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Frankfurter Zeitung, 14. 11. 1926
Der siebente November 1926 ist der neunte Feiertag des revolutionären Rußland. Am sechsten abends ist Illumination. Sie fällt diesmal sparsamer aus als in den letzten Jahren. Es ist feucht, frühwinterlich, nebelig. Auch bei völliger Dunkelheit fühlt man den schwerbewölkten Himmel. Mit dem Nebel kämpfen silbern und rot leuchtende Inschriften. Porträts und Büsten von Lenin stehen in den Schaufenstern, etwas streng drapiert. Die Kaufläden werden geschlossen. Man hört diesen ganz bestimmten Tschinellenklang der Schlüssel, der nur am Vorabend der Feiertage ertönt. An Wochentagen ist es ein gewöhnliches Rasseln. Auch die Menschen haben den schlendernden Sonnabend-Schritt, mit dem man freien Tagen entgegenwandelt. Aber nirgends entsteht die aufgeregte Festlichkeit illuminierter Nächte. Dampf steigt aus der nassen Erde, Nebel schwebt über den Dächern ... Man sollte überall sparen – nur nicht an Illuminationen.
Am nächsten Morgen, Sonntag, um neun Uhr früh beginnt die berühmte, schon historisch gewordene Parade der Roten Armee auf dem Roten Platz im Kreml. Diese Szenerie und diese Parade hätte Shakespeare dichten können. Der Rote Platz ist so groß, daß er mindestens drei moderne breite Großstadt-Boulevards in sich fassen könnte. Ein Tor eröffnet ihn, eine vielkupplige Kirche schließt ihn ab. Vor der gezackten Kreml-Mauer steht das hölzerne Grabmal Lenins. Es ist eine ungewollte, aber symbolisch wirkende Mischung von Denkmal und Rednertribüne. Der viereckige umgitterte Rasen, der es einsäumt, ist nur wie eine leise Andeutung von Friedhof.
Auf diesem Platz stehen in breiten dichten Karrees die Soldaten: gelbgraue Mäntel, Gewehrläufe, gelbe Riemen, russische Mützen mit stumpfer niedriger Scheitelspitze; Gewehre, Mäntel, Mützen; Mützen, Mäntel, Gewehre. Im Hintergrund warten: Kavallerie, dann die »Budjonny-Kavallerie« mit Maschinengewehren auf kleinen flinken Wagen, die Artillerie und die Tanks. Nichts rührt sich. Man hört aus der Ferne heranziehende Musik. Ein nasser November-Morgen geht über den Platz in leisen Galoschen.
An dem niedrigen Turm klebt das große, deutliche, etwas drastische Zifferblatt der Uhr. Der schwere Zeiger tastet vorsichtig die Minuten ab, er geht auf ihnen, wie auf Sprossen, der römischen Neun entgegen. Wenn er sie erreicht, schlägt die Uhr stark, metallen, mit einem fremden, fernen Goldklang in der Kehle, halb eine Uhr und halb ein Musikinstrument, präzise und etwas kirchlich. In diesem Augenblick wird es noch stiller als vorher. Ein Kommando knallt plötzlich, ganz unerwartet, obwohl es alle erwartet haben. Drei Reiter sprengen vor. Galopp. Lange Mäntel wehen. Der Kommandeur der Armee und zwei Begleiter. Vor jedem Soldaten-Karree reißen sie die Pferde nach rechts. Jede Abteilung ruft: Hurra! Eine Minute Galopp, eine Sekunde Hurra. Rings um den Platz! Wendung! Zurück! Musik spielt die Internationale. –
Der Kommandeur geht auf die Terrasse des Grabmals. An zwei Pfählen stecken zwei große Trichter, Lautsprecher, schwarze Münder. Sie tragen die Stimme nach links und nach rechts. Es ist nicht mehr die Stimme des Sprechers. Es ist, als hätten ihm die Instrumente die Worte aus dem Mund genommen; er macht nur die Gesten zu ihren Reden. Was sagt er? – Feiertägliches, Zeitungsmäßiges: Armee, Proletariat, Arbeiter und Bauern, Bereitschaft, vorläufig noch keine Gefahr, immerhin kapitalistische Welt. Deren Vertreter stehen unten, einer im demonstrativen Zylinder, die meisten in steifen Hüten, in Pelzen, mit nassen Füßen. Schwer ist das Schicksal der Diplomaten.
