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Ja, gute Siebele, brav bist du, sehr brav . . . und nit arg war's dir, gelt? Brave Siebele, schöne Siebele . . .«
Die milchweiße Stute hörte aufmerksam zu. Sie spitzte die kleinen, zierlichen Ohren und sah mit ihren dunklen Augen dem jungen Burschen ins Gesicht, als verstünde sie jedes Wort. Sie hieß eigentlich Sibylle, aber der junge Bursche, der seit drei Jahren mit Sibylles Wartung betraut war, hatte sie vom ersten Tage an Siebele genannt. Durch nichts ließ er sich davon abbringen.
Er näherte sein Gesicht dem Haupt des schneeweißen Pferdes noch mehr. »Schön ist dein kleiner Sohn, Siebele, wunderschön«, flüsterte er, »ein richtiger Prinz, wie sich's gehört.«
Die Stute erschauerte leise, senkte den Kopf, bewegte die zierlichen Ohren immer rascher. Sie verstand die Güte, die da zu ihr flüsterte, begriff, daß sie gelobt wurde, und erklärte sich zufrieden.
Vor knapp drei Stunden hatte der Bursche Sibylle bei der Geburt des Fohlens Hilfe geleistet. Viel Hilfe war nicht notwendig gewesen, denn alles war leicht und glatt gegangen. Jetzt lag das Neugeborene im warmen Stroh zu Füßen der Mutter und sah recht hilflos aus. Sibylle hatte die erste Mattigkeit überwunden. Sie wußte, daß ihr Kind nun Ruhe brauchte, und sie selbst, unter dem Flüstern des Burschen, dem Streicheln seiner Hände und angeweht von seinem ihr wohlbekannten Körpergeruch, fühlte, wie ein behaglich schläfriges Duseln sie einzulullen begann.
Im Stall flimmerte die Morgensonne. Alle Boxen standen leer; denn die Pferde tummelten sich schon draußen, auf den Wiesen von Lipizza.
»Na, Anton«, rief eine Stimme von der Türe her.
Der Bursche nahm stramme Haltung an. »Zu Befehl, Herr Rittmeister«, sagte er laut.
Der Offizier kam langsam näher. »Ist es wahr?« fragte er.
»Zu Befehl«, antwortete Anton, »ein gesundes Hengstfohlen.«
Rittmeister von Neustift beeilte sich. »Sapperment noch einmal«, lachte er und trat vor die Box. »Wirklich«, er rieb sich die Hände, »wirklich, ein hübscher kleiner Kerl!«
Nun wollte er in die Box, aber Anton stellte sich ihm entgegen. »Bitte, Herr Rittmeister, noch nicht. Die Siebele wird sonst unruhig.«
»Wann war es?« wollte der Rittmeister wissen.
»Um zwei Uhr in der Nacht.«
»Und niemand dabei?«
»Melde gehorsamst, Herr Rittmeister, niemand als ich.«
»Aber du hättest doch den Gestütmeister verständigen müssen. Weißt du das nicht?«
»Bitt' vielmals«, Anton lächelte stolz, »es ist alles so schnell und so gut vorbeigegangen – wozu? Soll'n die Herren schlafen. Vor einer Stund' hab ich den Franz hingeschickt. Zum Gestütmeister und zum Arzt . . . sie sind noch nicht da.«
Sibylle hatte den Kopf gedreht und ihre großen, dunklen Augen auf die Sprechenden gerichtet, ruhig, vertrauensvoll.
Anton war rasch bei ihr. »Es ist alles in Ordnung, Siebele«, tröstete er, »niemand tut dir etwas. Dir nicht und dem Florian auch nicht. Brav seid ihr zwei, sehr brav.« Er rieb seine Hände zärtlich an dem weichen Samt von Sibylles Oberlippe. »Herr Rittmeister, bitte, ist er nicht schön, der Florian?« Und Anton wies auf das Fohlen im Stroh.
Rittmeister von Neustift schmunzelte: »Ja, ein netter kleiner Bursche. Aber wie kommst du auf Florian?«
»Melde gehorsamst, Herr Rittmeister, heute haben wir doch den vierten Mai, nicht wahr? Na, und der vierte Mai ist der Tag des heiligen Florian!«
»Ach so! Deswegen?«
»Jawohl, deswegen!« Das breite, gutmütige Bauerngesicht nahm einen eigensinnigen Zug an.
