Lou Andreas-Salomé
Das Haus
Lou Andreas-Salomé

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIV.

Bei Mandelsteins ging alles drunter und drüber, fand Thesi; Klingelzeichen morgens erwartete sie längst nicht mehr so früh. Ferien hatten begonnen, aber nirgends doch dermaßen wie bei Mandelsteins.

Der Schwiegervater klagte über den Schwiegersohn. Branhardt stellte nämlich bekümmert fest, wie wenig für ihre beruflichen Interessen und Gespräche Markus jetzt tauge. »Woraus wieder einmal hervorgeht, weshalb Ärzte nicht heiraten sollen!« schloß Branhardt mit einem Leibsprüchlein, das er nur anbrachte, wenn er vom Gegenteil am überzeugtesten war. Auch Anneliese konnte wohl zufrieden sein, denn immer hatte sie ja für Gitta noch eigentliches Flitterwochenglück erwartet. Zwar fand sie sie einmal in so bitteren Tränen vor, wie Gitta sie noch kaum jemals geweint, und man mußte sich noch freuen, daß sie kindischem Gram galten: um ein Haar wäre die ganze Gitta, mit dem Kopf über eine Gasherdflamme gebückt, in Feuer aufgegangen. Nun war bloß der Madonnenscheitel auf der rechten Seite bis auf nackte Haut niedergebrannt. Das junge Mädchen von einst hätte den Schaden mit besserem Humor ertragen als jetzt die junge Frau, dachte Anneliese beim Anblick von Gittas fassungslosem Jammer. Sie setzte das arme Opfer, in den Frisiermantel gehüllt, vor den Spiegeltisch und ersann verschmitzte Möglichkeiten, um Ärgstes wenigstens zu vertuschen. So genau hinsehen würde Markus nicht – über so was ließen Männer sich in eigenem Interesse ganz gern hinwegtäuschen, tröstete sie, und schon ward Gitta wieder heiterer. Unglücklicherweise kam es dann jedoch anders. Während Anneliese abgerufen wurde, um für ihre tränen- und feuerentstellte Tochter unten im Hause etwas zu erledigen, war Markus heimgekommen. Bei Anneliesens Rückkehr ins Zimmer sah sie die beiden einander – beide weinend – gegenüberstehen. Markus stampfte dabei fast rhythmisch den Fußboden. Gitta hatte die Augen fest zugekniffen, gerade als ob sie sich sonst selber auf den Kopf sehen könnte: sie sah sich in seinem Gesicht!

Anneliese stand starr. War denn das ein Mann, war das nicht ein Junge, dem irgendein Spielzeug zerbrach? Fiel ihm denn gar nicht ein, vor wie Schrecklicherem seine Frau bewahrt geblieben war? Fiel ihm nicht ein, daß es zunächst galt, ihr darüber hinwegzuhelfen?

Nein, ihm fiel nichts ein als sein eigener Jammer grenzenloser Enttäuschung. Gitta und ihr Haar gehörten für ihn so wunderlich zusammen. Gerade weil an sich nichts damit los war: nur durch die Art, wie es sich ihren persönlichen Absichten fügte. Bei ihren wechselnden Haartrachten kam ihm dies immer wie ein Geheimnis vor: daß sie, je nach Belieben, wenig Haar hatte oder viel. Und nun sollte sie, so gänzlich gegen ihre Absicht, auf einer Kopfseite überhaupt keins haben, diese Kopfseite wie ein Plakat gänzlicher Ohnmacht jedem zur Schau tragen. –

Anneliese entfuhr ein Schrei. Mit beiden Händen hatte Markus ihre Tochter gepackt, schleppte sie zurück auf den Stuhl am Spiegel, ergriff eine der dort liegenden Scheren und sauste damit über Gittas unschuldiges Haupt hin. Metzger mit seinem Messer – nein, ärger noch erschien es Anneliese –, fast wie ein Henker nahm er sich dabei aus. Deutlich – roh deutlich schien ihr – drückte sein Gesicht aus, daß das Feuer sich da an etwas vergriffen habe, woran ihm Recht zustand – an seinem Besitz.

Ratzekahl schor er sie.

