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Ein gefährliches militärisches Geheimnis.


Das schier Unglaubliche hatte sich ereignet! Was man vor vier Wochen noch für ganz unmöglich gehalten hatte, war eingetreten: die Franzosen hatten vom 24. Oktober 1806 ab nach und nach die Stadt Berlin vollständig besetzt, und am 27. Oktober war sogar der Kaiser Napoleon unter dem Geläute der Glocken und dem Donner der Kanonen mit großem Gefolge in unerhörter Pracht durch das Brandenburger Tor in die preußische Residenzstadt eingezogen.

Die Bevölkerung blickte erstaunt auf den gewaltigen Eroberer, der sozusagen im Handumdrehen den preußischen Staat zertrümmert hatte und bereits wieder zu neuen Kriegstaten gen Osten gezogen war. Wie ganz anders war doch noch die Stimmung in Berlin vor wenigen Monaten gewesen! Die Offiziere blickten damals mit voller Siegesgewißheit in die Zukunft und wetzten übermütig und unter prahlerischen Drohungen ihre Säbel an den Stufen des französischen Gesandtschaftsgebäudes, und der General Röchel äußerte auf einer Parade bei Potsdam, solcher Generale, wie der Herr von Bonaparte einer sei, habe die Armee Seiner Majestät mehrere aufzuweisen. Er solle nur kommen, man werde schon bald mit ihm fertig werden! Natürlich waren da auch alle Bürgersleute der besten Hoffnungen. Viele Prahlhänse taten sich wichtig, indem sie in den Ton der Offiziere einstimmten, und taten, als wüßten sie es ganz genau, wie der Napoleon mitsamt seinem Heere zusammengehauen werden würde. Und nun diese Enttäuschung, dieser furchtbare Umschlag! Eine entsetzliche Kleinmütigkeit befiel die meisten; sie wußten zunächst gar nicht, was sie denken und hoffen sollten; der Boden war ihnen sozusagen unter den Füßen weggezogen. Wenn sie einmal etwas weiter um sich zu schauen wagten, so sahen sie immer nur den Schlachtenheros Napoleon, dessen Größe in ihren Augen immer mehr wuchs.

Hier und da gab es aber denn doch immer noch den einen oder den anderen, der sich in prahlerischer Breitspurigkeit, in der man sich vor dem Kriege allgemein bewegt hatte, auch noch weiterhin gefiel. Zu diesen gehörte auch der Wirt des Gasthofes »Zur Festung Graudenz« in der Dorotheenstraße. Er war sechzehn Jahre Korporal unter dem großen Friedrich gewesen, und meinte nun, daß er sich während dieser Zeit hervorragende kriegswissenschaftliche Kenntnisse erworben habe. Überhaupt blickte er mit großer Befriedigung auf seine militärische Glanzzeit zurück und hatte denn auch, als ihm der Gasthof »Zum goldenen Engel« durch Erbschaft zugefallen war, den Namen des Gasthofes alsbald geändert und ihn »Zur Festung Graudenz« genannt. In Graudenz hatte er die letzten zehn Jahre seiner Militärzeit gestanden, und dort hatte sich auch, wie er meinte, die Glanzzeit seines Lebens abgespielt. Er war als zuverlässiger Mann zu verschiedenen Vertrauensstellungen herangezogen und in militärische Geheimnisse eingeweiht: worden, so daß er, wie er gern erklärte, Graudenz wie seine Tasche kenne. Das sollte ihm aber verhängnisvoll werden. –

