Joseph Roth
Zipper und sein Vater
Joseph Roth

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XVI

An einem Sonntagnachmittag, an dem Erna auch mich eingeladen hatte, überredete ich Arnold, nicht im Wagen zu seiner Frau zu fahren, sondern mit mir zu Fuß hinauszugehen.

Es war ein warmer Sonntag, nach langer Zeit ein warmer Sonntag. Das Volk, »die gute Sache«, vor der Erna sich abschloß, wanderte in Scharen hinaus. Es war Spätsommer, eine letzte goldene Heiterkeit lag auf den Straßen. Die Bäume, die an den Rändern standen, ließen gelbe Blätter fallen.

»Ich bin dir dankbar«, sagte Arnold, »daß du mich bewogen hast, mit dir zu gehen. Seit einigen Jahren bin ich nicht mehr so ruhig gewandert. Erinnerst du dich noch an unsere Ausflüge mit meinem Vater?«

»Ja«, sagte ich, »ich erinnere mich an sie, als wären sie gestern gewesen. Dein Vater trug einen hellgrauen, steifen Hut mit einem noch heller getönten, gerippten, außerordentlich breiten Band. Es bedeckte fast den halben Hut.«

»Ein echter Habig!« zitierte Arnold.

»Ja, ein echter Habig. Auch einen Stock mit echtem Elfenbeingriff hatte dein Vater. Der Griff war einige Male abgefallen, er hatte ein lockeres Gewinde. Dein Vater legte Papier zwischen den Stock und den Griff, damit er besser halte. Wir gingen ins Krapfenwaldl, standen vor der Sobieski-Kirche, und dein Vater sagte: ›Dieser Sobieski wird gewaltig überschätzt. Die Wiener wären auch so mit den Türken fertig geworden.‹ – Der König Sobieski war ihm nicht sympathisch. Schließlich war er ein Patriot, ohne daß er es zugeben wollte – es sei denn im Krieg.«

»Gestern habe ich einen Brief von meinem Vater bekommen«, sagte Arnold. »Lies ihn!«

Ich las: »Mein innig geliebter Sohn« – blätterte um, und der altgewohnte Schluß war wieder da: »Ohne besondere Wichtigkeiten Dein Dich liebender Vater.« Der alte Zipper teilte seinem Sohn mit, daß er gesund sei und jede Woche dreimal ins Kino gehe. Dank seinen alten Verbindungen habe er Freikarten, die nur an Sonn- und Feiertagen nicht gültig seien. Nicht er – so schrieb der alte Zipper –, aber eigentlich die Mutter würde sich einmal freuen, wenn ihre berühmte Schwiegertochter einen Gruß schicken würde. »Ich kenne ihre Handschrift noch nicht«, schrieb der alte Zipper. Aber wenn er wüßte, daß sein Sohn glücklich sei, so mache er sich nichts aus der Schweigsamkeit vielbeschäftigter Menschen. Denn er kenne das, er wisse, was intensive Arbeit heißt.

Ich gab Arnold den Brief zurück. Er faltete ihn nach seiner Gewohnheit viermal und legte ihn in die Brieftasche. Dann schwiegen wir einige Minuten. Plötzlich sagte Arnold: »Die Väter ahnen doch, wie es den Söhnen geht. Wenn er wüßte, wie meine Ehe aussieht!«

Ich versuchte einen Scherz: »Was willst du? Ihr vertragt euch doch?«

»Mach keine Witze«, sagte Arnold. »Ich war nie im Leben glücklich. Ich war noch nie so unglücklich wie jetzt. Wenn du wüßtest, wie es in diesen Jahren zugegangen ist. Schon in Breslau fing es an. Wir wohnten im Hotel, in zwei Zimmern, die aneinander grenzten. Die Verbindungstür ließ der Hausdiener offen, als wir ankamen und er das Gepäck abstellte. Dann schickte sie mich hinaus. Sie zog sich um. Dann aßen wir. ›Ich will allein schlafen‹, sagte sie. ›Selbstverständlich‹, sagte ich.