»Herunter muß es!« sagte er einsilbig, hart, benommen. Und immer mehr weiches, dunkelblondes Haar fiel unter Gittas großer Zuschneideschere.

Branhardt gewöhnte seine Umgebung genugsam an rasche, die andern nicht immer berücksichtigende Handlungsweisen, doch dies empfand Anneliese unausweichlich bestimmt: daß er auf ihre eigenste körperliche Person bei dergleichen nie so ohne weiteres Hand gelegt haben würde wie auf Eigentum. Anneliese schalt sich selbst, aber das Wort »haremshaft« kam ihr. Altes Vorurteil stand in ihr auf wider Markus. Warum ließ Gitta sich das überhaupt gefallen – diesen glattgeschorenen Sklavenkopf?! dachte sie, nun auch unverhältnismäßig erregt.

Doch die hatte ganz andere Sorgen. Am Ende der Behandlung tat sie die zugekniffenen Sehwerkzeuge weit auf, sah aber auch jetzt nicht in den Spiegel, sondern, sich wild herumwerfend, Markus voll in die Augen.

»Sag', ohne zu lügen: Vogelscheuche?«

Er nickte wahrhaftig! Kräftiges, unzweifelhaftes Nicken.

»Aber nein! Keine Spur! Durchaus nicht! Für mich gar nicht!« rief Anneliese empört. »Haar ist gar nichts! Nachbleibsel vom Tierfell! Gehört gar nicht zum Menschen! Was liegt denn an Haar!«

»Und besonders: es wächst nach!« sagte Markus. »Die gute Mumme! Am Ende siedelst du nun lieber ein wenig ins Berghaus über, bis du wieder etwas mehr bei Haaren bist?«

Endlich ein Ton von Humor. Gitta legte ihren ratzekahlen Kopf ganz hintenüber in Markus' dagegengehaltene offene Handflächen, ganz tief hinein drückte sie ihn und murmelte:

»Du! – wie warm – da hab' ich dich noch nie so gefühlt.«

»Das glaub' ich wohl. Es ist ja auch nagelneu erworbene Provinz. Bisher lag sie stets vergraben unter irgendeiner ehrfurchtsvoll zu behandelnden Frisur, der ich nichts Übles nachreden will, denn von den Toten soll man nur Gutes reden, aber sie war Nagel zu meinem Sarge.«

Aber Gitta schien noch mehr auf den warmen Trost der Hände als auf den scherzenden der Worte zu lauschen.

»Schön ist es – wie schön dies Gefühl! Lieber ist mir, glaub' ich, deine Hand als mein Haar. Du – hab' keine Augen jetzt, nur Hände –, o hab' tausend, tausend Hände, da bin ich gar nicht mehr häßlich!«

Markus stand und blickte schweigend auf sie nieder, auf ihren kindlich erzitternden Mund, und seine Lider waren gesenkt, so daß Anneliese den Ausdruck dahinter jetzt nicht sehen konnte.

Sie wollte auch nichts sehen.

*

Niemand war entsetzter über Gittas »Glatze« als Balduin. Er stellte sich seitdem die hübschesten Mädchenköpfe, denen er begegnete, nur noch als Billardkugeln vor und fühlte bei dieser Vornahme den Entschluß zum Zölibat in sich bedeutend reifer werden. Gitta freilich machte sich bald nichts mehr aus ihrem tragischen Geschick, und Markus, das konnte ihm ja wohl der Blindeste ansehen, blieb nach wie vor in seinen Kahlkopf verliebt trotz Balduins unermüdlichen Hinweisen auf die ästhetische Unstatthaftigkeit dieses Zustandes unter diesen Verhältnissen.

Denn Balduin stand sich mit Markus wieder gut, seit er selber neuerdings heiterer und umgänglicher seiner Holzveranda entstieg: was man allerseits feststellte, ohne Gründe dafür zu wissen. Sah man sich aber insbesondere Balduins Beziehung zu Markus an, so schien einer der Hauptfäden, die sie verknüpften, äußerst dünn zu sein: er bezog sich nämlich fast bloß auf den Umstand, daß Markus seine junge Schwiegermutter gewohnt war, schlechtweg »Anneliese« zu nennen, und daß Balduin hiervon Vorteil zog: es einfach nachmachte, es auch nach Hause trug und endlich es zu seinem Leibwort erhob.

