Joseph Roth
Zipper und sein Vater
Joseph Roth

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X

Es war spät in der Nacht, aus den Gärten hörte man das Zirpen der Grillen. Wir traten aus dem Kaffeehaus. Wir trafen uns dort oft. Man schloß es zu früh, es gab eine Polizeistunde, die wir haßten. Wir kamen spät einen Mokka trinken. Es schien uns damals, daß wir einander viel zu sagen hätten und daß es unmenschlich sei, Kaffeehäuser überhaupt zu schließen. Ich kann es mir heute, nachdem ich mich längst mit den Polizeistunden abgefunden habe, noch nicht erklären, weshalb wir damals glaubten, nur im Café könne man miteinander reden. Vielleicht weil wir gerade aus dem Krieg gekommen waren. So finster, arm und verzweifelt die Stadt auch aussehen mochte, wir waren heimgekehrte Städter und fühlten uns in ihr wohl nach den vielen hundert Abenden und Nächten im Schützengraben, nach den Nächten im Lehmboden, im Sumpf, nach den Nächten in Dorfhütten, mit der alten Zeitung in der Hand, nach den Nächten der Angriffe und der Trommelfeuer. Man warf uns hinaus, man schloß das Kaffeehaus, man stellte die Stühle übereinander, die Kellner versammelten sich an der Kasse, um abzurechnen. Da schlichen wir uns fort, heimatlose Hunde.

Es war eine warme Sommernacht. Wir gingen hin und zurück, einer begleitete den andern, und war man vor der Haustür des einen angelangt, so fühlte man das Grauen, das oben wartete, im Zimmer, im Bett, im Schlaf, im Traum. Man kehrte um und ging vor die Tür des andern. Erst als der Morgen bleich hinter den Häusern stand, trennte man sich in der Mitte der Wege. Man fühlte jetzt weniger Angst vor diesem Haus, nach dem man sich im Krieg so gesehnt hatte und in dem man nicht mehr heimisch wurde nach der Rückkehr. Man schlief bei aufgehender Sonne ruhig ein; denn man wollte nicht sehen, wie ein Tag beginnt.

In so einer Nacht erzählte Arnold, was der Onkel über seine Absichten gesagt hatte:

»Und wenn ihr mir eine Million dazugeben würdet, Schwägerin und Bruder, ich nehme euren Sohn nicht. Ich habe Geld, er könnte bei mir leben, er könnte auf jeden Fall essen. Aber ich nehme ihn nicht. Brasilien ist ein gefährliches Land. Wer dort etwas werden kann, der ist schon längst hingegangen, dort ist er ein fertiger Mensch geworden. Aber einen fertigen Europäer nehme ich nicht auf mein Gewissen. Wenn ich ihm mit einem Darlehn helfen kann, wenn er sich hier im Lande ansiedeln will, ich will ihm helfen. Kann er ein Bauer sein? Ich will ihm helfen. Aber gegen Ehrenwort und Unterschrift; denn ich mache keine Geschenke, die ein Vermögen sind, oder ich spucke dem Manne ins Gesicht, dem ich Geld auf ewig geliehen habe. Fragt ihn, er soll sagen, was er will.«

»Nun hast du dich entschlossen?«

»Nein«, sagte Arnold, »kann ich mich überhaupt jemals entschließen?

Manchmal scheint es mir, ich könnte ganz gut ein Bauer sein. Dann kommt es mir romantisch und absurd vor. In die Natur gehen? Kann ich mit den Hühnern schlafen gehen und mit ihnen aufstehen? Kann ich einen einzigen Abend das Kaffeehaus entbehren, ein Gespräch mit dir, mit einem andern? Kann ich heiraten, Kinder haben, die das Vieh auf die Weide führen?«

»Aber in Brasilien müßtest du das alles doch auch!«

»In Brasilien – ja. Ebenso könnte ich ja in New York auf der Straße Zeitungen verkaufen und hier nicht!«

