Joseph Roth
Die Flucht ohne Ende
Joseph Roth

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XXIV

Er kam nach Paris am 16. Mai um sieben Uhr morgens.

Er hatte den Sonnenaufgang gesehen. Über einer Landschaft aus dunklem Grün, in der sich gewöhnliche Laubwälder wie Zypressenhaine ausnahmen, rollte, wie mit der Zeitlupe aufgenommen, ein glühender Ball empor und verblaßte zusehends.

Es war Tunda, als hätte er zum erstenmal den Aufgang der Sonne gesehen: Immer war sie aus Nebeln aufgestiegen, die den Übergang von der Nacht zum Tage verhüllen und aus dem Morgen ein Geheimnis machen. Diesmal aber erschienen ihm Nacht und Tag deutlich voneinander getrennt, durch einige saubere Wolkenstriche, auf denen der Morgen heraufstieg wie auf Treppen.

Er hatte in Paris einen klaren blauen Morgenhimmel erwartet. Aber der Morgen in Paris ist mit einem weichen Bleistift gezeichnet. Ein zerstäubter Rauch von Fabriken vermischt sich mit unsichtbaren Resten silberner Gaslampen und hängt über den Fronten der Häuser.

In allen Städten der Welt sind es um sieben Uhr morgens die Frauen, die zuerst aus den Häusern treten: Dienstmädchen und Stenotypistinnen. In allen Städten, die Tunda bis jetzt gesehen hatte, bringen die Frauen noch eine Erinnerung von Liebe, Nacht, Betten und Träumen in die Straßen. Die Pariserinnen aber, die des Morgens die Straße betreten, scheinen die Nacht vergessen zu haben. Sie haben die frische neue Schminke auf Lippen und Wangen, die wunderbarerweise an eine Art Morgentau erinnert. Es sind vollkommen angezogene Frauen, es ist, als gingen sie ins Theater. Sie aber gehen mit klaren nüchternen Augen in einen klaren nüchternen Tag. Sie gehen schnell, mit starken Beinen, auf sicheren Füßen, die zu wissen scheinen, wie man Pflastersteine behandelt. Tunda hatte, als er sie gehen sah, den Eindruck, daß sie niemals Absätze und Sohlen verbrauchen.

Er ging durch häßliche alte Gassen mit aufgerissenem Pflaster und billigen Läden. Aber wenn er den Blick erhob, über die Ladenschilder, waren es Paläste, die mit unberührter Gleichgültigkeit Händler zu ihren Füßen duldeten. Es waren immer die gleichen alten Fensterscheiben, in acht Parallelogramme aufgeteilt, mit den gleichen, grauen, dünn gerillten, bis zur Hälfte herabgelassenen Jalousien. Nur selten war ein Fenster offen, und selten stand an einem offenen Fenster ein unbekleideter Mensch.

Vor den Läden saßen Katzen, sie schwenkten die Schweife wie Fahnen. Sie saßen mit sorgfältig beobachtenden Augen wie Wachhunde vor den Körben mit grünem Salat und gelben Mohrrüben, dem bläulich schimmernden Kohl und den rosaroten Radieschen. Die Läden sahen aus wie Gemüsegärten, und trotz der weichen, bleifarbenen Atmosphäre, welche die Sonne verhüllte, trotz dem Rauch und der plötzlich aus dem Asphalt aufsteigenden Hitze war es Tunda, als wanderte er durch freies Land, und er roch den Duft der aufsteigenden Erde.

Er gelangte auf einen kleinen runden Platz mit einem lächerlichen Denkmal in der Mitte. Ja, als er dieses Denkmal sah, lachte er laut, daß er glaubte, die Menschen würden aus den Häusern treten. Aber nicht einmal diejenigen, die draußen waren, gaben auf ihn acht. Es waren eine dicke schwarze Frau, die vor einem Putzereiladen stand, und ein großer Mann mit einem weithin glänzenden schwarzen Schnurrbart, der eben sein kleines Schokoladengeschäft öffnete. Sie sprachen miteinander, schienen Tunda zu sehen, aber ihn absichtlich nicht zu beachten. Sie machten Witze am frühen Morgen. Tunda lachte vor dem Denkmal.