Er behielt sich vor, Schwester und Schwager sogar während der Ferienreise im Tiroler Gebirge zu besuchen, denn zur Verwunderung der Seinen hatte er für sich selbst die Einladung eines ehemaligen Schulgenossen in die Dolomiten angenommen – noch dazu eines ihm nie sonderlich befreundet gewesenen.

Branhardts wollten an die See gehen, an die dänische Nordspitze, wo sie vor Jahren äußerst glückliche Zeit verlebt hatten. Renate ließ Anneliese aber nicht fort, ohne daß diese sie in der Sommerfrische auch ihrerseits einmal besuchte. Als nach ein paar Tagen Anneliese zurückkam, war es nur, um Balduin seine Sachen einzupacken.

Denn das war jedesmal große Angelegenheit, auch wenn es nur kleinstem Handkoffer galt, und diesmal bestand Balduin überflüssigerweise auf zweien. So unberechenbar blieb es, was er von Mal zu Mal benötigte. Außerdem: obgleich in seinen Schubfächern und Schränken eine fast ängstliche Pedanterie wie bei jungen Mädchen herrschte, so wurden doch alle Dinge zu schnell von ihm beschädigt, verbraucht. Gitta, weit weniger ordentlich, nutzte dagegen ihre Sachen so bis zum Überdruß ab, daß man sie endlich meist fortgab, um sie nur los zu sein.

Balduin »half« der Mutter, indem er in seine Schlafkammer immer noch mehr Sachen für sie heranschleppte.

»Knapse mir nur nichts davon ab! Denke an alle Möglichkeiten – man kann nie wissen, wie weit man noch kommt, Anneliese!« mahnte er vergnügt.

Sie freute sich schon lange seiner muntern Laune; so schmale, schelmische Augen hatte der Balder nur, wenn es fröhliche Gedanken dahinter gab. Viel in ihm herumzufragen, traute sie sich jedoch nicht; ihre einzige Frage – damals nach ihrer Unterredung mit Branhardt –, ob er dem Vater nicht was zum Lesen vorlegen wolle, hatte Balduin nur in heftiger, abwehrender Stummheit beantwortet, mit Gebärdenspiel aber, das sich am mildesten noch hohnlachendem Todeskrampf vergleichen ließ.

So beschränkte Anneliese sich seufzend auf rein Praktisches.

»Nun gut, gut, an den Siebensachen soll es schon nicht fehlen! Damit du schöne Ferien hast da bei dem Jungen«, bemerkte sie, gebückt über die geöffneten Koffer.

»Na – der Junge? Da wüßt' ich mir wahrlich Schöneres«, meinte er, die Miene viel zu pfiffig.

»Was denn nun noch?!« Anneliese blickte schon besorgt auf. »Du möchtest doch nun mal am liebsten mit dem zusammen sein.«

»Hör', was ich am liebsten möchte: ein Käferchen sein, dem Sonne auf die Flügeldecken scheint, während es bald klettert und bald purzelt. Die Sonne aber, die müßtest du sein. – Mehr kannst du nicht verlangen, als daß ich dich an den Himmel versetze, Anneliese.«

Sie überzählte ein Dutzend neuer Taschentücher für ihn. »Sonne bescheint es vor allem, damit es immer besser klettert und immer weniger purzelt«, meinte sie beiläufig.

Allein da kam sie schlecht an. »Das hat gewiß der Vater von der Sonne behauptet!« entschlüpfte es Balduin, und als sie erzürnt auffuhr, faßte er sie an beiden Armen und küßte sie mitten ins Gesicht. »Nein, nein, ich sag's nicht wieder – sei nicht böse, aber – die Sonne, Anneliese, ist gar nicht so – sie scheint wirklich gar nicht deshalb!«

Die Mutter schüttelte ihn ab: »Halt jetzt deinen losen Mund! Ich komm sonst nie hier zu Ende.«

Dabei dachte sie innerlich betroffen: der unartige Junge läßt mich Frank nachreden – Frank behauptet, ich rede dem Jungen nach dem Willen –, worin stecke denn eigentlich ich selbst noch?!«