»Mein lieber Anton«, sagte der Rittmeister, und in seinem Tone war bei aller Freundlichkeit die große Distanz zwischen dem adligen Offizier und dem armseligen Stallknecht merkbar, »mein lieber Anton, das nützt dir gar nichts. Der Gestütmeister kümmert sich den Teufel um deine Kalenderheiligen; der Gestütmeister wird dem Fohlen einen ganz anderen Namen geben. Da wirst du kein Glück haben.«
»Er muß aber Florian heißen.« In Antons Stimme klang Trotz. »Er muß!« wiederholte er. »Florian und nicht anders!«
»Sag das dem Herrn Gestütmeister«, lächelte Neustift, »sag's ihm doch, wenn du dich traust.«
Anton lächelte nun gleichfalls. »Ich sag's ihm schon nicht«, meinte er, »ich trau' mich gewiß nicht.« Er blinzelte Neustift schlau zu: »Aber ein anderer wird's ihm sagen, ein großer Herr, der jetzt unser Gast ist.«
Der Rittmeister trat nun an Sibylle heran, die ihn mit hocherhobenem Haupt empfing. »Was fällt dir ein, Anton? Ich werd' doch da keine Vorschläge machen.«
»Warum denn nicht?« rief Anton.
»Na, Sibylle«, redete Neustift die Stute besänftigend an, »na, Sibylle, sei gut! Ich will dir doch nur gratulieren!« Er griff in die Kammhaare, fuhr liebkosend am unteren Teil des Halses entlang, streichelte klatschend die breite, schöne Brust. »Allen Respekt, Sibylle, ein Hengstfohlen, allen Respekt.«
»Warum denn nicht?« beharrte Anton dringender.
Neustift wandte sich ihm zu. »Weil mich das nichts angeht, verstehst du, Anton?«
Doch Anton widersprach. »Es geht Sie sehr viel an, weil . . . nämlich . . . weil . . .« Er begann zu stottern.
»Da bin ich neugierig«, warf Neustift hin und ließ nicht ab, Sibylle zu liebkosen. Auch ihn verführte dieser herrliche Pferdekörper zu langwierigen Zärtlichkeiten.
»Weil Sie der erste sind, der den Florian gesehen hat«, erklärte Anton, »der erste sind Sie, der zum Florian gekommen ist.«
Anton hatte gleichfalls eine Hand auf Sibylle gelegt. Er fuhr ihr damit sanft den Rücken entlang bis zum Kreuz.
Hier in der Enge des Raumes, ganz dicht am Leib des Pferdes, nah beieinander, umhüllt vom scharfen Duft des Stalles, der Anton wie dem Rittmeister eine angenehme Atmosphäre war, schwand der Unterschied des Ranges zwischen den beiden Menschen fast vollständig dahin. Neustift verlor seinen Herrenwillen, und Anton, als spürte er etwas davon, wurde kühner.
»Erfüllen Sie mir die Bitte, Herr Rittmeister«, sprach er und senkte seine Stimme. »Ich wäre Ihnen so dankbar. Legen Sie ein Wort ein für Florian, damit er wirklich Florian heißt. Vorbedeutung, Herr Rittmeister . . . ich glaub' an Vorbedeutung . . . und Sie auch.«
»Oho!« unterbrach ihn Neustift und lachte kurz auf.
»Aber natürlich«, beharrte Anton, »natürlich glauben auch Sie daran. Sie sind ja Kavallerist, Dragoner . . . wie ich Dragoner war. Am St. Florianstag ist er geboren, und ein Dragoneroffizier kommt als erster herein . . . Florian muß er heißen, sonst geht's nicht gut mit ihm. Und es muß gut mit ihm gehen . . . schauen Sie ihn doch an!«
Sie bückten sich alle beide zu dem Fohlen, das ganz in sich verhalten auf dem Stroh lag und leise zitterte. Dunkel war es, fast schwarz, die Farbe der ersten Kindheit. Sibylle bog den Hals zur Hüfte, betrachtete die zwei und ließ ein kurzes Schnauben hören.
Neustift wie Anton hatten die Knie ein wenig eingeknickt, wie Menschen, die sich setzen wollen. Sie stützten jeder die Hände auf die Schenkel und sahen so das Fohlen an.
