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In einer Stadt lebte ein reicher Jüngling, der war durch den frühzeitigen Tod seiner Eltern rasch zu großem Reichtum gelangt. Da er es verstand, seine Güter durch geschickte Handelsgeschäfte zu vermehren, galt er als einer der wohlhabendsten Bürger der Stadt. Er hatte einen großen Kreis von Schmeichlern und Schmarotzern um sich gesammelt; aber die Gerechten und Gutgesinnten achteten ihn gering; denn es war stadtbekannt, daß dieser vermögende Mensch mit ausgelassenen Gefährten sich mancherlei Ausschweifungen ergab.
Eines Tages sprach der Jüngling in einer übermütigen Laune bei einem Festmahl zu seinen versammelten Freunden: »Suchet mir die schönste Jungfrau meiner Vaterstadt, und ich schwöre euch, daß sie in drei Tagen meine Frau sein soll.« Darauf hielten seine Freunde Umschau unter den Mädchen der Stadt, die in jungfräulichem Alter waren, und übereinstimmend erklärten sie ein und dasselbe Mädchen für das schönste der Stadt. Gleichzeitig aber wurde bekannt, daß ihr Vater der ärmste unter seinen Mitbürgern war. Dieses Zusammentreffen belustigte den reichen Jüngling, und er redete zu sich selber: »Um so mehr Erfolg wird meine Werbung haben.«
Seinen Freunden erklärte er: »Richtet euch darauf ein, in zwei Tagen zu meiner Hochzeitsfeier zu erscheinen.« Damit ging er zu dem ersten Juwelenhändler der Stadt, kaufte ein Perlenhalsband um hunderttausend Denare, begab sich zu dem Vater jenes Mädchens und bat ihn, seiner Tochter, die als die schönste Jungfrau ihrer Vaterstadt gelte, seine Verehrung bezeigen zu dürfen. Der Vater rief seine Tochter herein; der Jüngling staunte über ihren Liebreiz, erklärte sie für die schönste Jungfrau der Stadt und bat, ihr die Perlenschnur, die er mitgebracht hatte, als Geschenk überreichen zu dürfen.
Das freudig überraschte Mägdlein wollte schon die Hand nach dem Geschmeide ausstrecken, als der Vater dazwischentrat. Er hieß seine Tochter hinausgehen und fragte den Jüngling nach dem eigentlichen Zweck seines Besuches. Jener antwortete: »Gib mir deine Tochter zur Frau.« Und der Vater entgegnete: »Ich habe dir den Anblick meines Kindes nicht vorenthalten wollen; denn es ist nützlich für die Männer, zu wissen, daß die Schönheit einer Frau ihre Reinheit ist. Allein ich mag dir trotz meiner Armut meine Tochter nicht anvertrauen, weil es stadtbekannt ist, daß du Jugend und Reichtum in dunkeln Freuden vergeudest.«
Damit entfernte er sich, und der gedemütigte Jüngling ging beschämt von dannen. Unterwegs fiel ihm ein, daß der Stadtrichter ein Freund seines verstorbenen Vaters war. Zu diesem ging er hin, überreichte ihm die Perlenschnur und sprach: »Ich bitte dich, der du ein Freund meines verstorbenen Vaters gewesen bist, dieses Halsband für deine Gattin annehmen zu wollen.« Der Richter betrachtete das Halsband, schätzte es auf hunderttausend Golddenare und erwiderte: »Womit kann ich mich für dieses Geschenk dankbar erweisen?«
Der Jüngling erwiderte: »Willst du mir einen Dienst erweisen, dann verhilf mir zu der Frau, die ich zur Gattin erwählt habe. Es ist die Tochter unseres ärmsten Mitbürgers, allein ihr Vater verweigert sie mir mit dem Stolz eines Königs.« Da lächelte der Richter und sprach: »Komme kurz vor Sonnenuntergang wieder; dann hörst du aus seinem eigenen Mund die Einwilligung des Vaters.« Er steckte das Halsband ein, und der Jüngling verabschiedete sich.
Der Richter ließ alsbald einen Schuldschein auf vergilbtem Papier ausfertigen, darin bestätigte ein gewisser Mensch, von seinem Mitbürger zehntausend Denare erhalten zu haben, und verpflichtete sich, gegen Vorweis dieses Schriftstückes den vollen Betrag mit den angefallenen Schuldzinsen zurückzuerstatten. Hierauf ließ der Richter den Vater des schönen Mädchens kommen, zeigte ihm den Schuldschein mit der Unterschrift seines längstverstorbenen Vaters und sprach: »Dieser alte Schuldschein, den dein längstverstorbener Vater ausgestellt und niemals eingelöst hat, war lange verschollen. Heute ist er wiedergefunden worden. Der edelmütige Sohn deines Gläubigers ist bereit, den Schuldschein zu vernichten, wenn du ihm zum Ersatz deine Tochter zur Frau gibst. Andernfalls darf er sie als Sklavin übernehmen, weil es dir unmöglich sein wird, die zehntausend Denare zurückzuzahlen.«
Der Vater war starr vor zornigem Schrecken; dann aber sammelte er seine Gedanken im Vertrauen auf die Gerechtigkeit der Gottheit und entgegnete: »Ich bin bereit, meine Tochter gegen diesen Schein einzutauschen.« Der Richter lobte seine Einsicht, öffnete die Tür, ließ den reichen Jüngling, der draußen bereits wartete, eintreten und redete ihn an: »Dieser ehrenhafte Mann übergibt dir hiermit seine Tochter als Gattin.« Der Vater erkannte den Jüngling wieder und sprach nur dies zu dem Richter: »Ich habe dir mein Wort gegeben und werde es nicht brechen.« Dann zerriß der Richter den Schein, und der Alte wandte sich an den Jüngling mit den Worten: »Hole dir deine Braut, wann es dir beliebt, da du sie ohnehin bereits betört hast; aber verlange nicht, daß ich sie dir zuführe.«
So wurde am dritten Tage in jener Stadt eine Hochzeit gehalten, wie man sie prunkvoller seit langem nicht erlebt hatte. Viele Hochzeitsgäste waren anwesend, nur der Vater der Braut war nicht zugegen. Er hatte sich vorher aus der Stadt entfernt und sein Häuschen der Obhut eines Nachbarn anvertraut.