Ein kalter unfreundlicher Februartag des Jahres 1807 neigte sich zu Ende. Die Leute eilten, aus den zugigen Straßen in die Häuser zu kommen, und selbst die französischen Soldaten, die sich sonst gern noch lange in den Abendstunden auf den Straßen und Plätzen herumtrieben und mit dem Übermute des Siegers ihre losen Scherze besonders mit den jungen Mädchen trieben, waren heute fast gar nicht zu erblicken. Der scharfe Nordost pfiff eben gar zu unangenehm. Um so behaglicher war es im Gasthofe »Zur Festung Graudenz«. In der Wirtsstube gab es auch heute, wie fast immer, eine laute Unterhaltung. Der Wirt war besonders aufgelegt, wußte allerlei Schnurren aus seiner Militärzeit zu erzählen und stellte dabei natürlich sein Licht nicht unter den Scheffel. Die Gäste blieben selbstverständlich auch nicht stumm; denn es gab ja in diesen Kriegszeiten immer viele Neuigkeiten, aber die sachgemäßen Erklärungen zu den Schlachten, Märschen, Einnahmen von Festungen und allen strategischen Ereignissen gab doch immer der Wirt; er war ja noch sechzehn Jahre Korporal unter dem großen Friedrich gewesen und verstand alle militärischen Angelegenheiten von Grund aus. Er wies denn Kaiser Napoleon daher auch gelegentlich diesen und jenen Schnitzer nach und bemerkte sogar bisweilen, wenn er, der Korporal Eduard Wollschläger, damals bei Jena dem Kaiser gegenübergestanden hätte, so würde manches anders gekommen sein. Neuerdings beschäftigte man sich viel mit den Ereignissen im Osten. Alle Welt blickte jetzt mit beklommenem Herzen dorthin, wo die preußischen Heere noch immer mit den französischen rangen. Ein besonderes Interesse erregten die Festungen Kolberg, Danzig, Graudenz, die nicht wie Magdeburg, Hameln und Stettin gleich auf den ersten Ansturm der Franzosen gefallen waren, sondern sich noch mit allen Kräften wehrten. Vor allem war es Graudenz, das immer wieder genannt wurde, denn dort verteidigte der alte General Courbière die Festung mit der größten Hartnäckigkeit und vereitelte alle Versuche des französischen Generals Savary, die Festung einzunehmen.

Das interessierte den Wirt Wollschläger natürlich im höchsten Grade. Er setzte seinen Gästen ausführlich die Anlage und Beschaffenheit der Festung auseinander, auch heute wieder, und knüpfte diesmal sogar die Bemerkung daran: »Ja, wenn er nur reden wollte, dann würden die Franzosen sich nicht mehr lange zu plagen haben!«

»Na, reiß' nur den Mund nicht gar so weit auf!« warf da aber sein Gevatter Lautenberg ein.

Der Wirt blickte sich verwundert nach dem Sprecher um, strich sich mit der Rechten bedächtig über seine lange rote Schoßweste und musterte dann seine Gäste. Es waren heute bei dem schlechten Wetter gar keine französischen Soldaten da, nur Nachbarsleute, dann der Buchhändler Wenzel, einige kleine Beamte und der Sprachlehrer Règnier. Der letztere war ja allerdings ein Franzose, aber er lebte schon seit vielen Jahren in Berlin, auf den brauchte man also doch wohl keine Rücksicht zu nehmen.

»Du mußt nicht über Sachen sprechen,« versetzte Wollschläger, und nahm eine gewisse vornehme Miene an, »die du nicht verstehst. Du guckst die Welt von deinem Tuchladen aus an und hast natürlich keine Ahnung von militärischen Angelegenheiten. Ich habe sozusagen die Festung Graudenz bauen sehen, habe gesehen, wie die Tausende und aber Tausende von Ziegelsteinen in den siebziger Jahren angefahren wurden, und auch die militärische Einrichtung habe ich mit überblickt. Mein Hauptmann hat mich regelmäßig mit auf Inspektion genommen, und da bin ich mit in jede Kasematte gekrochen.«

»Aber was ist denn nun dabei für Euch herausgekommen?« fragte Wenzel.

