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Unter der Schuljugend von Hinterwinkel gab es eine Klasse von Privilegirten. Es waren die zum Kirchendienst Auserlesenen, die Handlanger des Priesters bei seinen sakramentalen Handlungen. Man hieß sie die Ministranten. An ihr Amt waren die wunderbarsten Vorrechte geknüpft.
Mit neidischer Bewunderung sah das Volk der »Kleinen« ihren Ornat, ihre fast priesterliche Gewandung, die roten Röcke mit den blauen Litzen und gelben Fransen, die scharlachfarbene pyramidale Kopfbedeckung mit dem blauen Wollballen auf der Spitze. Und mit andächtigem Grauen schauten sie Hin nach den Verrichtungen der Ministranten, dem Tragen der Standarten bei der Prozession, dem Handhaben der Zymbeln beim Hochamt, dem Einschenken des Weines beim Offertorium, dem Küssen des Meßgewandes nach der heiligen Wandlung, dem Schwingen der goldenen Rauchgefäße beim Ecci panis oder beim Tantum ergo. Jeder ordentliche »Kleine« brannte vor Ehrgeiz, diese Geschäfte eines Tages ebenfalls ausführen zu dürfen.
Aber nicht nur die heiligen Handlungen der Ministranten wurden ehrfürchtiglich angestaunt. Ihre Freiheiten und Frechheiten, die sie sich herausnahmen, wurden es fast noch mehr. Eine ganz besondere Verlockung dazu lag im Dienste des »Kohlenschlenkerers«. Zu seiner Aufgabe gehörte es, die Räucherkohlen während des Hochamtes glühend zu erhalten. Die Ministranten von Hinterwinkel bewirkten dies nicht mit einem Blasbalg: sie hatten sich hiezu eine eigene Methode erfunden. Der Kohlenwärter häckelte das Kohlenpfännchen des Rauchgefäßes mit seinem Henkel an ein eisernes Stänglein, und schwang es in der Luft hin und her. Wer das fertig brachte, ohne Kohlen zu verschütten, genügte seiner Aufgabe. Die meisten aber gingen darüber hinaus. Sie schwangen die lose befestigte Pfanne in weiten Kreisen über ihrem Kopf, so wuchtig, daß die Kohlen sich zur Flamme entfachten, die im Kampfe mit der hemmenden Luft ein lautes Fauchen hören ließ. Dieses Kunststück ausführen zu können, darauf tat man sich was zugute. Und der Kohlenschlenkerer stellte sich deshalb gerne so unter die Sakristeitüre, daß die »Kleinen« einen halben Blick nach ihm hinwerfen konnten. Die erbebten dann vor bangender Verwunderung. Die Phantasiebegabten glaubten den Cherub zu sehen mit dem flammenden Schwerte vor den Pforten des Paradieses. Von Zeit zu Zeit geschah es aber, daß dem Flammenschleuderer die Pfanne sich ausräckelte und in den Chor hinausfuhr, die Kohlen nach allen Richtungen auseinanderspritzend; dann bekam der Cherub Prügel.
Bei schönem Wetter hielt sich der Kohlenmann nicht in der Sakristei auf; er betrieb dann sein Geschäft auf dem Kirchhof, zu welchem eine Tür direkt hinausführte. Während die anderen, Sträflingen gleich, auf ihren Holzklötzen knien mußten, durfte sich der Feuerwerker im Grünen umhertreiben, in voller Freiheit.
In der Pflaumenzeit war das besonders schön, denn längs der Kirchhofmauer standen die Pflaumenbäume des Schulmeisters. Auch die noch harten Früchte waren dem Kohlenschlenkerer willkommen; er briet sie an seinen Kohlen.
In jeder Jahreszeit boten die Kohlen eine andere Annehmlichkeit. Im Spätherbst, wenn das Nußlaub von den Bäumen fiel und man die Nußblätter zu Zigarren drehte, konnte der Kohlenschlenkerer sie an seiner Pfanne dörren und anzünden. Wenn das widerspenstige Kraut auch hundertmal ausging, die Kohlen standen immer zur Verfügung. Im Winter hatte das Kohlenbecken gar sein Angenehmes, da konnte man die blaugefrorenen Finger darüber halten und wärmen. Und eines konnte man das ganze Jahr, nämlich die Schlenkerstange rot glühen und damit in Tische, Schränke und Vertäfelungen der Sakristei für ewige Zeiten seinen Namen einbrennen.
