Joseph Roth
Reise in Rußland
Joseph Roth

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XIV. Die Stadt geht ins Dorf

Frankfurter Zeitung, 12. 12. 1926

Die Zivilisierung des russischen Bauern, die Rehabilitierung seiner Menschlichkeit, die Ausrottung des Gutsbesitzers, der privilegierten Nagajka-Schwinger, dieses grotesken Sklavenhalter-Systems, der »patriarchalischen« Prügelmeister: das sind bis jetzt die größten menschlichen und historischen Verdienste der großen Revolution. Der russische Bauer ist für immer befreit. Er hält einen schönen, roten, feierlichen Einzug in die Reihe der freien Menschheit.

Man weiß, daß in keinem Lande der Welt der Unterschied zwischen Stadt und Dorf so groß war wie im zaristischen Rußland. Der Bauer war von der Stadt weiter entfernt als von den Sternen. Zu den wichtigsten Sorgen des revolutionären Rußland gehört deshalb: wie kommt die Stadt zum Bauern? Sie darf sich nicht damit begnügen, die Proletarisierung des Bauern der historischen, wirtschaftlichen Entwicklung zu überlassen. Sie rückt gleichsam freiwillig ins Dorf vor. Sie »industrialisiert« es. Sie versorgt es mit Bildung, Propaganda, Zivilisation, Revolution. Sie senkt ihr eigenes Niveau – was auf allen geistigen Gebieten in Rußland fühlbar wird –, um vom Dorf verstanden zu werden. Es war einmal der romantische Traum der alten, slawophil-narodnitischen revolutionären Intelligenz, »unters Volk zu gehen«, zu den armen Bauern, um die »Empörung« zu entfachen. Wie anders, wie rationalistisch, mathematisch, präzise und praktisch sieht die Revolutionierung des Dorfes durch die Kommunisten aus!

Es ist eine der schwierigsten Aufgaben der Revolution: die Bauern zu revolutionieren – aber vorher alle die zivilisatorischen Leistungen zu vollbringen, die das Werk des Kapitalismus sind. Die Revolution muß gewissermaßen im Namen des Sozialismus »kapitalistische Kultur« verbreiten. Sie muß außerdem in einem Jahrzehnt die ländlichen Massen Rußlands dorthin bringen, wohin die jahrhundertelange Entwicklung des Kapitalismus die westlichen geführt hat. Gleichzeitig soll sie jede etwa erwachende Neigung zur »bourgeoisen Psychologie« vernichten. Und da die »Psychologie« vom Objekt schwer zu trennen ist, wird die Aufgabe der Revolution immer schwieriger, je besser sie fortschreitet. Wie soll man die Erziehung zur kapitalistisch-rationellen Ausnützung des Besitzes mit der zum »kollektivistischen Gefühl« vereinigen? Hier droht der Revolution die größte Gefahr. Arbeitet sie schließlich nicht gegen ihren Willen für eine Verbürgerlichung des Primitiven? Hält sie das Werk des Sozialismus auf, während sie ihn propagiert? Verliert sie nicht zu viel Energie an der Zivilisierung – und bleibt ihr noch Intensität genug für die zweitnächste Etappe: den Sozialismus?

Vorläufig verwechselt der primitive Dorfmensch Zivilisation und Kommunismus. Vorläufig glaubt der russische Bauer, Elektrizität und Demokratie, Radio und Hygiene, Alphabet und Traktor, die ordentliche Gerichtsbarkeit, Zeitung und Kino wären Schöpfungen der Revolution. Aber diese Zivilisation emanzipiert den Bauern auch von der »Scholle«. Er wird ein »Landwirt«. Das soll die unvermeidliche Etappe auf dem Weg zum »bewußten Proletarier« sein. Sozialismus gedeiht nur bei der Musik der Maschine. Also, Maschinen her! Traktoren! Aber der Traktor ist stärker als der Mensch – ungefähr wie das Gewehr stärker ist als der Soldat. Das Instrument der Gewinst-Vergrößerung erzeugt eben »bourgeoise Psychologie« – beim Bauern, der ohnehin für das »kollektivistische Gefühl« gerade nicht prädestiniert erscheint.

Man darf nicht aus dem Regen in die Traufe kommen. Man darf nicht aus dem der »Proletarisierung« unbewußt widerstrebenden Bauern einen ihr feindlich gesinnten Halb-Bourgeois machen. Was ist dagegen zu tun? Kommunistische Agitation. Propaganda. Bewußte Identifizierung oder zumindest gleichzeitige Verbreitung der Kultur und der kommunistischen Idee: durch Schulen, Klubs, Theater, Zeitungen und den Dienst in der Roten Armee. »Liquidierung des Analphabetismus« heißt, in die Zwecksprache übersetzt, gleichzeitig: Verbürgerlichung verhindern; Eigentumsgefühle ausrotten; den Haß gegen den noch verbliebenen »Kulaken« (Großbauern) wacherhalten.

Das sind also die zwei Prinzipien der russischen Bauern-Kulturpolitik: Mechanisierung des Betriebs und Urbanisierung des Menschen; Industrialisierung des Feldes und Proletarisierung des Bauern; Amerikanisierung des Dorfs und sozialistische Revolutionierung seiner Bewohner. Das sind die Widersprüche, aus denen alle sogenannten »inneren Schwierigkeiten« entstehen. Ja, das ist das Problem der russischen Revolution. Hier wird es sich entscheiden, ob sie zu einer neuen Weltordnung führt oder ob sie die stärksten Reste einer alten vernichtet hat; ob sie der Anfang einer neuen Epoche ist oder das verspätete Ende einer alten; ob sie nur die Herstellung eines gewissen Gleichgewichts zwischen der Kultur des Westens und der des Ostens bewirkt oder ob sie daran ist, die westliche Welt aus dem Gleichgewicht zu heben.