»Warum nicht hier?«

»Weil man mich kennt. Weil das komisch wäre, ich wäre eine lächerliche Figur.«

Ich versuchte keineswegs, Arnold zu überzeugen. Aber ich verstand nicht, daß er nicht hier Zeitungen verkaufen zu können glaubte. Warum wäre er eine lächerliche Figur geworden? Durch keine Beschäftigung irgendwelcher Art wird man lächerlich, wenn man es nicht schon gewesen ist, wollte ich ihm sagen. Aber ich sagte es ihm nicht. Ich fühlte, daß es überflüssig war. Ich fühlte, daß dieser Mensch wie jeder andere bestimmten Gesetzen gehorchte, wenn er etwas unternahm oder etwas unterließ. In dieser Nacht fühlte ich das Gesetz der Welt. Ich hörte den geschwinden, genauen, unerbittlichen, reibungslosen Gang der Räder, die den Mechanismus des Schicksals ausmachen. Ich dachte, daß der Sohn des alten Zipper einem unbekannten Gebot untertan war, wie der Alte es gewesen, wie es die Enkel des Alten auch sein würden. Ich stellte mir jenen Abend vor, an dem der Farmer den Zippers jede Hoffnung genommen hatte. Es mußte ein Schweigen entstanden sein, jenem vergleichbar, das dem Bericht des Alten von der Vermietung des Salons gefolgt war. Die Eltern Arnolds mußten überzeugt gewesen sein, daß ihr Leben umsonst war. Der Sohn hätte ihrem Alter Wärme und Licht geben müssen, und er kam zu ihnen eine Suppe essen.

Am nächsten Tag traf ich den alten Zipper. Er saß in einem Park, eine Zeitung las er mit einer großen Lupe in der Hand, denn die Brille genügte ihm nicht mehr. Wie er so dasaß in seinem schäbigen schwarzen Anzug, der an den Schultern fast so grün war wie das Laub, das ihn umgab, in der Ecke auf der Bank, hätte man ihm ein Almosen geben können, wenn er nicht durch die Zeitung und die Brille eine gewisse Reputation bekommen hätte. Ich setzte mich zu ihm.

»Nun«, sagte er, »Arnold hat dir sicherlich erzählt, daß mein Bruder nichts von ihm wissen will. Du bist ja sein Jugendfreund, du kennst ihn so gut wie ich, noch besser, möcht ich sagen. Glaubst du, daß er allein nach Brasilien gehen kann? Glaubst du nicht auch, daß er begabt ist – über den Durchschnitt? Wenn dieser Krieg nicht gewesen wäre! Was hätte Arnold nicht alles sein können? Mein Geschäft ging gut« (der alte Zipper hatte vergessen, daß der Krieg weniger an seinen geringen Einnahmen schuld war als er selbst), »ich hätte ihn noch eine Zeitlang ausgehalten. Er soll ein Bauer werden, meint mein Bruder. Mein Arnold – ein Bauer! Warum nicht gleich ein Tischler, wie mein Vater? Ich dachte, es ginge aufwärts mit meiner Familie, nicht abwärts.«

Und Zipper redete eine halbe Stunde lang ähnliche Sätze. Schließlich erzählte er mir »im Vertrauen« – und er nahm meine Hand und beschwor mich zu schweigen –, daß er selbst für Arnold eine Stelle suche. Alte Verbindungen »grabe er aus«. Arnold aber sollte nicht wissen, daß sein Vater »vorarbeite«. Arnold sollte eines Tages eine »schöne Karriere« vor sich haben.

Da ging er hin, der alte Zipper. Die Zeitungen ragten ihm aus der Rocktasche, Sonnenkringel spielten auf seinem Rücken, er ging nicht nur gebückt, er wackelte auch vor Schwäche, es war, als zögen ihn schwere Gewichte rechts und links. Er kannte und begrüßte den Gärtner des Parks – eine vornehme Persönlichkeit, eine von jenen Persönlichkeiten, von denen Zipper immer geglaubt hatte, es wäre gut, sich mit ihnen zu vertragen. Ja, er blieb sogar stehen, der Gärtner, der den Rasen umgegraben hatte, kam, auf die Schaufel gestützt, vor das Eisengitter, das die Beete von der Allee abschloß. Zipper sprach mit dem Gärtner. Wahrscheinlich freute sich der Alte, er wußte, daß ich ihn noch sehe, er konnte mir zeigen, daß er ein bekannter Mann war. Ihm allein, von allen Spaziergängern im Park, konnte es gelingen, den Rasen zu betreten. Wahrscheinlich erfüllte diese Macht den alten Zipper mit Stolz, auch jetzt noch, da er für Arnold eine Stelle suchte.