Eine ganze Zeitlang ließ er sie in Ruhe kramen. Er saß auf seinem Bett, neben dem beide Handkoffer auf Stühlen auseinandergelegt waren. Dann sagte er langsam und jenseits aller Pfiffigkeit:

»Hör'! Ich muß dir schreiben können. Dir. Wenn ich nun schreibe, wird der Vater jeden Brief mitlesen wie sonst, als er an euch beide gerichtet war?«

»Gewiß. Das ist ja nicht nur Pflicht und Recht, sondern seine ganze Liebe zu dir, Balder; die muß das ja wollen.«

»Ich weiß!« Der Sohn sah sie aus seinen ernstgewordenen, großgewordenen Augen an. »Weshalb versicherst du mir das erst noch?! Ich weiß ja. – Trotzdem aber muß ich dir schreiben können, Anneliese, ebenso, wie ich jetzt spreche. Nicht wahr, das könnte ich doch nur zu zweien.«

Anneliese richtete sich hoch, setzte sich neben dem Bett hin. Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Das geht nicht, Balder. Wie sollte das angehen? Wo man sich so viel sieht, da geschieht es eben mal zu zweien, mal zu dreien. Wo man so wenig beieinander sein kann, brieflich, da besucht man seine Eltern nicht absichtsvoll getrennt.«

Aber sie verstand ihn. Und konnte nicht umhin, sich zu gestehen: Irgendwann einmal wäre auch solch ein Wunsch trotzdem nicht unerfüllbar gewesen. Zusammen hätten die Eltern über den wunderlichen Kauz gelacht, der die Hälfte dem Ganzen vorzog – irgendwann einmal: aber jetzt nicht mehr.

Stille war darüber entstanden, die sie, in ihre Gedanken vertieft, nicht beachtete. Sie hörte nur auf einmal Balduins Stimme sagen – hörte sie auch recht?

»Unter Chiffre, Mutter. Du mußt nachfragen am Postschalter unter B. B.«

Noch stiller wurde es in der Kammer darauf. Unheimlich still.

Balduin, den Kopf gebückt, blickte mit flimmernden Augen von unten auf und traf voll in den Blick der Mutter, der ihn durchdrang wie schmerzender Stahl.

Anneliese hatte ihre Hände im Schoß ineinandergedrückt, gewaltsam, als ob sie es fühlen müsse, um sich daran zu wecken:

»Was tat ich – Kind, mein Junge –, tat ich Unrecht – daß du glauben konntest – daß du sagen durftest – – –«

Sie sprach in leblosem Ton, ganz eigentümlich starr.

Das ertrug Balduin nicht. Er stieß sich die Hände vor die Augen.

»Verzeih – verzeih, nun denkst du schlecht von mir, denkst: Betrug. Und ich, der ich von dir geliebt sein wollte – geliebt bis zur Schlechtigkeit – ganz! Wahnsinn, ich weiß wohl: fordern, immer nur fordern – und eigene Leistung Null! Wahnsinn – hab' mich nicht mehr lieb.«

Anneliese blieb stumm. Er schlug sich selbst, sie konnte ihn nicht noch schlagen. Und mitten in ihr war ein so wunderlich scharfes Gefühl wach für das, was ihr Kind in die Unaufrichtigkeit riß. Nicht frei sein – nicht frei! Selbst bis ins letzte Lieben und Vertrauen immer noch irgendein Müssen!

Schon als winziger Wicht von kaum ein paar Jahren hatte der Balder mit niemandem anders spielen wollen als mit ihr. Alles, was er fand oder besaß, hatte er ihr dafür zugetragen: Grasbüschel, Soldaten, Steinchen, den Hampelmann. Und alles mußte sie sein, was er benötigte: Gemüsefrau, Schornsteinfeger oder Kaiserin. Sie brauchte nicht viel zu tun: nur stillhalten.

War's mit dem Bübchen anders als mit dem großen Jungen jetzt? War's nicht gerade ebenso auch jetzt Unreife, Hilflosigkeit, aus der er ganz von selbst herauswuchs – um reifer und fertiger seinen beiden Eltern entgegenwachsen zu können?