Was ein Fürstenhof für die Höflinge, das bedeutete die Kirche und der sie umgebende Kirchhof für die Ministranten. Sie durften sich hier frei tummeln, sie allein. Mit Höflingseifersucht hielten sie Alles fern, besonders alle Geringeren oder Kleineren.
Nicht einmal mehr den Toten gehörte der Kirchhof. Ihnen hatte die neue Zeit ihre Ruhestätte draußen, mitten im Ackerfeld angewiesen. Die Grabhügel um die Kirche waren eingesunken, die Kreuze vermodert und in alle Winde verweht; nur ein haushohes steinernes Kruzifix, uralt aus gothischen Zeiten stammend, stand einsam und erhaben mitten auf dem grünen Plan. Der ganze Kirchhof gehörte den Ministranten. Ueber den Toten der vergangenen Jahrhunderte wuchs Gras, auf dem Gras tummelten sich die Ministranten. Die unter dem Rasen verhielten sich mäuschenstill, die darüber gebärdeten sich umso lärmiger. Die wildesten Spiele spielten sie auf dem Kirchhofe, erlaubte und unerlaubte.
Das aufregendste von allen war das Schwedenspiel. Es gab nämlich in dem Kirchhof auch ein Schwedenloch und in dem Loch gab es Schwedenschädel. Sehr logisch waren die Benennungen nicht, aber sie waren historisch. Das Schwedenloch war eine schmale Oeffnung in der dicken Giebelmauer der Sakristei und führte in einen finstern Raum, wo man über gebleichte Schädel und Beinknochen stolperte. Auf den mürben Rebspalieren des Schulmeisters konnte man zu der Oeffnung hinaufklettern, aber nur ganz waghalsigen Kletterern gelang das schwere Stück.
Nach einer lebendig erhaltenen Ueberlieferung soll sich im dreißigjährigen Kriege der Pfarrer mit den Seinen in diesen Schlupfwinkel geflüchtet haben, der damals noch üppiger als heute von Reben verdeckt war. Dennoch haben die Schweden das Versteck aufgespürt, sie haben die weiblichen Angehörigen des Pfarrers zu Tode gekitzelt, dem Pfarrer den Leib aufgeschlitzt und den alten Mann seinen Vater haben sie an die Dachsparren genagelt. Daher hieß das Loch Schwedenloch und die Schädel, seltsamerweise, Schwedenschädel. Und im Zusammenhang damit stand das Schwedenspiel der Ministranten.
Seine Zeit war der Advent, die vier letzten Wochen vor Weihnachten und der Wintersonnenwende, die Tage, in denen es nie Tag wird. Und so ist es am Morgen, bei der Messe, noch stockfinstere Nacht. Dennoch geht zu dieser Zeit Alles in die Messe, jeden Tag, denn es ist eine heilige Zeit, und täglich nach dem heiligen Opfer erhebt der Priester seine Hände zum Himmel und fleht: » Rorate, coeli, justum«, Tauet, Himmel, den Gerechten.
Da es finster ist, zündete sich jeder Kirchenbesucher ein eigenes Licht an. Ein Licht anzuzünden in der Kirche ist zugleich eine symbolische Handlung der Andacht. Kein weibliches Wesen kommt darum in die Kirche ohne einen Wachsstock, diese dünnen und unendlich langen Kerzen, die kunstreich gewunden und verschlungen und mit Gold und schönen Farben geziert sind. Die Wachsstöcke der reichen Bäuerinnen wiegen viele Pfund, die der armen Leute sind geringer. Bei ihnen muß die Muttergottes Nachsicht haben. Denn ihr zu Ehren vor allem werden die Lichter gebrannt. An sie denkt auch der Priester, wenn er betet: » pluvant nubes eum« Wolken regnet ihn herab. Doch manche Frauen denken an andere Heilige, an den heiligen Antonius von Padua, um etwas Verlorenes wiederzufinden, an den heiligen Florian, daß er Haus und Hof vor Feuer beschütze, an den heiligen Wendelin, daß er das Vieh bewahre vor Krankheiten und bösen Seuchen. Und dabei ist kein Unrecht, denn alle sind ja Heilige Gottes.
