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siehe Kapitelüberschrift

Derselbe

Er hieß Andreas Fürst. Er war mein erster Freund aus der Welt der Kunst und Wissenschaft. Ich sah zu ihm auf mit tiefster Verehrung, mit staunender Bewunderung, wie zu einem höheren Wesen. Den ersten Funken jenes Feuers, das wir Begeisterung nennen, senkte Fürst in meine junge Brust; ich erhielt von ihm meine geistige Feuertaufe.

Er war der Unterlehrer in unserem Dorf. Ich habe auch notdürftig das ABC bei ihm gelernt, sehr notdürftig, denn wir behandelten beide diese Wissenschaft mit großer Gleichgültigkeit. Und nicht bei diesem traurigen Geschäft, und nicht in der Schulstube entzündete er meinen erwachenden Geist. Von der Schulstube drückte er sich, wo er nur konnte, er meinte es gut mit uns. Aber meine Kameraden schienen das nicht zu begreifen. Sie hätten sich sonst vernünftiger betragen. Denn sobald Fürst die Klasse sich selber überlassen wollte, erhoben sie einen mörderischen Lärm und Tumult und nötigten den Zurückgezogenen, seine stille Tätigkeit aufzugeben und herbeizueilen und den nächsten Krakehlern das Fell zu gerben.

In seiner anderen Tätigkeit gerbte er auch Felle, aber nicht mit ungebrannter Asche.

Noch weiß ich sehr gut, wie ich zum erstenmale das Heiligtum seiner geheimnisvollen Kunst betrat. Es war an einem Winterabend und schon dunkel. Ich ging am Schulhaus vorbei, Fürst rief mich vom Fenster aus an. Ob ich nicht zum Hafner Henninger gehen und den bestellten Ton abholen wolle. Auch die Töpferwerkstätte betrat ich diesen Abend zum erstenmale, und die kreisende Scheibe, wo unter der Hand des Meisters der formlose Erdkloß zum vorgedachten Gefäß in leichter Bildung emporwuchs, erregte schon meine Phantasie, und ich wurde damit vorbereitet und gleichsam gestimmt auf das heilige Erstaunen, das ich nachher erleben sollte.

Eine hohe rote Mütze auf dem Kopfe, in einem faltigen grünen Schlafrock saß Fürst an seiner Arbeitslampe. Unter seinen Händen sträubte sich das Gefieder einer großen Ohreule. Die Lampe, von einem mächtigen Schirm überschattet, verbreitete nur ein leises Dämmerlicht über das Zimmer. Aber das war kein Zimmer, das sah aus wie eine Arche Noah.

Von der Decke schwebten, mit weit gespannten Flügeln, große Vögel hernieder, Eulen, Falken, Bussarde. Andere saßen an den Wänden auf dem Geäst von künstlichen Bäumen. Auf andern Bäumen hockten rote Eichhörnchen und knackten Nüsse, und ein gelbes Wiesel nahm ein Vogelnest aus. In einer Ecke duckte sich ein Fuchs ins hohe Gras und lauerte auf ein Feldhuhn, das nach Körnern pickte. In hochgetürmten Glaskästen nahmen die Tiere menschliche Haltung und Tracht an. Da wandelte ein Eichhörnchen im Schlafrock, die lange Pfeife rauchend. Andere, in roten Galaröcken, den Galanteriedegen an der Seite, stolzierten mit Damen in bauschigen Krinolinen. Daneben, in noch schöneren Kästen, sah man das Märchen vom Rotkäppchen und alle möglichen Tierfabeln in leibhaftiger Gestalt. Und wieder in anderen äfften die Waldbewohner ganze Szenen des menschlichen Lebens nach, hielten Hochzeiten und Kindstaufen und feierten Leichenbegängnisse.

In der Nacht darauf träumte ich von einem wilden Wald und einem Zauberer darin, bei dem die Tiere sich versammelten und mit menschlicher Sprache und Handlung auftraten, gerade wie es in Fabeln und Märchen erzählt wird. Und im Sinne dieses Traumes erschien mir seitdem Andreas Fürst. Ich dachte mir seine ausgestopften Märchen lebendig in bewegter Handlung, von seltsamen Stimmen durchtönt, und wenn ich in sein Laboratorium trat, verwunderte ich mich, alles in so toter starrer Haltung zu sehen. Ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn der Fuchs im Chorrock eine Predigt gehalten und die betreßten Eichhörnchen und ihre altmodischen Reifrockdamen einen zierlichen Ringeltanz aufgeführt hätten.