Es stellte einen glattrasierten Herrn in einem flatternden Mantel in Lebensgröße auf einem Sockel vor. Daß der Tod seinen Alltag nicht unterbrochen hatte, schien ihm eine ausgemachte Sache. Eine kleine Störung, nichts weiter. Man stellte sich, statt den weiten Weg ins Jenseits zu wandern, bequem in der Mitte eines runden Platzes hin, ein Theaterchen mit klassischen Säulen im Hintergrund, und hing weiter seiner Beschäftigung nach, nämlich dem Dichten.

Der Platz, mit Ausnahme seiner zwei Läden, schlief noch. Die Häuser legten sich um ihn, in sanfter Rundung, wie ein Ring um einen Finger. Von einigen Lücken aus liefen strahlenförmig Gassen nach allen Seiten, und aus einer schimmerte das dunkle Grün eines offenbar dichten Parks herüber, in dem Vögel lärmten.

An der Ecke war ein Hotel, ein Hotel wie ein Laden.

Tunda ging hinein, es war dunkel, eine Glocke wimmerte, und eine junge geschminkte Frau trat hinter einem billigen, sanft geblümten Vorhang hervor. Sie erschien sehr kühn und hoher Bewunderung wert, weil sie den Mut hatte, in dieser Dunkelheit, hinter diesem Vorhang zu leben, weil sie Tunda mit ebenso rücksichtsloser, fast aggressiver, aber doch wieder freundlicher Stimme nach seinen Wünschen fragte. Sie kam ihm sehr kühn vor, es schien, daß sie die großartige Fähigkeit hatte, als ein Mensch aus Fleisch und Blut durch Träume zu gehen und inmitten von Wundern selbst ein Wunder zu sein.

In diesem Hotel, dieser Frau wegen, mietete Tunda ein Zimmer, im sechsten Stock. Vom Fenster aus konnte er den weichen Hut des steinernen Dichters sehen, Spatzen, die auf seinem Kopf tanzten, das Dach mit dem dreieckigen Giebelvorsprung des Theaters, alle strahlenförmigen Straßen, rechts das dunkle Grün des Gartens und weit und breit hüpfende Schornsteine, wie Kinder in einem blauen Dunst.

Am Nachmittag ging er durch kleine und große, enge und breite Straßen, in denen Kaffeeterrassen blühten mit runden Tischchen auf dünnen Beinen, und die Kellner gingen wie Gärtner einher, und wenn sie Kaffee und Milch in Tassen schütteten, war es, als besprengten sie weiße Beete. An den Rändern standen Bäume und Kioske, es war, als verkauften die Bäume Zeitungen. In den Schaufenstern – er dachte an die törichten Schaufenster der Rue de la Paix – tanzten die Waren durcheinander, aber in einer ganz bestimmten und stets übersichtlichen Ordnung. Die Polizisten in den Straßen lustwandelten, ja, sie lustwandelten, eine kleine Pelerine auf der rechten oder auf der linken Schulter – daß dieses Kleidungsstück vor Hagel und Wolkenbruch schützen sollte, war merkwürdig. Doch trugen sie es mit einem unerschütterlichen Vertrauen auf die Qualität des Stoffes oder auf die Güte des Himmels – wer kann es wissen? Sie gingen nicht wie Polizisten herum, sondern wie Nichtstuer, die Zeit haben, sich die Welt anzusehen.

Es schien Tunda, daß er einen von ihnen fragen könnte, wo Irene sei, und er würde ihm antworten oder wenigstens einen guten Rat geben. In dieser Stadt lebte Irene. In dieser Stadt lebte Frau G. Seit dem Augenblick, in dem er Paris betreten hatte, konnte er beide Frauen nicht mehr voneinander unterscheiden. Sie wurden eine Frau, und er liebte sie. Er beschloß, an Frau G. zu schreiben.

Er wußte ihre Adresse. Er hatte sie ein dutzendmal umgeschrieben, und außerdem lag in einem Fach seiner Brieftasche jener fatale Zettel, mit dem sie sich verraten hatte.

Er hatte neues, weiches glattes Quartpapier gekauft, es war ihm, als begänne mit diesem Papier ein neuer Abschnitt seines Lebens. Es hängt viel von solchen Dingen ab, entscheidende Briefe, Schicksalsbriefe, müssen auf einem gefälligen, einladenden, aufmunternden, fröhlichen, festlichen Papier geschrieben werden. Er schrieb diesen Brief mit violetter Tinte, um ihn gleichsam von allen anderen gewöhnlichen Briefen auszuzeichnen. Er hatte Frau G. vor allem ein Geständnis zu machen, und eines, das sie vielleicht enttäuschen würde.