Neustift war, wie schon so oft vorher, von seinem kleinen Gut in Südsteiermark, wo er den Urlaub verbrachte, nach Lipizza ins kaiserliche Gestüt zu Besuch gekommen. Er freute sich immer an den herrlichen Pferden, an ihrer trefflichen Wartung; der Anblick, den die Tiere in Freiheit boten, auf den weiten Wiesen, zwischen Bäumen, die Grazie ihrer Bewegungen, die heroische Gebärde ihres Galopps, der Übermut ihrer Launen, vereint mit der Sanftheit ihres Gemüts, entzückten ihn, bildeten für ihn einen Quell beständiger Erfrischung.
Anton war als Sohn eines Kleinbauern in Steiermark aufgewachsen. Ein Pferd, drei Kühe besaß der Vater. Dazu Hühner, Gänse und einen mageren Acker. Viel lernen die Bauernkinder ja nicht in der Schule. Lesen, Schreiben, Rechnen, ein bißchen Katechismus. Alle Kenntnisse, die sie haben, und deren sind gar nicht so wenige, trägt ihnen der Ernst des Lebens, die Arbeit zu, die beide bei den Bauern früh beginnen. Anton war schon als kleiner Bub von acht Jahren auf dem Feld und im Stall tätig. Er verstand sich gut mit den Kühen, denen er half, wenn sie kalbten, und die ihn gut leiden mochten. Den alten abgerackerten Gaul liebte er, wie ein Knabe nur den allerbesten Freund liebt. Der müde, alte Hans, ein brauner, knochiger Wallach, war auch wirklich Freund, Arbeitsgenosse und Spielgefährte für Anton. Ohne Sattel ritt er auf dem etwas eingesunkenen Rücken des Pferdes, lernte ganz von selbst, als Kind schon und später immer gründlicher, das Atmen des großen Körpers, den er zwischen den Schenkeln hielt, verstehen, lernte jede Regung des Pferdehalses, des Hauptes, der Ohren deuten, kannte die Zeichen, die ihm der Schritt des Tieres gab. Anfangs hatte er sich an der Mähne festgehalten, nach und nach saß er frei. Erriet aus eigenem, wie er mit seinem Schenkeldruck, mit dem Klopfen der Fersen an die Weichen des Tieres dessen Wegrichtung und Gangart bestimmen konnte. Und lenkte den Hansl auch ohne Zaum und Zügel. Das kam ihm zustatten, als er seine drei Militärjahre bei den Dragonern abdiente. Er war nicht nur vertraut mit Pferden, er gehörte ihnen ganz, wie eben jemand seinem eigentlichen Beruf angehört. Er führte sich musterhaft, trank nicht, lief nicht allzuviel mit Mädchen herum, wich Zank und Raufereien aus, zeigte sich gutmütig, heiter und arbeitswillig. Während er beim Militär diente, hatte der Vater wieder geheiratet. Anton fand das selbstverständlich. Die Mutter war vor Jahren gestorben, der Vater allein, da ja Anton drei Jahre lang nicht bei der Arbeit helfen konnte. Und eine Ehefrau kam billiger zu stehen als ein Knecht oder eine Magd. Aber nach Hause sehnte sich Anton nun nicht besonders. Seinem Regimentskommandanten hatte Anton es zu danken, daß er hier in Lipizza Stallknecht wurde, als man ihn vom Militär entließ. »Einen besseren dürfte man in der ganzen k. u. k. Armee kaum finden«, schrieb der Oberst an den Chef von Lipizza. »Der Korporal Anton Pointner ist beinahe ein Pferdenarr, dazu ehrlich und bescheiden.« Der Oberst schrieb noch einiges Lob mehr, und Anton erhielt die Stelle. Drei Jahre lebte er nun hier unter diesen edlen Tieren, und ihrem schönen, einfachen Dasein erschloß sich Antons rechtschaffenes Gemüt so restlos, daß kaum für anderes darin Raum blieb.
Neustift richtete sich auf, zog die Uniform glatt und lächelte: »Na, gut, Anton. Der Kleine soll Florian heißen.« Er klopfte Sibylle auf den Hals. »Sag nichts mehr, genug«, wehrte er ab. »Der Name paßt allerdings wenig für einen Sohn des Berengar und der Sybille. Schon recht, laß nur. Was an mir liegt, will ich versuchen.«
Anton schwieg. Nicht einmal »Danke« brachte er hervor. Er stand stramm, sein Gesicht strahlte. Das sagte mehr, als Worte ausdrücken könnten.