Der Wirt zog die Augenbrauen zusammen, als wollte er sagen: »Welch dumme Frage!« Aber er nahm sich zusammen und erwiderte nur: »Daß ich jetzt jedes Pförtchen kenne.«

»So klug wird wohl der alte Courbière auch sein, daß er jetzt jedes Pförtchen gut verrammelt hält!« warf ein anderer Gast ein.

Diese Zweifel an seiner militärischen Einsicht verdrossen den Wirt aber höchlich.

»Wenn ich Euch sage, daß ich so genau wie nur einer mit der Befestigung von Graudenz Bescheid weiß,« fuhr er auf, »so könnt Ihr mir das glauben, und wenn ich hinzusetze, daß ich mich anheischig machen könnte, die Franzosen direkt nach Graudenz hineinzuführen, so könnt Ihr das ebenfalls als richtig hinnehmen!«

Allerwärts brach man in Ausrufe des Erstaunens aus, und in den Augen Règniers blitzte es eigentümlich.

»Es ist schade, daß Ihr uns das Kunststück nicht vormachen könnt!« rief Wenzel lachend.

»Jawohl, Gevatter,« meinte der dicke Lautenberg, »vom Bierkrug aus läßt es sich gut Festungen einnehmen!«

Alle lachten, nur Wollschläger nicht. Er wurde blutrot im Gesicht; mit solchem Hohn war ihm seit lange nicht begegnet worden, und noch dazu von dem dummen Lautenberg.

»Es ist unerhört,« rief er zornig, »einen Zweifel in meine Versicherungen zu setzen. Ich bin sechzehn Jahre Korporal gewesen –«

»Und habe tausend und aber tausend Ziegelsteine anfahren sehen«, warf Wenzel ein.

Ein lautes Gelächter brach aus. Der dicke Lautenberg mußte sich den Leib halten, und der Wirt war so erbost, daß er wütend die Fäuste ballte und hinaus in die Küche lief, um sich dort erst einigermaßen zu beruhigen.

Aber es war just heute, als hätte sich alles gegen ihn verschworen: er kam hier sozusagen vom Regen in die Traufe. Einen lauten Schrei gab's in der Küche, als er hineingestürmt kam und die Tür dröhnend hinter sich zuschlug. Und was sah er? Seine Tochter Anna im vertraulichsten Gespräche mit seinem Kellner Johann, dem er schon einmal gründlich klargemacht hatte, daß er eine Liebelei mit seiner Tochter nicht leide. Und jetzt überraschte er ihn gar, wie er es wagte, sie zu küssen.

»Er Schlingel, Er Lump!« schrie der Wirt den jungen Menschen an, der bleich wie ein armer Sünder vor ihm stand, während Anna in Schluchzen ausbrach. »Ich werde Ihn Mores lehren! Das glaube ich, das könnte Ihm gefallen, sich hier in das warme Nest zu setzen!«

»Vater, Vater!« brach es aus Anna hervor.

»Und du«, rief er zur Tochter hinüber, »solltest dich schämen, daß du dich hinter meinem Rücken so vergißt. – Damit Er es übrigens gleich klar und deutlich weiß, wie die Sachen stehen, so packt Er morgen sein Bündel!«

Drinnen in der Gaststube klopften einige Gäste an die Gläser, sie wollten zahlen und heimgehen, alle weiteren Auseinandersetzungen mußten also unterbleiben.

Als der Wirt wieder in die Gaststube eintrat, winkte ihm Wenzel freundlich entgegen. »Draußen auch Skandal gehabt?« fragte er. »Nun, dann schließt wenigstens mit uns wieder Frieden«, und dabei reichte er ihm sein Geldstück. Auch die übrigen Gäste bemühten sich, die Wolke, die sie vorhin heraufbeschworen, wieder zu verscheuchen, und Monsieur Règnier drückte ihm sogar, als er ging, mit ganz besonderer Höflichkeit die Hand.