Als das junge Ehepaar nach der Hochzeit allein war, da begab sich etwas Seltsames: Plötzlich weiteten sich die Augen der glückstrahlenden jungen Frau, sie legte die Hand auf die Stelle des Herzens und zitterte am ganzen Körper. Ihr Mann griff ebenfalls hin und fand, daß die Stelle fischkalt war. Weder seine noch ihre Hand vermochte diese Stelle zu erwärmen. Das Frösteln aber schüttelte heftig den Körper der Frau, und seitdem hörte man bei Tage und bei Nacht unausgesetzt die gleichen klagenden Worte von ihr: »Mich friert! Mich friert!«
Ihr Mann war untröstlich, hüllte sie in warme Kleider und wollene, weiche Decken, reichte ihr feurige Getränke, ließ Heilkünstler und weise Frauen kommen, die ihren Körper zu erwärmen trachteten – aber alles war zwecklos. Und wenn sie stundenlang in dem herrlichen Garten in der Sonne gebettet lag, wimmerte sie immerfort: »Mich friert! Mich friert!« Da erkannte der Ehemann, daß dies die Strafe für das bittere Unrecht war, das er dem Vater seiner Frau angetan hatte. Zu der Reue, die gleich einem Wurm an seiner Seele zu nagen begann, gesellte sich das Mitleid mit seiner jungen Frau, und beides läuterte die Seele dieses Mannes, so daß er seinen bisherigen Lebensgewohnheiten völlig entsagte und ein rechtschaffener Mensch wurde, der viel Gutes tat und seine Gattin zärtlich behütete.
Der Zustand der jungen Frau aber wollte sich nicht bessern; unausgesetzt beantwortete sie seinen Zuspruch mit den ständigen klagenden Worten: »Mich friert!« und ungezählte Male griff ihre kalte Hand nach der Stelle des Herzens. So vergingen drei Monate, und dem jungen Paar war noch keine einzige glückliche Stunde beschieden worden. Beide waren innerlich davon überzeugt, daß der schwergekränkte Vater den Gott der Gerechtigkeit gegen seine Kinder angerufen hatte; aber keiner traute sich, es dem andern einzugestehen.
Was sie befürchteten, war wirklich geschehen. Am Hochzeitstag war der Vater des Mädchens nach einem berühmten Heiligtum aufgebrochen, um dort Trost zu suchen in dem ihm widerfahrenen Leid. Sieben Wochen dauerte der Bittgang. Als er endlich an dem Heiligtum angelangt war und eifrig die vorgeschriebenen Andachtsübungen verrichtete, hörte er nachts im Traum eine Stimme, die zu ihm sprach: »Laß dein Herz weich statt zu Stein werden! Verzeihe deinem Kinde, das mit einem kalten Herzen behaftet ist, und verzeihe ihrem Mann, der ein Gerechter wurde durch die auferlegte Buße. Lege bei der Heimkehr einen roten Lotus, wie sie um diesen kleinen Tempel blühen, deinem kranken Kind auf die Stelle des Herzens, und alles wird gut enden.« Dreimal vernahm der alte Pilger im Traum dieselben Worte während dreier Nächte. Am dritten Tage dankte er dem Heiligen, grub eine der roten Lotusblumen neben dem Heiligtum mit den Wurzeln aus samt dem Erdreich und pilgerte heimwärts. Die Lotusblume aber blühte unterwegs täglich schöner und voller auf. In der siebenten Woche langte der Alte wieder in der Heimat an. Ohne vorher nach seinem Häuschen zu sehen, suchte er das Haus seines Schwiegersohnes auf, und als er den herrlichen Garten betrat, da erblickte er seine kranke Tochter, wie sie, in warme Decken gehüllt, mit müdem Antlitz und geschlossenen Augen in der Sonne ruhte. Neben ihr saß ihr Mann, streichelte ihre Hände und flüsterte ihr zärtliche Worte zu. Dann gewahrte er den Vater seiner Frau, und er neigte seinen Mund zu ihrem Ohr. Sie öffnete langsam die Augen, erkannte ihn, zitterte stärker als vorhin und streckte ihm die Hand entgegen. Und der alte Mann fühlte, daß die Hand seiner Tochter fischkalt war, und er vernahm ihr leises Wimmern: »Mich friert! Mich friert!«
Da brach der Alte den Lotusstengel, legte der Tochter die rote Blume auf die Stelle des Herzens, und siehe, in demselben Augenblick begannen die toten Augen der jungen Frau in altem Glanz zu leuchten; ihr Körper straffte sich; geschmeidig wie eine Gazelle sprang sie auf ihre Füße, griff mit der Hand nach dem Herzen und rief aus: »Ich fühle, wie mein Herzblut wieder warm durch meinen Körper rieselt!« Sie ergriff die Hand ihres staunenden Gatten, legte sie an ihr Herz, und die Stelle war warm. Da fielen die beiden dem Alten zu Füßen, und er gab ihnen nachträglich seinen väterlichen Segen.
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