Für ein Kinderauge ist das sehr schön, eine Kirche mit vielen Hunderten von flimmernden Lichtlein, das gibt ihm eine Vorahnung des Weihnachtsbaumes. Und viel Wachs tropft beim Brennen zu Boden. Und beim Aufwickeln der wächsernen Windungen in der kalten Kirchenluft springen ganze Stücke vom Wachsstock ab. Diese Abfälle gehören den Ministranten. Sie sammeln sie ein; unmittelbar nach der Messe machen sie sich daran. Die Lichter sind ausgelöscht; die Kirche ist wieder nächtlich dunkel. Wie eine Schar großer Ratten huscht es da durch das Kirchengestühl und raschelt und kratzt und scharrt, wie in hungriger Hast; denn die »Wachsschaber« müssen sich beeilen, um rechtzeitig in die Schule zu kommen. Von dem erbeuteten Wachs verfertigen sie sich selber kleine Kerzen. Sie werden zu Lichterziehern, alle ohne Ausnahme. In jedem Haus, an jedem Ofen sitzt einer und schmilzt und formt. Und was er um den Docht zusammenklebt, das wälzt er mit der Handfläche auf Tisch oder Bank und gibt ihm Festigkeit und Glätte. Die also gewonnenen Kerzen finden ihre großartigste Verwendung im Schwedenspiel.
In den Abendstunden, wenn es bereits Nacht ist, wird das gefährliche Spiel heimlich eingeleitet. Der schönste Schnee ist gefallen, die Gelegenheit günstig, man trifft alle Verabredungen. Die Ministranten sind wie verwandelt. Gleich Verschworenen stecken sie die Köpfe zusammen. Niemand scheint etwas zu merken. Nur die weibliche Schulhälfte steckt auch die Köpfe zusammen aber mit erschrockenen Gesichtern. Doch die Mädchen müssen sich vor den Buben fürchten, sie schweigen. Sie schweigen schon aus bloßer Neugierde.
Dann ist die Stunde gekommen. Auf dem Kirchhof wird es lebendig. Die Ministranten bis auf den letzten Mann sind versammelt. Bei großer Schweigsamkeit beginnt ein reges, geschäftiges Treiben. Schnee rollen sie auf und machen Schneemänner, ein halbes Dutzend an der Zahl, schön im Kreise herum, doch alle ohne Köpfe.
Indessen wächst die Aufregung, die Ministranten scharen sich unter dem Schwedenloch zusammen. Sie scheinen zu zögern. Sie schauen sich ängstlich um. Einige machen Gebärden, als ob sie die übrigen warnten. Da hat sich einer entschlossen. Er hängt sich einen Sack auf den Rücken, und, von den andern unterstützt, beginnt er an den Spalieren hinaufzusteigen. Im Schwedenloch verschwindet er. Ein dumpfes Gepolter dringt eine Zeit lang aus der finsteren Höhle.
Dann erscheint der Eindringling wieder in der Oeffnung. Sein Sack ist nicht mehr leer. Behutsam steigt er nieder. Und mit enthusiastischen Lobsprüchen und rückhaltloser Bewunderung wird er von den Kameraden empfangen. Alles vollzieht sich in gedämpftem Flüstern. Dann nimmt sich jeder seinen Anteil aus dem Sack – einen Schädel. Jedem Schneemann wird ein Totenkopf auf den Hals gesetzt. Ihre Kerzlein haben die Ministranten schon über dem Hals auf einem Stück Holz befestigt, sie brauchen sie jetzt nur anzuzünden.
Und wie erschrocken vor ihrem eigenen Werk weichen sie zurück. Es graut ihnen vor den grinsenden Phantomen mit den feurig glotzenden Augen, und je weiter sie sich entfernen, desto grausiger ist der Anblick. Aber sie haben es so gewollt. Ihr selbst bereitetes Entsetzen ist ihnen ein großer Genuß. Auch wissen sie, daß vorn an der Kirchenstaffel eine Anzahl Mädchen mit noch tieferem Grauen dem gespenstischen Spiel heimlich zuschauen ...
Ein allgemeines Schneeballenwerfen nach den weißen Männern mit den feurigen Augenhöhlen beschließt das Schauerstück.
Doch manchmal kommt der Schulmeister dazu oder gar der Herr Pfarrer, und gibt, als ein richtiger deus ex machina, dem Spiel eine neue unerwartete Wendung.