Joseph Roth
Die Rebellion
Joseph Roth

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XI

Der Tag, an dem Andreas vor Gericht erscheinen sollte, brach an wie ein ganz gewöhnlicher Tag, wie alle Tage, die ihm vorangegangen waren. In der Nacht, die Andreas auf dem Sofa, ohne Kissen und in Kleidern zugebracht hatte, war ihm eine großartige Rede eingefallen, deren Wirkung keine andere sein konnte als die, daß man ihn um Entschuldigung bitten und den Herrn, den Polizisten und den Schaffner einsperren würde. Der Morgen beruhigte Andreas. Um zehn Uhr sollte der Termin stattfinden. Es ist fast sicher, daß bereits um zwölf Uhr Andreas Pum siegreich und im Besitz seiner Lizenz das Gerichtsgebäude verlassen wird.

Die Sonne schien etwas wärmer, und der Frost war gebrochen. Der Schnee schmolz. Es tropfte von den Dächern mit einer süßen, hoffnungsfreudigen Melodie. Ja, es begann sogar ein Sperling zu zwitschern. Die freundliche Milde der Natur war wie Gottes tröstende Vergebung.

Andreas hätte sich nicht auf Anzeichen dieser Art verlassen, wenn er in den Gesetzen des Staates heimischer gewesen wäre. Er wußte nicht, daß die gut geölten Räder dieser Maschine auch manchmal – und besonders in kleinen Fällen – sich unabhängig voneinander drehten und, jedes für sich, das Opfer zermahlten, das ihnen der Zufall ausgeliefert hatte. Denn nicht nur den Gerichten, auch der Polizeibehörde steht das Recht zu, Strafen zu verhängen, und wer es mit ihr angefangen hat, muß zuerst von ihr erledigt werden. Es schien der Polizei, daß Andreas sich einer gewöhnlichen »Übertretung« schuldig gemacht hatte und daß er der Lizenz nicht mehr würdig war, die er durch eine besondere Gnade des Staates bekommen. Andreas Pum mußte also vor allem verhört werden.

So kam es, daß, während er zur Wanderung aufs Gericht rüstete, die Tür sich auftat und ein Kriminalagent eintrat, um Andreas zur polizeilichen Vernehmung abzuholen. Andreas verwechselte in seiner katastrophalen Unkenntnis der staatlichen Bestandteile diesen Mann der Polizei mit einem der Gerichte und sagte, daß der Termin erst für zehn Uhr angesetzt wäre. Der Beamte ließ sich die Vorladung zeigen, klärte Andreas mit der Sachkenntnis eines Menschen von Fach über den enormen Unterschied auf, zwirbelte dabei seinen blonden Schnurrbart und sagte endlich: »Pflicht ist Pflicht!« Das bedeutete, daß er nichts dafür könne, daß er aber seinen Auftrag, Andreas zur Polizei zu bringen, ausführen müßte. Vor dem Kommissär, so riet er, möge Andreas seine Vorladung zeigen.

Andreas Pum tröstete sich. Zwar ahnte er ein neues Unglück. Aber sein Verstand sagte ihm, daß der Staat für seine eigenen Irrtümer verantwortlich sein müsse und daß der Staatsbürger nicht das Recht habe, die Behörden auf ihre Widersprüche aufmerksam zu machen. Also ging er. Unterwegs erzählte er dem freundlichen Kriminalbeamten den ganzen Vorfall. Der Mann lachte herzlich und stark, seine blauen Augen blitzten, und seine breiten, weißen Zähne leuchteten. »Ihnen geschieht nichts!« sagte er. Und Andreas faßte neuen Mut.

