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Ein Gewohnheitsdieb, der durch sein schlechtes Gewerbe schon ein vermögender Mann geworden war, drang eines Nachts bei einem Menschen ein, den er für einen Schatzgräber hielt. Dieser Mensch besaß aber keine verborgenen Schätze, wie ein böser Nachbar dem Einbrecher anvertraut hatte, vielmehr lebte er mit seiner Frau und seiner Tochter in sehr dürftigen Verhältnissen.
An dem Tage, da der Dieb ihn heimsuchte, war das erwachsene Mädchen die Heerstraße entlang zu Verwandten gewandert, um von diesen ein Säcklein Reis zu erbetteln. Die Eltern erwarteten ihre Heimkehr am folgenden Mittag.
»Möge unser Kind einen recht großen Sack Reis heimbringen«, sprach die Frau vor dem Einschlafen. Der Mann antwortete nicht; denn müde von des Tages Arbeit war er bereits eingeschlafen.
Mitten in der Nacht wurden Mann und Frau durch ein Geräusch aufgeweckt. Vor ihrem Lager stand ein Mensch und verlangte von dem Mann einen seiner verborgenen Schätze. Als dieser beteuerte, daß er bettelarm sei, nannte der Einbrecher ihn einen Lügner und bedrohte ihn mit dem Messer. Der Mann schwur ihm: »Ich will meine Frau verstoßen, wenn ich nicht die Wahrheit sage.«
Darauf rief die Frau: »Ei, du böser Mann, mich möchtest du verstoßen, weil ich weiß, daß du in der Kammer nebenan den Schatz verborgen hast.«
Der Ehemann blickte sie sprachlos an; die Frau aber forderte den Einbrecher auf, er möge auf ihren Mann so lange losschlagen, bis er ihm die Tür der Nebenkammer geöffnet habe. Als dies geschehen war, stieß der Einbrecher den Mann beiseite und stürzte in die Kammer. In demselben Augenblick hatte die Frau ihren Mann zurückgezogen, die Kammertür zugesperrt und verriegelt. Dann rief sie dem Einbrecher drinnen zu:
»Gehab dich wohl, du Bösewicht, und bereite dich darauf vor, daß du gepfählt wirst; denn ich werde sofort die Nachbarschaft zu Hilfe rufen, während mein Mann dich bewacht.«
Dem Einbrecher wurde bange zumute. Weil er befürchten mußte, daß nun auch seine früheren Diebstähle ans Tageslicht kamen, war er um sein Leben besorgt. Deshalb verlegte er sich aufs Bitten und sprach in dem sanftesten Ton, der ihm möglich war: »Gute Frau, seid nachsichtig und gebt mich gegen ein hohes Lösegeld frei.«
»Das würde dir passen,« erwiderte die Frau, hieltest du nicht vorhin in deiner Hand ein scharfgeschliffenes Messer, du schlimmster aller Schelme?«
»Hier ist es«, antwortete der Einbrecher kleinlaut und schob das Messer durch die Türspalte am Boden. Die Frau ergriff es, versteckte es, gab dann ihrem Mann einen dicken Stock in die Hand und rief ihm zu:
»Bist du ein Mann oder ein verprügelter Hund?«
Darauf zahlte der Mann dem Eindringling die erlittene Mißhandlung mit derben Stockhieben heim. Als dieser sich zur Wehr setzen wollte, rief die Frau: »Keinen Laut, oder ich rufe die Nachbarn und Häscher zusammen!« Dann zu ihrem Mann gewandt: »Sage mir doch, lieber Mann, wieviel rückständigen Metzins schulden wir eigentlich unserm Hausherrn?«
»Fünfzig Silberlinge«, lautete die Antwort, während der Mann weitere Stockhiebe austeilte.
»Ich zahle euch gern die Miete, wenn ihr mich laufen laßt«, beteuerte der Dieb.
»Wieviel schulden wir noch dem Bäcker?« fragte die Frau.
»Ebenfalls fünfzig Silberlinge«, erwiderte der Mann und verprügelte den Mann weiter.
»Das macht zusammen hundert Silberlinge«, rief der Dieb jämmerlich. »Ich zahle sie euch, wenn ihr mich laufen laßt.«
»Was meinst du, lieber Mann,« fragte die Frau weiter, »wieviel Mitgift unsere Tochter, die wir bald verheiraten müssen, wohl nötig hat?«
»Ich denke, hundert Silberlinge«, entgegnete der Mann und hörte nicht auf, den Einbrecher zu verprügeln.
»Ich zahle euch die zweihundert Silberlinge, aber gebt mich frei«, jammerte der Dieb.
»Noch eins,« sprach die Frau und wandte sich an den Verprügelten, »ach, du lieber Einbrecher, mein guter Mann wünscht sich schon lange Geld, um Waren zu kaufen, mit denen er einen kleinen Kramladen eröffnen will. Wieviel Geld braucht er wohl dazu? Ich rechne hundert Silberlinge.«
Da begann der Einbrecher zu fluchen und zu schwören:
»Dreimal will ich meine Frau verstoßen, wenn ich nur die Hälfte von dem besitze, was ihr beide von mir erpreßt!«
»Gut,« sprach die Frau, »dann will ich sogleich hingehen und deine Frau befragen, ob du die Wahrheit sagst. Warte inzwischen ein Weilchen.«
Während ihr Mann den Einbrecher bewachte, ging sie selbst nach dem entgegengesetzten Stadtviertel in das Haus des Diebes. Sie klopfte bei dessen Frau an und teilte ihr mit, was vorgefallen war. Zugleich zeigte sie ihr als Beweisstück das Messer ihres Mannes.
Die Frau überlegte nicht lange und zahlte ihr das ausbedungene Lösegeld von vierhundert Silberlingen aus; denn sie wußte, daß ihr Mann gepfählt würde, wenn seine Diebstähle ans Tageslicht kämen.
Wohlgemut ging die Frau im Morgengrauen heim, zeigte ihrem Mann die vierhundert Silberlinge, und dieser ließ den Einbrecher laufen.
Die Frau konnte sich nicht enthalten, ihn noch zu fragen:
»Sage uns, bester Dieb, wann wirst du nun wiederkommen, um den verborgenen Schatz bei uns zu holen?«
»Oh, du böse Zunge,« lautete die Antwort, »ich werde mich wieder einstellen, wenn du ein zweites Mal vierhundert Silberlinge brauchst, um eure Schulden zu zahlen, um eure Tochter zu verheiraten und einen Kramladen zu eröffnen.«
Und zornig schlich der nächtliche Dieb davon.
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