Ich ging in mein Zimmer, ich las. Ich las ein Stück, in dem sie spielen sollte, machte Anmerkungen, stellte sie mir genau vor, ich liebte sie damals – nicht so wie heute. Ich liebte sie ganz kindisch, wahnsinnig, ich wollte jeden Augenblick mein Leben hingeben, und es schien mir noch zuwenig, ein einziges Leben. Ich träumte davon, daß ich sterbe, damit sie sich freue. Kurz: es war verrückt. Ich las also, auf einmal höre ich, wie sie an der Tür ganz leise den Riegel vorschiebt. Hätte sie es nicht vorsichtig getan! Aber sie wollte nicht, daß ich es höre – und siehst du, das war der große Schmerz.

Die ganze Nacht schlief ich nicht. Ich fand meinen Trost. Ich dachte, sie hätte den Riegel so leise vorgeschoben, um mich nicht zu stören. Sie wußte ja nicht, ob ich nicht schon schlafe. Ich klammerte mich so an diesen Trost, daß ich fürchtete einzuschlafen. Ich war glücklich und wach vor Glück.

Aber am Morgen klopfte ich, sie sagte: ›Sofort‹, und nun – nun schob sie den Riegel wieder ganz sachte zurück. Ich war so froh aufgestanden. Ich fand es ganz natürlich, daß wir nicht zusammen schliefen. Aber jetzt ging die Tür auf, ich haßte Erna plötzlich, sie muß es gesehen haben. Aber sie ist nie aufgeregt, immer gleichgültig, so viel klüger als ich und so reizend. Nicht?«

»Es tut mir leid, daß du verliebt bist!« sagte ich.

»Du magst sie nicht«, sagte Arnold, »ich weiß es schon lange. Du hältst sie für böse. Wenn man sie nicht liebt, kann man glauben, daß sie böse ist. Aber nur ich kenne sie. Niemand kennt sie.«

Nach einer Weile erzählte er weiter:

»Als diese Laune mit den Mädchen kam, war ich ahnungslos. Ich dachte, es wären harmlose Freundschaften. Wir wohnten damals noch zusammen, mein Zimmer lag neben dem ihrigen. Ich schlief sehr tief und erwachte plötzlich. Es schien mir, daß jemand geschrien habe. Ich klopfte an die Tür. Man schien mich nicht zu hören. Ich öffnete, sie erschraken, die kleine Anny war bei ihr. ›Was suchst du da?‹ sagte Erna. Ich entschuldigte mich. ›Ich habe rufen hören‹ – und wie ich in mein Zimmer zurückkomme, liegt die Anny in meinem Bett.

Am nächsten Morgen bin ich in die Pension gezogen.«

Er schwieg wieder. Er trat in einen großen Blätterhaufen und wirbelte ihn auf.

Dann begann er: »Ich verstehe sie dennoch. Niemand kann sie so gut verstehen – und ich warte.«

»Worauf?«

»Ich warte auf den Tag, an dem sie mich rufen wird. Jeden Tag glaube ich: jetzt kommt sie. Immer, wenn in meinem Büro das Telephon läutet, zögere ich einen Moment, bevor ich den Hörer fasse. Seit einem Jahr lebe ich in dieser Spannung. Wenn ich nach Hause gehe, auf der Treppe stockt mein Herz. Jetzt, denke ich, wartet sie drinnen. Dann sehe ich das leere Zimmer. Ich schaue noch einmal genau in alle Ecken, schlage die Vorhänge zurück, denn ich erinnere mich – einmal, ein einziges Mal – an eine Nacht, in der sie mit mir lustig war. Da hatte sie sich auch hinter dem Vorhang versteckt.«

»Und wenn dieser Tag niemals kommt?«

»Das gibt es nicht. Ich kenne sie genau. Sie wartet selbst auf diesen Tag. Sie weiß es gar nicht. Ich kenne sie besser, als sie sich selbst kennt.«

Wir kamen an ihr Haus. Das Dienstmädchen sagte:

»Die gnädige Frau ist gestern nacht abgereist. Hier ist ein Brief.«

Arnold steckte den Brief in die Tasche, ohne ihn anzusehen. Wir gingen den halben Weg schweigsam zurück. Dann kehrten wir in ein Kaffeehaus ein. Da las Arnold.