Und handelte sie nicht im Sinne von Branhardts eigenster Jugend, wenn sie dem Sohn diese Möglichkeit erhielt? In seinem eigenen Freiheitssinn, den ihm doch nur Sorge um den Jungen für den Augenblick verengte?

Lange saß Anneliese ganz still. Dann hob sie den Kopf:

»In Stunde der Not – dann, wenn du es einmal nicht missen kannst – sollst du es haben. Und ob es so ist, darüber wirst du dir selbst Richter sein. Wenn ein Brief dann kommt an mich allein, wird niemand ihn lesen als ich allein.«

Balduin fielen die Hände vom Gesicht, das sich immer tiefer in ihnen vergraben, es strahlte daraus empor – ungläubig, entzückt. Im unendlich Kindlichen, Hellen, das urplötzlich darüber ausgegossen lag wie anderes Leben, erinnerte es an Gittas Ausdruck.

Er sprang vom Bett, wie Sturmwind wollte er seine Mutter umfassen, als ihn ihr Anblick hemmte, und daß sie so still dasaß.

Unmöglich war es, laut oder unter Küssen zu danken. Mit sich nehmen würde er den Dank müssen. Ihn bei sich behalten. Ihn halten, bis er sich festwuchs in ihm wie ein Keimchen – sein eingesenktes Lebenskeimchen, aus dem alles Neue ward.

Als Anneliese bald nach ihm die Treppe in die Wohnzimmer hinabstieg, begegnete ihr, hinaufspringend, Renate, die zum letzten Male herüberkam vor ihrer Abreise.

Noch außer Atem griff sie nach ihr:

»Was ist denn geschehen, Liese?«

»Geschehen? Geschah denn etwas?« Anneliese erschrak übereilt und viel zu sehr.

»Nein, ich wollte nur sagen: warum siehst du so aus? Am Ende schliefst du da oben? Dann hat ein mächtiger Traum dich besucht, der eben erst aus deinem Gesicht hinausgeht und vor dir hergeht.«

Allein eine ganz andere Frage bedrängte Renate zu ungeduldig, seit Anneliese bei ihr in der Sommerfrische war: »Ich hab' dich ja keine Minute unter vier Augen ungestört sprechen können! Und hätte doch so gern – gleich – deinen Eindruck gewußt.«

Sie nahm sie um die Hüfte und ging langsam neben ihr hinunter.

Anneliese antwortete lächelnd:

»Eindruck: ganz vorzüglich! Und was Merkwürdiges ist für mich dabei: denke dir, dieser blonde, junkerliche Kopf – er erinnert mich an jemanden – vielleicht nur dem Typus nach.«

Renate lachte auf, mit etwas trockenem Ton.

»Das wollte ich nur hören! – Wie sollte er dich nicht erinnern? Nämlich an ein paar meiner früheren ›Selbstrettungsversuche‹, die wir gemeinsam kennenlernten.«

»Aber, Reni! Wie redest du denn nur von ihm!« Anneliese machte, aufrichtig ärgerlich, sich von ihrem Arm frei.

»Sei still, Liese! Nur nicht sich bemogeln! Sieht er nicht so aus, wie meine eigene Familie ihn mir nicht besser hätte wählen können – oder sogar für sich selbst gewählt haben würde? Siehst du: in solchen Fällen triumphiert eben augenscheinlich etwas recht Typisches über die individuelle Renate.«

»Jetzt hörst du auf«, sagte Anneliese energisch und schob sie in die Eßzimmertür; »zum Glück kommen gleich der Frank und der Balder.«

»Hör' nur zu Ende – also: über die individuelle Renate und deren schlechten Geschmack. Da triumphiert eine ältere, abgetragene Ich-Auflage – so eine von Muttern abgelegte. Sei nicht böse! Es ist ja das viel, viel bessere Ich!«