Von weither, leise, doch klar vernehmlich, rauschte die feierlich getragene Weise der Volkshymne in den Stall herein. Von einer Militärkapelle gespielt. »Gott erhalte, Gott beschütze . . .«
Neustift gab sich einen Ruck, der ihn straffte. »Das ist der Thronfolger«, sagte er, »der drüben die Truppen inspiziert.«
Doch Anton hatte jetzt nur Augen für Florian. Er dachte: Beim Kaiserlied hebt der Tausendsasa zum erstenmal den Kopf. Vorbedeutung.
Florian hob wirklich den Kopf, schwach und wirr. Der dünne Hals schwankte bebend, dieser ersten Regung noch ganz unsicher und gar nicht bewußt. Sein schmales, langes Gesicht war so unfertig und in eben dieser Unfertigkeit rührend wie das Antlitz eines Kindes. Die Augen hatten noch zu wenig Licht eingesogen und deshalb keinen Glanz. Sie schauten blicklos umher; doch wuchs unermeßliches, hilfloses Erstaunen aus diesen beiden dunklen Augen, aus diesem Kindergesicht, wuchs aus dem ganzen hingekauerten, trübschwarzen Körper, der, gewöhnt an eine warme finstere Hülle, seit wenigen Stunden dem Dasein preisgegeben war, und den das Mysterium des Lebens erschütterte.
Über dem Karstplateau von Lipizza brütete der Hochsommer. In den Wiesen ergingen sich die Rosse, fraßen lässig vom verbrannten Gras, zupften genäschig an den frisch ergrünten Büscheln der Halme, so daß hie und da das rupfende Geräusch ihrer Bisse hörbar wurde. Sie suchten die Schatten der alten Kastanien und Platanen, warfen sich zu Boden, rieben mit angezogenen Beinen Lenden und Rücken an der Kühle des Bodens. Die Stuten mit ihren Fohlen waren von den Hengsten getrennt. Aber die Drei- und Zweijährigen, die hier immer noch als Fohlen galten, blieben bei den Müttern. Von Zeit zu Zeit klang der helle hohe Wieherschrei eines Hengstes durch die Stille, herausfordernd, sehnsüchtig, lebenstoll. Dann bewegten ein paar Stuten lebhaft die kleinen Ohren, andere fingen in weiten Rundbögen zu galoppieren an, während wieder andere, die meisten, in wohligem Behagen sich am Boden rekelten, als hätten sie nichts gehört. Aber dennoch lauschten gerade diese dem Lockruf, der ihnen den Genuß ihrer Ruhe noch steigerte. Manchmal antwortete eines der Hengstfohlen mit dem hellen Ton seiner jungen Stimme, wenn der Wieherschrei erschallte. Die Mütter benahmen sich dann so, als merkten sie gar nicht, daß ein Knabe sich zum Vorlautsein hatte hinreißen lassen. Oder eine Stute hob den Kopf und blickte den in aller Harmlosigkeit Unbesonnenen mißbilligend an.
Rittmeister von Neustift schritt mit einem jungen Mädchen zwischen den Pferden umher. Anton folgte den beiden. Der Rittmeister drehte sich zu ihm um und fragte: »Wo ist der Florian? Unter den vielen Fohlen kenne ich ihn nicht. Wo ist er denn?«
»Aber da, Herr Rittmeister«, antwortete Anton, »dicht vor Ihnen!«
Ein schon weißes Füllen stand mit gegrätschten Beinen tolpatschig da und schien in tiefes Nachdenken versunken.
»Herr Rittmeister müssen ihn doch an seiner Mutter erkennen«, meinte Anton mit kaum unterdrücktem Vorwurf. »Da liegt sie.«
Sibylle lag auf dem Rücken, hielt die Hinterbeine ganz an den Leib gezogen und streckte die Vorderbeine ausgebreitet und eingeknickt von sich.
»Siebele«, rief Anton, »Siebele, komm doch her!«
Mit einem einzigen Schwung voll unvergleichlicher Anmut stand Sibylle auf den Beinen.
»Komm doch«, lockte Anton.
Sie näherte sich langsam.
Florian erwachte nun aus dem Nachdenken, durch die Mutter aufgescheucht. Mit taumelnden, schaukelnden Sprüngen hopste auch er heran. Es schien immer, als würde er die Richtung wechseln, als triebe ihn eine Menge von Einfällen oder gänzliche Ziellosigkeit jeden Augenblick anderswohin. Doch wollte er zur Mutter und kam zur Mutter.
Das junge Mädchen lachte laut.
