkoffer mit ein paar Wäschestücken, eilig zusammengerafft und dann als zwecklos fortgeworfen.
Ora Lee ist auf ihrer Flucht hier gewesen, aber es muß ihr und dem Unbekannten, der sie überall zu begleiten scheint, gelungen sein, noch vor der Erstürmung das Haus zu verlassen.
Bei der genauen Durchsuchung stößt man auf einen großen Koffer, in dem die geraubten Bilder gefunden werden; der unechte Rembrandt der Galerie van Hees befindet sich noch im Rahmen, die Madonna ist aus dem Rahmen herausgenommen worden und mehrere Male sorgfältig verpackt.
»Ich habe einen ehrenvollen Auftrag für Sie!« sagt der Doktor zu Holl. »Sie werden jetzt sofort mit diesem unscheinbaren Koffer, von dessen Inhalt bis jetzt nur wir drei wissen – Morris, ich und Sie – nach Berlin fahren und ihn im Polizeipräsidium abliefern. Man kann nie wissen, was geschieht, bei Ihnen und in dieser Verpackung wird bestimmt niemand die Madonna vermuten – gute Reise!«
Auch Morris winkt dem jungen Mann ein wenig gönnerhaft einen Gruß zu, alles fühlt sich irgendwie befreit, seit das unheimliche Haus in den Händen der Polizei ist. Die Verbrecher, die noch am Leben sind und sich ergeben haben, werden in den Hof geführt, wo die Kommissare ihre Vorbereitungen für die Vernehmung treffen.
*
Von fern und nah klingt das Lied des erwachenden Tages.
Der Hafen schickt orgelnd und pfeifend einen lärmenden Gruß. Es riecht nach Teer und Hanf – es riecht nach Nordsee!
Der Assistent nimmt den Koffer fest in die Hand und steigt in das Auto, das ihn ohne Umweg zur Bahn bringt.
Die große Polizeiaktion ist beendet.