Wußte man im Hause auch »offiziell« nichts von der Wandlung in Renates Leben, so nahm sie doch gewissermaßen stillschweigende Glückwünsche entgegen, ausgedrückt in einem Schluck Sekt – wobei Anneliese ihr Glas an Renates klingen ließ mit den geflüsterten Worten: »Heim und Frieden, Reni.« Branhardt gefiel die Wendung, die die Dinge genommen hatten, mehr als gut, und das halb Offenbare, halb Verheimlichte lieh der Stimmung ein aufmunterndes Etwas, so daß sie ein wenig schäumte gleich dem Sekt. Vielleicht trug am meisten Balduin dazu bei, und aus ähnlichen Gründen: denn auch in ihm prickelten Glückserwartungen hoch, daß er es kaum mehr aushielt. War es schon ehedem Renate mitunter aufgefallen, so an diesem Abend noch mehr: wie so gar nicht krankhaft Balduin wirkte, wie sein Gesicht auf einmal bedeutend werden konnte und der ganze Mensch mit den unbestimmten Zügen und dem schmächtigen Wuchs unbegreiflich schön. Stand ihm die Alpenfahrt als etwas so Köstliches bevor? fragte sie sich. Eher glich er doch jemandem, der schon ganz fest angesessen ist im Wunderland seiner liebsten Sehnsucht – eingekehrt für immer. Schließlich vertiefte sie sich mit ihm in so ernsthaftes Zwiegespräch über literarische Zeitwerte und Selbstwerte, daß sie es weder beachtete, als Branhardt telephonisch zur Stadt berufen ward, noch auch, daß Anneliese hinterher nicht mehr hereinkam. Erst als der Wagen vorfuhr, sie im Regenwetter an ihren Lokalbahnzug in die Sommerfrische zurückzubringen, sprang sie auf, Anneliese zu suchen.

Anneliese saß im dämmerigen Wohnzimmer am Flügel. Fast unwiderstehliches Verlangen hatte sie dorthin getrieben, in Tönen zu lösen, was auch sie all die Stunden hindurch zurückgedrängt in sich trug. Aber wenn sie Tasten berührte, so ging ja alles – ihr Geheimstes noch – laut, wie Jubel oder Weinen, durch das Haus.

Diesen herrlichen Flügel, den hatte Branhardt ihr geschenkt, als sie das Haus bezogen – ihm »eine Seele zu verleihen«. Noch war es im Hause öde gewesen, die Möbel unterwegs, die beiden noch so kleinen Kinder bei Freunden untergebracht. Als Anneliese beim ersten Eintritt den Flügel erblickte, da hatte sie mit hellem Jauchzen ihren Mann umfaßt und im Wirbeltanz mit sich herumgedreht. Und weil doch kein Mensch zusah, tanzten sie, von Ausgelassenheit gepackt, gleich weiter nach alter Walzermelodie, die Anneliese dazu sang. Bis sie mitten drin stehenblieben, atemlos, und sich einen Kuß gaben und sich sagten, daß alte Liebe ihnen treu bleiben solle auch in neuem Heim.

Das war schön und lustig gewesen.

Hände im Schoß, Kopf gesenkt, saß Anneliese vor den Tasten. An der alten Walzermelodie glitten ihr die Gedanken immer weiter rückwärts, ins Elternhaus, wo sie sie zuerst gehört. Wo sie, als Kind, mit den Schwestern dazu getanzt hatte, wenn die Mutter ihnen aufspielte – die nichts weiter gekonnt als nur den einen Walzer, und auch den nur zur Hälfte. Aber tanzen wollten sie doch alle, spielen mußte sie. Die ganze Mädchenfreiheit und Kinderfreude kam mit dieser Erinnerung herauf. Die alte Mutter noch einmal wiederzuhaben, sie, die nie im geringsten begreifen konnte, was ihren fünf Mädeln alles zu Kopfe stieg, und deren Güte allein ihnen dann doch jeden Wunsch ermöglichte – die selbst mit dem Unzulänglichsten noch Wunder von Lebenslust ihnen schuf wie mit dem Walzer. Eine Mutter haben –

Renate kam endlich an die Wohnzimmertür und öffnete sie. Aber ebenso schnell ließ sie sie wieder zusinken – verdutzt. War das möglich?! Eine geschlagene Stunde saß Anneliese da an ihrem Flügel, und er blieb stumm?