Und Fürst sah mein inneres Staunen, meine Begeisterung; er gewann mich lieb und rief mich oft zu sich. Ich durfte ihm im Mörser den Alaun stampfen, den er zum Gerben der Felle brauchte, und den Ton kneten, womit er den Rachen der Raubvögel ausstopfte, daß sie weit den Schnabel aufsperrten.

Ungefähr ein Jahr dauerte unser Verhältnis, dann wurde ich einmal lange krank, und als ich nach zwei Monaten wieder zur Schule ging, fand ich einen neuen Unterlehrer. Fürst war versetzt worden.

Aber ich vergaß ihn nicht. Im Gegenteil, da ich ihn leibhaftig nicht mehr sehen konnte, verhinderte nichts meine Phantasie, ihn und sein Werk so phantastisch und reich wie nur möglich auszustatten. Täglich war meine Phantasie geschäftig. Und Fürst und seine ausgestopften Wunder wurden in meiner Erinnerung je länger je lebendiger. Sie wuchsen schrankenlos ins Ungeheuere. Zuletzt konnte ich selber kaum mehr glauben, daß es in unserem armen Dorf einmal so wunderbare Dinge sollte gegeben haben.

*

Ueber ein halbes Jahrzehnt verging. Ich stand jetzt im vollen Knabenalter, im elften oder zwölften Lebensjahre. Da rollte eines schönen Sonntags eine Landkutsche ins Dorf hinein und hielt vor der Kegelbahn im Garten des Löwenwirts. Das sei der Fürst gewesen, der ehemalige Unterlehrer hieß es bald. Er sei nicht mehr Lehrer. Aber was er jetzt sei, erfuhr ich nicht.

Mir klopfte seltsam das Herz. Ich mußte ihn sehen, koste es was es wolle. Zum Glück wußte ich meinen Vater in des Löwenwirts Garten, und ich suchte mich unter irgend einem Vorwand an seine Seite zu drücken.

Ich ließ mich aber kaum im Garten blicken, als mir der alte Oberlehrer zurief. Er wollte freundlich gegen mich sein, ich sollte aus seinem Glas trinken. Ich näherte mich schüchtern dem Tisch, ich ergriff das Glas, ich nippte in bebender Aufregung ... Denn an diesem Tisch mußte er sitzen. Doch ich wagte nicht, die Augen aufzuschlagen.

»Kennen Sie den Paul Reinert nicht mehr, er war noch Ihr Schüler?« Der alte Schulmeister sprach die Worte, und ich konnte nicht zweifeln, an wen sie gerichtet waren. Ich stand also unmittelbar vor ihm ... Und ich nahm mir ein Herz und schaute auf, mit ehrfürchtigem Schauern.

Da saß neben dem Oberlehrer, in fast schlumpiger, unreinlicher Kleidung, ein dicker Mann mit Hängebauch und Doppelkinn ... Er sah mich mit ausdruckslosen Blicken gleichgültig an, er kannte mich nicht, er konnte sich nicht erinnern. Und kein Wort richtete er an mich.

»Du kannst wieder gehen, Paul«, sagte der Oberlehrer.

Da war der große Augenblick vorüber. Ohne meinen Vater erst aufzusuchen, schlich ich mich aus dem Garten.

Also dieser Mann dort, den ich nicht erkannte, dessen Blick meine Seele erkältete, daß sie zusammenschrumpfte, er sollte derselbe sein, bei dessen bloßer Erinnerung mir's warm ums Herz wurde, derselbe, der mir den ersten Funken jenes Feuers, das man Begeisterung nennt oder Entflammtheit der Künstlerseele, in die kindliche Brust gesenkt, den ich mir zum Mittelpunkt gemacht hatte von tausend bunten Phantasien, und der mir lebendig gegenwärtig gewesen war, in der schönsten Einsamkeit meiner jungen Jahre.

Ich konnte es nicht glauben. Die Leute aber sagten, es sei derselbe.


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