Er kannte den Hofrat Kronauer vom Finanzministerium. (Wer kannte ihn nicht? Jedem hatte Kronauer schon irgendeinmal geholfen.) Er war einer der ältesten Kunden Zippers. Was ging den Hofrat Kronauer die Revolution an? Einen zweiten Kenner der Gesetze, der Verordnungen, der Einkommen- und Gewerbesteuer, der Abzüge und der Zuschläge gab es nicht. Er blieb im Amt, er wurzelte geradezu drin wie ein alter großer Baum in einem Park. Er spendete Güte, Hilfe, Protektionen. Der alte Zipper war nicht umsonst bei ihm gewesen. Arnold bekam eine Anstellung.

»In einer Zeit, in der Beamte, die schon zehn Jahre gedient haben, auf die Straße gesetzt werden, bekommt Arnold einen Posten«, sagte der alte Zipper. »Auch eine Republik kann ohne wirkliche Tätigkeit nicht regiert werden. Der beste Beweis dafür ist Arnolds Fall.«

»Das ist sehr gemütlich!« sagte der Farmer. Am nächsten Tag reiste er ab.

Man sprach selten von ihm im Hause Zipper. Er hatte sich blamiert. Er hatte Arnold abgelehnt! Ein Genie wie Arnold nicht nach Brasilien mitzunehmen – dazu gehörte schon die enorme Ungebildetheit dieses Farmers.

»Im Grunde«, sagte der alte Zipper einmal von seinem Bruder, »hat er niemals Zeit gehabt, etwas zu lernen, noch auch nur nachzudenken.« Und man ging über den Farmer zur Tagesordnung über.

Die Tagesordnung bestand darin, daß man Arnold lobte. Zipper schien ganz vergessen zu haben, daß er selbst es gewesen war, der Arnold eine Stellung verschafft hatte. Man tat so in der Familie, als hätte der Sohn einen großartigen Ruf erhalten, die Finanzen des Landes zu ordnen.

Einen Monat später trat Arnold in das Amt ein.

Er war ein kleiner Beamter mit einem geringen Gehalt. Der Vater aber sah in ihm schon einen Finanzminister. Arnold hatte nichts von dem Optimismus seines Vaters.

»Wie soll ein Mensch, der im Krieg war, vorher nicht Beamter gewesen ist, jetzt acht Stunden täglich an einem Schreibtisch sitzen?« fragte er. »Ich sitze in einem Zimmer im vierten Stock, mit noch zwei Männern; beide sind so alt wie mein Vater. Du ahnst nicht, wie sie mich hassen! An einem der letzten Tage bin ich mit meinem neuen, hellgrauen Anzug ins Büro gekommen. Der eine, Herr Kranich, ist sofort in alle Büros gelaufen und hat erzählt, daß hier ein junger Mann mit einem hellen Anzug in den Dienst gekommen ist. Sooft ich hinausging, standen im Korridor einige Beamte, tuschelten miteinander und sahen mich an. Andere machten wie zufällig die Türen ihrer Kontore auf, schauten hinaus und machten wieder zu. Endlich ließ mich der Kronauer rufen und sagte mir, ich möchte mit Rücksicht auf die schlechte Lage der Beamten, die Familienväter seien, nicht neue Anzüge im Amt tragen. Er selbst trage auch seine alten. Außerdem möchte ich doch die vorgeschriebene Uniform anziehen.

Du kannst dir kaum vorstellen, wie mir vor dieser Uniform graut. Schon wieder eine! Soeben habe ich sie abgelegt! Ich habe versucht, meinen Tisch etwas näher an das Fenster zu rücken. Man sieht zwar nichts, es geht in einen Hof, hat Gitter vor den Scheiben, auf der anderen Seite sind auch Büros, der Hof ist langweilig sauber, es ist streng verboten, Papierschnitzel, Asche, Zigaretten hinunterzuwerfen. Aber der Tisch des andern Beamten, der in der Nähe des zweiten Fensters sitzt, muß in gerader Linie mit meinem stehen. Ich war fünf Minuten draußen. Als ich zurückkam, stand mein Schreibtisch wieder dort, wo er vorher gestanden war. Die beiden Alten haben ihn zurückgeschoben.

Sie haben Seife, Nagelbürste und Handtücher im Schrank. Sie waschen sich die Hände, bevor sie weggehen. Ich kann mir dort nicht die Hände waschen. Ich bin froh, wenn ich fort bin, ich gehe mit schmutzigen Händen nach Hause. Infolgedessen kann ich das Amt früher verlassen als die beiden. Ich sage ›Guten Abend!‹ – sie antworten nicht. Ich gehe weg. Von der Stiege ruft einer: ›Herr Zipper!‹ – Was ist los? – Ich soll den Schlüssel morgen früh nicht beim Portier, sondern auf Zimmer 25 im zweiten Stock abholen, wenn ich zufällig früher kommen sollte. Der Dienst beginnt um neun Uhr. Ich komme fünf Minuten vor neun. Die beiden sind schon da. Einmal versuche ich, um dreiviertel neun zu kommen. Am nächsten Tag sind sie schon um halb neun im Amt.