Als er aber zu schreiben anfing, glaubte er, daß gerade die französische Sprache für Geständnisse geschaffen war. Nichts Leichteres, als auf französisch aufrichtig zu sein. Die nackte Wahrheit, die immer einen brutalen Klang hat, liegt weich gebettet in den Wendungen und dennoch klar gezeichnet, sie ist mehr sichtbar als hörbar, wie es sich für eine Wahrheit geziemt. Es war gewiß ein fehlerhafter Brief, aber in keiner Sprache lassen sich so noble, so selbst um Verzeihung bittende Fehler machen wie in der französischen. Als er den Brief geschlossen und die Adresse sorgfältig gemalt hatte, war er fast so mutig wie seine junge geschminkte Hotelwirtin.

Einige Tage vergingen. Es kam keine Antwort. Er wartete. Aber dieses Warten war nicht mit Qual verwandt und nicht mit Furcht, sondern es war wie das Warten vor einem herabgelassenen Theatervorhang.

Er blieb den größten Teil des Tages zu Hause. Am späten Morgen erwachte er von einem regelmäßig jeden Tag einsetzenden Geräusch auf der Straße, dessen Ursache zu ergründen er sich nicht entschließen konnte. Er war neugierig. Er wollte sehen, was er jeden Morgen hörte. Aber er schob es auf – von einem Tag zum andern, es war angenehm, daß er freiwillig aufschieben konnte, und der Neugier zu befehlen gewährte einen ungeahnten, einen herrschaftlichen, einen wirklichen Machtgenuß.

Ein Diener kam und säuberte das Zimmer, obwohl Tunda noch im Bett lag. Dieser Diener schien seit Jahrzehnten im Hotel beschäftigt, dennoch verrichtete er seine Arbeit mit einem großen, erschütternden Interesse, jedes Staubkörnchen betrachtete er mit einem neugierigen Wohlgefallen, das Waschbecken drehte er um, als hoffte er, auf der Rückseite Unerwartetes zu entdecken. Er sagte jeden Morgen: »Es ist schönes Wetter heute, Sie müßten in den Park gehen!« Jeden Morgen sagte Tunda: »Ich erwarte einen wichtigen Brief.« Er sprach zu Tunda wie ein guter Onkel zu einem eigensinnigen Neffen oder wie ein sanfter Irrenwärter zu einem gutgearteten Patienten. Er war, dieser Diener, ironisch und höflich, obwohl er gerne wie ein Poltron erscheinen wollte und immer die Wahrheit ins Gesicht sagte. »Sie schlafen aber gern!« sagte er einmal. Und je länger Tunda schlief, desto häufiger entschuldigte er sich: »Ich habe Sie geweckt, verzeihen Sie!«

Eines Tages kam er früher als gewöhnlich, schwenkte ein blaues Kuvert und rief: »Das ist der Brief, den Sie erwarten!« Er legte ihn auf die Decke und zog schnell die Hand zurück, so, als brennte ihn das Papier, als würde es bald explodieren. Es war ein billiges, durchsichtiges, gemeines Kuvert, es fühlte sich an wie ein Löschblatt und enthielt die Rechnung.

An diesem Tag ging Tunda zum zweitenmal aus, setzte sich in den nahen Park, einem Teich gegenüber, auf dem Knaben kleine Segelschiffchen schwimmen ließen. Er wollte einen Brief herbeilocken. Der Brief sollte überlistet werden. Er sollte nicht wissen, daß man ihn mit Ungeduld erwartete, dann würde er gewiß kommen.

Aber es kam kein Brief.

Tunda fragte noch einmal die junge Frau, ob man ihn nicht gesucht hätte. Und genau wie das erstemal sagte sie mit einem tröstenden Kopfnicken – es war wie das kalte berufliche Beileid eines Sarghändlers –:

»Die letzte Post ist noch nicht dagewesen; der Briefträger kommt gegen sieben Uhr.« –

Es kam auch mit der letzten Post nichts.