Florian stutzte bei diesem Ton, stemmte die Vorderbeine breit auseinander und sprang zur Seite. Er sprang mit allen vieren zugleich in die Luft und schnellte sich viel höher, als nötig gewesen wäre. Dann beruhigte er sich, torkelte wieder nahe zur Mutter und zu den Menschen, die bei der Mutter standen. Auf eine erheiternde Art hatte man von Florian mit seiner dünnen Gestalt, von der Unproportioniertheit seiner Gliedmaßen, vom schmalen, ramsnasigen Kopf, vom Mienenspiel seines Kindergesichts den entscheidenden Eindruck, daß er absichtlich eine drollige Komödie aufführte und nicht wüßte, was er tat, daß er dümmer wäre als das dümmste Erdwesen, dann wieder, daß er klüger und listiger wäre als alle andern Geschöpfe.
»Ein Komiker«, lachte das Mädchen.
»Wie alle gesunden Fohlen«, sagte Neustift.
Anton jedoch mußte ein Loblied anstimmen, fühlte sich verpflichtet, Bewunderung für seinen Pflegling zu erringen. »Ja, der Florian«, fing er ganz bescheiden an, »unter tausend andern Fohlen muß man ihn herausfinden, weil . . . weil . . . kein anderer ist so wie er . . . weit und breit keiner!«
Er sah die keimende Schönheit Florians, sah die werdenden Vorzüge dieses Jungtiers; er nahm jetzt schon als vollendet an, was erst im Entstehen begriffen war. Seine Erfahrung half ihm dabei, sein weiches Gemüt und seine Vernarrtheit.
Der Rittmeister hielt auf der flachen Hand Sibylle ein Stück Zucker hin. Sibylle blies es an und nahm es auf. Der Zucker knirschte zwischen ihren Zähnen. Dann begehrte sie mit vorgestellten Ohren, mit flach zu Neustifts Händen gesenktem Haupte mehr.
Das junge Mädchen bot Florian Zucker. Der kam neugierig heran, stöberte unruhig in der Hand des jungen Mädchens, warf den Zucker ins Gras, tat einen Sprung und stellte sich neben die Mutter.
»Der versteht das nicht«, entschuldigte Anton, »er trinkt ja noch und hat noch nie etwas gegessen.«
»Oh!« Das junge Mädchen war enttäuscht und ein wenig beschämt.
Neustift erwischte Florian, legte den Arm über den Widerrist. Florian wollte sich losreißen. Ein leichter Druck genügte, und er blieb ruhig, duckte sich ergeben dem beherrschenden Willen. Sibylle hatte sich an den Rittmeister gedrängt, aber nur, um zu beobachten.
»Merken Sie, Gräfin«, sagte Neustift, »wie geduldig, wie gutartig diese Lipizzaner sind?«
»Wirklich«, stimmte das junge Mädchen zu, »die geborenen Höflinge.«
»Sie treffen das Richtige«, lachte Neustift, »die Lipizzaner gehören dem Kaiser. Sie haben das Vertrauen, das die Majestät erwarten darf, und sie sind viel uneigennütziger als die andern Höflinge, sie sind zum Unterschied von den Menschen weder intrigant noch boshaft. Übrigens, sehen Sie her . . .« Er öffnete Florian den Mund. »Da haben sie ganz kleine Milchzähne. Erst wenn die Kunden an den Rändern scharf werden und der Mutter weh tun, hört das Füllen auf zu trinken.«
Er ließ Florian los. Der jagte taumelnd, hopsend, springend im engen Kreise um die Gruppe.
»Florian!« lockte Anton. »Florian!« Aber Florian hörte nicht, wollte nicht hören. Man glaubte bei seinem regellosen Laufen, er müßte stürzen und sich im Sturz überschlagen. Doch nichts dergleichen geschah. Er war nur in einem Jubel. Anton schwieg und sah entzückt, wie Florian die wiedergewonnene Freiheit feierte.
»Bei den Lipizzanern kommen die Zähne langsamer«, wandte sich der Rittmeister an das junge Mädchen. »Alles vollzieht sich bei den Lipizzanern langsam. Die Natur geht bedächtig zu Werk, um ein vollkommenes Geschöpf zu formen.«
Da Sibylle seine Taschen und Hände beschnupperte, reichte er dem jungen Mädchen ein Stück Zucker. »Da, Gräfin, geben Sie's der Sibylle.«
Nachdem Sibylle den Leckerbissen genommen hatte, rieb das Mädchen die Handflächen trocken. »Sonderbar«, murmelte es errötend, »das ist so sanft, so zärtlich . . . wie ein Kuß . . .«
Neustift blickte zur Seite, antwortete nicht, und sie gingen weiter.