Ich habe dienstlich nichts mit ihnen zu tun. Sie sind nicht meine Vorgesetzten. Aber wenn ich mit einem Schriftstück fertig bin, kommt immer einer von den beiden zu meinem Schreibtisch und sagt: ›Sehr schön, Herr Zipper.‹ Sie wagen nicht, mich zu tadeln, aber sie haben eine tückische Methode gefunden: sie demütigen mich durch Lob. Manchmal beginnen sie ein allgemeines Gespräch über die Jugend von heute. Jeder junge Mann glaube, weil er im Krieg gewesen sei, er sei klüger als die Alten. Einmal konnte ich mich nicht enthalten, ihnen zu sagen: ›Ihr habt uns ja selbst in den Krieg geschickt!‹ Und ich dachte dabei an meinen Vater. Erinnerst du dich, wie er eines Tages in der Uniform vor der Einjährigenschule stand? Übrigens, mein Vater: ich kann gar nicht mehr zu Hause essen. Er hat tausend Fragen. Immer will er wissen, ob man mit mir zufrieden ist. Ich muß ihm ganz genau von meiner täglichen Arbeit berichten. Er bildet sich ein, ich verfaßte Steuergesetze. Ich aber, weißt du, was ich mache? Additionen und Divisionen und Multiplikationen mit Dezimalbrüchen.

Es ist nicht zum Aushalten! Ich möchte etwas anderes suchen. Aber wenn ich mit dieser Arbeit fertig bin, möchte ich so schnell wie möglich zu Hause sein. Es geht eine Straßenbahn um sechs Uhr zwölf und die nächste um sechs Uhr zwanzig. Oft kommt es vor, daß mir einer der beiden Alten noch etwas Gleichgültiges ganz langsam sagt – wenn ich unten bin, muß ich acht Minuten auf die Bahn warten. Diese acht Minuten sind länger als der ganze Tag.

Ich will die Straße nicht sehen, solange noch der Tag nicht ganz vorbei ist. Ich gehe nach Hause, ziehe mir das Neueste an, die besten Schuhe, das beste Hemd, dann spiele ich etwas, nur ein paar Melodien, die mir so im Gedächtnis geblieben sind, dann ist endlich der Abend da. Er kommt, während ich spiele, es scheint mir, daß ich ihn herbeirufe. Ich pfeife auf die ganze Erziehung, ich bin meinem Vater nur für das eine dankbar, daß er mir zur Musik verholfen hat.

Am Abend kann ich auf die Straße. Ich schäme mich, solange noch ein Stückchen Tag ist. Denn diesen Tag habe ich mit dem Amt angefangen, er ist verdorben, schmutzig, ich kann nichts mit ihm machen. Außerdem bin ich müde, wie nach einem Rückzug, nach einem Marsch von drei Tagen. Ich habe einen Hunger den ganzen Tag, als lebte ich in frischer Luft. Es ist der Hunger, der die Erschöpfung begleitet. Menschen im hohen Greisenalter, die den ganzen Tag im Bett liegen, haben auch so einen Hunger.