Es wurde wieder Morgen, das bekannte unbekannte Geräusch weckte Tunda, der Diener kam, er kaute noch an seinem Frühstück. Plötzlich sagte er, während er den Hahn der Wasserleitung zärtlich zu polieren begann:

»Irgendjemand hat gestern nach Ihnen gefragt.«

»Wer? Wann? Um wieviel Uhr? Eine Dame?«

»Es war so gegen fünf Uhr nachmittags –«

Und er zog an seiner dicken silbernen Kette eine dicke silberne Uhr hervor, sah einige Sekunden lang auf sie, als hätte er sich auf dem Zifferblatt etwas notiert und wiederholte:

»Ja, gegen fünf Uhr nachmittags.«

»Und wer war es?«

»Eine Dame.«

»Hat sie nichts zurückgelassen?«

»Nein.«

»Eine junge Dame?«

»Ja, es wird wohl eine junge Dame gewesen sein.«

»Und hat sie nicht gesagt, daß sie wiederkommt?«

»Mir nicht.«

»Wem denn sonst?«

»Niemandem.«

Dann putzte er weiter ausführlich den Hahn der Wasserleitung, warf die Seife in die Luft wie einen Ball und fing sie wieder auf, lächelte und sagte:

»Eine hübsche kleine junge Dame.«

»Und Sie allein haben mit ihr gesprochen?«

»Ja, ich ganz allein.«

»Und warum haben Sie es gestern nicht gesagt?«

»Gestern abend war ich frei. Ich bin spazierengegangen.«

»Hier haben Sie ein Trinkgeld. Und wenn sie noch einmal kommt, sagen Sie es mir, bevor Sie spazierengehen.«

Er warf das Geldstück in die Luft, wie vorhin die Seife, sagte: »Entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe«, und ging.

Dann kam ein langer Sonnabend, der Diener brachte neue Bettwäsche und Handtücher, er streichelte sie, bevor er sie auf eine Sessellehne hängte, und wandte sich zum Gehen. Er hielt die Klinke einen Moment in der Hand, zögerte, als hätte er noch etwas Wichtiges, aber Peinliches zu sagen.

Schließlich sprach er, schon halb in der Tür:

»Es ist niemand dagewesen.«

Tunda erwachte am hellen Sonntagmorgen.

Der Himmel war ganz nahe über dem Fenster, weiße Wölkchen wehten, es war unbestreitbar Mai in der Welt.

Es klopfte an der Tür, und der Diener sagte:

»Jemand will Sie sprechen –«

Frau G. trat ein.

Sie streifte langsam einen Handschuh ab, er fiel auf die Bettdecke, leicht, von einem zärtlichen Wind hingelegt. Da lag er, hohl, schlaff, aber wie ein weiches, lebendiges, merkwürdiges Tier.

»Nun, mein Freund«, sagte sie, »sind Sie gekommen, mich zu sehen oder die Revolution vorzubereiten?«

»Sie zu sehen! Glauben Sie mir immer noch nicht? Es ist alles wahr, was ich Ihnen geschrieben habe. Ich schwöre es!«

Tunda holte seine Papiere herbei, als wäre sie von der Polizei, als gälte es, seine Freiheit zu retten.

Sie setzte sich aufs Bett – und das war wie ein Wunder. Sie kraute mit drei Fingern die Papiere, sah sie mit Verachtung an und zog die Photographie Irenes sofort hervor.

»Wer ist diese schöne Frau?«

»Sie war meine Braut.«

»Und sie ist tot?« fragte sie mit einer ruhigen Stimme, es gab nichts Einfacheres in der Welt als den Tod Irenes. Nicht nur Irene, alle Frauen waren tot, begraben.

»Ich glaube, daß sie noch lebt«, sagte Tunda schüchtern, als bäte er um Entschuldigung.

Er küßte ihre Hand, sie steckte mit der Linken eine Zigarette in den Mund, und er sprang auf, um Streichhölzer zu holen.

Es schien plötzlich in der ganzen Welt nichts Wichtigeres zu geben als diese Streichhölzer. Das Streichholz brannte, ein kleines blaues Freudenfeuer.

»Auf Wiedersehen!« sagte sie, sah ihn aber nicht an, sondern die Photographie Irenes, die noch auf dem Bett lag.

Der Himmel war immer noch blau.


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