Draußen vor dem Wirtshause schlugen die Gäste alsbald verschiedene Richtungen ein, die verschiedenen Beamten gingen mit Lautenberg nach der Burgstraße hin, der Buchhändler Wenzel eilte der Spreegasse zu, wo er seinen Laden hatte, und Monsieur Règnier wandte sich nach den Linden hin. Wiederholt blieb er stehen und sah sich vorsichtig um.

»Sie sind alle fort,« murmelte er, »nun, dann wollen wir unseren Einfall zur Tat werden lassen. Er soll für seine Großmäuligkeit, wenn es nur eine solche ist, büßen; im anderen Fall aber, wenn er wirklich Bescheid weiß, dem großen Kaiser einen kleinen Dienst erweisen, mag er nun wollen oder nicht. Ich aber werde mich derweilen an das kleine allerliebste Ding, die Anna, machen. Sticht mir schon seit lange in die Augen!«

Er ging langsam, stets nach rechts und links um sich schauend, die Linden entlang und bog schließlich in eine breite Nebenstraße ein.

»Der Alte würde sie mir nie freiwillig geben,« fuhr er in seinem Selbstgespräch fort, »aber wenn man ihn auf eine geschickte Weise auf einige Zeit beiseite bringt – übrigens kann auf der Reise auch viel passieren, Graudenz ist weit – dann kann man das kleine Ding wohl herumkriegen, besonders in der jetzigen bedrängten Zeit, wo ich mit der französischen Einquartierung und den französischen Gästen ja aufs beste fertig werde. Würde mir sehr gut tun, aus dem mageren Sprachlehrerdasein in eine behagliche Wirtschaft zu kommen!«

Vergnüglich rieb er sich die Hände. Mittlerweile war er die ganze Straße entlang gegangen, betrat nun einen kleinen Platz und schritt auf ein stattliches Haus zu, vor dem zwei französische Schildwachen auf und ab schritten.

»Ich muß sogleich den Herrn General Hullin sprechen«, wandte er sich an einen der Soldaten. »Der Herr General ist sicherlich noch nicht zur Ruhe gegangen.«

»Das Fenster seines Arbeitszimmers ist noch hell«, antwortete der Angeredete, zum Hause hinaufblickend.

»So melden Sie mich, ich bin der Sprachlehrer Règnier.«

Der Soldat zog die Klingel am Portal, worauf ein Diener erschien, der, da er den Sprachlehrer zufällig kannte, ihn ohne weiteres einließ. Gleich darauf lag der kleine Platz wieder in tiefer Stille da.


Mittlerweile hatte der Wirt der »Festung Graudenz« den Gasthof geschlossen und war in sein Schlafzimmer hinaufgestiegen, noch immer höchst aufgebracht über die Anna. Der Bursch war ja gar nicht so übel, das mußte er selber sagen, ein hübscher Kerl, auch gewandt im Umgänge mit den Gästen, hatte er doch zwei Jahre in Leipzig »serviert«; aber was half das? Er war ja doch ein Habenichts! Konnte seine Tochter nicht in eine reiche Verwandtschaft hineinheiraten, so daß sie einen ordentlichen Anhang hatte? Wenn das dumme Ding sich nur nicht gar zu albern anstellen wollte. – Er ging mehreremal auf und ab, konnte aber über den fatalen Punkt nicht hinauskommen. Schließlich legte er sich mißmutig zu Bett. Kaum aber war er eingeschlafen, als heftig an die Tür seines Hauses gepocht wurde. Mit einem Satze war er wieder aus dem Bette heraus und gleich darauf schaute er auch schon zum Fenster hinaus. Drunten standen drei französische Soldaten mit einer Laterne.

»Im Namen des Kommandanten, des Herrn Generals Hullin, öffnet die Tür!« rief einer derselben.

»Was wollt Ihr jetzt bei nachtschlafender Zeit?« fragte der Wirt, der sich nicht so schnell ins Bockshorn jagen ließ.

»Das werdet Ihr gleich erfahren«, erwiderte der Soldat.