Schließlich könnte man sich abfinden mit jeder Tätigkeit, auch wenn sie sinnlos wäre. Das Militär war auch sinnlos. Aber man sah einen Vorgesetzten, er ersetzte den Sinn. Man wurde bestraft, belohnt, jeden Tag und jede Stunde. Man hatte einen Befehl, er ersetzte das Ziel. Im Amt aber siehst du nicht, wohin der Akt kommt, wozu er gemacht wird, für wen. Manchmal, ich muß es dir gestehen, packt mich irgendein dummer Ehrgeiz. Ich fange an, besonders schöne Buchstaben zu malen und vollendete Zahlen, ich schreibe an einem Akt eine halbe Stunde, ich könnte ihn in fünf Minuten fertig haben. Verstehst du das?«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Ich glaube, der Krieg hat uns verdorben. Gestehen wir, daß wir zu Unrecht zurückgekommen sind. Wir wissen so viel wie die Toten, wir müssen uns aber dumm stellen, weil wir zufällig am Leben geblieben sind. Diese Straße und dieses Amt, die Steuern und die Post und der Tanz und das Theater und die Krankheit, das Elternhaus und alles andere – alles kommt uns so lächerlich vor. Wir können vielleicht nur noch zwei Sachen, die uns beweisen, daß wir lebendig sind. Wir können gehorchen und befehlen. Aber lieber gehorchen als befehlen. Wir haben es als eine Art Gesellschaftsspiel getrieben. Denn da wir dem Tod geweiht waren, waren die militärischen Vorbereitungen für den Tod ja nur ein Spiel. Wir waren ebenso darüber hinaus, wie ernste Männer, die sich in der Eisenbahn die Zeit vertreiben wollen, über die Dominosteine erhaben sind, mit denen sie spielen. Aber es hat uns interessiert, das heißt, es hat uns abgelenkt. Heute denke ich, daß diese Welt, diese militärische Welt, die allerdings nur für Todgeweihte gut ist, eine sauber eingerichtete, bequeme Welt war. Sie ersparte uns das Leben, das Mühe bringt, Sorgen, das aus Plänen, Gedanken, Hoffnungen, Zusammenbrüchen besteht. Beim Militär gab es keine Hoffnung, keinen Plan, keine Gedanken. Um zwei Uhr dreißig mußt du zum Rapport erscheinen. Du weißt ganz genau, wie der Oberst aussieht, was er sagt, was er befiehlt, womit er dich straft. Es steht im Dienstreglement. Hat den Oberst der Schlag getroffen oder die Kugel, so steht dort der Major. Wenn er nicht da ist, der Hauptmann. Wenn niemand da ist, hast du dir selbst alles zu sagen, hast du alles zu tun, was für deinen Fall zutrifft. Wie herrlich ist diese Welt eingerichtet. Es gibt keinen Zweifel, keine Ungewißheit, kein Gewissen, keine Sorge. Gibt es kein Brot, so hungerst du. Fünfundzwanzig Zigaretten hast du im Tag. Um sechs Uhr früh wird marschiert. Um halb fünf Uhr weckt man dich. Um fünf Uhr bekommst du schwarzen Kaffee.«

»Hör auf!« rief Zipper. »Man könnte glauben, du rätst mir, wieder einzurücken. Es ist zu spät. Es gibt keinen Krieg mehr vorläufig.«

»Ich rate dir«, sagte ich, »eine Frau zu nehmen.«

»Soll ich mich verlieben?«

»Vielleicht sogar: dich verlieben. Auf jeden Fall hilft dir eine Frau. Sie hilft dir zu der Täuschung, daß du noch etwas in dieser Welt zu suchen hast. Sie will Kleider und Schuhe, eine Wohnung und Essen und manchmal ein Kind. Wenn du für etwas zu sorgen hast, bildest du dir leichter ein, du hättest auch für etwas zu leben.«

»Ich war ein einziges Mal verliebt«, sagte Arnold. »Wirklich verliebt. Kanntest du Erna Wilder? Sie war meine Nachbarin. Als Kinder trafen wir uns in der Früh, wenn wir zur Schule gingen, und wenn wir heimkamen. Ihre und meine Eltern hatten einmal eine Ferienreise gemacht. Wir waren in einem schlesischen Bad, wir bewohnten die gleiche Villa. Unsere Väter waren Geschäftsfreunde. Wilder ging es nicht glänzend, aber immerhin ging es ihm besser als meinem Vater. In jenem Bad konnten wir nur zwei Wochen bleiben, die Wilders blieben länger. Aber in der Erinnerung kommen mir diese zwei Wochen wie sechs vor – so viel habe ich dort erlebt. Ich war fünfzehn Jahre alt, sie war dreizehn, glaube ich. Den ganzen Tag spielten wir zusammen, da waren wir fast im gleichen Alter. Es gab einen Berg, man nannte ihn ›Gloriette‹. Ein Serpentinenweg führte hinauf. Unterwegs standen Bänke, Liebespärchen saßen dort. Bei Tag sahen wir sie nicht oder sahen an ihnen vorbei. Wir hatten Wichtigeres zu tun. Hirschkäfer zu suchen, Eicheln zu sammeln, Schmetterlinge zu fangen. Wenn es aber dämmerte, verwandelte sich Erna. Gingen wir an einem Liebespaar vorbei, so drängte sie sich einen Augenblick an mich, lief dann weg, wartete, bis ich sie erreicht hatte, und lachte leise. Es war dunkel, ich wußte nicht mehr, wie sie aussah, wenn sie zu lachen anfing. Es schien mir, daß sie sich in eine fremde Frau verwandelt hatte, es war nicht ihre Stimme, sie lachte nicht so, wie sie bei Tag zu lachen pflegte. Dann wollte ich sie fassen, um zu fühlen, daß sie es noch ist, die dort im Finstern lacht. Ich greife geradeaus und fühle ihre Brust, bin erschrocken, ziehe die Hand zurück, da läuft sie davon.