Auf der Kuppe einer geringen Bodenwelle blieb das junge Mädchen stehen und sah sich um. »Ah«, rief es mit gebreiteten Armen, »ah, schön! Schön!«
Nach einer kleinen Pause setzte es hinzu: »Und alle diese herrlichen Pferde . . . zauberhaft! Gibt's das schon lange?«
»Was?«
»Nun, das hier! Lipizza?«
Neustift schwenkte die erhobene Hand: »Jahrhunderte, Gräfin, Jahrhunderte!«
»Wissen Sie das genau, oder reden Sie nur so ins Blaue?«
»Ach Gott, ein bißchen ist mir bekannt, und mehr sag' ich ja nicht . . .«
»Woher stammen Ihre Kenntnisse? Haben Sie das studiert?«
»Studiert eigentlich nicht. Unsereins weiß diese Dinge eben. Man ist doch ein Reiter.«
Das Mädchen streifte ihn mit einem wohlgefälligen prüfenden Blick. »Erzählen Sie, was Sie wissen«, befahl sie.
Vom Meere wehte ein sanfter kühlender Lufthauch über das Plateau von Lipizza und milderte die Bruthitze der Sommersonne.
Florian stand ganz nahe vor dem Mädchen und starrte es wie ein Wunder an.
»Komiker«, lächelte das junge Mädchen, und als sie sich wendete, hielt sie gegenüber Sibylle, die ihnen gefolgt war.
»Was für seelenvolle Augen«, sagte das Mädchen. »Augen der Liebe«, entschlüpfte es ihr.
Der Rittmeister sah sie fest an: »Kennen Sie die Augen der Liebe?«
Sie senkte den Blick und flüsterte: »Nein. Aber so stelle ich sie mir vor, so dunkel, so durchglüht von innerer Güte, von grenzenlosem Verstehen, von stummer Beredsamkeit . . .« Sie schwieg und wurde dunkelrot.
Eine Pause entstand. Das Mädchen klopfte Sibylle den glatten Hals.
»Auch meine Augen«, begann Neustift schüchtern, »sind Augen der Liebe, wenn ich Sie anschaue, Elisabeth.« Da keine Antwort kam, sprach er weiter: »Aber ich glaube, meine Augen sind nur blau. Ich habe keine Hoffnung . . .« Er schwieg.
Elisabeth liebkoste Sibylle, und an Neustifts Worten vorbei bemerkte sie: »Wie zart, wie fein . . . Wunderbar!« Sachlich fragte sie: »Vollblut natürlich?«
Sachlich erteilte Neustift Auskunft: »Vollblut kann man kaum sagen. Diese Spanier wurden vor etwa zweihundert Jahren mit Neapolitanern und später mit Arabern gekreuzt. Genau genommen also Halbblut, aber adligster Art!«
»Spanier? Warum nennen Sie die Lipizzaner Spanier?« Neustift sammelte sich. Er trat auf Florian zu, berührte dessen Brust und Lenden. »Dieser Bursche da ist von weit älterem Adel als wir beide. Selbst wenn wir das Alter unserer Familien zusammenrechnen und das Alter der Dynastie dazu, reicht's noch lange nicht.«
Elisabeth kam voll überraschten Interesses näher. Sie standen einander gegenüber, zu beiden Seiten des Füllens. Florian blieb ruhig zwischen ihnen, ließ sich von beiden schmeicheln und schnupperte nach seiner Mutter, die sich quer zu dieser Gruppe gestellt hatte. »Das wären ja Jahrtausende«, meinte Elisabeth mit zweifelndem Tone. »Ist das nicht übertrieben?«
»Gewiß nicht«, antwortete Neustift. »Schon Hannibal ist mit diesen Pferden über die Alpen gezogen. Denken Sie doch . . .«
Elisabeth lachte. »Hannibal mit Lipizzanern? Hören Sie auf!«
»Damals waren es Pferde aus Spanien«, entgegnete Neustift ganz ernst, »oder aus Nordafrika.«
Noch immer lachte Elisabeth ungläubig. »Wer kann das behaupten?«
»Sehen Sie sich einmal antike Reliefs an«, gab Neustift zurück, »und betrachten Sie dieses Tier.« Er wies auf Sibylle, die mit hochgeschwungenem Hals im Profil vor ihnen stand. Er wurde eifrig: »Genau so waren die Pferde zu jener Zeit, genau so! Sie hatten wie heute die prächtige Gestalt, das heroische Pathos der Gebärde, die bezaubernd leichte Anmut der Bewegung, die zierlichen Ohren, die sanfte Neigung zur Ramsnase. Deshalb glaube ich, daß Hannibals Rosse die Vorfahren von diesen da sind.« Er geriet in Begeisterung. »Bedenken Sie doch, Elisabeth, wieviel Schönes und Heiliges wir heutigen Menschen von den Ländern des Mittelmeers empfangen haben! Gott und die Götter, Kunstwerke und Poesie und . . . und . . .«
»Und diese Pferde«, ergänzte Elisabeth, die wieder lächelte.
