Joseph Roth
Die Rebellion
Joseph Roth

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III

Der Leierkasten stammt aus der Drehorgelfabrik Dreccoli & Co. Er hat die Form eines Würfels und ruht auf einem hölzernen Gestell, das man zusammenklappen und tragen kann. An zwei Riemen trägt Andreas seinen Kasten auf dem Rücken, wie einen Tornister. An der linken Seitenwand des Instruments befinden sich nicht weniger als acht Schrauben. Mit ihrer Hilfe bestimmt man die Melodien. Acht Walzen enthält der Kasten, darunter die Nationalhymne und die »Lorelei«.

Andreas Pum hat seine Lizenz in einer Brieftasche, die eigentlich einmal der Ledereinband eines Notizbuches war und sich zufällig in einem Misthaufen gefunden hat, an dem Andreas täglich vorbeigeht. Mit der Lizenz in der Tasche wandelt der Mensch sicher durch die Straßen dieser Welt, in denen die Polizisten lauern. Man scheut keine Gefahr, ja, man kennt keine. Die Anzeige des brotneidischen bösen Nachbarn brauchen wir nicht zu beachten. Auf einer Postkarte teilen wir der Behörde mit, worum es sich handelt. Wir schreiben knapp und sachlich. Wir sind sozusagen der Behörde gleichgestellt, dank unserer Lizenz. Wir sind von der Regierung ermächtigt, zu spielen, wo und wann es uns gefällt. Wir dürfen an den belebten Straßenecken unsern Kasten aufstellen. Selbstverständlich kommt nach fünf Minuten die Polizei. Lassen wir sie ruhig herankommen! Mitten in einem Kreis gespannt zusehender Leute ziehen wir unsere Lizenz hervor. Die Polizei salutiert. Wir spielen weiter, was uns gerade in den Sinn kommt: »Mädchen, weine nicht!« – und »Schwarzbraunes Mägdlein!« – und »An der Quelle saß der Knabe!« – Für ein mondänes Publikum haben wir einen Walzer aus der vorjährigen Operette.

Andreas kann, je nach seiner Stimmung, die Kurbel so schnell drehen, daß der Walzer flott und kriegerisch wird wie ein Marsch. Denn er selbst hat manchmal ein Bedürfnis nach einer Marschmelodie, besonders an kühlen und trüben Tagen, wenn sich der Regen durch Schmerzen in der Gegend des amputierten Beins ankündigt. Das längst begrabene Bein tut ihm weh. Die Stelle am Knie, an der es abgesägt wurde, läuft blau an. Das Kissen in der Kniehöhlung der hölzernen Krücke ist nicht mehr weich genug. Es ist mit Roßhaaren gefüttert und schon durchgetreten. Es müßte mit Daunen gefüttert sein, oder mit Pelz. An solchen Tagen muß Andreas einige Taschentücher, in die Kniehöhlung der Krücke legen. Sie sind kein richtiger Ersatz.

Die Schmerzen verschwanden, sobald der Regen kam. An Regentagen aber konnte Andreas nicht viel verdienen. Das Wachstuch, einst glänzend, hart und wasserdicht, war an einzelnen Stelle gesprungen, Risse durchzogen seine Fläche und bildeten eine Art Landkarte. Gelang es dem Regen, was Gott bis jetzt verhütet hatte, durch die Hülle in das edle Holz und durch dieses in das Innere des Instruments zu dringen, so waren die Walzen verloren.

Andreas stand, wenn es regnete, stundenlang in einem jener freundlichen Hausflure, in denen das »Betteln und Hausieren« nicht verboten war, in denen kein scharfer Hund wachte und kein knurriger Hausbesorger oder gar dessen Frau die Heiligkeit des Hauseinganges hüteten. Denn mit dem weiblichen Geschlecht hatte Andreas unangenehme Erfahrungen gemacht. Sie hinderten ihn nicht, von der grausamen Süße einer vorläufig noch ganz unbestimmten Frauenhand zu träumen, die man sein eigen nennen könnte. Andreas besaß keinen alltäglichen Geschmack: je bissiger der Fluch einer Frau war, die ihn zur Flucht veranlaßte, je schneidender der Klang ihrer Stimme, je drohender die Haltung ihrer Gestalt, desto besser gefiel sie ihm. Und während er der ungastlichen Pförtnerin den Rücken kehrte, entzückte ihn ihre Weiblichkeit in dem Maße, in dem ihn der unerwartete Verdienstentgang enttäuschte. Abenteuer dieser Art bestand Andreas oft. Es waren seine einzigen Erlebnisse. Sie beschäftigten seine Nächte, schufen ihm Traumbilder von wehrhaften Frauen, und die Gedanken an sie begleiteten, wie ein malerischer Text, die seriösen unter den Melodien seines Leierkastens. Es kam so, daß er sein Instrument nicht wie ein mechanisches und sein Spiel als ein Virtuosentum betrachtete. Denn die Sehnsucht, die Bangigkeit, die Trauer seiner Seele legte er in die Hand, welche die Kurbel drehte, und er glaubte, nach Wunsch und Stimmung, stärker und leiser, gefühlvoller oder kriegerischer spielen zu können. Er begann sein Instrument zu lieben, mit dem er eine Zwiesprache hielt, die nur er selbst verstand. Andreas Pum war ein echter Musikant.