Nur um meine eigenen Schicksalsverzwicktheiten drehe ich mich herum: und beachte darüber nicht, was ihr geschehen mag! dachte Renate, auf sich erbost und furchtsam zugleich. Argwohn krampfte sich ihr ins Herz: war etwa nicht alles, wie es sein sollte? War auch Liese, sie, mit ihrem Lebenstalent, manchmal nur wie Kreatur unter ihrer Bürde?

Hell und heiter erklang als Antwort darauf die altmodische Walzermelodie.

*

Balduin reiste als erster ab, am frühen Morgen darauf Branhardts, zum Zug geleitet von Tochter und Schwiegersohn. Als Gitta mit Markus aus der Bahnhofshalle trat, ging kräftiger Gewitterguß nieder, der sie im Wagen heimtrieb; Markus jedoch fuhr nicht nach Hause, denn er war in größter Besorgnis um zwei seiner Äffinnen, die tags zuvor gefährlich erkrankten; ständig pflegte und beobachtete er die kostbaren Tiere. Hieran nahm Gitta nun den allertiefsten Anteil; daß sie seine Affen mit so »ganz anderer Liebe liebte« als er, verschlug in diesem Falle nichts; die so verschieden begründeten Gefühle der beiden glichen sich dabei wie ein Ei dem andern, und sie redeten miteinander davon wie besorgtes Elternpaar, nur daß hier der Mann den Pfleger und Wärter darstellte.

Gitta blieb den ganzen Tag allein; paar Leute fragten nach Markus, Telephon klingelte; dann verstummte alles Geräusch. Nur Regen trommelte und tropfte. Warten entleert die Zeit. Allmählich begann auch Gitta Sachen zur Ferienreise zurechtzulegen, die ja nur noch die erkrankten Lieblinge verzögerten. Dabei kamen ihr Papiere zu Händen, aus denen es sie anblickte wie aus anderer Welt: engbeschriebene Papiere mit Arztstempel. Daß das noch existierte, ganz unbekümmert um sie selbst – daß es nicht plötzlich aufgehört hatte zu sein vor Wochen! Nein: – es bestand. Aber wie sie es nun wieder las, begriff sie: im Grunde bestand es doch nicht, so wenig davon zu verwirklichen, zu formen hatte sie verstanden. War es nicht wunderlich, um wieviel besser dies ihr schon beim bloßen Hinlesen jetzt aufging? Unmöglich konnte es sich doch inzwischen in ihr weitergeformt haben, dafür war ja nicht der kleinste Raum, nicht der kürzeste Bruchteil von Zeit in ihrem Innern gewesen. Allein es blieb Tatsache.

Manche damalige Schwierigkeiten lösten sich geradezu spielend. Andere nicht sofort – aber gerade dies Schwierige an ihnen gliederte sich in lauter Glückszuversichten einsetzender Arbeit.

Gitta ging im Eßzimmer, dem längsten Zimmer, auf und ab. Von Zeit zu Zeit stellte sie sich an den Eßtisch und kritzelte mit Bleistift auf großen Bogen mit Arztstempel weiter.

Während sie die Stube durchmaß, blieb ihr Gesicht streng, stirngerunzelt, als ob sie sich mit kleinen Kindern raufe. Es waren aber nur die Wörter, die sie so hernahmen.

Einmal kam Thesi mit Störung. Sie hatte aus Markus' ledernem Junggesellenkoffer seinen Touristenanzug hervorgeholt, den sie lüften und durchsehen sollte, und mit wahrer Gemütsbewegung an Wadenstrümpfen zwei Mottenlöcher entdeckt.

Gitta ging mit und suchte nach entsprechender Stopfwolle, immer mit gleichem strengen, beinah drohendem Gesicht; Thesi bezog es auf die Motten.

Sie kam auch nur noch einmal herein, mit Teegeschirr, und hob das Abendessen aus dem Aufzug.

Nach neun Uhr hörte man Markus' Drücker in der Flurtür. Markus war erstaunt und erfreut, seine Frau noch vor unberührtem Teezeug zu finden, auf ihn wartend mit Abendbrot. Sie mußte ja ganz einfach gehungert haben! Er wenigstens brachte Wolfshunger mit.