Am nächsten Morgen treffen wir uns im Park, und es ist so, als ob gestern die Nacht gar nicht gewesen wäre. Wir suchen wieder Hirschkäfer.

Einmal sah ich, wie ein älterer Herr auf der Kurpromenade sie anschaut. Dann will sie wieder zurück, obwohl wir auf dem Weg zur Wiese waren. Sie sagt, sie möchte ein Konzertprogramm sehen. Vor dem Pavillon, wo die Musik spielt, steht der Herr, und Erna lacht. Er kneift ein Auge zu, sie wird rot. Ich glaube, daß ich mich in diesem Augenblick verliebt habe. Ich kann nicht mehr so mit Erna spielen. Ich versuchte immer, mit ihr in der Dunkelheit auf die ›Gloriette‹ zu gehen, ich brenne danach, noch einmal ihre Brust zu berühren. Aber es gelingt nie mehr wieder.

Einmal war Fest im Kursalon. Ich stand da und sah, wie sie mit Offizieren tanzte. Am nächsten Tag wurde sie von vielen Herren gegrüßt. Sie war auch schon verändert. Sie hüpfte nicht mehr über die Straße wie gestern noch, sie ging wie eine Dame. Kam sie an einen Bach, in den sie früher oft mit den Schuhen gestiegen war, so blieb sie einen Moment stehen, ehe sie sich entschloß, ihm auszuweichen, die schmalste Stelle zu suchen. Dann mußte ich zuerst hinüber und ihr die Hand reichen. Ich liebte sie, ich hatte schlaflose Nächte. Dann fuhren wir weg. Ich war eifersüchtig, gekränkt, gedemütigt, ich haßte meine Eltern, weil sie kein Geld hatten. Ich träumte mir banale Geschichten zurecht. Ein Waisenhaus brennt, ich rette alle Kinder, mein Name steht in der Zeitung, sie kommt zu mir und bittet mich um Verzeihung und sagt: ›Du kannst meine Brust berühren, wenn du willst.‹

Dann, nach den Ferien, sah ich sie wieder. Wir sprachen aber nicht mehr miteinander, obwohl ich ihr oft nachging bis zum Haus und sie es gesehen haben muß.«

»Und was macht sie jetzt?«

»Man sagte mir, sie hätte sich im Krieg verlobt, die Verlobung sei dann zurückgegangen. Erna ist jetzt in der Schauspielschule, sie will Schauspielerin werden. Ich glaube, sie hat recht, wenn ich mich erinnere, wie sie in der Dunkelheit lachen konnte.«

»Wie lang habt ihr euch nicht gesehen?«

»Es werden zehn Jahre her sein. Ich weiß nicht, ob ich sie wiedererkenne.«

An diesem Abend begleiteten wir einander nicht mehr nach Haus. Es war eine kühle und neblige Nacht. Arnold verabschiedete sich sehr schnell. Es schien mir, daß er sich schämte.

Wir hatten so viel miteinander gesprochen, wir hatten uns eigentlich nichts mehr zu sagen. Er mochte fühlen, daß die Schweigsamkeit auf einem gemeinsamen Weg uns quälen könnte. Außerdem hatte er an eine alte Geschichte zum ersten Male nach Jahren gerührt. Tun wir es manchmal, so ist es, als hätten wir eine längst verstopfte Quelle wieder geöffnet und als müßten wir warten, bis der Strom sich besänftigt hat, der uns vorläufig bedrängt.

Vielleicht hatte Arnold den Wunsch oder die Sehnsucht, Erna wiederzusehen, und er wollte über den Weg nachdenken, auf dem er sie am besten treffen könnte. Vielleicht hoffte er, in ihr, mit ihrer Hilfe zumindest, seine Kraft und ein Ziel zu finden. Vielleicht war auch nur die Erinnerung an sie die schönste und leichteste Flucht aus dem schmalen Dasein, das er führte; und er wollte mit der Erinnerung allein sein, wie man auf einem Friedhof allein sein will.


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