Wollte er sich zerstreuen, so betrachtete er die bunte Malerei auf der Rückwand des Leierkastens. Das Bild stellte die Szenerie eines Puppentheaters dar und einen Teil eines Stehparketts. Blonde und schwarze Kinder spähten in die Richtung der Bühne, auf der sich spannende Ereignisse vollzogen. Eine grau- und wirrhaarige Hexe hielt eine Zaubergabel in der Hand. Vor ihr standen zwei Kinder, auf deren Köpfen Geweihe wuchsen. Über den Kindern weidete eine Hirschkuh. Es war kein Zweifel, daß dieses Bild eine Verzauberung menschlicher Wesen durch ein böses Weib darstellen sollte. Andreas hatte niemals an die Möglichkeit solcher Ereignisse in der wirklichen Welt gedacht. Weil er aber das Bildnis häufig betrachten mußte, wurde es ihm vertraut und glaubhaft wie irgendein anderer täglich genossener Anblick. Es war fast nichts mehr Märchenhaftes an solch einer Verzauberung. Wunderbarer als der Vorgang selbst waren die bunten Farben, in denen er dargestellt erschien. Andreas' Augen tranken die ölige Sattheit dieser Farben, und es berauschte sich seine Seele an der klangvollen Harmonie, mit der ein blutendes Rot in ein sehnsüchtiges Orange des Abendhimmels im Hintergrund verfloß.

Zeit zu solchen Betrachtungen hatte er zu Hause genug. Allerdings war sein Heim nicht eines jener Art, in dem der Mensch etwa den ganzen Tag verweilen kann. Es bestand vielmehr aus einer Bettstelle in einem, wie es Andreas vorkam, geräumigen Zimmer. In diesem schliefen außer Andreas noch ein Mädchen und ihr Freund. Sie hieß Klara und er Willi. Sie war stellvertretende Kassierin in einem kleinen Kaffeehaus und er ein arbeitsloser Metalldreher. Willi arbeitete nur einmal in der Woche und auch dann nicht in seinem Berufe. Er führte einen Handwagen durch die Straßen, um Zeitungspapier einzukaufen. Am Abend brachte er seine Waren dem Althändler. Von jedem Pfund erhielt Willi ein Drittel. Denn auch das geringe Betriebskapital lieh ihm der Althändler. Es war klar, daß Willi von seinen Einnahmen nicht leben konnte. Er lebte von Klara. Sie hatte Nebenverdienste. Er war eifersüchtig. Aber in der Nacht, wenn sie sich beide unter der dünnen Decke fanden, suchte er zu vergessen, wovon er lebte, und es gelang ihm. Am nächsten Morgen blieb er liegen, wenn Klara und Andreas längst aufgestanden waren. Er blieb den ganzen Tag zu Hause und ließ Andreas nicht vor dem Anbruch der Nacht ins Zimmer. Das begründete er immer mit dem Wort: »Ordnung muß sein!« Denn er war weit davon entfernt, Andreas, den Krüppel, etwa zu hassen. Er liebte die Ordnung. Andreas Pum hatte eine Schlafstelle, aber keine Wohnung. Es ist so in der Welt eingerichtet, daß jeder nur das genießen darf, was er bezahlen kann.

Auch Andreas war mit dieser Ordnung zufrieden und kam pünktlich nach Anbruch der Dämmerung. Er kochte Tee auf einer Spiritusmaschine. Willi trank den in einem Wasserglas verdünnten Spiritus, Andreas den Tee. Er aß dazu ein Brot. Willi lieferte manchmal die Wurst. Denn es ereignete sich nicht selten, daß Willi, wenn er an angenehmen Tagen einen Spaziergang unternahm, sich vor das Delikatessenhaus begab, an dessen Tür die prallen Würste wie Gehenkte an einem Nagel hingen. Mehr aus Übermut als aus Lust am Diebstahl schnitt Willi dann zwei oder drei Würste ab. Ihn lockten Gefahren und Freude an der eigenen Geschicklichkeit. Man hätte es außerdem als Sünde bezeichnen können, wenn er das Angebot des Schicksals ausgeschlagen hätte. Andreas ahnte etwas von der Herkunft dieser Würste. Einmal fragte er, woher sie stammten. »Iß und schweig«, sagte Willi, »Ordnung muß sein.«