Es war wohl nichts zu machen; er mußte gehorchen. Er kleidete sich notdürftig an, stieg hinab und öffnete.

Als die Soldaten in den Hausflur getreten waren, sagte der, welcher auch vorhin gesprochen hatte, ein Unteroffizier: »Ich habe den Auftrag, Euch diesen Befehl des Herrn Kommandanten Hullin zu überbringen.« Dabei überreichte er ihm ein Schreiben und hob die Laterne in die Höhe, damit der Wirt dasselbe auf der Stelle lesen könne.

Der Brief, den der eine der Soldaten übergab, war in der Tat an den Wirt gerichtet und mit dem großen Amtssiegel der französischen Kommandantur verschlossen. Er öffnete ihn und las:

»Der Wirt Wollschläger, Inhaber des Gasthauses »Zur Festung Graudenz«, hat sich den Anordnungen des Unteroffiziers Pastin zu fügen und mit diesem sofort eine längere Reise anzutreten. Der Kommandant der Stadt Berlin, General Hullin. Berlin, den 20. Februar 1807.«

»Ich bin der Unteroffizier Pastin«, fuhr der Soldat fort, als der Wirt das Papier sinken ließ, »und fordere Euch auf, Euch für die Abreise fertig zu machen.«

Der Wirt war kreideweiß geworden; er wußte sehr wohl, mit den Franzosen war nicht zu spaßen, und am wenigsten mit dem Kommandanten Hullin.

»Nun ja, aber doch für morgen früh erst!« entgegnete er.

»Die Fahrt beginnt sofort!« versetzte der Unteroffizier.

»Ach du mein Gott,« jammerte der Wirt, »wo soll es denn nur hingehen?«

»Das ist Geheimnis!« erwiderte der Soldat mit unerschütterlicher Ruhe.

»Aber es ist doch unmöglich, daß ich auf längere Zeit weg kann bei diesen Kriegsunruhen! Was soll denn aus meinem Geschäft, was aus meiner Tochter werden! Da kann mir ja die ganze Wirtschaft derweilen zugrunde gehen!«

»Das kann den Herrn Kommandenten wenig kümmern, denn Ihr seid zunächst Staatsgefangener!« antwortete der Soldat.

»Staatsgefangener?« schrie der Wirt und knickte zusammen. »Was habe ich denn verbrochen?«

»Wenn Ihr Euch nicht reisefertig macht, so muß ich Euch mitnehmen, wie Ihr da seid«, versetzte der Soldat, »und das dürfte Euch bei der Kälte vielleicht nicht gefallen.«

Das war einleuchtend. »Dann erlaubt also einen Augenblick«, sagte der Wirt, eilte in sein Schlafzimmer hinauf, zog seine wärmsten Sachen und den dicksten Mantel an, steckte auch das Geld zu sich, das er gerade daliegen hatte, ging dann hinüber in das Schlafzimmer seiner Tochter und teilte ihr mit, er müsse auf einige Tage verreisen – es sei eine geheimnisvolle Sache. Zugleich gab er ihr die Schlüssel, damit sie nachher ordentlich zuschließe. Darauf verließ er mit den Soldaten das Haus. Als er hinaus auf die Straße kam, stand auch schon eine Extrapost da, deren Pferde ungeduldig das Pflaster scharrten. Der Wagen mußte also schon eine Weile gewartet haben. Er stieg ein, der Unteroffizier setzte sich neben ihn, und ein Grenadier nahm neben dem Postillion auf dem Bocke Platz. Die Fahrt ging durch verschiedene stille Straßen, worauf man bald ins Freie gelangte. Der Wind blies durch die klappernden Fenster, die dunkle Nacht lag unheimlich auf der weiten Ebene, wie Gespenster huschten die Bäume und Sträucher vorüber.