Pause. – Wink von oben. – Kommando. – Dreimal wiederholtes Kommando. – Erster Zug. – Rechtswendung. – Musik. – Vorbeimarsch.
Dieser Vorbeimarsch ist das stärkste militärische Schauspiel der Gegenwart und – seit Napoleon – wahrscheinlich der Geschichte. Es ist auch das stärkste Schauspiel Sowjet-Rußlands. Es verliert – soundsovielmal wiederholt – nichts von seiner Kraft. Es bleibt immer frisch, wie ein gutes Stück nach zwanzig Aufführungen. Das ist die einzige Parade, die nichts Überflüssiges hat, keinen glänzenden Knopf, keinen Theaterblitz, keine eitle Geste. Sie hat nur einen einzigen Traditionsfehler: die Soldaten rufen – zum zweiten Mal – Hurra, wenn sie am Kommandeur vorbeigehen. Stehende Massen sollen, marschierende dürfen nicht den Mund öffnen.
Kein übertriebener Schritt, keine unnatürliche Kopfwendung. Das Militärische ist ganz menschlich. Breite Reihen marschieren, lebendige Wände. Die langen Mäntel bedecken die breit ausschreitenden Beine. So entsteht eine Art wallenden Marsches, temperamentvolle Feierlichkeit, exakte Prozession.
Sie hört nicht auf. Obwohl sie immer dasselbe bleibt, ist sie spannend. Man blickt jeder Abteilung entgegen, wie einem neuen Dramen-Akt – und weiß doch schon, was man sehen wird: graugelb, graugelb, graugelb, Mäntel, Gewehre, Mützen. Bis die letzten Abteilungen eine unerwartete Abwechslung bringen: nämlich Gesichter. Es sind Elite-Truppen: Eisenbahner, Sappeure, Techniker, Sicherheitstruppen. Die Mützen werden bunt, die Gesichter individuell.
Die Infanteriemusik verstummt. Eine ferne dünne silberne Musik ertönt. Es sind reitende Töne, die Melodie zieht daher, eine musikalische Reiterkavalkade vor der körperlichen Kavallerie. Galopp, Galopp! Eben noch körperlich nahe, schon geisterhaft verschwunden. Ihnen nach die leichten Wagen mit den leichten Maschinengewehrchen: stehende Kutscher, scharf gezogene Zügel, flatternde Mähnen: die Wagen erinnern an römische Rom-Quadrigen. Sie streifen den Boden im Flug, während die Artillerie schon rollt, schwerer, irdischer, stabiler. Die Tanks weinen. Es schlägt irgendwo in ihnen, es klingt ein gespannter Draht, es heult ein metallenes Tier. –
Die fremden Militär-Attachés stehen pflichtgemäß da. Zwei polnische Offiziere sind hart an den Rand des Trottoirs getreten. Die Rotarmisten sehen die Offiziere an. Die fremden Offiziere sind ganz offiziell, ganz Dienst, ganz internationales Völkerrecht, als das, was die rätselhafte Existenz eines uniformierten Militär-Attachés zwar nicht begründet, aber wenigstens garantiert.
Dann ist die große Pause, in der die Attachés und die Diplomaten nach Hause gehen.
Die Arbeiter kommen von weither, mit Fahnen, nach stundenlangem Warten. Es ist naß, es ist November, und es ist das neunte Jahr der Revolution. Und Regen, Nässe und neun revolutionäre Jahre, ein harter Wiederaufbau, ein bißchen Krise, ein bißchen Angina, ein bißchen schlechte Kleidung: das alles macht so müde, so mürbe, so »zivilistisch«. Man wartet Monate lang, jetzt: ein Augenblick, wo man den Genossen oben ins Gesicht sehen könnte, dem Präsidenten Kalenin, der da mit dem Taschentuch winkt, den Männern der Partei – kann man aus Gesichtern die Zukunft lesen? Soll man rufen, soll man schauen? Und ehe man sich noch entschieden hat (noch ruft man: es lebe die einige Partei!), ist man schon vorbei, schon vorwärts gedrängt von anderen vorbei, vorbei, noch ein Feiertag vorbei – und hinter dem Roten Platz, in der Straße, steht die Weltgeschichte mit verschleiertem Gesicht. –