In der Polizei mußte er warten. Entweder war der Beamte, der ihn verhören sollte, noch nicht anwesend oder mit anderen Dingen beschäftigt. Die Normaluhr an der kahlen Wand des Amtszimmers zeigte halb zehn. Andreas näherte sich der Barriere, hinter der ein Mann in Uniform von gelben Kartothekzetteln Namen und Daten auf rote Zettel umschrieb, und sagte: »Entschuldigen Sie!«

Der uniformierte Mann schrieb weiter. Er behandelte den Buchstaben K. Darin wollte er nicht gestört sein. Erst als er die erste Seite umblätterte, die mit L anfing, wandte er den Kopf.

Andreas zeigte ihm die Vorladung. Der Uniformierte fragte, was für eine Geschichte das nun schon wieder wäre, als hätte er bereits eine schwere Enttäuschung mit dieser Persönlichkeit erlebt. Andreas erzählte den ganzen Vorfall haarklein. Im Zimmer warteten zwei Straßenmädchen. Sie lachten.

Der Uniformierte faltete die Vorladung wieder zusammen und sagte: »Warten Sie!« Dann schrieb er weiter. Endlich ging eine Tür auf, die Stimme eines unsichtbaren Menschen rief: »Andreas Pum!«

Andreas trat vor einen Herrn und machte eine Verbeugung, wobei seine Krücke ein wenig ausrutschte, so daß er mit der Hand gegen den Schreibtisch fiel, hinter dem der Kommissär saß. »No, no!« sagte dieser.

»Erlauben bitte«, stotterte Andreas, »ich habe hier eine Vorladung!«

»Das weiß ich«, sagte der Herr, »antworten Sie, wenn Sie gefragt sind.«

Hierauf begann er, den Bericht jenes Polizisten vorzulesen, der Andreas aufgeschrieben hatte. Als er zu der Stelle kam, an der die Lizenz erwähnt wurde, schwang er sie ein wenig hoch, so daß Andreas sie sehen konnte.

»Ist das so?« fragte der Kommissär.

Es war ein junger Mann mit einem sehr hohen Stehkragen und einem sehr kleinen, dünnen Gesicht. Sein spitzes Kinn machte Anstalten, im Kragen zu verschwinden. Er sprach mit einer heiseren Stimme. Dabei glättete er seine Frisur mit beiden Händen und prüfte mit sanften Fingerspitzen immer wieder die gerade Linie seines Scheitels.

»Ja«, sagte Andreas, »aber nicht ganz.«

»Wie denn sonst?« fragte der Kommissär.

Andreas erzählte seine Geschichte zum drittenmal. Dann holte er schnell seine Vorladung hervor und zeigte sie dem Kommissär. Der sah nach der Uhr und sagte: »Zu spät! Weshalb sagen Sie das nicht gleich?!«

»Was soll ich jetzt tun?« fragte Andreas.

»Jetzt werden wir Sie erst erledigen.«

»Wie lange dauert es?«

»Das geht Sie gar nichts an«, schrie der Kommissär. »Gar nichts an«, wiederholte er – und sprang auf. Er begann, im Zimmer hin und her zu gehen. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: »So eine Frechheit!«

Andreas fühlte, daß ihm Blut ins Gesicht schnellte. Haß gegen den Beamten ergriff ihn, schüttelte ihn so, daß er zitterte. Mit dem Stock schlug er auf den Boden. Speichel floß in seinem Mund zusammen. Er spuckte aus.

Der Beamte ballte die Fäuste. Andreas sah ihn in weiter Ferne. Der Beamte schrie. Andreas hörte seinen Schrei gedämpft und matt. Rote Räder kreisten vor Andreas' Augen. Er hob den Stock und traf einen Lampenschirm. Er klirrte schrill. Zwei Männer stürzten sich auf Andreas.

»Vierundzwanzig Stunden!« schrie der Beamte. Dann überreichte er den Akt Andreas Pum einem Schreiber: »Lizenzentziehung!« seufzte er und sagte: »Der nächste!«

Und während man Andreas über den Hof des Gebäudes in den Arrest für leichte Fälle führte, entschwanden alle Gedanken seinem Hirn. Es war, als ob sein Schädel auslaufen würde. Eine schmerzliche Leere entstand in seinem Kopf.


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