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Tunda kannte Europa noch nicht. Er hatte anderthalb Jahre für eine große Revolution gekämpft. Aber hier erst wurde ihm klar, daß man Revolutionen nicht gegen eine »Bourgeoisie« macht, sondern gegen Bäcker, gegen Kellner, gegen kleine Gemüsehändler, winzige Fleischhauer und machtlose Hoteldiener.
Niemals hatte er die Armut gefürchtet, er hatte sie kaum gefühlt. Aber in der Hauptstadt der europäischen Welt, aus der die Gedanken der Freiheit ausgehen und ihre Gesänge, sah er, daß man keine trockene Brotrinde umsonst bekommt. Die Bettler haben ihre ganz bestimmten wohltätigen Spender, und aus jedem mitleidigen Herzen, an das man klopft, kommt die Antwort: Schon besetzt!
Er ging einmal zu Frau G.
Zum erstenmal kam es ihm in den Sinn, daß zwischen ihr und ihm gar nichts bestand, daß jener Nachmittag, jener Abend in Baku nichts mehr waren als die Begegnung zweier Menschen auf einem Bahnhof, bevor sie in verschiedene Züge steigen. Er erkannte, daß ihre Fähigkeiten, zu erleben, Schmerzen zu fühlen, Freude, Angst, Kummer, Jubel und alles, was Leben ausmacht, erstorben waren. Er konnte nicht entscheiden, ob der Besitz, ob die materielle Sicherheit, in der sie lebte, sie stumpf gemacht hatten. Sie hatte ja die bewundernswerte, rätselhafte Fähigkeit, mit schlanken Fingern die Gegenstände und die Menschen, mit schönen schmalen Füßen und Zehen den Boden zu berühren. Jede ihrer Bewegungen hatte doch ihren Sinn, einen fernen, einen dichterischen Sinn, er war da außer dem unmittelbaren Zweck und wichtiger als dieser. In ihr war der Siedlungsbereich der europäischen Kultur, von der die Unglücksverhüter, die Europäer sprachen. Keinen anderen, keinen stärkeren Beweis für die Existenz einer europäischen Kultur als diese Frau G. Aber damit sie sei, waren die Menschen ohne Herz, die Bäcker hart und die Armen ohne Brot. Und sie, das Resultat dieses Unglücks, wußte es nicht, durfte es nicht wissen, sie durfte nicht einmal eine große Leidenschaft fühlen, weil Leidenschaft der Schönheit schadet. So einfach war die Welt trotzdem nicht, wie Natascha einmal erklärt hatte. Es gibt auch andere Gegensätze als reich und arm. Aber es gibt eine Not, der man tausend Erkenntnisse und das Leben verdankt, und einen Reichtum, der tot macht, tot und schön, tot und zauberhaft, tot, glücklich und vollkommen.
Wie durch irgendein Gesetz verpflichtet, sagte Tunda: »Ich liebe Sie!« – vielleicht nur um seine Anwesenheit zu erklären.
Denn was hätte er sonst hier zu suchen gehabt? Er suchte wie ein Mensch, der einen Menschen verliert, aus dem Trieb, der manchmal stärker ist als der Trieb der Selbsterhaltung, nach einem letzten Mittel, sie zu halten.
Er dachte die ganze Zeit: was würde sie sagen, wenn es ihm einfiele, sie um Geld zu bitten. Wie häßlich käme es ihr vor, erstens, daß er kein Geld hatte, zweitens, daß er in ihrer Gegenwart davon sprach, drittens, daß er keine wichtigeren Sorgen hatte als die, was er morgen essen werde? Wie würde sie ihn verachten! Wie häßlich ist Geld, das man nicht hat! Um wieviel häßlicher, wenn man es mitten in der schönsten Stadt der Welt, vor einer schönen Frau nötig hat. Armsein war in ihren Augen das Unmännlichste – und nicht nur in ihren Augen. In dieser Welt war Armut Unmännlichkeit, Schwäche, Torheit, Feigheit und ein Laster.
Er verließ sie mit jener falschen, hoffnungslosen Freudigkeit, die dem Lächeln müder Artisten im Varieté gleicht, mit jener Freudigkeit, die wir hundertmal im Tage anlegen, als hätten wir uns vor einem Publikum zu verneigen. Er nahm von ihr einen stillen Abschied, wie ein überzeugter Selbstmörder von einem geliebten und verachteten Leben.
Er ging die Rue de Berri entlang, in der sie wohnte, erreichte die Champs Elysées und befand sich außerhalb dieser Menschen, die er dennoch mit dem Ärmel streifte. Als stünde er wie ein Bettler jenseits der Welt und sähe sie nur durch eine harte, undurchdringliche, in all ihrer Freundlichkeit bedrohliche Fensterscheibe.
Es war ein heller Nachmittag, die kleinen Automobile liefen wie Kinder über die breiten Straßen, verspielt, heiter, lärmend. Da gingen die schönen alten Herren, helle Handschuhe an den Händen, helle Gamaschen an den Füßen – und im übrigen waren sie dunkel gekleidet und feierlich und zugleich lebenslustig. Sie gingen in den Bois de Boulogne, um dort ihren fröhlichen, einem zweiten Morgen gleichen Lebensabend zu verbringen. Da gingen die kleinen Mädchen, die gesitteten, reifen, klugen Weltstadtkinder, die ihre Mutter an der Hand führen und mit der zierlichen Sicherheit der Damen über das Pflaster wandern, zauberhafte Wesen zwischen Tier und Prinzessin. Da saßen auf den Terrassen die erwachsenen Damen, zwischen roten Lippen gelbe Halme wie dünne Flöten. Die Welt lag hinter Glas, wie in einem Museum alte und wertvolle Teppiche, um deren Zerfall man zittert.
Tunda begegnete dem Freund des großen Dichters, denn es war die Zeit, in der in Paris die Angehörigen einer bestimmten Gesellschaftsschicht die Champs Elysées bevölkern – wenn mit dem Wort bevölkern der Spaziergang dieser Damen und Herren bezeichnet werden darf.
Es war, als würde sie jemand führen, wie man Tiere in den Zoologischen Gärten oder in den Menagerien zur bestimmten Zeit des Tages herumführen mag; es war, wie man Museen für einige Stunden in der Woche öffnet und den Anblick seltener und alter Kostbarkeiten freigibt.
Wer dirigierte diese Menschen? Wer legte sie aus, in diesem Museum, das Champs Elysées genannt war, wer hieß sie herumgehen und sich drehen wie Mannequins? Wer führte sie in die Salons der Präsidenten und bei den Tees der schönen Frauen zusammen? Wie kamen die großen Dichter zu ihren Freunden und diese zu den großen Dichtern? Wie kam der Herr de V. zu dem Präsidenten?
Es waren keine Zufälle, es waren Gesetze.
Ach, was trieben sie nicht alles! Manchmal kamen sie Tunda vor wie Totenwürmer, die Welt war ihr Sarg, aber im Sarg lag niemand. Der Sarg lag in der Erde, und die Würmer bohrten Wege durch das Holz, bohrten Löcher, kamen zusammen, bohrten weiter, und einmal wird der Sarg ein einziges Loch sein – dahin die Würmer und der Sarg, und die Erde wundert sich, daß keine Leiche drin gelegen hat –