»Ja, auch diese Pferde«, sagte Neustift energisch. Er klopfte Sibylle auf die Kruppe. »Gibt es etwas Herrlicheres als Pferde? Und unter allen Pferden etwas, das diesen Pferden gleichkäme? Für mich nicht. Für mich gehört das Pferd zu den hohen Dingen. Entschuldigen Sie, ich bin nur ein Reiter.«
Elisabeth ging an ihm vorbei. »Nur ein Reiter«, sagte sie, »nur!« Sie faßte Sibylle bei den Kinnbacken und drückte einen Kuß auf ihre Nase. »Da, meine Gute! Auch für mich gehörst du zu den hohen Gütern dieser schönen Welt, auch für mich.« Sie wandte sich zu Neustift. »Wirklich, ich bin sehr froh, daß wir hergefahren sind. Noch nie war ich in Lipizza. Merkwürdig. Es ist doch gar nicht so weit von uns. Sie sagten vorhin, das Gestüt besteht schon sehr lange . . .«
»Sehr, sehr lange.«
»Weiter! Wissen Sie nicht noch mehr? Reden Sie doch! Woran denken Sie eigentlich?«
»Eigentlich an Sie«, sprach Neustift leise, »nur an Sie, Elisabeth! Sie haben mich gefragt, also darf ich sprechen. An Ihr kupferbraunes Haar, an Ihre schönen braunen Augen, an Ihre stolze kleine Nase, an den tapferen Schwung Ihrer Lippen, an . . .«
»Genug«, unterbrach ihn Elisabeth, nun gleichfalls flüsternd. »Nicht hier, bitte . . . bitte . . .« Laut redete sie weiter: »Sie wollten doch von Lipizza erzählen . . .« Sie warf einen forschenden Blick zu Anton hinüber, der hinterdrein ging. Aber Anton war mit Sibylle und Florian beschäftigt.
»Ja, Lipizza«, gehorchte Neustift, »da ist nicht viel zu sagen, Gräfin. Gegründet hat das Gestüt der Erzherzog Karl . . .«
»Der von Aspern, der Napoleon besiegt hat?«
Neustift unterdrückte ein Lächeln: »O nein! Der Erzherzog Karl, den ich meine, hat im sechzehnten Jahrhundert gelebt. Der Vater des steirischen Ferdinand . . .«
»Der steirische Ferdinand? Wer ist das wieder?«
»Das war der erste römisch-deutsche Kaiser, unter dem der Dreißigjährige Krieg ausgekämpft wurde.«
»Ach, ich bin verzweifelt über meine Unbildung.« Elisabeths frisches Mädchenantlitz war von Kummer umdüstert.