Gitta hörte tiefernst zu, wie er ihr den gegenwärtigen Stand der Äffinnen auseinandersetzte. Ihr Gesicht rührte ihn: wie es so voll innerster Sammlung dabei war, um der Leiden der Kreatur willen. Doch gerade heute, zum erstenmal, lag ihr nicht vor allem an Affen.

Sie schaute vielmehr Markus auf den Mund, aufmerksam, als läse sie ihm die Worte von den Lippen. Aber sie vernahm gar nicht Worte, sondern mit ihr selbst unfaßlicher, hassenswürdiger Gespanntheit verfolgte sie nur, wie er im Reden kaute. Denn trotz Hungers wollte er sie doch über die Sachlage verständigen.

Gitta hatte es wohl an sich gekannt, daß dergleichen Dinge sehr plötzlich, ganz unvermittelt in ihr eine Art böses Interesse erwecken konnten; lachend hatte sie auch mal gesagt: das käme ihr allzu menschlich an Menschen vor, dies sichtbare, nur bestenfalls nicht hörbare Kaugeschäft. An Markus jedoch war ihr weder dieses noch überhaupt jemals irgend etwas nicht recht gewesen. Und es bereitete ihr tiefes, kindisches, unsagbares Herzeleid, als sie sich dabei ertappte, ihm mit solchen Augen zuzusehen.

Ich verzeih ihm ganz einfach nicht, daß er Tee laut schluckt! dachte sie schwer und dachte weiter, daß sie ihn doch hatte lieben wollen, selbst wenn er siebenfacher Raubmörder wäre.

Ohne die Augen von ihm zu lassen, erwog sie flüchtig, ob sie denn nicht den Blick auf anderes Stück seines Körpers ablenken könnte – und ward von der Furcht durchschauert: es werde Stück für Stück damit dasselbe sein.

Noch immer saß Gitta steif am Tisch. Markus mochte es doch zuletzt wohl merkwürdig erscheinen. Er faßte sie liebkosend ans Kinn: »Schläfrig – Gittl?«

Sie zuckte mit dem Kinn zurück. Ihre Verstellungskraft war nicht phänomenal. Markus bekam schreckweite Augen: »Gittl – was ist?«

Sie versuchte sehr ruhig zu sagen: »Schläfrig nicht« – aber da brach es schon weiter aus ihr heraus, heiser und zitternd vor unterdrückter Wildheit:

»Nein, nur allein – nur endlich allein – schlafen!«

Markus sprang auf. Er starrte sie an. Sie sah es, suchte sich verständlich zu machen, gab es auf und fiel mit dem Gesicht auf den Tisch, es in ihren Armen vergrabend:

»Ich weiß – man spricht nicht so – benimmt sich nicht so – warum, Herrgott, warum habt ihr mich auch heiraten lassen – ich – die Nächte wenigstens – laß mich die Nächte allein.«

Sie stieß das hervor, verstört, undeutlich, gehemmt vom Schluchzen.

Regungslos – ohne auch nur eine Gebärde – stand Markus noch auf demselben Fleck, regungslos auch sein Gesicht, worin, ungeheuer lebend, nur die Augen sprachen.

Immer von neuem dachte er: jetzt dies – nach diesen Wochen – –

Minuten vergingen, wie Stunden erschienen sie ihm.

Einmal ging ihm durch den Sinn: nie eigentlich »gekämpft« hatte er um Gitta – sie war ihm stets so unbeeinflußbar erschienen. Nur von selbst bis zu ihm gelangen konnte sie – nicht erobert: kampflos – und nur aus Tiefen, die noch unterhalb aller Verschiedenheit liegen, aller Banalität, Geltung, Rasse. Er dachte: War es schon zuviel, daß wir damals das Schweigen brachen zwischen uns? Dies heute geschah, weil wir es brachen. Unsere Einigkeit war Wirklichkeit. Jetzt behauptet das Leben das Gegenteil, und das Leben behält gegen uns recht.

Markus stand fast hölzern in der Mitte der Stube; aus unbewegtem Gesicht schien sein Blick weit hinausgerichtet, über Gitta, in Letztes.

Kein Wort fiel.


 << zurück weiter >>