 

Das Gesicht des Dorfes hat sich wenig geändert. Ich kannte die ukrainischen Dörfer aus dem Krieg. Ich sah sie jetzt, nach acht Jahren, wieder. Immer noch liegen sie da wie Kindheitsträume der Welt. Krieg, Hunger, Revolution, Bürgerkrieg, Typhus, Hinrichtungen, Feuer: sie haben alles überstanden. Im nordfranzösischen Kriegsgebiet riechen heute noch die Bäume nach Brand. Wie stark ist die russische Erde! Ihre Bäume duften nach Wasser, Harz und Wind, der Geburtenüberschuß in den Dörfern ist noch größer als der – beträchtliche – in den Städten, Brot blüht aus dem Moder der Toten, wie früher läuten die Glocken Neugeborene und Bräute ein, die Raben, die Vögel des Ostens, sammeln sich zu Hunderten in den Bäumen, der winterliche Himmel ist einheitlich grau, sehr nahe und sehr weich von den vielen Schneeflocken, die bald herunterfallen werden. Immer noch sind die Dächer aus Stroh, Schindeln und Lehm, immer noch herrscht das Dreikammer-System der Hütte vor, die Tier und Mensch beherbergt, immer noch bestreicht man die Wände und den irdenen Fußboden mit frischer Düngerflüssigkeit, die wochenlang einen scharfen Geruch verbreitet, aber dann eine wunderbar schimmernde, silbrige Farbe hat, die dauerhaft ist und – nach dem Glauben der Bauern – Wärme erhält.

Das Gesicht des jungen russischen Bauern aber ist stark verändert. Er hat den unsinnigen, erbärmlichen, feigen Respekt vor der »Kultur«, der »Stadt«, dem »Herrn« verloren. Er grüßt immer noch den Fremden ehrerbietig, aber nur weil dieser ein Gast und er der Wirt ist. Er hat die schöne stolze Freundlichkeit des Befreiten. Er lernt im Klub am Abend das Alphabet, die Zeichnungen an den Wänden, Geographie, Agronomie, er widerspricht heftig und selbstbewußt in Versammlungen, er karikiert Beamte und öffentliche Organe in der Wandzeitung, er steht nicht mehr verwirrt vor dem Automobil, das den Fremden gebracht hat, er erkundigt sich nach Herkunft, Alter, Art der Maschine. Die Frauen lernen Hygiene für Haus, Tiere, Kinder, sie lernen schneller und freudiger als die Männer. Die Stadt ist allen vertraut. Da geht ein Junger in die »professionell-technische« Schule, dort rückt ein anderer zur Roten Armee ein, ein Dritter kehrt heim, hält Vorträge, verfaßt Berichte, Beschwerden, wird beinahe galant zu den Frauen. Alles, was in der Stadt Banalität wird und Spießer erzeugt; die popularisiert-verflachte Wissenschaft, die plumpe sexuelle Aufklärung, die billige Tendenz in Bild und Buch: der Mensch vom Lande kann es verwerten, ohne an Unmittelbarkeit, an Kraft, an Originalität zu verlieren. Der trockene Geruch des Papiers verliert sich im Ozon des Landes. Der Bauer wird klüger als die Broschüre, die ihn klug macht, origineller als der Agitator, der ihn aufklärt, künstlerischer als der Dichter, der ihn besingt, wahrhaft revolutionärer als die Phrase aus dem Manifest. Heute leben die wirklich revolutionären Menschen im Dorf. In der Stadt ist der Heros den Bürokraten gewichen, der den Beschluß der XIII. Parteikonferenz memorieren kann und die Aufnahmeprüfung in den Kommunismus mit 1a bestanden hat.

Freilich klagt der Bauer (wenn er nicht zur alten Garde der Feigen gehört) vernehmlich über die »schlechte Lage«, über Steuern, falsche Versprechungen, über Traktoren, die nicht ankommen und andere, die verrosten, über wirkliche oder angebliche Ungerechtigkeiten. Aber es gibt gewiß in der ganzen Welt kein Dorf, in der ganzen Geschichte der Menschheit kein Jahr, in denen der Bauer nicht etwa geklagt hätte. Der russische Bauer weiß, was er der Revolution zu verdanken hat. Noch gedenkt er der Stockstreiche, der zaristischen Polizei, der Spitzel, der Armee, der Pächter, der Besitzer. Noch ist der »Kulak« da, eine ständige Gefahr, die revolutionär erhält, der Kulak, dessen Furchtsamkeit immer geringer wird und der von einer diplomatischen, ausweichenden, nicht zu fassenden, schlauen Bedrohlichkeit ist.

Der großen Masse der russischen Bauern ist das selbstverständliche Gefühl, daß die Regierung Blut von ihrem Blut ist, trotzdem immer noch fremd. Sie ist dazu erzogen, in der Regierung etwas Fremdes, »oben« Befindliches zu sehen. Manchem Theoretiker der russischen Politik fehlt auch das Verständnis für die besondere Psychologie des Bauern. Es kann sein, daß die fortschreitende Aufklärung auch im Dorf die Banalität erzeugt, die in den Städten schon ausgebrochen ist. Aber heute noch sieht man auf dem Lande das schöne Schauspiel: wie aus Knechten Menschen werden.


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