Neustift ergriff ihren Arm, was sie duldete. »Du bist herrlich, wie du bist«, sagte er, an ihr Ohr geneigt. »Ich hasse die Gebildeten!«
Elisabeth löste sich von ihm. »Sie, Neustift?« Es klang verwundert. »Ein Gelehrter wie Sie?«
Er lachte kurz auf. »Ich ein Gelehrter? Ich weiß knapp so viel, wie ein Österreicher braucht, damit er begreift, was Österreich und ein Österreicher ist.«
»Zu Hause werden Sie mir noch mehr erzählen«, bat Elisabeth, »ja . . . vom steirischen Ferdinand . . .«
»Gern, gern.« Neustift wurde enthusiastisch. »Und von Matthias und von Rudolf dem Zweiten, der auf dem Hradschin auf der Prager Burg mit Löwen und Adlern in einem Saal gewohnt hat . . .«
»In einem Saal?«
»Ja! Er war die leibhaftige, die geheimnisvolle Majestät! Man hat kaum einen Begriff von den großen Persönlichkeiten, die es unter den Habsburgern gab. Da hat die Geschichtsfälschung seit 1866 viel verwischt und verschlechtert.« Neustift geriet in Feuer. »Dieser Rudolf hat das Fundament zu allen unseren Kunstsammlungen gelegt. Er fühlte den Zauber, der von den Gemälden und Statuen und von den Werken der Goldschmiede ausgeht. Und er liebte die Pferde. Weißt du, er hat als Kaiser niemals mehr im Sattel gesessen, aber seinen Marstall hat er Tag für Tag aufgesucht, hat sich am Anblick der edlen Rosse gefreut und sie gehätschelt.«
»Wir wollen heim«, schlug Elisabeth vor. Sie war angeregt. »Das also«, sagte sie froh, »das ist Lipizza, seit vielen hundert Jahren.« Sie drehte sich im Kreise.
Mitten durch die Rudel schritten sie, schlenderten langsam dem Ausgang zu. Elisabeth drängte sich absichtlich zwischen zwei oder drei Stuten, sooft sie derartige Gruppen nahe beisammen sah. »Hoh!« rief sie, »Platz!« oder: »Geh, mein Kind!« Sie wußte, daß man die Tiere ansprechen muß, um sie nicht zu erschrecken. Daß ein Lipizzaner nur sehr selten scheu wird, davon hatte sie freilich keine Ahnung.
Neustift ging hinter ihr, neben ihr, wie sich's eben traf. Er pfiff leise Kavalleriesignale vor sich hin.
Sibylle und Florian folgten, als hätte der Besuch nur ihnen allein gegolten, und als wäre es ihnen nun angenehme Pflicht, den Gästen das Geleite zu geben. Anton wich nicht von seinen Pfleglingen.
Rechts und links tasteten die Hände von Elisabeth und Neustift an Pferdeleibern, an einer glatten, prächtig gerundeten Kruppe mit anerkennendem Klatschen, an einer breiten, gesunden Brust mit liebkosendem Klopfen, an einem steil und stolz gebogenen Hals, im Flaum des warmen Seidenfells oder, vom tiefen dunklen Blick der Pferdeaugen ruhig und forschend betrachtet, mit zärtlichem Streicheln über die samtzarten Nüstern.
Sie waren ganz eingeschlossen, ganz dicht umgeben von der Herde, atmeten mit dem Grasgeruch, mit der salzigen Luft, die vom Meere heraufwehte, den scharfen Dunst, der diesen starken Körpern entströmte. Er hatte hier im Freien etwas Erfrischendes, etwas vom warmen, kräftigen unschuldigen Leben. Milchweiße Schimmel waren da, Eisenschimmel, deren schneeiger Leib stellenweise wie von feinen, grauen Wolken überbreitet schien. Ein nobles Perlgrau mischte sich in willkürlichen, immer geschmackvollen Zeichnungen bald auf dem Rücken, bald gegen Brust und Lenden hin, bald abwärts von den Schenkeln mit der festlich weißen Grundfarbe. Das Weiß der Mähnen aber und der langen dichten Schweife, die gleich kostbarem Fahnenschmuck getragen wurden, hatte manchmal einen Stich ins Elfenbeinfarbene, manchmal eine strahlende Helligkeit wie gesponnenes Mondlicht.
Elisabeth blieb stehen. »Auf bald«, sang sie beinahe, so fröhlicher Schwung war in ihrer Stimme. »Auf baldiges Wiedersehen, Lipizza!«
Jemand berührte sanft ihre Schulter. »Oh Sibylle«, rief sie aus, »du brauchst mich nicht zu mahnen. Ich weiß, was sich gehört.«
Sie hielt dem Tier wieder ein Stück Zucker hin: »Da, zum Abschied. Auf Wiedersehen, Sibylle.«
Florian begann in Kreisen seinen grotesken Fohlengalopp. Er galoppierte um die Mutter, um Elisabeth und Neustift.
»Florian!« rief Elisabeth. Anton schrie: »Florian!« Er brüllte: »Florian! Florian!«
Florian hörte nicht.
»Lassen wir ihn«, meinte Elisabeth, »ich bin dagegen, kleine Kinder zum Adieusagen zu zwingen.«
Und sie gingen.