Der seltsame Staatsgefangene zerbrach sich den Kopf darüber, was er wohl verbrochen haben könne, und was man wohl mit ihm vorhabe. Schließlich, als er sich etwas beruhigt hatte, kam er sich sogar wichtig vor; jedenfalls legte man doch Wert auf seine Persönlichkeit. Wenn man vielleicht gar von ihm, dem alten Soldaten, etwas auskundschaften wollte? Er konnte am Ende noch eine berühmte Persönlichkeit werden. Was würde man wohl am Morgen in Berlin sagen, wenn es bekannt würde, der Wirt des Gasthofes »Zur Festung Graudenz«, Eduard Wollschläger, sei in der Nacht mit Extrapost und zwei französischen Soldaten davongefahren.

Über diesen Gedanken verging die Nacht. Als es dämmrig wurde, sah er, daß er sich wohl auf der Chaussee nach Küstrin befand. Er kannte sie, da er früher wiederholt hier marschiert war. Wiederholt machte er noch verschiedene Versuche, aus dem Unteroffizier über Zweck und Ziel der Reise etwas herauszubringen, da aber alles vergeblich war, und sogar einige Glas Bier, die er in einem Gasthof am Wege, wo einmal gefüttert wurde, die Zunge nicht lösten, so ergab er sich in sein Schicksal und wartete ruhig ab, was da kommen werde. Vielleicht ging die Fahrt nicht über Küstrin hinaus. Aber er hatte sich arg geirrt. In Küstrin wurde nur kurze Rast gemacht, und dann ging es abermals weiter, Tag und Nacht mit unheimlicher Eile.

Wohin würde man ihn wohl bringen? Sollte vielleicht eine verhängnisvolle Verwechslung vorliegen, sollte er das Opfer irgendeiner schändlichen Rache geworden sein?

Alles mögliche ging ihm durch den Kopf, aber eine Antwort fand er nicht.


Wie Wollschläger sehr richtig vermutet hatte, machte seine nächtliche Abreise von Berlin in der ganzen Stadt ein gewisses Aufsehen. Der Wirt war eine stadtbekannte Persönlichkeit. Die Erzählungen und Vermutungen über den Zweck dieser Entführung verwandelten sich nach und nach in ganz ungeheuerliche Gerüchte. Einige meinten, er sei in Ketten in die Kasematten von Magdeburg abgeführt worden, andere wußten zu berichten, er werde zu hohen Ehren kommen, er wisse tiefe Geheimnisse, und die wollte ihm Napoleon mit Gold aufwiegen. Die einzigen beiden Personen aber, die vollständigen Aufschluß hätten geben können, schwiegen wie das Grab: der Kommandant Hullin – und der Sprachlehrer Règnier, von dem man allerdings nicht ahnte, daß er der Angelegenheit nahestand.

Ein verschmitztes Lächeln spielte um seinen Mund, als er am anderen Morgen von dem Vorfälle hörte, und bald darauf machte er sich auf, um der Jungfer Anna sein tiefes Bedauern über die Verlegenheit auszusprechen, in die sie durch die plötzliche Abreise des Vaters geraten sei.

Er fand das Mädchen zwar aufgeregt, doch hatte sie sich offenbar bereits zu helfen gewußt; sie hatte sich die Base Schwertfeger ins Haus geholt, damit auch eine ältere Person vorhanden sei, und Johann gebeten, so lange zu bleiben, bis der Vater zurückkehre, worauf er natürlich sehr gern einging. Das Anerbieten Règniers, ihr mit Rat und Tat zur Hand zu gehen, konnte sie daher dankend ablehnen.

Der Mensch war ihr überhaupt in hohem Grade zuwider, so daß sie schon deshalb jede Hilfeleistung von ihm zurückwies. Trotzdem drängte er sich ihr immer wieder auf; auch in der folgenden Zeit kam er fast täglich und belästigte sie so lange mit seiner aufdringlichen Freundlichkeit, bis sie sich jede Annäherung ganz energisch verbat.