Es verstieß glücklicherweise nicht gegen die Ordnung, wenn sich Andreas, während er sein Abendessen verdaute, der Betrachtung der Malereien am Leierkasten hingab. Die unvollendete Verzauberung, welche das Bild darstellte, zwang zu Fortsetzungen. Andreas hätte gerne weiter gemalt. Er hätte auch die zwei noch in menschlicher Gestalt lebenden Kinder in Hirschkühe verwandelt, oder in andere Tiere. Es ergaben sich viele Möglichkeiten. Konnte man Kinder nicht in Ratten verwandeln? Huh! Ratten! Oder in Katzen; in junge Löwen; in kleine niedliche Krokodile; in Eidechsen; in Bienen; in Vögel – Tirili! In Vögel. Ein guter Maler, der mit Pinsel und Farben umzugehen verstand, könnte das Bild fortsetzen.

Kurz nach Mitternacht kam Klara. Sie entkleidete sich. Andreas ließ eine Augenlidspalte offen und sah sie im Hemd. Sein Blick angelte nach ihrer freien Brust, und sein Herz klopfte in der Hoffnung, ein Schulterband würde sich lösen. Dann hörte er Küsse und Umarmungen und schlief ein, von kräftigen, breithüftigen Witwen mit vorgewölbten Busen träumend.

Ach, er sehnte sich nach einem Weibe und einem eigenen Zimmer und einem breiten Ehebett voll schwellender Wärme. Denn weit vorgeschritten war der Sommer und ließ die Grausamkeit des Winters ahnen. Allein stand Andreas in der Welt. Den letzten Winter hatte er noch im Spital verlebt. Jetzt drohte die winterliche Straße und erhob sich manchmal vor ihm, steil geneigt, wie eine Rodelbahn. Unser Feind ist die Straße. In Wirklichkeit ist sie so, wie sie uns erscheint, steil und eine schiefe Ebene. Wir merken es nur nicht, wenn wir sie durchschreiten. Aber im Winter – man liest es in den Zeitungen – vergessen die Portiers und die Ladendiener, dieselben, die uns aus den Häusern und Höfen treiben und deren scheltende Worte uns verfolgen, Asche oder Sand auf das Glatteis zu streuen, und wir stürzen, von der Kälte der Beweglichkeit unserer Glieder beraubt.

Andreas hätte gerne bis zum Winter eine Frau gehabt, eine jener wehrhaften, starken und streitbaren Portiersfrauen, vor denen er fliehen mußte und deren imposante Stellung er stets dennoch ahnte: er sah sie die Hände in die Hüften stemmen, so daß diese hervorquollen und das Hinterteil sich straffte, massig und weiß unter den Röcken. Solch ein Weib sein eigen nennen – das gab Kraft, gab Mut und Sicherheit und machte den Winter zum Kinderspiel.

Früh schon weckte ihn der Fluch Willis, den die aufstehende Klara im besten Morgenschlaf gestört hatte. Dann betrat Andreas die morgendliche Straße und hinkte eilig mit den Eilenden, als riefe ihn nicht die freie Lust, in einem beliebigen Hof zu spielen, sondern die Notwendigkeit, einen ganz bestimmten, weitabgelegenen zu erreichen. Er hatte auch die Stadt nach Bezirken geordnet und eingeteilt, ganz willkürlich, nach seinen privaten Zwecken, und jedem Tag einen eigenen Bezirk zugedacht. So kam er in immer neue Gegenden, forschend und neugierig, hinkte furchtlos über den glatten Asphalt weiter Straßen und war vorsichtig, hielt heranfahrende Automobile mit seinem erhobenen Stock auf und fluchte hinter bedenkenlosen Chauffeuren. So lernte er die Straße besiegen, die gefährliche Straße, die unser aller Feind ist. Von ihr ließ er sich noch lange nicht unterdrücken. Er besaß die Lizenz. Eine Lizenz von der Regierung, zu spielen, wo und zu welcher Zeit immer es ihm behagte. Er besaß eine Krücke und eine Lizenz und eine Auszeichnung. Alle sahen, daß er invalid war, ein Soldat, der fürs Vaterland geblutet. Und es gab immer noch Achtung vor solchen Männern. Wehe, wenn man ihn nicht geachtet hätte!

Denn wie? erfüllte er nicht eine Pflicht, wenn er auf seinem Leierkasten musizierte? War die Lizenz, die ihm die Regierung gewissermaßen eigenhändig überreicht hatte, nicht eine Verpflichtung und keine Vergünstigung? Indem er spielte, enthob er sie der Sorge um ihn und befreite das Land von einer ständigen Steuer. Ja, es war kein Zweifel, daß seine Tätigkeit nur mit jener der Behörden zu vergleichen war und er selbst etwa mit einem Beamten; insbesondere, wenn er die Nationalhymne spielte.


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