»Sie hat plötzlich wegfahren müssen«, sagte er. »Es wird ein Film in Ischl gedreht. Ich weiß aber nichts davon. Kann es ›Der tödliche Berg‹ sein? Oder ›Im Schatten der Riesen‹? – Es ist nämlich ein Märchenfilm, dort soll sie die Prinzessin sein.« –

Was hatten wir noch zu sprechen? Wir gingen auseinander.

 

Nach einigen Tagen sah ich in der »Illustrierten Zeitung« Erna an der Seite eines bekannten Schauspielers, der auf der Leinwand die Dämonischen gab, auf der Photographie aber ein Bergsteigerkostüm hatte.

»Die Kunst in den Bergen« hieß die Bilderreihe. Alle Jünger aller Künste trugen Alpenstöcke und waren ausgelassen vor Heiterkeit.

Es folgten zwei Monate, in denen Arnold nicht zu sehen war. Er kam nicht ins Kaffeehaus. Er kam auch nicht in den Klub. Ich besuchte ihn in seiner Redaktion.

»Alles«, sagte er, »hätte sie machen dürfen, nur nicht mit diesem Lümmel wegfahren. Die Aufnahmen für den Film ›Im Schatten der Riesen‹ beginnen erst in sechs Wochen. Wenn sie ihre Launen mit den Mädchen hat, das ist selbstverständlich. Aber wo soll das hinführen, wenn sie sich einmal mit einem Mann eingelassen hat? In aller Augen ist sie jetzt eine leichte Beute. Mit diesem Kerl! Er ist der dümmste! Er ist sogar unter Schauspielern der dümmste.

Ich hätte noch verstanden«, sprach er weiter, auf und ab gehend, »wenn sie eine außerordentliche Gelegenheit wahrgenommen hätte. Der Generaldirektor Hartwig zum Beispiel. Er bemüht sich seit Jahren um sie. Er wollte ihr eine komplette Filmgesellschaft einrichten, mit allem. Er wollte ihr das große Alga-Atelier schenken. Ich hätte mich sofort scheiden lassen, wenn ich gesehen hätte, daß sie es nötig hat.

Wenn von heute in einer Woche nichts kommt, nehme ich Urlaub und fahre hin!«

Arnold ging zum Schreibtisch, blätterte im Kalender und strich ein Datum rot an.

»Ich fahre!« sagte er.

Auf seinem Schreibtisch standen sechs Photographien seiner Frau. Erna in verschiedenen Kostümen und Rollen. Erna, Erna, Erna.

Da Arnold fortgehen wollte, legte er die Photographien in eine große Mappe und schloß sie in eine Lade.

»Ich lasse nie die Bilder stehen!« sagte er.

In diesem Augenblick brachte man Arnold ein Telegramm. Er ließ den Mantel, den er auf dem Arm gehabt hatte, fallen, den Hut und Stock. Seine Hände zitterten. Er hielt das geschlossene Telegramm einige Sekunden in der Hand. Dann ging er zum Fenster, wie um beim Licht besser zu lesen. (Denn es dämmerte schon.) Dann überlegte er eine Weile, ging zur Tür, drehte das Licht auf, zündete auch die Schreibtischlampe an, setzte sich, wie um eine größere Arbeit in Angriff zu nehmen, und öffnete das Telegramm.

»Ich reise sofort«, rief er und stürzte aus dem Zimmer.


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