Sie bedurfte seiner Hilfe auch durchaus nicht. Die Base Schwertfeger war eine tüchtige Frau, und nicht minder war Johann auf dem Posten; er plagte sich doppelt, da der Wirt nicht zur Stelle war, denn er wollte diesem schon zeigen, wie er sein Geschäft verstand. Da er zudem gegen jedermann stets freundlich und höflich war, so wurde das von den Gästen bald recht angenehm empfunden. Manche waren durch die Aufgeblasenheit des Wirtes und seine Prahlerei verletzt worden und nur noch selten gekommen; jetzt kamen sie öfter, es bildeten sich allabendlich gemütliche Plaudertische, der Besuch nahm zu, die Wirtschaft hob sich mehr und mehr.

»Das habe ich. dir zu verdanken«, sagte Anna wiederholt zu Johann, wenn von Zeit zu Zeit abends nach der Polizeistunde die Rede auf das Emporblühen der Wirtschaft kam, und dieser lächelte dann glückselig. Der augenscheinliche Beweis, daß er in seinem Fache tüchtig sei, mußte ihm, so hoffte er, nach der Rückkehr des Wirtes doch endlich das Glück gewähren, nach dem er strebte: die Hand seiner geliebten Anna.

Doch Woche auf Woche verging, und der Wirt kehrte weder zurück, noch sandte er Nachricht, so daß die Besorgnis seiner Tochter von Tag zu Tag wuchs. Der Winter tobte unterdessen noch einmal mit aller Gewalt, die Fenster waren um Mitte März noch zugefroren, und dann begann ein schier endloses Tau- und Regenwetter. Die Wege waren grundlos, so daß selbst die Soldaten, die durch Berlin kamen und nach dem Osten marschieren sollten, einige Zeit in der Stadt, liegen bleiben mußten, weil die Straßen und Chausseen draußen nicht zu passieren waren.

Anna wußte sich oft in ihrer Angst um den Vater gar nicht zu helfen. Sie war schon aus die Kommandantur gegangen und hatte um Auskunft gefleht, aber man hatte sie dort ganz barsch abgewiesen.

So saß sie denn eines Abends im April, als die Gäste fort und Johann und die Base auch schon zu Bett gegangen waren, weinend im öden Gastzimmer, als plötzlich draußen an einen Fensterladen gepocht wurde und eine matte Stimme rief: »Anna, mach' auf!«

Erschrocken sprang sie empor. »Mein Gott, der Vater!« schrie sie.

Im Nu war sie hinaus auf den Flur geeilt, riß die Riegel der Tür auf und lag im nächsten Augenblick in den Armen des Heimgekehrlen. Dann führte sie ihn ins Haus, in die Stube.

»Nicht so schnell!« sagte er hüstelnd und sich schwer auf ihre Schulter stützend.

Als sie dann mit ihm in der Stube stand und ihn ansah, fuhr sie zu Tod erschrocken zurück. Eine wahre Jammergestalt stand vor ihr. Sein guter blauer Mantel war zerfetzt, die Stiefel zerrissen und aus dem abgemagerten Gesicht blickte ihr Not und Elend entgegen.

Der Wirt setzte sich auf einen Stuhl. »Ach, Kind, es ist mir schrecklich ergangen«, sagte er. »Ich habe für meine Prahlerei schwer büßen müssen. Am Tage vor meiner Abfahrt hier behauptete ich in der Unterhaltung mit meinen Gästen, ich wüßte in Graudenz sicher eine Stelle zu finden, wo die Belagerer eindringen könnten. Dies muß einer dem Kommandanten Hullin hinterbracht haben, und der ließ mich ohne weiteres mit der Extrapost nach Graudenz bringen, wo ich nun den Franzosen die Pforte zeigen sollte, durch die sie in die Festung, die sie so lange schon vergeblich belagerten, eindringen konnten. Ich hatte das aber ja nur so hingeschwatzt und wußte nichts zu zeigen. Anfangs glaubten sie, ich wolle mich weigern, drangsalierten und mißhandelten mich, und als ich ihnen immer wieder versicherte, ich wüßte wahrhaftig nichts, sie könnten mich totschlagen, da wurden sie höchst aufgebracht und warfen mich so, wie ich da war, mitten im Winter auf die Landstraße.« Hier mußte der Mann eine Pause machen, um sich zu erholen. Das Reden strengte ihm anscheinend sehr an. Dann fuhr er fort: »Ach, Kind, was ich dann ausgestanden habe – ich kann es nicht erzählen. Mein bißchen Geld ging bald darauf, und nun mußte ich mich, um nach Hause zu kommen, von Ort zu Ort durchbetteln. Nachricht konnte ich Euch nicht geben, denn dann hätte ich wenigstens vierzehn Tage an dem Orte, von wo ich hätte schreiben wollen, bleiben müssen; und wer hätte mich denn so lange behalten wollen? In diesen Kriegszeiten schließt jeder seine Türe zu. Auch trieb es mich unaufhaltsam nach Hause. Endlich kam ich heute in der Dämmerung am Tore an, wo sie mich aber erst gar nicht einlassen wollten, bis ein Scherenschleifer, der dastand und mich kannte – ich habe ihm früher manchmal ein Glas Bier gegeben – nachdrücklich bezeugte, daß ich wirklich der Wirt Wöllschläger von der »Festung Graudenz« sei. Als ich endlich mein Haus sah, schlotterten mir die Knie, und ich konnte es nicht über mich gewinnen, in diesem Zustand einzutreten, ich wollte mich vor dem Gesinde und den Gästen nicht in diesem Aufzuge zeigen. Ich setzte mich daher drüben an dem dortigen Magazingebäude in einen Winkel und wartete, bis der letzte Gast weg und alles ruhig war, und so komme ich denn erst jetzt!«

Anna schloß den armen, gebrochenen Mann in ihre Arme. »O, wie froh bin ich,« rief sie, »daß wir dich nur wieder haben. Dann eilte sie, ihm eine kräftige Suppe zu kochen. Als sich dann der Ärmste etwas erquickt hatte, brachte sie ihn ins Bett, wo er zum erstenmal nach vielen Wochen wieder einen tiefen Schlaf tun konnte.

Der Wirt mußte über vierzehn Tage lang das Bett hüten, dann erholte er sich aber bei der vorzüglichen Pflege sehr rasch und konnte sich bald wieder in Haus und Hof umsehen. Und da er dort nur Erfreuliches erblickte, kam auch bald seine gute Stimmung wieder.

In der Tat befand sich die ganze Wirtschaft im besten Zustand, und daß er dies hauptsächlich der umsichtigen Wirtschaftsführung Johanns zu verdanken hatte, war klar. Er zögerte daher jetzt auch nicht länger, seine Einwilligung zur Verheiratung seiner Tochter mit dem wackeren Burschen zu geben.

Am Tage vor der Hochzeit aber, ganz in der Frühe, als noch kein Verkehr war, winkte er seinem Schwiegersohne, legte mit ihm die große Feuerleiter ans Haus und hob das Schild »Zur Festung Graudenz« herunter; dann brachte er aus der Scheune, wo es noch gestanden und wo er es auch in den letzten Tagen schon in der Stille fein säuberlich abgewaschen hatte, das alte Schild »Zum goldenen Engel« hervor und befestigte es an der alten Stelle des bisherigen. Mit »Graudenz« wollte er fürder nichts mehr zu tun haben, die alte Vorliebe für diese Festung war bei ihm seit der unfreiwilligen Reise mit Extrapost vollständig geschwunden.

»Recht so!« sagte er schließlich, als das alte Schild wieder an seinem alten Platze prangte und er es sich von unten besah. »Und Gott sei Dank! Der Teufel soll mich reiten, wenn ich mich noch einmal um militärische Geheimnisse bekümmere!«


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